Beobachtungen aus der Perspektive der Nachsorge 9. Fachtagung der Bewährungshilfe und Sozialen Arbeit in der Justiz vom 19./20.11.2015 Martin Erismann, MSc Social Work team72, Teilstationäre Bewährungshilfe Ausgangshypothesen Das im Vordergrund stehende Ziel ist schon länger die Nichtrückfälligkeit. Resozialisierung im engeren Sinne erscheint als Anspruch demgegenüber eher vermessen. Der Auftrag beschränkt sich heute vielfach auf eine kompensatorische Versorgung (Arbeitsprogramm, Übergangswohnen etc.) anstelle «echter» gesellschaftlicher Integration. Situation im Kanton Zürich Rund 400 bis 500 Strafentlassene jährlich. Bei ungefähr 15% wird amb. Bewährungshilfe angeordnet; rund 5% nehmen teilstationär Bewährungshilfe in Anspruch. Je nach Einzelfall ist das Versorgungssystem inexistent bis umfassend. In letzterem Fall sind typischerweise oft viele verschiedene Leistungserbringer parallel aktiv. «Sorge» im Vollzugsrahmen Vollzug ist als «Time-Out» wegen enger Tagesstruktur und Reizentzugs oftmals stabilisierend Therapie wegen psychischer/Suchtprobleme kann im geschützten Rahmen gut aufgegleist werden Setting bietet sich für Deliktaufarbeitung an, sofern Tat noch nicht allzu lange zurückliegt Soziale Einbindungen (Arbeit, Beziehungen etc.) lassen sich aus dem Vollzug schwer erschliessen Fertigkeiten zur Alltagsgestaltung in Freiheit sind mangels Praxistransfers schlecht vermittelbar Probleme der «Nachsorge» Arbeit: Fehlende Integration im 1. Arbeitsmarkt Wohnen: Schlechte Chancen auf Wohnungsmarkt Finanzen: Hohe Schulden (Gerichtskosten) und Abhängigkeit von Sozialhilfe Beziehungen: Fehlend oder konflikthaft betreffs Partnerin, Herkunftsfamilie, Freundeskreis Freizeit: Mangelhafte Gestaltung, mit «falschen Leuten an falschen Orten» sein Fertigkeiten: Grosse Defizite im Bereiche des alltäglichen Problemlösens (z. T. deliktrelevant) Fazit Der Begriff «Nachsorge» impliziert fälschlicherweise, dass die wichtigsten Problembereiche schon soweit angegangen sind, dass sie nur noch mit einem reduzierten Aufwand quasi stabilisiert werden müssen. Das ist oft mitnichten der Fall. Vielmehr treten im Übergang zur Freiheit ganz neue Probleme der Realitätskonfrontation auf, die im Vollzugsrahmen auf Grund von Settingseinschränkungen nur schlecht oder gar nicht angegangen werden können. Exkurs Problemebenen Individuelle Ebene: Persönliche Defizite bez. Verhalten und Einstellung, psychische/physische und Suchtbeeinträchtigung Individuell-strukturelle Ebene: Mangelhafte soziale Einbindungen, primär bez. Erwerbsarbeit/Beziehungen (vgl. Stelly & Thomas, 2005) Strukturelle Ebene: Wenig intensive und stark segmentierte «Nachsorge» (vgl. Sommerfeld, 2007), fehlende Integrationsangebote Interventionsmodell der Bewährungshilfe Versorgungssystem: Positives Dank Tagesstruktur, gesundheitlicher Versorgung und Reizentzugs (von Alltagsproblemen) werden Straffällige im Vollzug oftmals effektiv stabilisiert. Breites und gutes Therapieangebot im Bereich der psychischen und Suchterkrankungen – im Vollzug wie in Freiheit. Fehlende soziale Einbindungen werden in Freiheit teilweise durch Arbeitsprogramme und/oder Übergangswohnen kompensiert. Versorgungssystem: Negatives Die höchst deliktrelevanten Bereiche Beziehungen, Freizeit und Fertigkeiten sind unzureichend mit Interventionen abgedeckt. «Bruch» im Versorgungssystem an der zentralen Schnittstelle von Gefangenschaft und Freiheit ist typisch (fehlende Betreuungskontinuität). Die Intensität der «Nachsorge» ist unzureichend. Wegen stark segmentierter Hilfsangebote ist die interinstitut. Koordination eine Schwachstelle. Optimierungsmöglichkeiten Einen wirklich fliessenden Übergang vom Vollzug in die Freiheit schaffen (mehr Offener Vollzug, Externate und Teilstationäre Bewährungshilfe). Eine ausreichend intensive, möglichst niederschwellige und umfassende Betreuung (ideal Hilfe «aus einer Hand») auch nach dem Vollzugsende gewährleisten. Bsp. hierfür ist die t72-Infostelle. Prioritär die sozialen Einbindungen von Straffälligen verbessern (Fokus Bewährungshilfe); bei nicht möglicher Erschliessung «echter» Einbindungen mind. Kompensation sicherstellen. Erschwerende Faktoren Aktuelles politisches Umfeld erschwert zumindest bei potenziell gefährlichen Straffälligen (erhöhte diesbez. Sensibilität) Vollzugsöffnungen. Zuständigkeitswechsel von Justizvollzug zu Sozialhilfe/Erwachsenenschutz sowie stark arbeitsteiliges Hilfesystem in Freiheit führen potenziell zu einem «Betreuungsvakuum». Tendenz der Pathologisierung von Delinquenz, was den Fokus eher weg von der sozialen Einbindung hin zur Therapie/Medizin verschiebt. Zum Schluss… …eine etwas ketzerische Frage: Was machen wir mit Klienten, die ihre Ziele nicht erreichen, weil sie es einfach nicht besser können? Während das Versorgungssystem viele Antworten auf das Nicht-Wollen hat (Sanktionenkataloge), scheint Veränderungsunfähigkeit schlichtweg nicht vorgesehen zu sein. Nach Erfahrung des team72 ist diese Gruppe Straffälliger, der (oft auch von der Sozialhilfe) mutmasslich zu unrecht ein primäres Motivationsproblem unterstellt wird, so klein nicht. Fragen/Anmerkungen? Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! [email protected], 044 311 80 01
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