XIV. ›Cultural Studies‹ - Literaturwissenschaft Online

Einführung in die Literaturwissenschaft
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XIV. ›Cultural Studies‹
XIV. ›Cultural Studies‹
0. Allgemeine Vorbemerkungen
Cultural Studies ist ein Sammelbegriff für kulturelle Fragestellungen, die sich mit so
unterschiedlichen Dingen wie Punk-Musik auf Bali, Subkultur in Hongkong oder der
medialen Selbstdarstellung der politischen Rechten in Frankreich beschäftigen.
Im engeren Sinne verbindet man Cultural Studies mit dem 1964 von R. Hoggart an der
Universität Birmingham gegründeten Centre for Contemporary Cultural Studies (CCCS); die
dort entstandenen Studien sind jedoch – vor allem seit den 80er Jahren – in den USA,
Australien und Europa intensiv rezipiert worden und haben längst vielfältige Ausprägungen
erfahren. Zwei prominente Ansätze innerhalb der Cultural Studies bilden der so genannte New
Historicism sowie die Kultursemiotik.
1. ›New Historicism‹
Den zentralen Gedanken des New Historicism hat einer seiner Hauptvertreter, Louis A.
Montrose, mit dem Stichwort der »Geschichtlichkeit von Texten und der Textualität von
Geschichte« beschrieben (Die Renaissance behaupten. Poetik und Politik der Kultur. In:
Moritz Baßler (Hg.): New Historicism. Literaturgeschichte als Poetik der Kultur. 2.,
aktualisierte Auflage Tübingen – Basel 2001, S. 60-93, hier: S. 67).
Während die erste Komponente (dass jeder Text in einen historischen Kontext und
Verstehens-Prozess eingebettet ist) weniger überraschend erscheint, liegt in der zweiten
Komponente der entscheidende Ansatz: in der Auffassung nämlich, dass Geschichte selbst
wie ein Text, d.h. als System von Zeichen, strukturiert sei.
Dies hat zur Konsequenz, dass die Geschichte der Literatur nicht isoliert betrachtet werden
kann. Zum einen (»Geschichtlichkeit von Texten«) werden jeweilige soziale, ökonomische
etc. Kontexte reflektiert, zum anderen (»Textualität von Geschichte«) wird nicht ontologisch
zwischen Text und Kontext unterschieden. Literatur wird vielmehr nur als Ausschnitt eines
umfassenden Systems von kollektiven kulturellen Praktiken, Überzeugungen, Normen
betrachtet, die oftmals ganz selbstverständlich wirken und daher erst aus einer gewissen
zeitlichen Distanz heraus sichtbar werden. Der Bericht über ein historisches Ereignis kann
dabei genauso ›rätselhaft‹ erscheinen und entschlüsselt werden müssen wie ein Gedicht. Mit
dieser Auffassung konvergieren Literatur- und Geschichtswissenschaft im New Historicism
im Sinne einer ›Archiv-Wissenschaft‹, wie sie Michel Foucault avisiert hat.
Genauso wenig, wie der New Historicism zwischen literarischen und nicht-literarischen
Texten differenziert, wird zwischen hoher und niederer Kultur unterschieden. Kennzeichnend
für Cultural Studies generell ist ein ›demokratisches‹ Kulturverständnis, das alle Bereiche der
kulturellen Praxis mit einbezieht. Dies reicht von Fußballspielen bis zu Wahlkämpfen, von
Bademoden bis zu Gottesdiensten.
Text und Kontext sind wie durch Fäden zu einem Netz verwoben. Dabei betrachtet die
Literatur die Wirklichkeit nicht als ›Rohmaterial‹, das durch den künstlerischen
Produktionsprozess umgeformt (quasi ›gekocht‹) würde. Vielmehr trägt Literatur der
Tatsache Rechnung, dass das Material der Wirklichkeit bereits symbolisch aufgeladen ist.
Wenn etwa dem Film Desperately Seeking Susan (1984) als ›Vorfilm‹ ein Videoclip des
Songs Material Girl von Madonna, die eine der Hauptrollen des Films spielt, vorangestellt
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wird, wird beim Zuschauer ein Assoziationsraum aufgerufen, der sich aus dem kulturellen
Gedächtnis speist.
Die Beobachtung, dass kein literarisches Werk voraussetzungslos entsteht, sondern in einem
komplexen Geflecht mit dem Kontext verknüpft ist, beschreibt Stephen Greenblatt mit der
Formel der ›Zirkulation sozialer Energie‹. Diese Verhandlungen zwischen Text und Kontext,
d.h. den Austausch kultureller Praktiken und Normen, versucht die ›Poetik der Kultur‹
(Stephen Greenblatt) zu verfolgen und zu rekonstruieren.
Dieser ›Handel‹ kann ganz konkret ausfallen, wenn etwa in der englischen Reformation die
protestantischen Kirchenstürmer katholische Priestergewänder und sakrale Gegenstände ans
Theater verkaufen, die dort als Requisiten verwendet werden. Dabei handelt es sich nicht um
einen rein materiellen Austausch; dieser ist vielmehr symbolisch aufgeladen (zeigt sich hier
dadurch, dass durch die Requisiten eine kultische Aura im Theater erzeugt wird).
2. Kultursemiotik
Der New Historicism betont, dass es sich bei den untersuchten Kulturen um weitgehend
geschlossene Systeme handelt, deren Funktionsmechanismen der Grammatik einer Sprache
ähneln und die ähnlich wie eine solche rekonstruiert und analysiert werden können. Dabei
liegt eine besondere Aufmerksamkeit auf den Randzonen eines solchen Systems, in denen
sich eine gewisse Brüchigkeit (und damit: Dynamik) manifestiert.
Aufgrund der Themenvielfalt und der bewussten ›Unsystematizität‹ erwecken
neuhistoristische Lektüren oftmals den Eindruck einer gewissen Verspieltheit und
Unverbindlichkeit. Systematischer werden kulturelle Fragestellungen im Rahmen der so
genannten Kultursemiotik behandelt. Diese greift auf den russischen Formalismus sowie auf
strukturalistische Ansätze zurück und macht das dort anhand der Analyse literarischer Texte
entwickelte zeichentheoretische Instrumentarium für die Betrachtung von Kulturen fruchtbar.
Wenn Systeme auch stets eher synchron betrachtet werden, so bedeutet dies nicht, dass
›Geschichte‹ eine für die Kultursemiotik irrelevante Kategorie wäre. Einzelne Zeichensysteme werden vielmehr als Produkt historischer Prozesse verstanden. Dabei spielen die
Strukturen des ›Erinnerns‹ und des ›Vergessens‹ eine große Rolle, denn durch sie bestimmt
sich die Integration oder die Ausschließung eines kulturellen Elements aus dem kollektiven
Gedächtnis. Wie das kulturelle Gedächtnis symbolhaft aufgeladen wird, illustriert
beispielsweise die Reformpolitik Peters des Großen, der die gesellschaftliche und
ökonomische Modernisierung Russlands dadurch unterstützte, dass er die altrussische
Tradition durch westliche Symbolik ersetzte (etwa in der Bartmode). Eine ähnliche
symbolische Umstrukturierung ist zu beobachten, wenn Straßen- oder Städtenamen aufgrund
veränderter politischer Verhältnisse umbenannt werden (etwa nach 1989 in der ehemaligen
DDR).
Renate Lachmann spricht von ›Gedächtnismodellen‹, die innerhalb eines kulturellen
Kollektivs einen homogenen Erinnerungsraum bilden. Ein Modell für ein solches kollektives
Gedächtnis bildet die Literatur. Durch intertextuelle Bezüge zu anderen, älteren Texten ist sie
erstens selbst eine Form von Gedächtnis, zweitens spiegeln sich im jeweiligen
Literaturverständnis bestimmte kulturelle Praktiken und Normen wider.
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3. Literaturhinweise
Baßler, Moritz (Hg.): New Historicism. Literaturgeschichte als Poetik der Kultur. Mit
Beiträgen von Stephen Greenblatt, Louis Montrose u.a. 2., aktualisierte Auflage Tübingen
– Basel 2001 (UTB für Wissenschaft: Uni-Taschenbücher; 2265).
Fulda, David/Tschopp, Silvia Serena (Hgg.): Literatur und Geschichte. Ein Kompendium zu
ihrem Verhältnis von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Berlin – New York 2002.
Gallagher, Catherine/Greenblatt, Stephen: Practicing New Historicism. Chicago 2000.
Greenblatt, Stephen: Verhandlungen mit Shakespeare: Innenansichten der englischen
Renaissance. Frankfurt/M. 1993.
Lachmann, Renate: Gedächtnis und Literatur: Intertextualität in der russischen Moderne.
Frankfurt/M. 1990.
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