ABRIENDO PUERTAS Tagung - Donnerstag 12. November 2015 Neue Wege in der Beratungsarbeit mit LGBT*I* Menschen mit Migrationsgeschichte / Geflüchtete / Schwarze Menschen Eine Intersektionelle Analyse PROTOKOLL DER FACHTAGUNG Protokollant: Eliot Jones Mitschrift des Vortrags „Dekolonisierungsprozesse im Beratungskontext“ von Prof. Dr. Maria do Mar Castro Valera Einleitung „Flucht“ als aktuelles Thema, das diskutiert wird, Vergleich Situation in den 1990ern und jetzt Flucht und Migration muss ins Zentrum gestellt werden, kann nicht länger im Beratungskontext ignoriert werden In der Ausbildung von Therapeut_innen und Berater_innen im psychosozialen Bereich wird immer noch einer homogenen, nationalstaatlich geordneten Gruppe von Klient_innen ausgegangen, von der angenommen wird, dass sie deutsch und weiß ist und aus der Mittelschicht kommt Viele Berater_innen sind auch jetzt in 2015 noch überfordert, wenn eine andere Perspektive und eine anderes Vokabular benutzt wird Ausbildungsinstitutionen müssen endlich zu sich kommen und sehen, was Heterogenität eigentlich bedeutet. Risiko innerhalb der Ausbildung: Vermitteln von Heterogenität wird zu einem „langweiligen“ Thema – intersektionale Themen werden „abgearbeitet“ (Flucht, Queer usw.) Postkoloniale Theorie Hunderte Jahre von Kolonialismus durch den Westen muss eine globale Wirkung gezeigt haben (in den 19 Jhd. waren 85% der Welt vom Westen kolonialisiert) Post-Koloniale Theorie untersucht diese Wirkung, um zu intervenieren Wenn wir über Flucht reden, müssen wir auch darüber reden, dass das der Effekt ist von einer kontinuierlichen Kolonisierung der Welt In der Postkolonialen Theorie wird von „gestatteter Ignoranz“ und „asymetrische Ignoranz“ geredet: „Gestattete Ignoranz“ = erwünscht, Menschen sollen gar nicht wissen, was vor sich geht „Asymetrische Ignoranz“ = Menschen aus kolonisierten Ländern wissen viel mehr über den Westen, als Menschen im Westen über kolonisierte Länder Beispiel: Kaum jemand in Deutschland wusste vor ein paar Jahren, wie die Situation in Syrien ist und das damals schon 6 Mio. Menschen auf der Flucht waren Diese Ignoranz muss angegangen werden Die Zuhörer_innen müssen sich überlegen, wie diese Perspektive in ihrer jeweiligen Beratungsarbeit hilfreich ist Inwieweit kann ein eurozentrisches Framing (Umrahmung) überschritten werden? • Folie 1 „We are here because you were there“ (Zitat: Kobena Mercer) Postkoloniale Diaspora als Konsequenz von Kolonialismus • Folie 2 Definition von Kritik als „vorsichtige Beschreibung der Strukturen, die ein Objekt des Wissens herstellen“ (Zitat: G. Spivak) Kritik als etwas Positives → ich kritisiere nur Dinge, die mir wichtig sind, die ich gut finde und erhalten will „Objekt des Wissens“ in diesem Fall = Menschen, die LGBTIQA* sind und Diskriminierung aufgrund von rassifizierbaren Merkmale erfahren (rassifizierbare Merkmale verändern sich im Laufe der Zeit) Auf der einen Seite Kritik, auf der anderen Seite ein erneuter Appell an eine historisierenden Perspektive • Folie 3 „Othering“ / „Die Geschichte der Anderen“, „Orientalism“, Edward Said „Othering“ / Menschen zu „Anderen“ zu machen als ein durchgängiger Prozess, der in der Beratung konstant passiert Frage: Erfährt die Berater_in die beratende Person als „anders“ oder will sie sie als „anders“ erfahren? Berichterstattung über Flüchtlinge aus Syrien, Irak usw. ist Teil von Orientalismus – Angst davor „wie die sind“ und Angst vor Sexualität der Flüchtlinge (Beispiel „Angst um meine Tochter“ wegen jungen männlichen Flüchtlingen, die voll „Testosteron“ sind). Diese Angst hat historische Kontinuität. • Folie 4 Heteronormative und koloniale Gewalt Wenn von Kolonialismus gesprochen wird, muss man aufpassen, nicht biologistisch zu argumentieren („westliche Männer sind so“, als wäre es genetisch vorbedingt) und auch nicht fatalistisch („es musste so passieren“). In der Geschichtsschreibung wurden die Stimmen, die sich gegen Kolonialismus gewandt haben, gestrichen, es gab sie aber! Deshalb hat es eine Rechtfertigung gebraucht, um brutale, koloniale Gewalt wie Genozid, Versklavung, RessourcenEntnahme usw. zu legitimieren. Teil dieser Rechtfertigung war: Die Menschen der kolonisierten Gruppe sind „Barbaren“, unzivilisiert und können ihre Sexualität nicht kontrollieren – sie halten sich nicht an die Regeln des Westens, leben ihre Sexualität vollkommen frei aus. Kolonisten „müssen“ eingreifen um zu kontrollieren, Homosexualität wurde von Kolonisten kriminalisiert. Damals wurden diesen Menschen eine unkontrollierte Sexualität zugeschrieben, heute wird davon gesprochen, dass alle Geflüchtete homophob sind und sich deshalb nicht in westliche Länder integrieren können. Antikolonialer Nationalismus: tritt sehr maskulin auf, weshalb es im Dekolonisierungsprozess zu extremen Formen der Homophobie kommen kann. Das darf aber nicht kulturalisiert und essentialisiert werden (=„diese Menschen „sind so“ und können nicht anders sein“). Muss im historischen Kontext gesehen werden. • Folie 5 „It is from those that have suffered the sentence of history, subjugation, domination, diaspora, displacement that we learn our most enduring lessons“ (Zitat Homi Bhabha) Wir haben nicht gelernt, von denen zu lernen, die wir als „Opfer“ wahrnehmen Die waren Intellektuellen sind die, die im Exil leben, weil sie Wissen haben, über das Menschen, die keine Exilerfahrung gemacht haben, nicht verfügen. „Privilege as a loss“ → Privilegiert sein ist auch ein Verlust, bestimmte Dinge können nicht gesehen werden Es ist risikoreich, diese Menschen als Ressource zu sehen, aber es ist auch risikoreich, nur die „Opfer“-Perspektive einzunehmen • Folie 6 politics of Help Kritik an „Politik des Helfens“ → warum fühlt es sich so gut an, zu helfen? Wie verändert sich die Situation, wenn eine Person Hilfe nicht mehr benötigt? Wenn geholfen wird, wird Dankbarkeit erwartet, aber keine Kritik → lernen, mit Kritik umzugehen Berater_innen müssen sich selbstkritisch mit Hilfspolitiken auseinandersetzen: Eigene (Macht-)Position als Helfer_in muss geprüft werden vis a vis der Position der Marginalisierten, ohne paternalistisch, „beschützerisch“ zu werden • Folie 7 Maximale Verletzlichkeit Welche Auswirkung hat mein Handeln als Berater_in auf die Personen, die in der Position der „maximalen Verletzlichkeit“ sind? Beispiel: Bringen Zusatzausbildungen für Psychologen etwas für Menschen, die in der Position der „maximalen Verletzlichkeit“ sind? Über 90% der Zusatzausbildungen beruhen auf Dialog, wie soll damit umgegangen werden, wenn es keine gemeinsame Sprache gibt? Was, wenn bestimmte Metaphern oder Gesten nicht verstanden werden? Das alles muss überprüft werden, um Methoden und Praxis so zu verbessern, dass Menschen mit maximaler Verletzlichkeit erreicht werden können. • Folie 8 Globalisierung Lokale Perspektiven auf Soziale Gerechtigkeit müssen in einem globalen Rahmen gesehen werden → Strategien und Methoden, die z.B. in lokalen Kontexten wie Berlin oder München funktionieren, gelten nicht für die ganze Welt! Praktischer Vorschlag: Wieso lernen nicht alle Menschen, die in privilegierten westlichen Ländern leben, mindestens eine nicht-europäische Sprache und Kultur, um Horizonte zu erweitern? • Folie 9 Ist es wünschenswert, ignorant zu bleiben? Wir leben in einer Gemeinschaft, in der Ignoranz zu bestimmten Themen gepflegt wird: „Man kann ja nicht alles wissen“ / „Ist nicht so wichtig“ → bei welchen Dingen ist es nicht so schlimm, es nicht wissen? → bei welchen Dingen sind wir erschüttert, das es jemand nicht weiß? Zitat Martin Luther King: „Nothing in the world is more dangerous than sincere ignorance and conscientous stupidity.“ → Stolzsein auf eigene Ignoranz • Folie 10 „Lücke zwischen Recht und Gerechtigkeit (...)“ (Zitat G. Spivak) „Die Lücke zwischen Recht und Gerechtigkeit zu verringern, steht in etwa im selben Verhältnis, wie der Versuch, in einer beharrlichen Kritik die Supplementierung der grundlegenden Kluft zwischen dem Historisch-Politischen und dem Ethischen zu suchen.“ (Zitat G. Spivak) Eurozentrisches Vorurteil: zu glauben, dass wir alles „verrechtlichen“ können. Beispiel: „Wir erweitern das Zuwanderungsgesetz, und dann ist alles in Ordnung“ → Recht, aber nicht Gerechtigkeit Es gibt eine Lücke zwischen Recht und Gerechtigkeit → Wenn für Gerechtigkeit gekämpft wird, dann bedeutet das nicht immer nur, für mehr Rechte zu kämpfen, weil das weit darüber hinaus geht Wichtig für Beratungspraxis → manchmal muss das Recht gebrochen werden, um Gerechtigkeit zu erreichen Beispiel: Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von Eleanor Roosevelt („alle Menschen sind gleich“), 1948 in New York im UN Hauptgebäude → schwarze Menschen mussten immer noch den Hintereingang benutzen, wenn sie das Gebäude betreten wollten Geschichte der Menschenrechtspolitik muss kritisch betrachtet werden • Folie 11 Desire – Das Bild der Anderen in queeren Zusammenhängen Warum sind bestimmte Kontexte / Räume nicht offen, sondern sehr weiß und bürgerlich dominiert, wie z.B. manche queere, linke Konferenzen? Warum werden in eigenen Kontexten bestimmte Themen nicht angesprochen, weil sie als nicht attraktiv gesehen werden? Gemeinsame Arbeit daran, dass es in unserer ungerechten Gesellschaft „Risse“ gibt → „Gewalt in den Rissen“ Was für ein Bild der „Anderen“ gibt es in queeren Zusammenhängen? Was bedeutet „Emanzipation“? → Bild der „Emanzipation“ verändert sich über Zeit Welche Normativitäten gibt es in queeren Räumen? Was sind authentische Ursprünge in einem queeren Kontext? • Folie 12 Ambivalenzen und Widersprüche in der Geschichte der Moderne (Chakrabarty) „Es geht darum, in die Geschichte der Moderne die Ambivalenzen, die Widersprüche, die Gewaltanwendungen und Tragödien und Ironien einzuschreiben, die sie begleiten.“ (Zitat Chakrabarty) Ambivalenzen der „Moderne“ / „Progressivität“ aufdecken → was sollen „Werte des Abendlandes“ sein? Genozid, Sklaverei, Shoa? Im Beratungskontext, wo nicht nur geholfen wird, sondern auch versucht wird, transformativ zu sein und die Gesellschaft zu verändern, muss sich auch mit der eigenen Geschichte auseinandergesetzt werden → Europa ist nicht Ausgangspunkt und Zentrum von Emanzipation, Liberalität und Progressivität, ihre Tragödien und Ironien werden in der Geschichtsschreibung nicht erwähnt • Folie 13 „Europa provinzialisieren: (…)“ (Zitat Dipresh Chakrabarty) „die bislang privilegierten Erzählungen der Staatsbürgerschaft mit Erzählungen anderer menschlicher Bindungen überschreiben“ (Zitat Dipresh Chakrabarty) Wie konnte es passieren, das alles, was wir heute theoretisch denken immer vom Westen ausgeht? Wieso können wir kaum ein Wissen erkennen, das nicht vom Westen kommt? Das gilt für Beratung, aber auch wie wir über Sexualität denken → auch wenn wir scheinbar sehr progressiv über Sexualität denken, werden immer noch das Einhalten bestimmter Praxen und Normen gefordert / erwartet Beispiel: Studie über Coming-Out Prozesse bei Jugendlichen → Es gibt eine „Coming-Out Geschichte“, die erwartet wird: inneres Coming Out, äußeres Coming Out, „heroisch“ usw. Die Art und Weise, wie ein Coming Out Prozess abzulaufen hat, und die Annahme, das Menschen nur so glücklich sein können, ist eurozentrisch → es kann auch anders ablaufen, es gibt andere Möglichkeiten, die durch neue „Erzählungen“ beschrieben werden können „Erzählung“ der Staatsbürgerschaft, dass Menschen in einen Nationalstaat integriert werden müssen, muss überschrieben werden • Folie 14 Dekolonisierung der (professionellen) Perspektiven Alle Konzepte und Praxen, die uns wichtig erscheinen, müssen nochmal überprüft werden in Hinsicht auf den kolonialen Gehalt und den eurozentrischen Gehalt, und wenn nötig, verändert werden. Was bedeutet Solidarität in diesem Kontext? Zitat Gloria Anzaldúa (feministische Theorie aus queerer & Chicana Perspektive): „We didn't cross the border, the border crossed us“ (wir haben nicht die Grenze überquert, sondern die Grenze hat uns überquert) → andere Art, über Grenzen nachzudenken ENDE • Folie 15 „Homophobia - the fear of going home“ (Zitat Gloria Anzaldúa) Homophobie als die Angst, nach Hause zugehen → doppelte Angst: Einerseits nicht angenommen werden, dort wo ich bin, aber auch die Angst, dass Gewalt von der eigenen Community ausgeht Versuch, die Ablehnung durch „Wahnsinn“ zu verhindern und neue Räume aufzubauen: Dritte Räume, Grenzländer: „borderlands“ weder hier noch da. Andere Form der Community. Die Kultur, die dabei entsteht sollte aber nicht glorifiziert werden, jede Kultur muss angegriffen werden, „borderland“ als kritischer Raum • Folie 16 Movimientos de rebeldia: Die Rebellin – Shadow Beast Kultur formt unseren Glauben und damit auch Toleranz / die Grenze für Devianz: Was gehört dazu, und was nicht? Deshalb sollte Kultur nicht glorifiziert werden Propagiert Empowerment, das eine Figur hervorbringt, die sie Rebellin („Shadow Beast“) nennt → Rebellion gegen Kultur, herausfordernd für die Person, die in der Position des Empowerns, Helfens, Unterstützens ist, weil sie irgendwann kritisiert und angegriffen werden wird; muss ausgehalten werden • Folie 17 Tragödien Europa (wie der Protagonist einer Tragödie) ist sichtbar gescheitert, weil sich Europa schon immer selbst überschätzt hat Gerechtigkeit muss nochmal neu definiert werden und Räume geöffnet werden, die Handeln ermöglichen
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