Die normative Kraft des Faktischen

Bericht | Text: Michael Heß | Fotos: Saskia Konz/Caner Akkaya
Die normative Kraft des Faktischen
In der Flüchtlingsfrage holt die Realität die Illusionen ein
Es war am bösen Ende doch zu viel an Willkommenskultur und Flüchtlingen. Länder
und Kommunen können in der Flüchtlingsfrage einfach nicht mehr. Warum die
Bundesregierung zur Bankrotterklärung
ihrer eigenen Politik gezwungen war,
erläutert ~-Redakteur Michael Heß.
Es war das letzte Mittel. Am Abend
des 13. September ordnet die Bundesregierung die zeitweilige Einführung
von Kontrollen an der österreichischen
Grenze an, um der unkontrollierbaren
Einwanderung von Flüchtlingen Herr zu
werden. Die normative Kraft des Faktischen bremst die Willkommenskultur
aus. Auch Flüchtlinge könnten sich
nicht einfach ihr Zielland aussuchen sagt Bundesinnenminister Thomas de
Maiziere (CDU) in dem Zusammenhang.
Wochen zuvor bezeichnet der tschechische Präsident Milos Zeman das Verhalten der Flüchtlinge als Selbsteinladung,
die man nicht hinzunehmen gewillt sei.
Hierzulande haben Länder und Kommunen nun hoffentlich mehr Ruhe, sich um
die bereits Angekommenen zu kümmern.
Am 12. September strahlt der Deutschlandfunk in seinem Morgenprogramm
eine Reportage vom Wiener Westbahnhof
aus. Zu Wort kommt auch der arabischstämmige Wiener Merwan Massawi, der
im Bahnhof als Dolmetscher Hilfe leistet.
Er sagt, die meisten syrischen Flüchtlinge
seien keine. Es seien ihrem Dialekt
nach Algerier, Ägypter, Marrokaner oder
Pakistani. Höchstens ein Viertel der
Flüchtlinge stamme der Aussprache nach
aus der Levante. Papiere habe so gut
wie niemand, und wenn doch einmal
ein syrischer Pass auftauche, sei dieser
wahrscheinlich gefälscht. Tatsächlich
floriert der Handel mit gefälschten
syrischen Papieren, und die Preise für
einen gekrückten Pass dürften nochmals
nach oben geschnellt sein. „Jetzt oder
nie” habe ihm ein Algerier auf die Frage
nach seinen Asylwunsch in Deutschland
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geantwortet. Jetzt oder nie - die fehlenden Kontrollen machten es möglich.
Allein in den ersten beiden Septemberwochen kommen auf dem Münchener
Hauptbahnhof 63.000 Flüchtlinge an.
Erfreut begrüßt mit Bratwurst, Tänzen
und Willkommen. Es sind Bilder, die per
Handy eine Stunde später im Nahen Osten
und woanders ankommen und dort sug-
gerieren, in Allemanija würden für und
mit den Flüchtlingen Parties gefeiert. Die
Nächsten machen sich auf den Weg und
garantieren der Schleppermafia weitere Milliardengewinne. Weil auch die
Schlepper integraler Teil des Problems
sind. Seeuntaugliche Seelenverkäufer,
Schrottkähne und Schlauchboote sind
das Verkehrsmittel der Wahl. Kein Wunder, wenn der Publizist Berthold Kohler
die Verhältnisse wie bekannt in der FAZ
als Konjunkturprogramm für die Schleppermafia bezeichnet. Auf den Landwegen
geht es nicht minder kriminell zu. Wie es
zum Beispiel jene jungen albanischen
Männer erfahren müssen, die in Tirana
Arbeitsverträge mit Firmen in Deutschland
unterschreiben und dafür sowie für den
Transport teuer bezahlen. Nur um hier zu
erfahren, dass es die Firmen überhaupt
nicht gibt und das Flugzeug zum Rückflug
nach Tirana schon wartet. Oder die Roma
aus Bosnien und dem Kosovo, die einen
Großteil ihrer empfangenen Leistungen
an das Clanoberhaupt irgendwo auf dem
Balkan abliefern. Jeder Euro zählt im
Geschäftsmodell Flüchtlingsverwertung.
Denn es stimmt nicht, dass Roma auf
dem Westbalkan pauschal diskriminiert
werden. Die dortigen Staaten legen
seit zehn Jahren ein von der EU massiv
unterstütztes Programm zur Integration
der Roma auf.
Die Frage steht im Raum, welche
Perspektiven die bisher Angekommenen
erwartet. Dass sie hier sind, ist das Eine.
Dass sie eine Perspektive brauchen, das
Andere. Laut Angaben der Nürnberger
Agentur für Arbeit ist nur jeder zehnte
jugendliche Flüchtling vermittlungsfähig
in eine Ausbildung. Der große Rest nicht
und die Alten, bar von Sprach- und
Landeskenntnissen, schon gar nicht.
Absehbar wird ein Großteil der Flüchtlinge bis ans Lebensende von Sozialleistungen leben müssen. Von einer Million
zusätzlicher Hartz IV-Bezieher unter den
Flüchtlingen geht Arbeits- und Sozialministerin Andrea Nahles (SPD) inzwischen
aus. Der benötigte billige Wohnraum
ist ebenso eine Illusion wie die Vorstellung, qualifizierte Flüchtlinge könnten
kurzfristig Facharbeiterplätze belegen.
Weitere Parallelgesellschaften dürften
statt dessen entstehen, und sie werden
das Land verändern wie nichts seit dem
Zweiten Weltkrieg. Wer es konkreter
mag mit der Zukunftsvision, der lese die
beiden Bücher des ehemaligen Berliner
Bezirksbürgermeisters Heinz Buschkowsky „Neukölln ist überall" (2012; in
der ~ Nr. 12/2012 rezensiert) und
„Die andere Gesellschaft” (2014). Diese
sowie „Die fremde Braut” der türkischen
Soziologin Necla Kelek (2005) werden
vom Autor ausdrücklich zur Lektüre empfohlen. #
www.bamf.de