3.3 Altersspezifische Grundlagen - Brigitte Seelmann

Kapitel: Theoretische Grundlagen: Entwicklungspsychologie für die Praxis Kapitel: Theoretische Grundlagen: Entwicklungspsychologie für die Praxis 3.3 Altersspezifische Grundlagen kann noch keine Relativierung vornehmen und es glaubt, dass seine Gedanken und Handlungen Ereignisse hervorbringen können. In diesem und dem nachfolgenden Abschnitt wird in übersichtlicher Form das herausgestellt, was Sie an Grundkenntnissen aus dem Bereich der Entwicklungspsychologie präsent haben sollten, wenn Sie mit Kindern pädagogisch und therapeutisch arbeiten. Zu wissen, wie das Kind in einem bestimmten Altersabschnitt denkt und wie es sich mit sich und der Umwelt kognitiv, motorisch, sprachlich und gefühlsmäßig auseinander setzt, ist eine wesentliche Voraussetzung dafür, um auf der Handlungsebene (z.B. das richtige Spielangebot) wie auf der Beziehungsebene in Kontakt mit dem Kind zu kommen. ….. Da sich dieses Buch auf die Arbeit mit Kindern ab ca. drei Jahren bezieht, ist das Alter von 0­3 Jahren nur in seiner grundsätzlichen Bedeutung für die Entwicklung des Kindes dargestellt, nicht mehr im Detail in Bezug auf einzelne Fähigkeiten. B. Eigene Kindheit Mit jedem Kontakt den Sie mit einem Kind haben, wird immer auch das Kind in Ihnen angesprochen. Dies lässt sich ganz gut bei Müttern beobachten, die beim Aufwachsen ihres ersten Kindes berichten, dass ihnen auf einmal ganz viele Sachen aus der eigenen Kindheit wieder einfallen: Worte, Sätze, Redewendungen, die völlig »verschüttet« waren, tauchen plötzlich wieder auf. Erinnerungen an Lieblingsessen und gehasstes Essen, an Strafen, schöne Erlebnisse ­ alles wachgerufen durch das kleine Kind, das durch seine Art zu laufen, zu sprechen, wütend zu sein diese längst vergessenen Erinnerungen wieder lebendig werden lässt. Konnten damals bestimmte gefühlsmäßige Erfahrungen nicht in das Selbstkonzept integriert werden, sondern wurden verzerrt oder verleugnet, so gehen diese Erfahrungen in die aktuelle Beziehung mit dem Kind wieder ein. Beispiel: Die 5­jährige Tina versichert ihrer allein erziehenden Mutter, sie habe keine Angst, wenn sie abends alleine zu Hause bleiben muss. In Wirklichkeit hat sie Angst, sogar große Angst. Sie kann dieses Gefühl aber nicht zulassen und/oder äußern, da sie befürchtet, die Mutter könnte sie nicht mehr lieb haben, wenn sie ihre Angst zeigt (und/oder weil sie ihr eine Freude machen möchte und/oder Schuldgefühle ersparen möchte). Die Gefahr ist groß, dass Tina, wenn sie selber Mutter ist, von ihrer Tochter ein ähnlich »selbstständiges« Verhalten fordert. Sie konnte damals ihre Angst nicht spüren und zulassen, wird daher auch die Angst ihrer Tochter oder ihres Sohnes nicht so leicht wahrnehmen können. Das Weltbild des Kindes Das magische Denken Das Kind hat noch keine naturwissenschaftlichen Erklärungen für bestimmte Phänomene und schiebt sie daher höheren Mächten zu. Da das Kind die Welt von seiner Person aus sieht und empfindet, ist es nur natürlich, dass es davon ausgeht, dass es mit seinem Willen auch solche Erscheinungen wie Sonne, Regen, Wind etc. beeinflussen kann. Beispiel: Der im Krankenhaus liegende 4­jährige Robert sagt zu seiner Mutter: »Wenn ich jetzt den Kugelschreiber nehme und ganz, ganz oft draufdrücke und dann mache ich die Augen zu und dann bin ich wieder zu Hause.« Das animistische Denken Gegenstände sind für das Kind beseelt, sie sind lebendig. Ein Beispiel dafür ist der »böse Stuhl« an dem sich das Kind gestoßen hat. Das animistische Denken vollzieht sich in verschiedenen Entwicklungsstufen. Am Anfang ist alles lebendig, später kommt dann das Kriterium der Bewegung dazu: Nur was sich bewegt, ist lebendig. In der Vorstellung des Kindes sind daher die Sonne, der Mond und der Wind länger lebendig als ein Tisch oder ein Stuhl. Auch wenn das Kind anfängt, logisches Denken zu entwickeln, so ist doch die ganze Vorschulzeit von dem Spannungsverhältnis zwischen dem magisch­animistischen Denken und der Realität geprägt. Ein Beispiel dafür ist das relativ lange Festhalten an wichtigen magischen Figuren wie dem Christkind oder dem Osterhasen, auch wenn die Kinder von größeren Kindern schon aufgeklärt wurden. Dabei kann das Kind ohne weiteres auch mit Widersprüchen leben, wie die Entwicklungspsychologin Charlotte Bühler beschrieben hat: Das Kind weiß z.B. inzwischen, dass ein Buch nicht lebt, d.h., liegen bleibt, wenn es hingelegt wurde. Findet es ein Buch jedoch nicht, obwohl es überall gesucht hat. greift es leicht wieder ins animistische Denken zurück und sagt (und glaubt das im Moment auch), das Buch sei fortgelaufen. Würde sich das Buch aber wirklich vor den Augen des Kindes fortbewegen, wäre das Kind zu Tode erschrocken (Bühler, zitiert nach Schenk­Danzinger 1988, S. 149). Viele Kinderlieder greifen das animistische Denken auf, z.B. »Winter ade!«, »Heile, heile Segen ...«, »Die Blümelein sie schlafen ...«. Der Finalismus Alles hat in den Augen des Kindes seinen Zweck: Die Mutter gibt dem Kind etwas zu essen, damit es keinen Hunger mehr hat. Der Mond leuchtet, damit der Igel den Weg nach Hause findet. Der Wind bläst mir die Mütze vom Kopf, weil ich böse war.
Das egozentrische Denken Das Weltbild des Kindes (Piaget 1997) ist in diesem Alter durch das egozentrische Denken bestimmt. Das heißt, das Kind bezieht alles auf sich und schließt von sich auf die Umwelt. Es Auszug aus Weinberger, S. (2001). Kindern spielend helfen. Eine personzentrierte Lern‐ und Praxisanleitung. Weinheim: Beltz, S. 55‐73 Seite 1 von 13 Auszug aus Weinberger, S. (2001). Kindern spielend helfen. Eine personzentrierte Lern‐ und Praxisanleitung. Weinheim: Beltz, S. 55‐73 Seite 2 von 13 Kapitel: Theoretische Grundlagen: Entwicklungspsychologie für die Praxis Einzelne kognitive Fähigkeiten Kapitel: Theoretische Grundlagen: Entwicklungspsychologie für die Praxis mit jeweils positiven oder negativen Schlüsselreizen in Verbindung gebracht. So werden häufig hartnäckige Konditionierungen gesetzt (vgl. Abschnitt 8.4). Anschauliches Denken Beispiel: Die 6 Monate alte Anna fing immer an zu schreien, wenn sie auf dem Arm von Plaget bezeichnet das Denken des kleinen Kindes ca. ab dem 3. Lebensjahr als präoperational oder prä­logisch. Damit soll ausgedrückt werden, dass das Kind in seinem Denken sehr stark an das gebunden ist, was es unmittelbar wahrnimmt, deshalb der Begriff des anschaulichen Denkens. Es kann das Prozesshafte von Veränderung noch nicht erfassen, hat noch nicht die Möglichkeit, einen Vorgang in der Vorstellung rückgängig zu machen und ist noch nicht in der Lage, mehrere Faktoren einer Situation zueinander in Beziehung zu setzen (Schenk­Danzinger 1988. S. 148). der Mutter oder dem Vater die Treppe hinuntergetragen wurde. Egal wie vorsichtig die Eltern das anstellten, Anna war jedes Mal außer sich und nicht zu beruhigen. Die Eltern suchten nach Ursachen und fanden Folgendes heraus: Während die Babysitterin Anna einige Wochen zuvor im ersten Stock gewickelt hatte, klingelte im Erdgeschoss das Telefon. Die Babysitterin nahm Anna ganz schnell auf den Arm und rannte die Treppe hinunter, um das klingelnde Telefon noch zu erreichen. Für Anna war diese plötzliche Lageveränderung in Verbindung mit dem schnellen Treppenhinunterlaufen ­ und dem plötzlich so anderen Erregungsniveau der Babysitterin ­ ein so starkes Angsterlebnis, dass sie noch im Alter von 11/2 Jahren schrie, wenn sie die Treppe hinuntergetragen wurde. Erst als sie sich selber ­ in ihrem eigenen Tempo ­ das Treppenrauf­ und ­runtersteigen erarbeitet hatte, wurde sie diese Angst los. Wohl das bekannteste Beispiel von Piaget ist, dass vor den Augen des Kindes Wasser aus einer bauchigen Flasche in eine hohe schmale Flasche umgeschüttet wird. Das Kind meint jetzt, in der hohen Flasche sei mehr Wasser, weil sie voller ist. Es achtet nur auf einen Aspekt der Veränderung (die Menge), Höhe und Tiefe werden noch nicht berücksichtigt. Die logische Denkleistung, dass die Wassermenge gleich sein müsse, weil nichts hinzugefügt und nichts weggenommen wurde, kann das Kind noch nicht erbringen. Diese prä­logische Denkstruktur beeinflusst die Wahrnehmung und die Beurteilung von Zeit, Größe, Geschwindigkeit, Alter. Menge. Raum und Gestalt. Die Zeit Entsprechend dem anschaulichen Denken wird die Zeit nach sichtbaren Gegebenheiten beurteilt. Ein Beispiel von Piaget: 2 Autos fahren gleichzeitig los. das eine wird jedoch schneller bewegt als das andere und legt daher einen größeren Weg zurück. Gleichzeitig halten die Autos an, für das Kind ist das Auto, das den längeren Weg zurückgelegt hat, länger gefahren. Das kleine Kind ist anfangs bei allem, was es tut, im »Hier und Jetzt«. Die ersten zeitlichen Strukturen orientieren sich an dem, was das Kind erlebt: Aufstehen. Frühstücken. Mittagessen, Abendessen, zu Bett gehen. Morgen bedeutet »einmal schlafen«. Ab ca. 3 Jahren bekommt das Kind einen Begriff für gestern (was war) und morgen, aber erst mit 5 oder 6 Jahren kann es »vorgestern« und »übermorgen« zeitlich einordnen. Größere Zeiträume sind in der Vorschulzeit noch kaum zu erfassen. Feste wie Weihnachten. Ostern und Geburtstag geben hier eine emotionale Orientierung (Schenk­Danzinger 1988). Gegenstandsmerkmale Im 3. Lebensjahr wendet sich das Kind dem Sortieren und Ordnen von Gegenständen zu. Die Gegenstände werden nach Farben. Formen und Größen sortiert und zugeordnet, wobei lange Zeit jeweils nur ein Merkmal beachtet wird. Gewöhnlich können Kinder erst mit 5 oder 6 Jahren Gegenstände in Bezug auf mehrere Dimensionen wahrnehmen. Kinder, denen das Vokabular fehlt, diese Merkmale zu benennen, können diese Differenzierungsleistung nicht in ihre Begriffsbildung aufnehmen, was zu Rückständen im kognitiven Bereich führen kann (Schenk­ Danzinger 1988). Größe Größenunterschiede sind häufig stark emotional besetzt. Große Spielfiguren sind Vater und/oder Mutter, kleine die Kinder, ganz kleine das Baby. »Größer« wird sehr lange auch mit »Älter« gleichgesetzt. Mengen Mengen werden nach »viel« und »wenig« gegliedert. Mit 3 Jahren kennt das Kind in der Regel die Zweiergruppe (2 Hände, 2 Füße etc), mit 4 Jahren werden Dreiergruppen erfasst. Die Mengenkonstanz kann das Kind, wie schon beschrieben, noch nicht erfassen. Das Gedächtnis Während ein bewusstes Erinnern an die Zeit vor 3 Jahren schwierig ist, lassen sich durchaus Erinnerungen aus der Zeit von 3­6 Jahren hervorrufen. Das Kind setzt sich in dieser Altersphase immer mehr in Beziehung zu Personen. Orten und Erlebnissen und kann sich daher auch immer besser an Orte, Personen, Handlungen und Gegenstände erinnern. Dabei ist jedoch das Wiedererkennungsgedächtnis wesentlich besser als das Erinnerungsvermögen. Wesentlich früher als das bewusste Erinnern werden stark emotional gefärbte Erlebnisse gespeichert und Auszug aus Weinberger, S. (2001). Kindern spielend helfen. Eine personzentrierte Lern‐ und Praxisanleitung. Weinheim: Beltz, S. 55‐73 Seite 3 von 13 Rechts und Links Die Unterscheidung von rechts und links gelingt häufig erst dem Schulkind.
Auszug aus Weinberger, S. (2001). Kindern spielend helfen. Eine personzentrierte Lern‐ und Praxisanleitung. Weinheim: Beltz, S. 55‐73 Seite 4 von 13 Kapitel: Theoretische Grundlagen: Entwicklungspsychologie für die Praxis Gestaltwahrnehmung In Bezug auf die Gestaltwahrnehmung zeigte sich, dass anfangs Gestalten ganzheitlich erfasst werden (unstrukturierte ganzheitliche Stufe: Stern und Mond werden als Kreis wiedergegeben), dann werden einzelne unterschiedliche Elemente gesehen und wiedergegeben, aber noch ohne Einbindung in die ganze Gestalt (analytisch­punktuelle Stufe: beim Stern werden nur die Zacken wiedergegeben), erst gegen Ende des Vorschulalters bzw. zu Schulbeginn werden einzelne Elemente in ihrem Gestaltzusammenhang gesehen und wiedergegeben (strukturierte ganzheitliche Stufe: Stern und Mond werden korrekt in ihrer Unterschiedlichkeit wiedergegeben). Diese Entwicklung geht demzufolge ähnlich wie die Sprachentwicklung zuerst vom Ganzen zur Differenzierung und dann wieder zum Ganzen auf einer höheren Ebene. Weiterführende Literatur Eine ausführliche und gleichzeitig gut lesbare Darstellung der Entwicklung des Kindes in den ersten 6 Jahren finden Sie bei Baacke, D.: Die 0­5 jährigen. Kohnstamm, R.: Praktische Kinderpsychologie. Schenk­Danzinger, L.: Entwicklung­Sozialisation­Erziehung. Einen zusammenfassenden Überblick über die kindliche Entwicklung in Bezug auf optische und akustische Wahrnehmung, Handgeschick, Körperkontrolle, Sprache und Sozialkontakt findet sich bei Kiphard E.J.: Sensomotorisches Entwicklungsgitter. 3.3.2 Das Kind im Alter von 6­12 Jahren Ergebnisse der Entwicklungspsychologie Selbstkonzept und sozial­emotionale Entwicklung Das Kind löst sich in diesem Altersabschnitt der mittleren Kindheit aus der Familie und entdeckt sich mit seinen Fähigkeiten, die nun sein Selbstkonzept formen. Es geht um Selbstdarstellung und Selbsterhöhung. Kontakt und Wettbewerb mit Gleichaltrigen spielen jetzt eine große Rolle. Ebenso das Entwickeln und Aufstellen von Ordnungen, Regeln und Ritualen. Das Kind braucht in dieser Entwicklungsphase das Respektieren seiner Privatsphäre und Unterstützung und Bestätigung seiner Aktivitäten. Ein schulisches Versagen ist in dieser Zeit der Selbstkonzeptentwicklung zutiefst demütigend und verunsichernd (Kegan 1986). Auszug aus Weinberger, S. (2001). Kindern spielend helfen. Eine personzentrierte Lern‐ und Praxisanleitung. Weinheim: Beltz, S. 55‐73 Seite 5 von 13 Kapitel: Theoretische Grundlagen: Entwicklungspsychologie für die Praxis Erikson (1966), der die menschliche Entwicklung in verschiedene Phasen aufteilte, bezeichnete die Phase der mittleren Kindheit als »Werksinn gegen Minderwertigkeitsgefühl«. Damit weist er auf das große Bedürfnis des Kindes hin, nützlich zu sein, Aufgaben selbstständig zu erledigen und selbst etwas zu schaffen. Es möchte etwas (gut) machen, entwickelt »die Lust an der Vollendung eines Werkes durch Stetigkeit und ausdauernden Fleiß« (Erikson 1966, S. 102). Die Schule greift dieses Bedürfnis des Kindes auf und prägt damit maßgeblich das sich entwickelnde Selbstkonzept. Scheitert das Kind an den an es herangetragenen Aufgaben (z.B. durch eine Teilleistungsstörung, vgl. Abschnitt 8.1) oder werden die von ihm geleisteten Aufgaben von seiner Umwelt nicht entsprechend anerkannt, stellt sich ein Gefühl von Unzulänglichkeit und Minderwertigkeit ein. Im Alter von 7­8 Jahren lernen Kinder als Beschreibung von Personen nicht mehr nur äußerliche Charakteristika wie Haarfarbe, Größe, Wohnort anzugeben, sondern sie haben jetzt die Fähigkeit erworben, psychische Merkmale zur Unterscheidung von anderen und von sich selbst heranzuziehen (Rossmann 1997). So sagen Kinder bis zum 7. Lebensjahr: »Er ist nett, weil er mir etwas geschenkt hat.« Danach können sie Freunde mit psychischen Begriffen wie großzügig, schüchtern, spielt sich auf etc. beschreiben. Es entwickelt sich das Verständnis, dass Personen unterschiedlich reagieren und dass diese Unterschiede stabile psychologische Charakteristika darstellen. Dabei fällt es ihnen noch schwer, widersprüchliche Informationen über ein­ und dieselbe Person in Einklang zu bringen. Die Kinder neigen in diesem Fall dazu, einen Teil der Informationen einfach auszublenden. So berichtet Rossmann (1997) von einer Studie, in der Achtjährigen von einem Arzt erzählt wurde, der zum Dieb wurde. Die meisten Kinder äußerten in einer anschließenden Befragung die Ansicht, dass er dann kein Arzt mehr gewesen sein könne, da ein Arzt gut sei, ein Dieb schlecht und beides gleichzeitig nicht möglich sei. Kegan (1986) weist daraufhin, dass das Kind noch ganz in seine Bedürfnisse eingebunden ist. Das heißt, es sieht den anderen durch seine Bedürfnisse, statt dessen Bedürfnisse zu sehen: »Der andere ist dazu da, meine Bedürfnisse zu befriedigen«, was von Erwachsenen vorschnell als Kontroll­ oder Manipulationsversuch gesehen wird. Das Kind ist aber noch nicht in der Lage, zwei Bedürfnislagen zu kombinieren, also seine Gefühle und die Gefühle des anderen gleichzeitig zu berücksichtigen. So muss der 6­Jährige erst langsam lernen, dass andere anders empfinden und ihn lieb haben, auch wenn sie seine Bedürfnisse gerade nicht erfüllen. Erst eine qualitative Umorganisation im Selbstsystem mit ca. 9­10 Jahren ermöglicht es dem Kind, sich aus diesem Eingebundensein in seine Bedürfnisse zu lösen. Kognitive Entwicklung Piaget nennt diese Entwicklungsphase das Stadium der konkreten Operationen, Operationen sind verinnerlichte Handlungen. Piaget spricht vom Stadium der konkreten Operationen, weil das Denken immer noch von konkreten Situationen und Objekten ausgeht. Der Denkprozess vollzieht sich in Bildern: Das Kind stellt sich vor, was passiert und welche Wirkung eintritt. Erst das ältere Schulkind mit ca. 12 Jahren entwickelt die Fähigkeit, lediglich mit abstrakten
Auszug aus Weinberger, S. (2001). Kindern spielend helfen. Eine personzentrierte Lern‐ und Praxisanleitung. Weinheim: Beltz, S. 55‐73 Seite 6 von 13 Kapitel: Theoretische Grundlagen: Entwicklungspsychologie für die Praxis Symbolen zu denken (Phase der »formalen Operationen«, vgl. Kohnstamm 1996). Kinder ab 6 bzw. 7 Jahren sind u.a. in der Lage:
· verschiedene Relationen miteinander zu koordinieren (beim Umfüllexperiment, vgl. 3.3.4, erkennen sie jetzt, dass die Wassermenge sich nicht verändert hat),
· Gegenstände nach ihren qualitativen Eigenschaften zusammenzufassen,
· Gegenstände nach ihren quantitativen Merkmalen oder nach Intensität zu unterscheiden,
· ein Zahl­ und ein Zeitkonzept zu entwickeln (Baacke 1993). Wichtig bei all diesen kognitiven Leistungen ist nach Baacke immer der Bezug zu sich selbst, der den Kindern die Bedeutung vermittelt. »Gerade Kindern ist es kaum möglich, etwas nur um seiner selbst willen »zu lernen« (Baacke 1993, S. 152). Eine wichtige Rolle beim Aufbau von Wissen und Erwerb von Fähigkeiten nimmt der Lehrer ein, da das Schulkind auf seinem Weg nach draußen auf der Suche nach neuen Modellen und Orientierungspunkten ist (Mietzel 1989). Wahrnehmung Da das Kind im Vergleich zum Vorschulkind nicht mehr unmittelbar an seine augenblickliche Wahrnehmung gebunden ist, gewinnt die äußere Welt an Beständigkeit. Die Wahrnehmungen sind aber auch in diesem Alter häufig noch stark emotional besetzt. Nach Baacke (1993, S. 141f.) spielen z.B. auch Träume eine wichtige Rolle für Kinder. Bilder, Bewegungen und eigene Handlungen sind bei ihnen noch eng vernetzt, Wahrnehmung erfolgt als ganzheitliche Erfahrung über alle Sinne und damit sehr intensiv. Die jüngeren Kinder dieser Altersstufe sind äußerst scharfblickende, aufmerksame und treffend erkennende Beobachter; sie sind zu einem Perspektivenwechsel und zur Selektion des Wesentlichen aus einer Gesamtgestalt in der Lage. Ihre Wahrnehmung wird zunehmend von Denkprozessen begleitet. Kreativität und Spiel Kinder brauchen Kreativität in besonderem Maße, um ihr Ich zu entfalten. Nach Baacke (1993) ist sie vielleicht die zentrale Dimension dieser Altersstufe. Kinder brauchen das kreative Spiel in Form von Wortspielen oder auch im einfach körpergebundenen Toben. Stone/Church (1978) zählen einige Kinderspiele auf. die über die verschiedenen Kindergenerationen hinweg von dieser Altersstufe immer wieder gespielt werden (Fangen; Verstecken; Kampfspiele; Ballspiele wie Völkerball, was jedoch schon an konkrete Regeln gebunden ist; Wortspiele; auch das Spiel begleitende Lieder, Abzählreime). Gerade bei den Wortspielen scheint ein Großteil des Reizes von dem Gefühl der Integration in einer Gruppe (Gefühl der Verschworenheit) herzurühren. Kleinere Schulkinder spielen ihre Spiele mit Sprüchen und Ritualen. ohne Abwandlungen zu dulden. Diese Spiele verändern sich jedoch langsam dahingehend, dass Absprachen und Abwandlungen gewisser Grundregeln diskutiert und zugelassen werden. In der mittleren Kindheit wird das Regelspiel immer bedeutsamer. Nach Oerter (1987) handelt es sich hier um soziale Auszug aus Weinberger, S. (2001). Kindern spielend helfen. Eine personzentrierte Lern‐ und Praxisanleitung. Weinheim: Beltz, S. 55‐73 Seite 7 von 13 Kapitel: Theoretische Grundlagen: Entwicklungspsychologie für die Praxis Formen des Spiels, bei denen nach festen Regeln agiert wird, deren Einhaltung unumgänglich ist und die den Reiz des Spiels ausmachen. Es handelt sich in erster Linie um Wettkampfspiele (Sportspiele, Brettspiele, Gesellschaftsspiele). Im Gegensatz zu früheren Spielformen (Symbolspiel, Rollenspiel) erfordern sie meist spezifische Kompetenzen, die zuvor erlernt werden müssen. Attraktiv ist der Wettbewerbscharakter mit dem Leistungsvergleich von Partnern mit ungefähr dem gleichen Fähigkeitsniveau (vgl. auch Kapitel 4). Baacke (1993) weist darauf hin, dass die heutigen gesellschaftlichen Zwänge (Anpassung an festliegende Rituale, Einordnung in soziale Gruppen: Schule) kreatives Verhalten als wenig zweckmäßig erscheinen lassen, ja oft auch trotz anders läuternder Lehrpläne unterdrücken. Als besonders kreativitätshemmend muss auch die Trennung von Arbeit und Spiel angesehen werden. Schulkinder sollen lernen, erhalten aber immer noch zu wenig Gelegenheiten, in spielerischer Art und Weise Entdeckungen zu machen. Gerade in der emotionalen Beteiligung und dem Erleben entsteht jedoch Bedeutsamkeit. Lewis (1999, S. 50) schreibt daher: »Wie ernüchternd ist es für viele Kinder in unseren Schulen, wenn sie nach dem Kindergarten (manchmal auch schon eher) feststellen müssen, dass die Grundvoraussetzungen, um in der Schule Erfolg zu haben, auf der Trennung von Arbeit und Spiel, Fantasie und Wirklichkeit, Gefühl und Erkenntnis beruht. Wie verwirrend muss es für die Kinder sein, wenn sie erfahren, dass es nicht ihre Sinne (also nicht ihr Körper) sind, womit sie lernen, sondern dass das wahre Lernen nur in den Zitadellen ihres Denkens stattfindet«. Neben den Spielen gewinnen Kindheitsrituale (in Gemeinschaft oder auch allein) immer mehr an Bedeutung (vgl. Stone/Church 1978). Abergläubische Regeln (Nie unter einer Leiter hindurchgehen), Zählvorgänge (z.B. Zählen vorbeifahrender Güterwagons), sich wiederholende Handlungen (Berühren jedes Laternenpfahls) zählen dazu. Witze und Rätsel, aber auch Kunststücke (z.B. Schielen, Grimassen schneiden, Fingerspiele, auch Zungenbrecher) stellen wichtige Bestandteile der Kinderkultur und des Zusammenspiels in der Peergruppe, aber auch in der Interaktion mit Erwachsenen dar. Ab etwa 9 Jahren beginnt die Entwicklung von Geheimsprachen und Geheimschriften (Kennzeichen für Gruppenzugehörigkeit). Nach Stone/Church (1978) vermitteln die Spiele, Fertigkeiten, Rituale und auch die Sammelleidenschaft dieser Altersstufe dem Kind die Vorstellung eigener magischer Gewalt über eine Realität, die ansonsten unbeherrschbar wäre. Diese Kinderkultur dient als Stütze beim Durchgang durch diese Entwicklungsphase und gibt dem Kind emotionale Kraft in der Auseinandersetzung mit den zahlreichen positiven aber auch negativen Erfahrungen. Moralische Entwicklung Die Kinder richten sich nach ihren Interessen und Bedürfnissen: »Wie du mir, so ich dir.« Kohlberg (zitiert in Kegan 1986) nennt dies Orientierung an Individualismus, Zweckdenken, Austausch. Das Kind, das Außenseiter war, gibt seine erlittenen Demütigungen an den neuen
Auszug aus Weinberger, S. (2001). Kindern spielend helfen. Eine personzentrierte Lern‐ und Praxisanleitung. Weinheim: Beltz, S. 55‐73 Seite 8 von 13 Kapitel: Theoretische Grundlagen: Entwicklungspsychologie für die Praxis Kapitel: Theoretische Grundlagen: Entwicklungspsychologie für die Praxis Außenseiter weiter. Die »Stimme des anderen« (ebd., S. 129) ist noch nicht in sein Selbstsystem integriert. Der wichtigste Aspekt der Realität ist auf dieser Entwicklungsstufe: »Welche Folgen hat mein Handeln?« Das Kind hat Angst, dass der Erwachsene ihm auf die Spur kommt, hat aber noch kein Schuldgefühl. Die Angst besteht nur wegen der möglichen Folgen. Die ängstliche Erwartung, was passieren wird, wenn der andere den Fehler entdeckt, wird von Erwachsenen als Schuldgefühl gesehen, das ist es aber noch nicht. Die typische Haltung des Kindes ist in dieser Zeit: »Was sie nicht wissen, schadet ihnen auch nicht.« Damit ist eigentlich gemeint: »Was sie nicht wissen, schadet mir nicht.« (Ebd., S. 133) dann, wenn ein Kind die Erfahrung des Auseinanderfallens der eigenen Familie machen muss (vgl. auch Abschnitt 8.5.1). Gleichaltrige, Freunde Interaktionen in der Gleichaltrigengruppe bereiten Kinder für das Leben vor: Sie lernen hier den Umgang mit Aggressionen, erfahren Sicherheit und Verschworenheit, behalten sich Spontaneität und Abenteuer, erleben Zuneigung und Freundschaft. Dabei sind sie besonders empfindlich für Ungerechtigkeiten, denn gerade in der Peergruppe entwickelt das Kind ein Grundverständnis für Gleichheit und Gleichberechtigung (Oerter 1987). Ab ca. dem 9. bis 10. Lebensjahr sucht das Kind in der Gruppe spezielle Freunde/innen (Kohnstamm 1996). Während Gefühle und Konzepte von Freundschaft beim Vorschulkind noch stark augenblicksbezogen sind (Unfähigkeit zur Rollenübernahme, Spielgefährtenschaft anstatt Freundschaft), erlangt die Freundschaft ab ca. 10 Jahren eine ganz wesentliche Bedeutung, da sich in ihr das Selbst durch den Austausch von Erfahrungen und Gefühlen immens erweitern kann. Das geschlechtsspezifische Kriterium ist in der mittleren Kindheit außerordentlich streng: Mädchen spielen mit Mädchen, Jungen mit Jungen, gemischte Gruppen ergeben sich selten. Die geschlechtsspezifische Selektion zeigt sich vor allem bei Mädchen (ab ca. 7 Jahren). Nach Kohnstamm (1996) können gute Beziehungen zu Gleichaltrigen, problematische Erfahrungen im Elternhaus kompensieren. Hat ein Kind gerade in den ersten Schuljahren Schwierigkeiten im Kontakt mit Gleichaltrigen, kann sich dies nachhaltig auf sein Anpassungsvermögen im Verlauf der weiteren Entwicklung auswirken. Je mehr die soziale Kognition bei einem Kind entwickelt ist, desto ausgeprägter wird auch sein prosoziales Verhalten sein. Beides muss aber in Gruppenprozessen erlernt werden. Eltern, Familie In dieser Phase ist das Kind einem sich ständig ausweitenden Spektrum außerfamiliärer Einflüsse ausgesetzt. Trotzdem bleiben für die meisten Kinder die Beziehungen zu den Eltern der entscheidende Umweltfaktor, der den größten Einfluss auf die Ausprägung seiner künftigen Persönlichkeit hat. Ebenso auf die Art der Probleme, denen es sich in seinem Streben nach Reife gegenübersieht, und darauf, wie es sich mit diesen Problemen auseinander setzt (Mussen/Conger/Kagan 1981, S. 434). Welche immense Bedeutung die Eltern, auch zusammen mit Geschwistern, für die emotionale Entwicklung des Kindes (noch) haben, zeigt sich vor allem Auszug aus Weinberger, S. (2001). Kindern spielend helfen. Eine personzentrierte Lern‐ und Praxisanleitung. Weinheim: Beltz, S. 55‐73 Seite 9 von 13 Kindersorgen Nach Ulich (zitiert in Jaede 1996, S. 77) gibt es »reguläre Entwicklungskrisen«, die in den Lebenslauf des Kindes eingebettet sind und notwendiger Bestandteil der Entwicklung sind. Diese finden meist an so genannten »ökologischen Übergängen« statt, wie Eintritt in den Kindergarten oder in die Schule, Beginn der Pubertät, da immer Sicherheiten und Rollenstrukturen aufgegeben werden müssen. Daneben gibt es »irreguläre Entwicklungskrisen«, wie z.B. Trennung der Eltern, Erkrankung, Unfall, der Verlust einer Bezugsperson, die dazu führen können, dass die Bewältigung altersgemäßer Entwicklungsaufgaben und notwendiger Entwicklungsübergänge blockiert wird (ebd., S. 77). Für die Bewältigung dieser Krisen ist das Verhältnis von Risiko­ zu Schutzfaktoren bedeutsam. Risiko­ und Schutzfaktoren beziehen sich nach Jaede dabei sowohl auf individuelle Merkmale wie Alter, Geschlecht, persönliche Kompetenzen aber auch auf außerfamiliäre Faktoren (ebd., S. 78). Neben diesen kritischen Lebensereignissen muss auch daran gedacht werden, dass Kinder besonders sensitiv auf Blamagen, auf Situationen, in denen sie sich lächerlich machen, reagieren. Solche Erfahrungen, die für Erwachsene manchmal nicht nachvollziehbar sind, können lebenslang unbewusst wirksam sein. Medien Fernsehen und Computer sind ein wichtiger Bestandteil des kindlichen Lebensraumes, Sie sollten sich daher sowohl mit den gängigen Fernsehprogrammen als auch mit den wichtigsten Computerspielen ­ zumindest was den Aufbau angeht ­ auskennen. Im Folgenden zusammengefasst. einige Anmerkungen zum Fernsehen, (auf Computerspiele wird im Kapitel 4 näher eingegangen).
· Direkte, vielschichtige Sinneserfahrungen kommen zu kurz, indem nur Sehen und Hören angesprochen wird. Darüber hinaus vermittelt Fernsehen immer mehr Erfahrungen aus »zweiter Hand«.
· Es gibt keine einflusslosen Bilder. Sie »machen« immer etwas mit dem Kind: lösen Gefühle aus, beeinflussen Gedanken und Einstellungen, verstärken Verhaltensweisen. So können natürlich auch positive Eindrücke gesammelt werden. Da Gewalt in vielen Sendungen ein Hauptmerkmal ist (dadurch wird die Handlung vorangetrieben). überwiegen bei vielen Kindern Eindrücke, die sie in einen psychischen und physischen Erregungszustand versetzen, der nicht mehr verarbeitet werden kann. Denn je mehr Kinder Fernsehen schauen, umso mehr Zeit brauchten sie, diese Eindrücke im Spiel zu verarbeiten. Sie haben aber immer weniger Zeit dazu.
Auszug aus Weinberger, S. (2001). Kindern spielend helfen. Eine personzentrierte Lern‐ und Praxisanleitung. Weinheim: Beltz, S. 55‐73 Seite 10 von 13 Kapitel: Theoretische Grundlagen: Entwicklungspsychologie für die Praxis · Gewaltdarstellungen werden von Kindern unterschiedlich, aber immer als gefühlsmäßig anspannend erlebt. Die Gewaltfolgen werden meist ausgespart bzw. verharmlost (saubere Gewalt). Den Kindern fehlt ein realistischer Maßstab zur Beurteilung der tatsächlichen Wirkung von Gewalt, sodass sie konkrete Situationen falsch einschätzt Glogauer 1993). Diese Gewalt schadet besonders den Kindern, die bereits auch anderen Risikofaktoren ausgesetzt sind.
· Schnelle Abläufe, unvermutete Orts­ und Szenenwechsel, Zeitsprünge machen es den Kindern schwierig, sich über ein Ereignis Gedanken zu machen. Sie können nicht »zurückblättern«. Es fehlt die Zeit, sich jeweils auf neue Situationen einstellen zu können, was das Verständnis und die Speicherung einer Information verhindert (vgl. Postman 1982)
· Wie bereits angerührt, brauchen die Kinder noch die Einteilung in »gut« und »böse«, so wie sie in Märchen vorgegeben wird. Selbst positive TV­Helden (z.B. James Bond) schlagen sich, töten, brechen die Gesetze.
· TV­Bilder zerstören durch ihre Vorgaben die fantasiereichen, individuellen Vorstellungen der Kinder
· Die Grenzen zwischen Fernsehillusion und Realität sind fließend: Selbst viele Erwachsene schrieben zur Zeit der »Schwarzwaldklinik« Briefe an »Prof. Brinkmann«, um einen medizinischen Rat bittend.
· Sehr belastend sind für Kinder Angst auslösende Alltagsszenen, die an die eigene Umwelt erinnern (z.B. bei Nachrichten und Informationssendungen).
· Durch die Fernsehsendungen nehmen Kinder immer uneingeschränkter und lückenloser am Erwachsenenleben teil. Alle Formen von Gewalt. Sexualität werden offen gelegt. »Kinder erhalten Antworten auf Fragen, die sie nie gestellt haben.« (Postman 1982. S. 95) Im beratenden Gespräch mit Eltern ist es sinnvoller, »Schadensbegrenzung« zu betreiben, als mit pädagogischen Idealvorstellungen an der Realität »vorbei zu predigen«. Erarbeiten Sie mit ihnen, inwieweit es möglich ist, die Fernsehdauer zeitlich zu begrenzen, Programme bewusst auszuwählen, nicht mehrere Programme hintereinander zu konsumieren und möglichst gemeinsam fernzusehen, um anschließend darüber reden zu können. Kapitel: Theoretische Grundlagen: Entwicklungspsychologie für die Praxis 3.3.3 Bezug zur therapeutischen Arbeit Schenk­Danzinger (1988, S. 148) weist daraufhin, dass als Folge des egozentrischen und magisch­animistischen Denkens bei kleinen Kindern die Deutung der Umwelt sehr stark emotional besetzt ist. Je nachdem, ob sich das Kind in bestimmten Situationen sicher, geborgen und »gut« fühlt oder ob es Angst, Schmerzen oder Verlassenheit erlebt, werden Gegenstände, Orte, Menschen gefühlsmäßig positiv oder negativ besetzt. Diese Konditionierungen in der frühen Kindheit halten häufig relativ lang an, je nach Schweregrad können sie ein ganzes Leben wirken, z.B. wenn ein kleines Kind von einem Hund gebissen wurde (s. hierzu auch den Abschnitt über »Angst«, 8.4). Ereignisse, wie z.B. die Trennung der Eltern, bekommen eine besondere Bedeutung, weil das Kind im egozentrischen Denken verhaftet ist und noch keine Objektivierung vornehmen kann. Es fühlt sich daher aufgrund von Gedanken, Wünschen oder Taten sehr schnell schuldig: »Weil ich böse war. geht der Papa jetzt weg.« Ähnlich verhält es sich mit Ereignissen wie Krankheit oder Tod. Lügen sind ebenfalls vor dem Hintergrund des speziellen Weltbildes zu sehen. Auch wenn das Kind kognitiv schon genau weiß, was eine Lüge ist, so kann es situationsbedingt ­ besonders in einem emotional belastenden Augenblick – jederzeit wieder in das magische Denken »eintauchen« und an seine Fantasien glauben. Eltern greifen das magisch­animistische Denken des Kindes auf, wenn sie beim Kind etwas bewirken wollen, z.B. »Wenn du aufhörst zu weinen, scheint die Sonne deich wieder« oder »Der Nikolaus sieht, dass du jetzt böse bist. Wenn er auf die Erde runterkommt, wird er mit dir schimpfen.« Es fällt ihnen jedoch schwer, sich in das egozentrische Weltbild einzufühlen, wenn das Kind, versunken in seiner Welt, Aufforderungen nicht hört, Ermahnungen vergisst oder Forderungen stellt (»Ich will«). In diesen Situationen ist das Kind sehr schnell »böse« oder »unartig«, weil Eltern die Reaktion des Kindes in dem Moment gegen sich gerichtet interpretieren. statt sie aus dem Weltbild des Kindes heraus zu verstehen. In der Elternarbeit sollte dieses Weltbild mit seinen Konsequenzen für den Alltag des Kindes daher unbedingt vermittelt werden. Bei der Auswahl des Spielmaterials und beim Umgang damit, sollten Sie das spezifische Denken des Kindes präsent haben, um mit dem Kind altersgemäß spielen zu können. Weiterführende Literatur Die folgenden Bücher stellen die wesentlichen Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie dieses Alters sehr anschaulich dar: Baacke, D.: Die 6­ bis 12jährigen. Kohnstamm, R.: Praktische Psychologie des Schulkindes. Eine sehr fundierte Einführung finden sie in dem übersichtlich gegliederten Lehrbuch Mönks/Knoers: Lehrbuch der Entwicklungspsychologie. Auszug aus Weinberger, S. (2001). Kindern spielend helfen. Eine personzentrierte Lern‐ und Praxisanleitung. Weinheim: Beltz, S. 55‐73 Seite 11 von 13 Denken Sie bei der zeitlichen Stundengestaltung an den Zeitbegriff der Kinder: Ein wöchentlicher Rhythmus ist wichtig, wenn eine Stunde ausfällt, ist das für das Kind eine »ewig« lange Zeit. Die beschriebenen Fähigkeiten und Vorlieben eines Kindes spielen in jeder Altersstufe bei der Auswahl von Spielangeboten eine wichtige Rolle. Auch bei der Kontaktgestaltung sollten Sie auf die speziellen Themen des Kindes jederzeit zurückgreifen können, indem Sie es z.B. in einer schwierigen Situation mit einer Geheimsprache versuchen (vgl. Abschnitt 9.2).
Auszug aus Weinberger, S. (2001). Kindern spielend helfen. Eine personzentrierte Lern‐ und Praxisanleitung. Weinheim: Beltz, S. 55‐73 Seite 12 von 13 Kapitel: Theoretische Grundlagen: Entwicklungspsychologie für die Praxis In Bezug auf die Einschätzung eines »Vergehens« des Kindes sollten Sie immer den Stand der moralischen Entwicklung des Kindes berücksichtigen, dies betrifft besonders die Kinder zwischen 6 und 12 Jahren. Da Eltern in der Regel mit dem Thema »Medienerziehung« völlig überfordert sind, sollten Sie diesbezüglich ein entsprechendes Basiswissen besitzen.
Auszug aus Weinberger, S. (2001). Kindern spielend helfen. Eine personzentrierte Lern‐ und Praxisanleitung. Weinheim: Beltz, S. 55‐73 Seite 13 von 13