Umweltrecht

Prof. Dr. A. Ruch
ETH Zürich
Umweltrecht
Vorlesung Frühjahrssemester 2009
Falllösung: Glockengeläut (BGE 126 II 366)
Rechtsgrundlagen: BV, USG, LSV
1. Fällt das Kirchengeläut in den Geltungsbereich des USG?
Der Geltungsbereich des USG umfasst die sachliche, persönliche, räumliche und zeitliche Anwendung eines Gesetzes. In vielen Gesetzen wird in
den ersten Artikeln der Geltungsbereich ausdrücklich genannt. Gefragt wird
nach dem sachlichen Geltungsbereich des USG, dieses enthält keinen spezifischen Artikel dazu. Der Zweckartikel des USG (Art. 1 USG) gibt aber zu
erkennen, wer vor was geschützt werden soll. Gemäss Art. 1 USG sollen
Menschen, Tiere und Pflanzen, ihre Lebensgemeinschaften und Lebensräume gegen schädliche oder lästige Einwirkungen geschützt werden.
Gemäss Art. 7 USG gehört Lärm, der von ortsfesten Anlagen ausgeht, zu
den Einwirkungen, die lästig werden können. Art. 11 ff. USG schützt den
Menschen unter anderem vor Lärm. Das Kirchengeläut ist gemäss Art. 1
Abs. 2 LSV Lärm. Somit fällt das Kirchengeläut in den Geltungsbereich des
USG.
2. In welchen Erlassen sind Vorschriften über zeitliche Begrenzungen von Erscheinungen wie das Kirchengeläut zu finden? Wie lauten die Regelungen?
Art. 7 Abs. 7 USG (Bundesgesetz) nennt ortsfeste Einrichtungen, die zu
den Anlagen gehören, die regelmässig Lärm erzeugen, was beim Glockenengeläut einer Kirche der Fall ist. Sodann enthält Art. 2 Abs. 1 LSV (Verordnung des Bundesrates) eine Vorschrift bezüglich ortsfeste Anlagen, die
Aussenlärm erzeugen. Für den Lärm, den ortsfeste Anlagen erzeugen,
werden nach Bedarf gemäss Art. 11 USG Emissionsbegrenzungen vorgenommen. Für die Beurteilung, ob die Einwirkungen schädlich oder lästig
sind, legt der Bundesrat Immissionsgrenzwerte (IGW) fest (Art. 13 Abs. 1
USG). Das heisst es werden von der Exekutive Grenzwerte festgelegt, die
den LSV Anhängen zu entnehmen sind. Bezüglich Glockenspiele liegen
keine IGW vor, deshalb bedarf es einer Einzelfallbeurteilung in Anlehnung
an Art. 15 USG. Dabei sind der Charakter des Lärms, Zeitpunkt und Häufigkeit seines Auftretens von Relevanz.
3. Was sind die Besonderheiten des Kirchengeläuts, die für das Recht massgebend sein können? Allgemein und immissionsrechtlich?
Prof. Dr. A. Ruch
ETH Zürich
Gemäss USG ist Lärm generell unerwünscht und deshalb müssen Massnahmen an der Quelle getroffen werden (Art. 11 USG).
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Lärm ist manchmal aber gerade der Zweck einer Tätigkeit, zum Beispiel das Musizieren/Reden in der Öffentlichkeit oder das Glockengeläut.
Eine solche Tätigkeit kann nicht für unzulässig oder unnötig erklärt werden.
Solche Immissionen können nicht vollständig vermieden werden, da es
sonst den Zweck vereiteln würde. Bei einer solchen Tätigkeit wird die Vorsorge im Sinne der wirtschaftlichen Tragbarkeit (Art. 11 Abs. 2 USG i.V.m.
Art. 1 Abs. 2 USG)) durch das Gebot der Verhältnismässigkeit ersetzt.
Grundsätzlich besteht ein öffentliches Interesse an der lärmigen Tätigkeit,
es sind aber gewisse Einschränkungen möglich, die verhältnismässig sein
müssen. Beim Glockengeläut spielt vor allem der zeitliche Aspekt des
Lärms eine Rolle. Eine einschränkende Massnahme kann beim Glockengeläut kein Verbot sein, sondern es muss sich vielmehr um eine zeitliche Beschränkung handeln, falls dieses als unverhältnismässig zu qualifizieren ist.
Ein gewisser Beurteilungsspielraum der Behörden ist vorhanden, soweit es
sich um eine gewachsene Tradition handelt, die auf öffentlichem Interesse
beruht. Das bürgerliche Läuten ist nicht kultisch und damit nicht von der Religionsfreiheit geschützt.
4. Welche (formellen und materiellen) Überlegungen/Argumente muss der
Gemeinderat bei der Beurteilung des Antrags anstellen?
Formell stellt sich die Frage ob die Vorschriften bezüglich einer Neuanlage
oder ob jene der Sanierung einer bestehenden Anlage zur Anwendung
kommen. Es ist keine Erweiterung der Anlage beabsichtigt, weshalb vielmehr eine Sanierung der ortsfesten Anlage in Frage kommt, sofern sie den
Umweltschutzvorschriften nicht genügt (Art. 16 Abs. 1 USG). Zu diesen
Vorschriften zählt auch Art. 11 Abs. 2 und Abs. 3 USG. Danach sind Emissionen auch im Rahmen der Vorsorge unabhängig von der bestehenden
Belastung soweit zu begrenzen als dies technisch und betrieblich möglich
ist. Die Massnahmen zur Begrenzung gemäss Art. 12 USG müssen unter
Beachtung des Vorsorgeprinzips erfolgen, es müssen sämtliche unnötigen
Emissionen vermieden werden.
Folgende technische und betriebliche Möglichkeiten hat der Gemeinderat
zu beurteilen.
1.) Verhinderung des Geläuts 2.) Verringerung durch technische Massnahmen (Änderung der Schwingmechanik/Schallfolien/Glockenmaterial) –
3.) betriebl. Massnahmen (Läutzeiten)
Dabei muss der Gemeinderat aber die örtlichen Besonderheiten berücksichtigen: Dies sind Nutzungsordnung, Lebensgewohnheiten, Lärmvorbelastung; je städtischer, umso später, aber so, dass das Geläut seine Funktion noch erfüllen kann. ~ 06.00: ländlich, 07.00: städtisch
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Die IGW für Gewerbe können hier keine Anwendung finden, da anderer
Lärm besteht und ein anderes Empfinden der Bevölkerung. Gewerbelärm
hängt vor allem auch von den üblichen Berufszeiten ab.
5. Worauf kann sich X in ihrem Widerstand gegen das Frühgeläut berufen?
Worauf könnte die Kirche sich berufen, damit sie weiterhin die Glocken schon
frühmorgens erklingen lassen darf?
X kann sich auf die Eigentumsgarantie berufen.
Die Kirche kann sich auf die Eigentumsgarantie, sowie auf die Religionsfreiheit berufen.