Die Kulturkritik der Tödlichen Doris und die

Sonntag, 04. Oktober 2015 (20:05 bis 21:00 Uhr) KW 40
Deutschlandfunk / Abt. Hörspiel Hintergrund Kultur
FREISTIL
Geniale Dilletanten
Die Kulturkritik der 'Tödlichen Doris' und die Folgen
Von Michael Reitz
Regie: Uta Reitz
Redaktion: Klaus Pilger
Produktion: DLF/SWR 2015
M a n u s k r i pt
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Musik (unter Text): DAF „Verschwende deine Jugend“
Collage:
O-Ton (1) Müller: ‚Genialer Dilettantismus’ ist ja ein Widerspruch in sich,
weil, irgendwann werden wir professioneller. Wir professionalisieren uns
und (…) aus dem Dilettantismus entsteht dann mitunter etwas Geniales.
O-Ton (2) Schmitz: Der Zusammenhang ist ja insofern gegeben, als dass
das Wort „Dilettant“ ja zwei sehr verschiedene Begriffe, Bedeutungen
enthält, die ja verschieden sind. Also zum Beispiel der Stümper auf der
negativen Seite und der Liebhaber der Wissenschaft und Künste auf der
anderen Seite.
O-Ton (3) Klaus: Es produziert sich durchs Machen immer ein Sinn, weil
es immer eine Art von Kommunikations- und Kontaktaufnahme ist.
O-Ton (4) Butzmann: Mit einem Haufen Krach oder auch mit
irgendwelchem Kitsch oder mit dummen Sprüchen kommt man auch
weiter im Leben (…) Und wenn mir dann jemand sagt, das war schön
leicht, das ist für mich ein großes Lob.
O-Ton (5) Steffie: Ich kann keine Noten schreiben, auch nicht lesen (…)
Ich klopf da halt spontan irgendwie, und das kommt halt so raus.
O-Ton (6) Cailloux: Es hieß dann eben nicht mehr Hammer und Sichel,
sondern Jammern und Picheln (…) die Dilettanten sind ja alles
Kneipenkunstbewegungen im Grunde.
2
O-Ton (7) Heid: Auf jeden Fall den Dilettantismus hochzuhalten. Ich warte
auf die kritische Gegenbewegung. Die kommt auch – da bin ich mir ganz
sicher – wieder.
Youtube
O-Ton (7a) Behmer: Meiner Meinung nach gibt es da Parallelen auf
YouTube, die mit dem Unperfekten arbeiten – die Kamera wackelt, die
Youtuber sitzen im Wohnzimmer, und wenn sie sich versprechen, greifen
sie das sozusagen auch bewusst auf.
Titelansage:
„Geniale Dilletanten“ – Die Kulturkritik der „Tödlichen Doris“ und die
Folgen
Von Michael Reitz
Atmo Ausstellung im Haus der Kunst
O-Ton (7c) Besucherin: Wir sind mit unserer Berufsschulklasse hier und
wir haben da das Schulfach Musikproduktion und wir dachten, das wär ein
guter Anlass uns in der Richtung weiterzubilden. Ist mal ne gute
Abwechslung als immer der langweilige Schulstoff.
O-Ton (7d) Besucher: Ich denke, es geht eher darum bei Dilettantismus
(…) das man sich eben als Künstler zwar gesehen hat damals aber nicht
als derjenige, der das gut macht was eben für die Allgemeinheit
zugänglich ist.
3
O-Ton (7e) Besucher: Ich will es erstmal auf mich wirken lassen.
Erzähler: München, Sommer 2015. Im „Haus der Kunst“ läuft die
Ausstellung „Genialer Dilletantismus – Subkultur der 1980er Jahre in
Deutschland“. Gezeigt werden Bilder und Fotos, aus Auspuffrohren oder
Benzinkanistern gebastelte Musikinstrumente und Musikvideos einer
Kunstszene, die vor Jahrzehnten für Furore sorgte. Und die bis heute
wirkt.
Musik und Atmo (amateurhaft aufgenommen; unter Text)
Erzähler: Berlin, 4. September 1981. Im Tempodrom läuft „Die große
Untergangsshow
–
Festival
Genialer
Dilletanten“.
Es
ist
die
Gründungsveranstaltung einer kulturellen Subkultur, die sich bewusst vom
kommerziellen Kunst- und Musikbetrieb abgrenzen will, indem sie gar
nicht erst behauptet, professionell zu sein. Das beginnt schon mit dem
Einladungsflyer: das Wort „Dilettant“ ist darauf falsch geschrieben – mit
Doppel-L und einem fehlenden T.
Zitator: Duden, Herkunftswörterbuch: Dilettant: Laie mit fachmännischem
Ehrgeiz. Das seit dem 18. Jahrhundert bezeugte Fremdwort bezeichnete
zunächst nur den nicht beruflich geschulten Künstler. Später wurde die
Bedeutung allgemeiner. Das Wort ist aus italienisch dilletante entlehnt und
bedeutet „ergötzen“, „amüsieren“.
Musik
(erst
hoch,
dann
unter
Text):
Einstürzende
Neubauten
„Zuckendes Fleisch“
4
Erzähler: Krach, Nonsens, schräge Performances bestimmen das
mehrstündige Programm der „Großen Untergangsshow“. Mit dabei sind
unter anderem:
Zitator: Blixa Bargeld und seine Truppe „Einstürzende Neubauten“. Der
Klangkünstler Frieder Butzmann, die Musikerin Gudrun Gut, die
Performancegruppe „Kriegsschauplatz Tempodrom“.
Erzähler: Berlin ist zu dieser Zeit ein Versuchsgelände für alle nur
erdenklichen alternativen Strömungen. Die Mauerstadt ist ein Tummelplatz
vor allem der links-autonomen Szene, politisch wie kulturell: der Punk
blüht hier ebenso wie die Hausbesetzer-Bewegung. Schlägereien mit der
Polizei sind ebenso wenig ungewöhnlich wie Experimente in Kunst und
Musik. Zur Jugendhymne wird damals ein Stück der zweiköpfigen Band
„Deutsch-amerikanische Freundschaft“, kurz DAF: Verschwende deine
Jugend.
Musik: DAF „Verschwende deine Jugend“
Erzähler: 1400 Zuschauer sehen und hören im Tempodrom das, was sie
sonst nur in den Punk- und Postpunk-Festungen Berlins geboten
bekommen, in Kneipen mit Sperrholztheken und Bierkästen als Sitze….
Zitator: „Risiko“, „Café Mitropa“, „SO 36“, „Frontkino“, „Kumpelnest 3000“,
„Chaos“.
Erzählerin: Neben Musikbands wie „DIN A Testbild“ oder „Sprung aus
den Wolken“ tritt eine Gruppe auf, die 1980 von den Filmkunst-Studenten
5
Nikolaus Utermöhlen und Wolfgang Müller gegründet worden war und die
sich „Die Tödliche Doris“ nennt.
Musik: „Die Tödliche Doris“:
Die Tödliche Doris sagt Guten Tag, die sagt das zu dir, weil sie dich mag.
(…) Sie ist kein Mann, sie ist keine Frau. Sie ist eine Truppe bestehend
aus drei und ich bin auch mit dabei, Wolfgang Müller heiß ich, das weiß
ich.
O-Ton (8) Müller: Da war einfach mal die Möglichkeit gegeben, diese
ganzen Bands, die sich ja gebildet hatten (…) dass die mal auf der Bühne
auftreten und ein ganzes Festival (…) wie so eine Bewegung inszenieren.
Erzählerin: Wolfgang Müller, Jahrgang 1957. Mitgründer der „Tödlichen
Doris“ und Autor des Buches „Subkultur Westberlin 1979 bis 1989“.
O-Ton (9) Müller: Das heißt, wenn etwas Neues entsteht und trotzdem
kommen dann doch 1000 zustande, Leute, Zuschauer, kann das schon
ganz schöne Wirkungen entfalten (…) dass da Leute, die überhaupt nichts
können, auf die Bühne sich stellen und anfangen zu singen und einfach
mal probieren – also live proben auf der Bühne.
Erzählerin: Der Witz bei diesem Projekt: die Gründer – wenig später stößt
die Kunststudentin Chris Dreier dazu – behaupten allen Ernstes, dass der
Körper der „Tödlichen Doris“ erst noch geschaffen werden muss – und
zwar durch die Rückkopplung mit dem Publikum und den Reaktionen der
Öffentlichkeit. Das Trio tritt mit einem Nicht-Konzept an die Öffentlichkeit,
kein Bandmitglied kann Noten lesen oder vollkommen fehlerfrei ein
Musikinstrument spielen – auch nicht später Hinzukommende wie Dagmar
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Dimitroff, Käthe Kruse und Tabea Blumenschein. Das Projekt ist auf
sieben Jahre angelegt. Die LPs werden in geringen Stückzahlen gepresst
und die Bandmitglieder finanzieren sich über Kellner- oder sonstige
Gelegenheitsjobs. Die „Tödliche Doris“ dagegen will als Produkt kein Geld
verdienen. Oder doch?
O-Ton (10) Müller: Na ja, ich glaube, das galt auch nur in den ersten
Jahren. Es gab so eine Offenheit, dass das Geldverdienen, also dass die
Verwertbarkeit des Produkts nicht im Vordergrund stand. Und das hat bei
mir im konkreten Fall auch damit zu tun, dass ich BAföG bekommen habe,
diese Sicherheit, und darauf aufbauen konnte.
Erzählerin: Die erste LP der „Tödlichen Doris“ hat keinen Titel, sondern
man sieht nur Anführungszeichen unten und oben auf dem Front-Cover
sowie einen Text auf der Rückseite. Zum Szene-Renner der ersten LP
wird sehr bald das Stück „Sieben tödliche Unfälle im Haushalt“, eine
makabre Parodie auf die damals üblichen TV-Spots und Sendungen zu
Gefahren im trauten Heim.
Musik: Tödliche Doris „Sieben tödliche Unfälle im Haushalt“
O-Ton (11) Müller: Ich habe mit einem Kommilitonen zusammen das
Projekt „Die Tödliche Doris“ so ins Leben gerufen, weil wir auch merkten,
du, als Künstler können wir viel interessantere Sachen machen im
Musikbereich. Das war viel offener, da gibt es viel mehr Räume, wo man
was zeigen kann, wo das auch diskutiert wird, wahrgenommen wird, wo es
eine Rückkopplung gibt vom Publikum.
Musik: Tödliche Doris „Sieben tödliche Unfälle im Haushalt“
7
O-Ton
(12)
Müller:
Das
Interessante
war
bei
dem
Genialen
Dilettantismus, die Zeit war günstig. Ende der Siebziger-, Anfang der
Achtziger war eine sehr gute Zeit für eine gewisse Offenheit auch in der
musikalischen Gestaltbildung. Also, man konnte sehr merkwürdige
Sachen mit Musik plötzlich konstruieren und formen. Es traten auf der
Bühne auch Bands auf, die nicht in dieses normative Bild passten.
Erzählerin: Die Gründung der “Tödlichen Doris” wie auch das „Festival
der Genialen Dilletanten“ sind tatsächlich Ausdruck eines Untergangs.
Denn die ursprüngliche oppositionelle Sprengkraft der Rockmusik hat sich
erledigt. Musiker wie Jimmy Page von „Led Zeppelin“ oder der „Rolling
Stone“ Keith Richards leben wie Adlige auf ihren Landsitzen. Sie fahren
mit buntbemalten Bentleys oder Jaguars durch die Gegend – natürlich mit
Chauffeur. Dagegen entwickeln sich Mitte der 1970er Jahre der Punk und
der Punkrock – deren erklärter Feind ist der kommerzialisierte Musik- und
Kunstbetrieb.
Musik: Stranglers „No more heroes“
Erzählerin: Die britische Punkrockbank „The Stranglers“ artikuliert das
1979 in ihrem Stück „No more heroes“ – es gibt keine Helden mehr. Nur
noch Kommerz.
O-Ton (13) Müller: Wenn jetzt wirklich diese Geschichte der Popstars zu
Ende sein soll, da haben wir gesagt, können wir doch das anders machen
(…) Wir lösen quasi den Körper des Popstars auf und konstruieren einen.
Und das war sozusagen die Tödliche Doris (….) Und der Gedanke war: Ist
es möglich (…) über die Echos, die man bekommt, indem man was macht
– also über Input von außen oder Reaktion von außen –, das wie ein
8
Material, dieses Input wie ein Material zu benutzen, und daraus eine
Gestalt zu entwickeln, eine Identität?
Erzählerin: Von Anfang an versteht sich „Die Tödliche Doris“ als eine
Teilmenge des Genialen Dilletantismus, deren Manifest Wolfgang Müller
wenige Monate nach der „Großen Untergangsshow“ im Berliner MerveVerlag herausgibt. Die falsche Schreibweise wird dabei nicht nur
übernommen,
sondern
ist
bis
heute
Etikett
eines
kultur-
und
gesellschaftskritischen Anspruchs. Wolfgang Müller schreibt:
Zitator: Die Abneigung der altgedienten Musiker gegenüber den „blutigen
Laien, die noch nicht mal einen Ton halten können ist verständlich. Überall
dort,
wo
morsche
Stühle
wacklig
werden,
ist
man
bestrebt,
Machtpositionen zu erhalten, in der Politik wie in der Musik. Jeder miese
Klangakrobat ist bestrebt, den Abstand zum Publikum möglichst groß zu
halten. Die Grenze zwischen ihm und dem Konsumenten besteht aus
Geheimniskrämerei und „Begabung“, die der Künstler in sich trägt. Der
ernsthafte Musiker, eine Gefahr für seine Mitmenschen, ist geboren.
Musikcollage (letztes Stück unter Text): ZK „Dosenbier“ – S.Y.P.H.
„Zurück zum Beton“ – Fehlfarben „Gott sei Dank nicht in England“ –
Freiwillige Selbstkontrolle „Was kostet die Welt“
Erzählerin: In der Bundesrepublik Deutschland und Westberlin entstehen
in schneller Folge Punkbands.
Zitator: Deutsche Trinkerjugend, ZK, Syph, Fehlfarben, , Malaria,
Freiwillige Selbstkontrolle, Palais Schaumburg, Deutsch-amerikanische
Freundschaft, Deutsch-polnische Aggression. Campingsex.
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Atmo Kneipe, übergehend Musik Tödliche Doris „Stopp der
Information“
Erzählerin: „Die Tödliche Doris“ wird zur Avantgardetruppe der Berliner
Subkultur. Sie lässt sich nicht festlegen auf eine Kunstform, sondern
springt hin und her zwischen Musik, Fotografie, Performance, Videokunst
und Literatur, und verknüpft diese Formen oft miteinander.
Erzählerin: Die Macher der „Tödlichen Doris“ können vieles, aber nichts
richtig – eine der Kernforderungen des Genialen Dilletantismus.
Eine Form dieses professionellen Nichtkönnens ist im 21. Jahrhundert das
Phänomen Youtube.
Einspielung aus Youtube-Videos
Erzähler: Ob jemand seinen tanzenden Hamster, ein singendes
Stoffschwein vorführen oder ein Statement zur allgemeinen Lage abgeben
will – bei Youtube findet er die Möglichkeit dazu. Die Kultur- und
Medienforscherin Judith Behmer vom Kölner Rheingold-Institut sieht hier
Parallelen zu den 1980er Genialen Dilletanten.
O-Ton Behmer: Es gibt ja viele Formate auf YouTube, die mit dem
Unperfekten arbeiten – die Kamera wackelt, die Youtuber sitzen im
Wohnzimmer, und wenn sie sich versprechen, greifen sie das sozusagen
auch bewusst auf. Und dieses Unperfekte hat einen großen Reiz auch im
Moment, weil vor allen Dingen junge Menschen so das Gefühl haben, das
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ist viel näher am wirklichen Leben. Also das Perfekte gibt nur die halbe
Wahrheit wieder.
Erzähler: Die Youtuber, so Judith Behmer, widersprechen dem Imperativ
des Perfektionismus: du darfst erst dann auftreten und dich präsentieren,
wenn
du
genug
geübt
hast.
Sie
eröffnen
sich
selber
Handlungsmöglichkeiten in einem durchkommerzialisierten kulturellen
Umfeld.
Begonnen
haben
damit
die
Macher
der
„Großen
Untergangsshow“ von 1981 und die daraus entstandenen Projekte.
O-Ton Behmer: Und das greifen meiner Meinung nach sowohl die
Youtuber (…) sehr gut auf (…) Also alles, wo alles glatt gemacht ist (…)
das entspricht sozusagen nicht der Erfahrung. Und im Moment haben wir
ja sehr stark, auch durch dieses Virtuelle, auch so eine Tendenz, dass
alles so glatt aussieht. Und das ist für mich so ein Material (…) was aber
eben viel stärker an den eigenen Erfahrungen anknüpft.
Einspielung aus Youtube-Videos
O-Ton Behmer: Insofern ist es auch immer ein Blick in eine Werkstatt in
gewisser Weise. Also nicht nur das Endergebnis, sondern wie kommt man
da hin? (…) Es ist eher hinter die Kulissen blicken in gewisser Weise (…)
Und das ist faszinierend.
Einspielung aus Youtube-Videos
O-Ton (18) Müller: ‚Genialer Dilettantismus’ ist ja ein Widerspruch in sich,
weil, irgendwann werden wir professioneller. Wir professionalisieren uns
11
und (…) aus dem Dilettantismus entsteht dann mitunter etwas Geniales.
Und ich glaube, die Spannung, die in dem Begriff ‚Geniale Dilettanten’
liegt, ist ja sehr produktiv. Die lässt viele Möglichkeiten offen. Auch die
Frage, was ist eigentlich genial? Oder was ist eigentlich dilettantisch?
Erzählerin: Beeindruckt vom Treiben der Tödlichen Doris und anderer
Genialer Dilletanten war auch der damalige Architekturstudent Martin
Schmitz. Heute ist er Professor an der Kunsthochschule der Universität
Kassel und Verleger genial-dilletantischer Literatur. Er gab zum Beispiel
eine kurze Geschichte des Punkrock heraus oder die Autobiographie der
deutsch-französischen Autorin und Musikerin Francoise Cactus oder auch
eine Abhandlung zur Spaziergangswissenschaft des Soziologen Lucius
Burckhardt. „Profis“, so Martin Schmitz über den Dilettantismus, „brauchen
immer wieder Profis, um die Folgen ihrer Handlungen zu beheben.“
O-Ton (19) Schmitz: Der Zusammenhang ist ja insofern gegeben, als
dass das Wort „Dilettant“ ja zwei sehr verschiedene Begriffe, Bedeutungen
enthält, die ja verschieden sind. Also zum Beispiel der Stümper auf der
negativen Seite und der Liebhaber der Wissenschaft und Künste auf der
anderen Seite. Und das ist ja schon mal ein sehr merkwürdiger Begriff, der
heute – oder sagen wir zeitgenössisch – in einer negativen Bedeutung
überwiegt. Und deswegen heißt es ja auch Geniale Dilettanten – also die
genialen Stümper, die offensichtlich sich doch wieder auf diese positive
Seite der Bedeutung dieses Begriffes schlagen wollen.
Musik (hoch): ZK „In der Ecke stehen“
Erzähler: Im Martin-Schmitz-Verlag erscheint seit 1980 fast ausschließlich
Experimentelles zu Kunst, Literatur und Musik. Der eigene Beitrag des
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Verlegers zum Thema ist eine Vortragsreihe unter dem Titel „Die 15
Weltsekunden des Dilettantismus“.
O-Ton (20) Schmitz: Die 15 Weltsekunden des Dilettantismus, also die
Auflösung der Geschichte, die Einteilung in Sekunden (…) und ich würde
mal sagen, meine erste Weltsekunde des Dilettantismus beginnt in der
Bibel. „Wenn du wirklich weise werden willst auf dieser Welt, wirst du zum
Toren“, das sagt der Paulus im Korintherbrief II.
Erzählerin: In Szenekneipen und alternativen Plattenläden ist die erste
selbstproduzierte LP der „Tödlichen Doris“ ein Erfolg. Die Leute reden
über sie und durch Mund-zu-Mund-Propaganda kommen die Anti-Künstler
zu immer mehr Auftritten. 1983 macht ihnen die Plattenfirma „ZickzackLabel“ das Angebot, eine weitere LP zu produzieren. In der Zwischenzeit
hat
die
„Tödliche
Doris“
viele
Kurzfilme
produziert,
sowie
eine
Konzeptarbeit unter dem Titel „Material für die Nachkriegszeit“. Sie wird
1981 in Kiel, Düsseldorf und Wolfsburg ausgestellt. Das Werk besteht aus
Hunderten von ursprünglich weggeworfenen und von den Urhebern meist
zerrissenen Automaten-Passbildern, die rekonstruiert und wie ein Puzzle
zusammengefügt wurden. Als Variation dieses Themas erscheint 1983 der
Film „Der Fotomatonreparateur“, der weggeworfene, abgefilmte Testfotos
des
für
die
Reparatur
der
Passbildautomaten
verantwortlichen
Mechanikers zeigt. 2001 taucht diese Idee in dem französischen Spielfilm
„Die fabelhafte Welt der Amélie“ wieder auf. Um zu zeigen wie stark
Äußerlichkeiten wirken, überlegt die „Tödliche Doris“, wie die neue VinylLP denn aussehen soll.
O-Ton (21) Müller: Und irgendwann kam mir der Gedanke als ich im
Spielwarengeschäft war (…) und ich Sprechpuppen gesehen habe, die so
eine kleine Maschine hatten, wo kleine Schallplatten rein kamen (…) und
habe dann versucht, diese Firma aufzutreiben, weil ich dachte, das wäre
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ja im Zeitalter von Independent das unabhängigste überhaupt, eine Box
rauszubringen mit einem Schallplattenspieler (…) Schallplatten dabei, die
20 Sekunden lang sind.
Musik (Studioversion): Tödliche Doris „Chöre und Soli“
O-Ton (22) Müller: Und das wurde dann tatsächlich realisiert. Acht kleine
Puppenschallplatten mit eigenen 16 Songs insgesamt. Und keiner redete
mehr über die Musik. Alle sprachen über diese Box. Alle sprachen über
die Äußerlichkeit. Keiner verglich diese Musik, die auf diesen Schallplatten
drauf war mit der Musik, die wir davor gemacht hatten.
Musik (live): Tödliche Doris „Chöre und Soli“
Erzählerin: Bei vielen Veranstaltungen der „Tödlichen Doris“ wissen die
meisten Zuschauer nicht so recht, was sie mit dem Programm anfangen
sollen. Denn sie bekommen kein fertiges Produkt geliefert, sondern
Stücke, die erst auf der Bühne entstehen und bei denen Betrachter und
Zuhörer mitentscheidend sind – Interpretation anstelle von fertig
abgepackter Bedeutung. „Stopp der Information – Alles ist bekannt“ heißt
dann auch ein Stück der „Tödlichen Doris“
Musik (hoch, dann unter Text): Tödliche Doris „Stopp der Information“:
Die Tödliche Doris sagt Guten Tag, die sagt das zu dir, weil sie dich mag.
Sie
ist
gar
nicht
so,
wie
alle
denken,
ein
Monster
aus
Wohnzimmerschränken. Sie ist keine Hausfrau mit zuckenden Strapsen
und quadratischem Busen, also nicht grad dein Fall, außer du hast einen
Knall (…) Sie ist kein Mann, sie ist keine Frau. Sie ist eine Truppe
bestehend aus drei und ich bin auch mit dabei, Wolfgang Müller heiß ich,
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das weiß ich. Der nächste am Mikrophon ist Nicki Utermöhlen schon. Er
sagt euch jetzt, was ihr alle wisst, dass die Dritte Käthe Kruse ist (…)
Stopp.
Erzählerin: Das Video zum Stück passt weder zur Musik noch zur
Aussage des Textes – eine Landschaftsidylle, in der Wolfgang Müller mit
einer Bandkollegin Händchen hält, unterbrochen durch Aufnahmen von
Gigs der „Tödlichen Doris“ – eine offensichtliche Parodie darauf, wie
damalige Schnulzensänger wie Jürgen Marcus oder Rex Gildo im
Fernsehen präsentiert werden.
Erzähler: Einer, der damals das Wirken der Genialen Dilletanten miterlebt
hat, ist der Schriftsteller Bernd Cailloux, heute Chronist des Berlins der
1980er Jahre. In seinen autobiographischen Romanen „Der gelernte
Berliner“ und „Gutgeschriebene Verluste“, 1991 beziehungsweise. 2013
veröffentlicht, beschreibt er ein kulturelles Biotop und die darin lebenden
Wesen.
Zitator: Auf der Piste, dem Swutsch abends unterwegs, gab’s stets diese
beiden Hauptgruppen, die nächtlichen Erzähler und die Tänzer, die
Dichotomie eines voll im Saft stehenden Szenevolks – immer dabei eine
auch in den handlungsarmen Ecken der Disko diskutierende Hegel- oder
Heidegger-Runde, das passte. Vierundzwanzig Stunden am Tag konnten
wir ausgehen, und das unter Leuten mit ähnlichen Bedürfnissen samt der
latenten Bereitschaft, sich gegenseitig zu bestätigen.
Erzähler: Obwohl Bernd Cailloux sich selber als Dilettanten sieht – mit der
„Tödlichen Doris“ konnte er nie warm werden, wie er heute in einem
Schöneberger Café erzählt.
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O-Ton (23) Cailloux: Die Tödliche Doris, was die da gestammelt haben,
das war noch weniger als Dada. Das hat noch Dada unterlaufen (…) diese
Berliner Post-Dada, diese Berliner Dilettantismus-Bewegung, die hat
eigentlich gar nichts durchdacht vorher. Das ist, glaube ich, ein
rebellischer Impuls gewesen, dass man einfach sagt, wir wollen das
machen. Peng. Ist egal. Deswegen ging das ja auch mit Film, Malerei,
Performance häufig zusammen, weil, es war noch nicht mal klar, was sie
überhaupt wollten.
Erzähler: Das Konzept der Genialen Dilletanten und der „Tödlichen
Doris“, aus der kulturellen Sinnproduktionsgeschichte auszusteigen, indem
zunächst Nicht-Sinn erzeigt wird, hält Bernd Cailloux für gescheitert. Es
sei allenfalls noch von kulturhistorischem Wert, ein Versuch, etwas wirklich
Neues durch die völlige Negation des Genie- und Künstlerbegriffs zu
kreieren.
O-Ton (24) Cailloux: Tödliche Doris – das war zu wenig. Das war auch
nicht klar genug (…) Wenn man das sich anhört, das ist ein völlig
blödsinniges Gebrülle. Das habe ich überhaupt nicht verstanden. Das hat
mich
auch
null
interessiert.
(…)
Es
ist
also
sozusagen
eine
Demokratisierung der Kunst, wenn man will, die da passiert ist (…)
Musik: Fehlfarben „Gott sei Dank nicht in England“
O-Ton (25) Cailloux: Der Punk ist ja fast schon wieder die nächste
Umdrehung der Schraube (…) die Punker haben eigentlich nur
Destruktion gemacht. In der Musik hat es ein bisschen funktioniert – sonst
nirgendwo. Es gibt keine Punk-Maler, es gibt keine Punk-Filme – bis auf
zwei, drei. Hat nur in der Musik geklappt (…) Die Verfallszeiten von Kunst
sind auch genau in der Zeit schneller geworden. `68 war ja nicht nur
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Revolte und Studenten-Dings, es war ja die Geburt und der Beginn der
Kulturindustrie.
Erzähler: Bernd Cailloux vertritt in seinen Büchern die These, dass die
Studentenrevolte Ende der 1960er Jahre einen enormen Druck aufgebaut
habe: Revolution musste unter allen Umständen gemacht werden, so
meint er, jedes Verhalten wurde auf die Brauchbarkeit zur grundlegenden
Veränderung der Gesellschaft abgeklopft. Als dieser Druck zehn Jahre
später nachließ, entwickelten sich kulturkritische Strömungen, die
hauptsächlich an Spaß und Spontaneität orientiert waren – so auch die
Genialen Dilletanten.
Zitator: Die Hochkultur hatte im Zuge der 68er Bewegung den Anspruch
auf
Alleinherrschaft
verloren,
im
selben
Zuge
waren
die
massenkompatiblen Werke der Subkultur hinterhoffähig geworden. Diese
Kunst verließ die traditionellen Räume und Rahmen und machte neugierig,
Hochkunst hin, Tiefkunst her. In Kreuzberg bastelten Dilettanten, die sich
geniale Dilletanten nannten, an gar nicht gekonnter, lustiger Kunst zum
Mitmachen.
Erzähler: Heraus kamen dabei, so Bernd Cailloux, oft nur um Originalität
bemühte Peinlichkeiten. Im Unterscheid zur heutigen Zeit mit ihren
Stichflammen-Berühmtheiten und Superstar-Suchshows hatte diese Zeit in
Berlin aus heutiger Sicht etwas Idyllisches:
O-Ton (26) Cailloux: Es hieß dann eben nicht mehr Hammer und Sichel,
sondern Jammern und Picheln (…) Die Dilettanten sind ja alles
Kneipenkunstbewegungen im Grunde. Sind ja eigentlich über die Kneipen
auch nicht richtig hinausgekommen (…) obwohl eben die Leute, die
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damals rein kamen, waren gegen die Gesellschaft gerichtet – kreativ, aber
gegen die Gesellschaft noch gerichtet.
Musik (hoch, dann unter Text): S.Y.P.H. „Lachleute und Nettmenschen“
O-Ton (27) Cailloux: Und die jetzt einströmenden kreativen Massen sind
also der Gesellschaft gegenüber positiv eingestellt. Die wollen möglichst
schnell in die Gesellschaft rein. Während die genialen Dilettanten damals
natürlich überhaupt nicht rein wollten. Man musste auch hier nicht rein. Die
größte Künstlerförderung waren die Wohnungen für 100 Mark. Und das
Bier für 1,20 oder der Kaffee für 1,10.
Erzähler: Den Stamm des Fremdwortes Dilettant bildet das lateinische
„lacere“, was soviel wie „locken“ oder ködern bedeutet. In diesem Sinne
versteht sich Bernd Cailloux als Laie und Nichtkönner: immer wieder
gekitzelt von einem Stoff, den er in die Form bringen will.
O-Ton (28) Cailloux: In der Literatur ist man immer wieder, immer wieder
Dilettant (…) Ich bin jetzt am Anfang eines neuen Romans, und dann
merke ich wieder, was machst du da überhaupt?
Musik: Tödliche Doris „Die Tödliche Doris“ sagt Guten Tag“
Erzählerin: Die „Tödliche Doris“ plant im Sommer 1983 ihr erstes OpenAir-Konzert. Doch die bürokratischen Hürden in Berlin erweisen sich als
unüberwindlich. Um Papierkram und horrende Kosten zu umgehen –
Beantragung einer Schankerlaubnis, Sicherheitspersonal, Beschaffung
und Miete von Toilettenwagen – hat Wolfgang Müller eine Idee:
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O-Ton (29) Müller: Und dann bin ich hier bei so einem Reisebüro
gewesen, wo es so Billig-Butterfahrten gab, von Westberlin mit Rentnern
nach Helgoland. Das war ja so ein Symbol. Also, da ist die Nationalhymne
getextet worden von Hoffmann von Fallersleben, auf Helgoland, mit der
Musik von Joseph Haydn dann verknüpft. Das ist ein unglaublich
symbolischer Ort auch. Und gleichzeitig war das eigentlich der richtige
Nachkriegsschrott.
Erzählerin: Im Eiltempo wird die Berliner Szene informiert und zur Mitfahrt
nach Helgoland aufgefordert. Im Bus dorthin sitzen nun neben Rentnern
auf Butterfahrt Punks, Grufties und Hausbesetzer.
O-Ton (30) Müller: Das war natürlich ein kleiner Schock für einige. Dann
merkten die aber auch, wir machen nichts Böses, wir wollen ihnen ihren
Spaß gar nicht zerstören, und sind dann halt nach Helgoland gekommen,
sind dann ausgestiegen ganz schnell (…) ein paar Lieder gesungen, das
Ganze aufgezeichnet und damit war unser erstes Open-Air-Konzert fertig.
Erzähler: Nicht nur in Berlin, sondern in ganz Westdeutschland entdecken
die großen Plattenfirmen bald ihre Liebe zu Punk und Punkrock. Das
kommerzielle Potential der Szene wird ausgeschöpft, Bands wie „Ideal“,
Nina-Hagen-Band, die „Toten Hosen“ oder „Die Ärzte“ bekommen ihre
ersten Plattenverträge bei großen Medienkonzernen wie EMI oder CBS.
Erzählerin: „Die Tödliche Doris“ unternimmt nichts in diese Richtung. Sie
neidet den nun langsam erfolgreichen Punkbands nicht ihren Erfolg und
geht weiterhin ihren Weg der Nichtkommerzialität. Dabei kommt es zu
einem Projekt, das bis heute in der Populärmusik einmalig ist. Die
„Tödliche Doris“ produziert die erste unsichtbare LP der Musikgeschichte.
Das Konzept hat eine längere Vorgeschichte, die Wolfgang Müller erzählt:
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O-Ton (32) Müller: Ab `83/84 gab es eben für mich eine Beobachtung:
plötzlich reden die Leute von Hits. Das war so die Zeit, wo die großen
Labels plötzlich ihre eigenen New-Wave-Bands konstruierten und
versuchten daraus Geld zu machen, die sich ja vorher nicht interessiert
hatten für die ganze Szene (…) Und dieses Phänomen musikalisch
umzusetzen – jetzt mal brutal gesprochen: Opportunismus, Anpassung,
Liebedienerei und so weiter –, das war dann der Gedanke, um da zugleich
so ein Pendant zu schaffen, zur gleichen Zeit nämlich das genaue
Gegenteil – zurück, Abschottung, Zurückhaltung, Esoterik, was auch
immer.
Musik: Tödliche Doris „Unser Debüt“
Erzählerin: 1985 erscheint die LP „Unser Debüt“. Alleine der Titel hätte
professionelle Musikkritiker aufhorchen lassen müssen, denn es ist
natürlich nicht die erste Veröffentlichung der Band, sondern bereits die
vierte. Einige vermuten dahinter einen Punker-Jux, schließlich hat die
Hagener Band „Extrabreit“ 1980 ihre erste Veröffentlichung „Ihre größten
Erfolge“ genannt. In seinem Buch „Berliner Subkultur“ schreibt Wolfgang
Müller zu „Unser Debüt“:
Zitator: Die Musik soll so klingen wie eine experimentelle Band der
Subkultur, die auf Teufel komm raus bemüht ist, den kommerziellen
Durchbruch zu schaffen. Sie will unbedingt geliebt und populär werden, im
Mainstream
ankommen.
Eine
Musik
der
Scheußlichkeiten,
der
Halbwahrheiten und Anbiederei.
Erzählerin: Der erste Teil des Plans „Unsichtbare LP“ gelingt: Die Platte
wird in Szenemagazinen wie „Spex“ oder in der „Taz“ gnadenlos verrissen
– doch das ist von der „Tödlichen Doris“ so gewollt.
20
O-Ton (33) Müller: Jetzt wollen sie es wissen – nach Jahren des
Experiments möchten sie endlich Erfolg haben mit ihrer neuen
Schallplatte. Oder: Möchte sich die Tödliche Doris etwa anbiedern, in die
Charts? Solche Fragen wurden gestellt. Und ein Jahr später erscheint
genau das Gegenteil. Eine Platte, die völlig unabhängig wirkt.
Erzählerin: Diese LP trägt den schlichten Titel „Sechs“. Sie wird von der
Kritik gefeiert als die Rückkehr in die Arme der kommerziell unabhängigen
Familie. Keiner der Kritiker fragt sich jedoch, wo die fünfte Platte
abgeblieben ist, denn die hätte eigentlich nach „Unser Debüt“ folgen
müssen. Was außer der „Tödlichen Doris“ keiner weiß: beide LPs „Unser
Debüt“ und „Sechs“ wurden zur gleichen Zeit produziert. Der besondere
Clou: wenn die A-Seite der ersten LP auf einen Plattenspieler abgespielt
wird und die B-Seite der zweiten parallel auf einem anderen, ergibt sich
eine dritte – die unsichtbare LP. Das hört sich dann so an:
Musik: Unser Debüt/Sechs = Unsichtbare LP
Erzählerin: Kurz nach der Veröffentlichung der LP „Sechs“ lüftet die
„Tödliche Doris“ das Geheimnis – und blamiert damit die Musikkritiker.
Ursprünglich sollten die beiden Langspielplatten sogar in Bundesrepublik
und DDR getrennt herauskommen, um so auf der symbolischen Ebene
eine Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten herzustellen. Die
Plattenfirma „Amiga“ in Ost-Berlin hatte das Projekt jedoch abgelehnt. Die
unsichtbare LP bildet einen Höhepunkt des Projekts „Tödliche Doris“.
Erzähler: Wie geplant löst sich die Gruppe 1987 auf, kurz nachdem sie an
der Kasseler Documenta Acht teilgenommen hat. In den 1980er Jahren
wurden ihre Bilder und Fotoarbeiten im New Yorker Museum of Modern
Art und dem Musée d'Art Moderne in Paris ausgestellt. 2003 wurden ihre
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Super-8 Filme vom Berliner Hauptstadtkulturfonds restauriert und
digitalisiert. Sie gehören heute zur Sammlung des Landesmuseums von
Sachsen-Anhalt und des Museums für Gegenwart in Berlin. Rückblickend
schreibt Wolfgang Müller:
Zitator: Die Tödliche Doris instrumentalisierte mich. Dabei war sie sich oft
mit sich selbst nicht einig, was meine Verwirrung zuweilen steigerte. Es
war anregend, aber ich war auch erleichtert, als sich die Tödliche Doris
1987 endlich auflöste. In einem Weißwein.
Musik: Frieder Butzmann „Waschsalon Berlin“
O-Ton (34) Butzmann: Zur damaligen Zeit hatte man als Student keine
Waschmaschine. Man ging in den Waschsalon.
Erzählerin: Der Berliner Musiker, Hörspielautor, Klangkünstler und
Schriftsteller Frieder Butzmann, der 1981 als 27jähriger auf dem Festival
der Genialen Dilletanten auftrat.
O-Ton (35) Butzmann: Und in diesem Waschsalon saß ich eines Tages
und habe gedacht, ach, mache ich doch mal ein Stück, das genau so
praktisch nachvollzieht, was diese Waschmaschine macht – und zwar
akustisch (…) erst mit bumbum, schschsch, bumbum, das ist bevor das
wirklich richtig losgeht und läuft. Da wird da schsch das Wasser
rausgezogen, und die Trommel macht wumwum, wumwum. Das ist
praktisch immer eine Umdrehung. Und das habe ich dann natürlich
zusammengefasst auf was weiß ich, 25 Sekunden.
Musik: Frieder Butzmann „Waschsalon Berlin“
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O-Ton (36) Butzmann: Und dann geht es aber schsch Waschsalon
Berlininininin, schsch. Und dann geht diese Maschine erst richtig los, bis
sie ganz zum Schluss in wüüüüüüüiiiiischsch, halt erst schleudert und
dann ausschaltet. Und das ist Waschsalon Berlin (…) Das ist ein
Waschvorgang musikalisch umgesetzt. Teilweise auch mit echten
Geräuschen von der Waschmaschine, aber auch mit elektronischen
Geräuschen.
Erzählerin: Der Schwabe Frieder Butzmann, Jahrgang 1954, lebt und
arbeitet heute in einer ehemaligen Kreuzberger Fabrik. In Wolfgang
Müllers Chronik der Berliner Subkultur wird er beschrieben als jemand, der
überall dabei war, aber nie wirklich zu einer Gruppe gezählt werden
konnte. Er fing damit an, analog aufgenommene Alltagsgeräusche zu
modifizieren.
O-Ton (37) Butzmann: Mich interessiert eigentlich nicht unbedingt der
Klang an sich oder das Phänomen (…) für mich sind Geräusche wie
Zeichen, die ich für irgendetwas benutze, die ich einsetze. Wenn ein
Geräusch eine klanglich, sagen wir akustisch interessante Struktur hat,
dann höre ich mir das gerne an (…) ich sammle gerne Geräusche, aus
dem Grunde, weil Geräusche ja auch immer so einen Ausdruck haben. Ich
glaube, wie einer, der Bilder aus Kollagen produziert. Der nimmt ja auch
nicht die Gegenstände, weil sie in sich interessant sind, sondern weil sie
für irgendetwas passen oder passen könnten.
Musik: Frieder Butzmann, Live-Auftritt 2015
Erzählerin:
Frieder
Butzmann
ist
ein
Urgestein
des
Genialen
Dilletantismus. Er findet heute noch sein Publikum, wie hier bei einem
Auftritt im Hamburger Bahnhof in Berlin-Moabit. Großmeister der
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Klangdemystifikation, Geräuschsammler oder Musiker – es ist schwer
möglich, Frieder Butzmann auf nur einen Bereich festzulegen.
O-Ton (38) Butzmann: Wenn ich Leute kennenlerne, da sage ich
meistens, ich mache Filmmusik – weil, da kann sich jeder was drunter
vorstellen. Es kommt dann allerdings dann manchmal eine unangenehme
Frage, für welchen Film denn zum Beispiel? Und dann wird es schon
schwierig, das alles zu erklären (…) Mein Glück besteht unter anderem
darin – also jedenfalls empfinde ich das so –, dass immer wieder ganz
unterschiedliche Dinge auf mich zukommen, die mich irgendwie freuen
und begeistern können.
Musik: Frieder Butzmann, Live-Auftritt 2015
Erzählerin: Weit über die alternative oder experimentelle Musikszene
hinaus bekannt wurde Frieder Butzmann im Jahr 2008 durch ein
Musiklexikon der anderen Art, dass er im Verlag Martin Schmitz
herausgab. Der Verleger erklärt, wie es dazu kam und was
dieses
Lexikon von anderen Musik-Nachschlagewerken unterscheidet, wie zum
Beispiel dem Standardwerk, dem sogenannten MGG:
O-Ton (40) Schmitz: MGG ist eigentlich das größte Musiklexikon für
Geschichte und Gegenwart. Das durften wir natürlich nicht so nennen. Er
hat einen Ergänzungsband zum MGG geschrieben, und wir durften
natürlich jetzt nicht sagen, MGG-Ergänzungsband. Dann wären ja die
Rechtsanwälte gekommen. Wir haben es also MGG genannt – Musik im
Großen und Ganzen. Das ist ein eigenes Musiklexikon, was der Frieder
Butzmann geschrieben hat. Also, die Frage ist eigentlich, wo fängt Musik
an und wo hört Musik auf? Das fragt man sich ja bei vielen Disziplinen (…)
Da gibt es natürlich auch ein großes Kapitel über Stromstecker –
Elektrizität in der Musik.
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Erzähler: Oder – musikhistorisch nicht unwichtig – der Begriff des
Krachmacheurs, zu finden in Frieder Butzmanns Lexikon gleich hinter dem
Stichwort „Komponieren“:
Zitator: Berufsbezeichnung für diejenigen, die mit Herstellen und
Konzipieren
von
Musik
beschäftigt
sind,
aber
zwischen
den
Bezeichnungen Komponist und Krachmacher nicht zu orten sind.
O-Ton (41) Butzmann: Ich höre täglich so viele Geräusche und freue
mich auch dran. Und ein paar, die nehme ich halt und mache da draus
was. (…) Ein lauter Schlag ist ein lauter Schlag. Aber ein lauter Schlag,
auf der Bühne gemacht, mit was weiß ich einer großen Eisenstange, ist
was anderes, als etwas, was genauso klingt (…) die Beziehung zwischen
Geräusch und Gegenstand ist eigentlich das, was ich ausnutze, womit ich
mich dann beschäftige.
Zitator: Die Musik des Krachmacheurs zeichnet sich durch eine Tendenz
zur barocken Üppigkeit in Lautstärke, stilistischer Vielfalt, Ornamentik,
klanglich amorpher Geräuschdichte und inhaltliche Bezüge zu Alltag und
Objekten der Musik aus.
Musik: Frieder Butzmann, Live-Auftritt 2015
O-Ton (42) Butzmann: Mit einem Haufen Krach oder auch mit
irgendwelchem Kitsch oder mit dummen Sprüchen kommt man auch
weiter im Leben (…) Und wenn mir dann jemand sagt, das war schön
leicht, das ist für mich ein großes Lob.
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Atmo Ausstellung: Musikvideo „Einstürzende Neubauten“
Erzähler: Blixa Bargeld hämmert auf seine Gitarre ein, während die
anderen Bandmitglieder einen höllischen Baustellenlärm erzeugen:
Holzknüppel dreschen auf Stahlrohre, Schrottautos werden mit der
Kettensäge zerlegt.
Der Geniale Dilletantismus ist nicht nur museales
Ausstellungsstück wie hier in einem Musikvideo der „Einstürzenden
Neubauten“, gezeigt im Münchner Haus der Kunst. Er hat überlebt. Als
Option für Künstler, die sich dem kommerziellen Weg bewusst verweigern.
Erzählerin:
Frieder
Butzmann
ist
ein
Beispiel
dafür,
dass
der
Dilettantismus, wenn er zum Lebensunterhalt dienen soll, durchaus
professionell sein muss. Abseits vom üblichen Kulturbetrieb ist es aber
immer noch schwer, sich Gehör zu verschaffen.
O-Ton (43) Butzmann: Alles professionell, ich lebe davon, ich muss
davon leben. Es ist mein Beruf. Und ich tue eigentlich wenig, um mir
Gehör zu verschaffen. (….) Ich rede jetzt einfach nur von meiner
materiellen Existenz, nicht von meiner künstlerischen Genialität, dass ich
meine materielle Existenz und dadurch die künstlerische Genialität
vorantreiben kann, liegt halt daran, dass ich so viele verschiedene Dinge
mache. Ich will jetzt nicht sagen, dass ich es gut oder schlecht mache –
Eigenlob stinkt. Aber es läuft. Der Laden läuft – ja.
Atmo Festival der Genialen Dilletanten
Erzähler: Im 21. Jahrhundert, mehr als dreißig Jahre nach der „Großen
Untergangsshow“ von 1981 im Berliner Tempodrom, hat der Geniale
Dilletantismus
seinen
Namen
gewechselt.
Im
Zeitalter
vom
26
computerisierten Kompositionsmaschinen und der wesentlich schnelleren
Vernetzung und Rückkopplung mit dem Publikum läuft er unter dem Label
„Do it yourself“. Gemeint ist dabei: jemand hat Ideen, weiß aber nicht so
genau, wie er sie umsetzen soll und kann. Und wendet sich an Freunde,
Bekannte oder an Hobby-Instrumentenbauer wie Frieder Butzmann.
O-Ton (44) Butzmann: Ich konnte mir ja keinen Synthesizer leisten. Den
habe ich aber schon zehn Jahre davor zusammen mit einem Freund, der
da eine Begabung für hatte (…) zusammengebastelt (…)
Und dann haben wir diese Kiste gebaut, das war dann mein Quietschofon,
mein erster Synthesizer (…) das waren meine ersten elektronischen
Geräusche.
Musik: Beißpony „If you disagree, just ask“
Erzählerin: Der Name der Münchner Künstlergruppe “Beißpony” geht auf
das
von
Frieder
Butzmann
angesprochene
Verfahren
des
Instrumentenbaus in Eigenregie zurück. „Beißpony“ – das sind zwei junge
Frauen – Stephanie Müller und Laura Theis – sowie der Filmemacher
Klaus Dietl. Das Trio arbeitet seit 2006. Laura Theis spielt Gitarre.
Stephanie Müller konstruiert sich ihre Instrumente selbst, unter anderem
aus einem Stofftier, das Beißpony genannt wurde.
O-Ton (45) Steffie: Und dann habe ich dieses Tier, dieses Viech genäht
und das hatte im Bauch einen Reißverschluss. Und in diesem
Reißverschluss ist so eine Tasche dahinter und da sind so kaputte
Spielzeugautos gewesen. Und ich hatte dann so eine kleine Blechplatte
mit einem Kontakt-Mikro, und wenn ich das dann so richtig geschüttelt
habe und das da drauf gefallen ist, dann gab das so ein fieses
27
Trommelgewitter. Und das war unser erstes Instrument eigentlich, das
Beißpony, dieses Stofftier.
Musik: Beißpony „Evil Xerox“
O-Ton (46) Steffie: Ich mag eigentlich alles, was irgendwie so
Krachsignale hat, was so ein bisschen dissonant auch sein kann oder ja,
was andere vielleicht stört. Also ich tu mich eher schwer mit ganz glatt
produzierten Stimmen (…) Ich kann keine Noten schreiben, auch nicht
lesen (…) Ich klopf da halt spontan irgendwie, und das kommt halt so
raus. Also es ist wirklich auch immer anders. Also ich kann das nie gleich
spielen. Also das ist was, da habe ich glaube ich auch keine Lust, mir das
so zu merken.
Erzählerin: Stephanie arbeitet mit Percussion und Geräuschen, die immer
wieder für Störungen sorgen. Gleichzeitig ist der Gesang von Laura Theis
hell und klar und suggeriert Harmonie. An ihre Auftrittstermine kommt
Beißpony über das Do-it-yourself-Netzwerk oder über Festivals, die von
der Punk- und Hardrock-Szene veranstaltet werden.
Erzähler:
Ein
Markenzeichen
Genialer
Dilletanten,
wie
hier
der
„Einstürzenden Neubauten“ unter Blixa Bargeld und FM Einheit, war der
direkte Kontakt mit dem Publikum, die willkommene Irritation durch
Zwischenrufe oder geworfene Gegenstände. Die Beißpony-Auftritte bauen
Unterbrechungen, Pannen oder Einwürfe ihrer Zuhörer in ihre Auftritte mit
ein:
O-Ton (50) Steffie: Ich freue mich sogar, wenn mal eine Störung kommt.
Also das, was zwar schön ist, weil die Menschen zuhören, ist so eine
Situation, wenn es ganz ruhig ist (…) Mir geht es dann oft so, dass ich
mich wie so ein … in so einem Reinraum, wie so ein Fremdkörper fühle,
weil mir das Feedback fehlt. Und daher ist es mir manchmal lieber, dass
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es ein bisschen lauter oder heftiger ist, oder vielleicht auch mal jemand
nicht so gefällt, weil, da kriege ich was, da spüre ich dann was.
Musik: Beißpony live
O-Ton (51) Steffie: Ich habe aber das Gefühl, dass wir so einen sehr
herzlichen Kontakt oft mit dem Publikum trotzdem aufbauen. Und ich habe
auch glaube ich Bock zu kommunizieren. Also vielleicht ist das auch ein
Unterschied zu genialen Dilettanten, die in den Achtzigern aktiv waren. Da
war ja viel mehr glaube ich auch noch mit Konfrontation. Das ist vielleicht
gar nicht so sehr bei uns. Also ich glaube, das ist eher so eine
Verknüpfung, so eine Kommunikation.
Erzähler: Die musikalische Do-it-yourself-Bewegung, aus der „Beißpony“
kommt, lehnt es ab, über Kunst, Literatur oder Musik eine wie auch immer
geartete Botschaft zu transportieren.
O-Ton (53) Steffie: Es gibt ja oft diese Wahrnehmung, Künstler dürfen die
Wahnsinnigen sein, aber halt solange sie so wie so ein Hofnarr sind, in so
einem bestimmten Feld. Das finde ich sehr schwierig (…) Mir geht es
wirklich darum zu lernen, was will ich eigentlich? Das ist gar nicht so
einfach rauszufinden (…)
Erzählerin: Sinn und Bedeutung sind bei Beißpony niemals vorgegeben,
der Respekt vor der Interpretationslust der Zuschauer steht im
Vordergrund.
Musik (hoch, dann langsam unter Text weg): Beißpony „Evil Xerox“
29
Erzähler: Einen genialen Dilletantismus der ganz anderen Art stellte im
Jahr 2000 Klaus Heid vor. Er ist Facharzt für Innere Medizin in Karlsruhe.
Erzählerin: Heid veröffentlichte im Verlag Martin Schmitz unter dem Titel
„Heilkunst – Risiken und Nebenwirkungen des Kunstbetriebs“ einen
medizinischen
Ratgeber.
Gegenstand
sind
Pathologien,
die
im
Zusammenhang mit Kunstherstellung und Konsum von Kunstwerken
entstehen. Unter dem Stichwort Künstler/Künstlerin ist zu lesen:
Zitator: Das Bild des Künstlers ist wesentlich von der Illusion eines von
sozialen Zwängen befreiten autonomen Lebens und Handelns geprägt,
legitimiert durch eine diffus-genialische Schöpfungskraft. Häufig wird dabei
übersehen, dass die Freiheit des Tuns alleine nicht ausreicht, wenn man
nicht gleichzeitig weiß, was man zu sagen hat. Zu einem verzerrten
Berufsbild trägt auch die falsch interpretierte Aussage von Joseph Beuys
bei, jeder Mensch sei ein Künstler. Tipps zur Behandlung: auf
ausreichende Erholung und Entspannung außerhalb des Kunstbetriebes
achten. Selbsthilfegruppe.
O-Ton (55) Heid: Nicht die Heilkunst, sondern das Buch Heilkunst kann
den Glauben an die Kunst nachhaltig erschüttern, weil ja dort, denke ich,
mit einigen Illusionen aufgeräumt wird, die im Kunstbetrieb relativ weit
verbreitet sind. Kunst ist ja auch vor allem Glaubenssache. Ich meine, wie
Kunst bewertet wird, das hängt mit Faktoren zusammen, die teilweise ja
keinen qualitativen Hintergrund unbedingt haben, sondern die aus dem
System heraus sich definieren (…) es ist eine Glaubensfrage im Endeffekt,
was ist hoch bewertete Kunst, was ist niedrig bewertet Kunst? Was ist
gute Kunst? Was ist schlechte Kunst?
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Erzählerin: Im Zuge von Klaus Heids Veröffentlichung bildete sich im
Internet
unter
dem
Namen
„Art
Victims“
–
Kunstopfer
–
eine
Selbsthilfegruppe...
Erzähler: Bei der bis heute nicht so ganz klar ist, ob sie von Klaus Heid
selbst inszeniert worden war….
Erzählerin:
….bei
der
sich
geschädigte
Künstler,
Konsumenten,
Museumsdirektoren und Galeristen bei dem Internisten melden konnten.
O-Ton (56) Heid: Im Netz gab es eine Seite, wo sich Art-Victims melden
konnten (…) und dann auch entsprechend, wie heutzutage in der TeleMedizin (…) beraten worden sind (…)
Da haben sich Menschen gemeldet, die sich zum Beispiel unter diesen
Pathologien, die ich im Heilkunstbuch gelistet habe, wiedergefunden
haben. Da haben sich vor allem, muss man sagen, Künstler gemeldet, die
mit ihrer Rolle, mit ihrer Stellung im Kunstbetrieb nicht zufrieden waren
und nicht klarkamen (…)
Erzählerin: Klaus Heid sieht sein Buch als einen zeitgenössischen
Vorstoß in Sachen Genialer Dilletantismus. Kulturpathologien grassieren,
wie „Deutschland sucht den Superstar“ oder „Eurovision Song Contest“.
Da gibt es für Klaus Heid nur eine wirksame Gegenstrategie:
O-Ton (57) Heid: Auf jeden Fall den Dilettantismus hochzuhalten. Ich
warte auf die kritische Gegenbewegung. Die kommt auch – da bin ich mir
ganz sicher – wieder (…) Aber es hat sich auch insoweit inflationiert, dass
die Kunst (…) dass man immer mehr Schwierigkeiten hat, diesen Begriff
auch ernst zu nehmen. Koch-Kunst, Heil-Kunst (…) alles Mögliche wird
heute als Kunst bezeichnet, und das hat natürlich viel mit Werbung zu tun.
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Musik(hoch, dann unter Text): Freiwillige Selbstkontrolle „Was kostet die
Welt“
Erzähler: Mit Genialem Dilletantismus, so der Verleger Martin Schmitz,
war niemals die absolute Vorherrschaft des Blödsinns gemeint. Sondern
die stetige Warnung davor, dass Professionalität das Allheilmittel unserer
Zeit ist, das alle Probleme, die es zum größten Teil selbst geschaffen hat,
lösen kann.
O-Ton (59) Schmitz: Ich denke, das ist das Interessanteste, was diese
Bewegung in den Achtzigerjahren überhaupt vorgebracht hat (…): Gegen
die Spezialisierung beispielsweise in Wissenschaft und Kunst, gegen die
Professionalisierung (…) Was wir heute haben (…) ist ja die komplette
Ökonomisierung der Welt oder die Professionalisierung, wenn man so will.
Ich habe zum Beispiel eine Sammlung des Begriffes „professionell“ (…)
also auf Plakaten, Werbung und sonst wie. Und das beste professionelle
Beispiel habe ich im „Hakle Profi-Line“. Das ist ein Toilettenpapier für
Profis.
O-Ton (61) englische Besucherin (unter Erzählertext weg): I do like it,
it’s about youth culture and it is strange to see that, when you come here
when you’ve seen the rest of the museum, because it is so different.
Erzähler: Dass der Geniale Dilletantismus längst nicht tot ist, zeigt unter
anderem die Ausstellung im Münchner „Haus der Kunst“ zu diesem
Thema. Seit ihrer Eröffnung im Juni 2015 können sich die Veranstalter
über mangelnden Zulauf nicht beklagen. Und der Geniale Dilletantismus
hat zeitgenössische Formen gefunden: in der alternativ-kulturellen Do-ityourself-Bewegung
und
in
den
Youtube-Videos.
Oder
auf
der
Vermarktungsebene dadurch, dass viele Independent-Bands ihre CDs gar
nicht erst zum Verkauf anbieten, sondern gleich zum Download ins Netz
stellen. Viele Geniale Dilletanten arbeiten heute hochprofessionell: Frank
Behnke
von
„Campingsex“
beispielsweise
ist
Dozent
an
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Medienakademien.
Wieland
Speck,
Moderator
der
„Großen
Untergangsshow“ von 1981, ist seit 1992 Programmleiter der Sektion
Panorama der Internationalen Filmfestspiele Berlin – und Träger des
Bundesverdienstkreuzes.
Musik (frei): Freiwillige Selbstkontrolle „Was kostet die Welt“
Absage:
„Geniale Dilletanten“ – Die Kulturkritik der „Tödlichen Doris“ und die
Folgen“
Ein Feature von Michael Reitz
Es sprachen: Edda Fischer, Wolfgang Rüter und Michael Cirpici.
Ton und Technik: Christoph Rieseberg und Kiwi Hornung
Regie: Uta Reitz
Redaktion: Klaus Pilger
Produktion: Deutschlandfunk mit dem Südwestrundfunk 2015.
ENDE
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