Auch wir waren Flüchtlinge

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I M FO KU S
Luxemburger Wort
Montag, den 26. Oktober 2015
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Luxemburger Wort
Montag, den 26. Oktober 2015
unserer Gesellschaft. So der ehemalige Fernsehjournalist Mustafa Bijelic,
der hierzulande Zuflucht vor dem Jugoslawienkrieg fand. Oder auch Gewerkschaftsführer Carlos Pereira, der als kleiner Junge mit seinen Eltern
auf der Flucht vor Diktatur und Armut aus Portugal nach Luxemburg
kam. Wer Zeitzeugen sucht, stößt zwangsläufig aber auch auf einer andere Welt, auf Menschen die Luxemburg im zweiten Weltkrieg verlassen
mussten, weil ihre Heimatstadt oder ihr Dorf evakuiert wurde. So Theo
Jacoby, der als 15-Jähriger zum Beginn der deutschen Besatzung in
Frankreich Schutz fand.
VON STEVE REMESCH
„Auch wir waren Flüchtlinge“
Theo Jacoby
Im Jahr 1940 Kriegsflüchtling in Esch/Alzette
Am Tag der deutschen Invasion, am 10. Mai, sollte der
Sohn eines Textilhändlers eigentlich in ein Pfadfinderlager aufbrechen. „Ich war an diesem Freitagmorgen um 6 Uhr aufgestanden, um meinen Rucksack zu packen“, erinnert sich der heute 90-Jährige. „Da war dann
dieses Geräusch, keine schweren Kriegsflieger, sondern leichte Aufklärungsflugzeuge und die kreisten über
Esch“. Viele Leute seien durch den Fluglärm wach geworden. Knapp zwei Stunden später gab es Klarheit:
„D'Preise sinn do!“
Esch wurde schnell zur Frontlinie. Deutsche Truppen lagen in Lallingen, französische Einheiten gleich
jenseits der Grenze „In unseren Augen waren die Franzosen sehr stark und durch die Maginot-Linie gut gesichert“, sagt der spätere Resistenzler Jacoby. „Doch das
war ein Trugschluss.“
Am frühen Nachmittag des 10. Mai 1940 habe dann
ein Gemeindearbeiter Plakate aufgeklebt: Esch wird
evakuiert, ließ der Schöffenrat mitteilen. Frauen und
Kinder sollten noch am gleichen Abend nach Frankreich aufbrechen und die Männer am nächsten Morgen
folgen. Eine Vorgabe, der aber kaum jemand Folge leistete: Die Familien blieben vereint und brachen gemeinsam vorrangig nach Frankreich auf. „Mit dem
Rucksack, Koffern, Kinderwagen und Puppenwagen“,
erläutert Theo Jacoby. „Alles was Räder hatte, wurde
benutzt“.
Mitten in diesem Flüchtlingstreck: Die Familie Jacoby aus der Escher Rue de la Gare. „Eine regelrechte Völkerwanderung auf den engen französischen Landstraßen“, unterstreicht Zeitzeuge Jacoby. Der Empfang in
Frankreich sei überwältigend gewesen. Unterwegs wurden die Escher immer wieder am Straßenrand mit heißem Kaffee und Essen versorgt. Bei Einbruch der Dunkelheit flogen dann erste Granaten, die aus der Maginot-Linie abgefeuert wurden, über ihre Köpfe hinweg.
Die Nacht verbrachte man mit rund 50 anderen Menschen in einem Neubau.
„Auf Schusters Rappen“, wie Theo Jacoby sagt, ging
es dann von Audun-le-Tiche nach Aumetz und zum
Bahnhof von Tiercelet und weiter mit dem Zug ins 50
Kilometer entfernte Briey. „Es herrschte keine Trauer-
47 000 Menschen aus dem Süden
des Landes mussten im Mai 1940
ihre Heimat verlassen.
Der damals 15-jährige Theo Jacoby
aus Esch/Alzette war einer von ihnen.
(FOTOS: STEVE REMESCH)
stimmung“, betont Jacoby. „Es gab einen gewissen Optimismus. Das schaffen wir schon, sagten wir uns. Wir
sind bei den Franzosen.“
Die Nachbarschaft aus der Rue de la Gare blieb zusammen und erreichte schließlich mit einem weiteren
Zug Dijon. Dort wurde die Gruppe dann auf Busse verteilt. „Wir kamen in ein kleines Dorf etwa 30 Kilometer
nördlich, nach Beaumont-sur-Vingeanne“, erzählt Theo
Jacoby.
Als die Luxemburger ankamen, wurden sie bereits erwartet. „Da standen Leute, die haben sich uns angesehen“, so Jacoby. In vielen Familien waren Vater und
Sohn zum Militärdienst eingezogen worden. Unter den
Flüchtlingen suchte man sich dann diejenigen aus, die
schwere Arbeiten ausführen konnten. Entlohnt wurde
die Arbeit mit Unterkunft und Nahrung.
Am 22. Juni 1940 kapitulierte Frankreich und in Esch
gab es somit keine Front mehr. Sofort bemühte man
sich in Dijon darum, wieder nach Hause zu kommen.
Ein Sonderzug wurde aufgestellt, der schließlich ganze
sieben Tage brauchte, um über Belgien ins Großherzogtum zu gelangen.Durch den Krieg waren große Streckenabschnitte unbefahrbar geworden. Auch bei der
Rückfahrt wurden die Escher von den Franzosen versorgt.
Am 28. Juni wurde das Sperrgebiet im Süden Luxemburgs aufgehoben. Am 30. Juni, einem Sonntag, erreichten Theo Jacoby und die anderen Escher ihre Heimat. Zwei Jahre später wird der inzwischen 17-Jährige
von der Handels- schule verwiesen, nachdem er sich geweigert hatte, sich der Hitlerjugend anzuschließen. Als
Jacoby mit 19 in die Wehrmacht eingezogen werden soll,
geht er in den Untergrund. Doch das ist eine andere Geschichte.
Von der sechswöchigen Flucht nach Frankreich behält Theo Jacoby vor allem eines in Erinnerung: „Die
Franzosen waren sehr gut zu uns und haben uns immer
geholfen, wo sie nur konnten.“ Das werde er nie vergessen, meint er. „Es sollte uns als Beispiel dafür dienen, wie wir Luxemburger handeln sollten, wenn nun
andere Menschen zu uns kommen und auf unsere Hilfe
angewiesen sind.“
Bürgerkrieg in Syrien und im Irak, Folter in Eritrea, Armut am Balkan:
Tausende Menschen suchen dieser Tage in Europa nach einem sicheren
Hafen. Auch in Luxemburg. Selten zuvor wurde die Flüchtlingsfrage derart in der Öffentlichkeit debattiert. Dabei hat es sie schon immer gegeben,
Vertriebene, Emigranten oder auch Gastarbeiter. Sie haben ihr Glück im
Großherzogtum gesucht und viele haben es auch gefunden. Einige haben
das Land später wieder verlassen. Andere sind heute fester Bestandteil
Carlos Pereira
Kam 1969 unter abenteuerlichen Um
ständen aus Portugal nach Luxemburg
Die Familie von Gewerkschafter
Carlos Pereira flüchtete 1969 in
einer Nacht- und Nebelaktion vor
Armut und Diktatur in Portugal.
Gewerkschafter Carlos Pereira kam unter sehr abenteuerlichen Umständen Ende der 60er-Jahre aus Portugal nach Luxemburg. Seine Eltern waren vor der Armut und der Diktatur in ihrer Heimat geflüchtet.
Dass das heutige Mitglied des OGB-L-Vorstands Pereira in Luxemburg aufwuchs, ist für ihn reiner Zufall.
Seine Eltern lebten über Jahre in einer Wellblechhütte
in einem Armenviertel von Porto. Sein Vater, ein ehemaliger Landarbeiter, sah 1967 in seiner Heimat keine
Perspektive mehr und entschied, das Land heimlich und
zu Fuß über die „grüne Grenze“ im Norden Portugals
zu verlassen. In Marseille schlich er sich mit einem
Kompagnon auf einen Güterzug mit unbekanntem Ziel.
Der Schweinetransport stoppte schließlich und die
beiden Männer wurden von Zöllnern in Empfang genommen, die ihnen erst einmal erklären mussten, wo
Luxemburg überhaupt liegt. Ohne Ausweispapiere wurden die Flüchtlinge jedoch erst einmal nach Marseille
zurückgeschickt.
Sie versuchten es erneut: Sie nahmen wieder einen
Viehtransport, der zufälligerweise ebenfalls erst an der
Luxemburger Grenze hielt.
Diesmal hatten die Zöllner jedoch Mitleid mit den erschöpften und ausgehungerten Portugiesen. Sie führten
sie in eine Escher Gaststätte, wo sie sich waschen konnten und erst einmal eine warme Mahlzeit bekamen. Die
Nächte verbrachten die Neuankömmlinge in den Bussen, die damals unter dem Escher Viaduc abgestellt waren. Dem Einsatz von zwei italienischstämmigen Wirtsfrauen verdankten sie später einen Aushilfsjob am Bau
und eine Unterkunft. „Das war ein Haus, in dem
Schichtarbeiter übernachteten und sich die Betten teilten“, erzählt Carlos Pereira, der zwei Jahre
später mit seiner Mutter nach Luxemburg kam.
Auch ihre Flucht sollte mehr als nur abenteuerlich
werden. Basilio, ein junger Mann aus Esch mit einem
umgebauten, leistungsstarken Peugeot 504 hatte zu der
Zeit bereits mehrfach Menschen aus Portugal nach Luxemburg geschmuggelt. „Meiner Mutter wurde irgendwann gesagt, sie solle mit leichtem Reisegepäck an einem verlassenen Ort auf einen Wagen mit schwarzen
Kennzeichen warten“, schildert Carlos Pereira. Die
Mutter kam mit ihrem vierjährigen Sohn zum vereinbarten Treffpunkt. Basilio und der mysteriöse Wagen
ließen nicht lange auf sich warten.
Was dann passierte, kennt der heute 49-jährige Carlos Pereira nur aus den Erzählungen von Basilio. Seine
Mutter habe nie gerne über die Umstände ihrer Flucht
geredet. So sei die geheime Staatspolizei „Pide“ Basilio
an diesem Tag dicht auf den Fersen gewesen. Der
schnelle Wagen sei nur mit knapper Not entkommen
und habe an der Grenze die Zollschranke durchbrochen.
Eine Rückkehr nach Portugal war ausgeschlossen. Es
wäre der sichere Weg ins Gefängnis gewesen. Viele,
die nach der Revolution aus der Haft entlassen wurden, sind heute schwer behindert, weil sie misshandelt
wurden, ihnen die Knochen gebrochen wurden.
„Luxemburgisch habe ich auf der Straße gelernt“,
fährt Carlos Pereira fort. In der „Hiel“, einem traditionellen Berg- und Stahlarbeiterviertel sei er damals das
einzige portugiesische Kind gewesen. Auch Italienisch
habe er schnell gelernt – bei den Nonnen der italienischen Mission in der ehemaligen Rue des Beurs. Auch
sein Vater lernte am Bau eher Italienisch als Luxemburgisch oder Französisch.
„Mein Vater sagte immer, als er nach Luxemburg gekommen sei, habe er Luxemburg als schwarzes Land gesehen“, erinnert sich Pereira. „Schwarz, weil die Fassaden im Süden wegen der Schwerindustrie derart verschmutzt waren. Heute ist Esch ja eine sehr bunte Stadt.“
„Das mit den Papieren ging damals sehr unkompliziert“, führt Carlos Pereira weiter aus. Luxemburg
brauchte Arbeitskräfte und die Portugiesen waren da.
Und die konnten vor allem auf Unterstützung jener
Migranten zählen, die vor ihnen ins Land kamen.
„So sollten auch die Menschen, die jetzt auf der Flucht
sind, behandelt werden“, untermauert Carlos Pereira.
Es habe ja auch schon andere Immigrationswellen gegeben, etwa aus Polen, Italien und eben Portugal. „Seine Familie zurückzulassen, ist immer ein menschliches
Drama. Niemand flüchtet ohne Grund. Wir sollten Respekt zeigen, Verständnis haben, helfen und solidarisch
sein“, so der Gewerkschafter.
Mustafa Bijelic
Floh 1995 vor dem Bosnienkrieg nach Luxemburg
„Uns ging es in Jugoslawien eigentlich immer sehr gut“,
eröffnet Mustafa Bijelic. „Wir waren unter dem Sozialismus vielleicht nicht so frei, wie die Menschen im
Westen, aber wir konnten auch reisen.“ Als 1992 der
Krieg auf dem Balkan ausbrach, arbeitete der heute 49Jährige als Fernsehjournalist bei einem regionalen Sender. „Es war eine sehr turbulente und auch schon mal
gefährliche Zeit“, erzählt Bijelic mit einer überraschenden Selbstverständlichkeit. „Wir waren Mitte 20 und
wir haben das gemacht, was die Leute von den großen
Medienhäusern sich nicht getraut haben. Wir haben von
der Frontlinie berichtet, hielten engen Kontakt zu ausländischen Journalisten und zu den UN-Soldaten.“
Tusla war weniger ein Schlachtfeld als etwa Sarajewo. Dennoch bestimmte der Konflikt das alltägliche Leben. „Jeden Tag hörte man, jemand sei getötet worden
oder jemand sei ins Ausland gegangen“, sagt Bijelic.
Weggehen sei aber auch im Krieg nie eine Option gewesen. „Das Ende des Konflikts schien unmittelbar bevorzustehen“, sagt der Ex-Journalist. „Wir haben eigentlich nur noch darauf gewartet.“ Doch dann kam der
25. Mai 1995.
Es war der erste warme Tag des Jahres und mehr als
Tausend junge Menschen hatten sich vor den Bars an einem belebten Platz in Tuzla versammelt. Dann schlug
eine Artilleriegranate inmitten der Menschenmenge ein.
71 Menschen starben, 173 wurden verletzt. „Ich war als
Journalist vor Ort und habe die Toten gesehen“, erinnert sich Bijelic. „Ich war auch im Krankenhaus, wo
die Leichen nebeneinander aufgebahrt waren“. Das habe alles verändert. „Das jüngste Todesopfer war der
Sohn eines engen Freundes“, fährt er mit inzwischen etwas zittriger Stimme fort. „Der Junge war zwei Jahre
alt. Meine Tochter wurde 1994 im Krieg geboren.“
Wenige Monate später sollte für seinen Sender von
einer Konferenz aus Straßburg zu berichten. Als er in
das Flugzeug dorthin stieg, wusste er, dass er nicht zurückkehren würde. Er wollte zu Verwandten, die in den
siebziger Jahren als Gastarbeiter nach Luxemburg gekommen waren.
Im Großherzogtum konnte er zunächst auf zwei
Freunde zählen – zwei Journalisten, die er im Krieg ken-
Tuzla, die Heimatstadt des
bosnischen Fernsehreporters
Mustafa Bijelic lag 1995 eigentlich in einer UN-Schutzzone. Doch dann explodierte eine
Artilleriegranate inmitten einer
Menschenmenge und tötete 71
Menschen.
nengelernt hatte. „Wir hatten sie damals bei uns aufgenommen“, erzählt Bijelic. „Sie hatten keinen Pass und
kein Geld mehr. Mein Vater hat ihnen damals 500 DMark geliehen, damit sie wieder nach Hause konnten.“
Die beiden Luxemburger zeigten sich erkenntlich, verhalfen Bijelic zu einem ersten Job in einer Bar in Hollerich. „Ein bisschen stolz bin ich schon“, meint der 49Jährige. „Ich habe nur einen Monat lang die staatliche
Unterstützung für Asylbewerber in Anspruch genommen. Ich wollte arbeiten und habe jeden Job angenommen.“ So arbeitete er auch als Anstreicher – das war
sein Glück.
Bei Malerarbeiten lernte er nämlich ein wohlhabendes Ehepaar aus England kennen. „Ich werden diesen
Menschen ewig dankbar sein“, bekräftigt Bijelic. „Ich
habe ihnen meine Geschichte erzählt und auch, dass
ich meine Frau und meine kleine Tochter ebenfalls nach
Luxemburg holen wollte. Sie besaßen ein zweites Haus
in Simmern, in dem sie uns später drei Jahre lang kostenlos leben ließen. Das ist unglaublich, du hast alles
aufgegeben und da sind Menschen, die geben dir ein Zuhause.“ Im Gegensatz zu vielen Landsleuten, die unter
Lebensgefahr flüchteten, von Menschenschmugglern
ausgebeutet wurden oder lange in der Kälte ausharren
mussten, habe er sehr großes Glück gehabt.
Heute hat das Ehepaar Bijelic die Luxemburger
Staatsbürgerschaft. Mustafa arbeitet als unabhängiger
Möbelhändler, seine Frau Mersija bei einer Bank. Seine
Tochter Dina studiert in Berlin und sein 17-jähriger Sohn
Emir ist Schüler und Jugendspieler beim FC Metz.
„In Luxemburg habe ich mich von Anfang an sehr
wohl gefühlt“, sagt Mustafa Bijelic. „Ich hatte
nie das Gefühl, ein Fremder zu sein oder nicht hierher
zu gehören. Die Menschen, denen ich begegnete, waren alle sehr offen und nett. Das hat vieles vereinfacht.“
In den Flüchtlingen, die heute nach Europa kommen,
erkennt er einen Teil seiner eigenen Geschichte wieder. „Auch diese Menschen haben jahrelang auf das Ende des Krieges gewartet und die Hoffnung bewahrt“,
sagt er. „Erst als ein normales Leben nicht mehr möglich war, verließen auch sie auch sie ihre Heimat.“
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