Rechtsstaatsprinzip: Begriff

Vorlesung Öffentliches Recht I
Staatsorganisationsrecht III
Wiederholung
Was vermuten Sie: Enthält das Grundgesetz eine Regelung über die
Gesetzgebungskompetenz für das Schulrecht?
Welche Arten von Gesetzgebungskompetenzen des Bundes gibt es
und worin unterscheiden sie sich?
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19.10.2015
Prof. Dr. Matthias Bäcker, LL.M.
Themen heute
Rechtsstaatsprinzip: Begriff
Rechtsstaatsprinzip: Ausprägungen
Gesetzesbegriff und Normenhierarchie
Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes
Rechtssicherheit, Vertrauensschutz und Rückwirkungsverbot
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Rechtsstaatsprinzip: Begriff
Ausübung politischer Herrschaft nur aufgrund und im Rahmen des
Rechts
Formeller und materieller Rechtsstaatsbegriff
Wesentliche Ausprägungen (Überblick)
Grundrechte
Gewaltenteilung
Rechtsbindung der staatlichen Gewalt
Rechtsschutz
Rechtssicherheit und Vertrauensschutz
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Beispielsfall
Terroristin T verbüßt wegen mehrfachen Mordes eine lebenslange
Freiheitsstrafe. Nach einer Haftzeit von 25 Jahren richtet sie ein
Gnadengesuch an den Bundespräsidenten (Art. 60 Abs. 2 GG), dessen
Mutter – eine frühere Spitzenbeamtin – sie getötet hat. Der
Bundespräsident lehnt das Gnadengesuch ohne inhaltliche Prüfung ab. Er
sei nicht bereit, die Mörderin seiner Mutter zu begnadigen. Eine weitere
Auseinandersetzung mit dem Gesuch sei entbehrlich, da Gnade vor Recht
gehe.
Trifft diese Auffassung des Bundespräsidenten zu? Muss T von
Verfassungs wegen (Art. 19 Abs. 4 GG) eine Möglichkeit haben, gegen
die Ablehnung ihres Gesuchs gerichtlich vorzugehen?
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Unterscheide
materiell-rechtliche Grundrechtsbindung der Gnadenentscheidung, Art. 1
Abs. 3 GG  zumindest Anforderungen aus Art. 3 Abs. 1 GG, der hier
verletzt sein dürfte
prozessuale Durchsetzung  nach h.M. ungeschriebene Ausnahme von
Art. 19 Abs. 4 GG, kein Rechtsweg gegen Gnadenentscheidungen
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Gesetz: Begriff und Funktionen
Begriff
Formeller Gesetzesbegriff: Erlass durch den Gesetzgeber im
Gesetzgebungsverfahren
Materieller Gesetzesbegriff: Abstrakt-generelles Regelwerk
Funktionen
Legitimation staatlicher Herrschaft
Rechtssicherheit
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Normenhierarchie
Unterscheidung nach Rechtskreisen
Bund: Grundgesetz, Gesetz, andere Rechtssätze, Einzelakt
Länder: Landesverfassung, Gesetz, andere Rechtssätze, Einzelakt
Konflikt von Bundesrecht und Landesrecht: Vorrang des Bundesrechts,
Art. 31 GG (Vorsicht! Geringe praktische Relevanz!)
Unionsrecht als weitere Rechtsebene mit unmittelbarer innerstaatlicher
Wirkung
Interne Hierarchie: Primärrecht (Verträge), Sekundärrecht (Verordnungen,
Richtlinien und Entscheidungen), abgeleitete Rechtsakte
Anwendungsvorrang gegenüber dem gesamten mitgliedstaatlichen Recht
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Gesetzmäßigkeit der Verwaltung
Vorrang des Gesetzes, Art. 20 Abs. 3 GG: ausnahmslose Geltung
Vorbehalt des Gesetzes
Kein „Totalvorbehalt“
Geltung für Grundrechtseingriffe
Parlamentsvorbehalt und „Wesentlichkeitstheorie“
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Normenklarheit und Normenbestimmtheit
Ziele: Vorhersehbarkeit, Anleitung, Kontrollierbarkeit staatlichen
Verhaltens
Generalklauseln, unbestimmte Rechtsbegriffe, behördliches Ermessen
nicht grds. unzulässig
Besondere Anforderungen im Strafrecht aus Art. 103 Abs. 2 GG
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Beispielsfall
Nach § 242 StGB wird wegen Diebstahls bestraft, wer eine fremde
bewegliche Sache wegnimmt, um sie sich oder einem anderen
zuzueignen.
T zapft die Stromleitung zum Haus ihrer Nachbarin N an, um sich
kostenlos Energie zu beschaffen. Hat sie sich nach § 242 StGB strafbar
gemacht?
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Sache ist körperlicher Gegenstand, Elektronenfluss ist gerade nichts
Körperliches
Analoge Anwendung von § 242 StGB ist mit strafrechtlichem
Bestimmtheitsgrundsatz des Art. 103 Abs. 2 GG nicht vereinbar
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Rückwirkungsverbot
Ziel: Rechtssicherheit in der Zeit
Strafrecht: Art. 103 Abs. 2 GG
Außerhalb des Strafrechts: Art. 20 Abs. 3 GG, unterscheide
Echte Rückwirkung
Änderung der Rechtslage mit Blick auf einen abgeschlossenen Sachverhalt
Grundsätzlich unzulässig
Unechte Rückwirkung
Änderung der Rechtslage mit Blick auf einen in der Vergangenheit
begonnenen, aber noch laufenden Sachverhalt
Abwägungsfaktor, evtl. sind Ausnahme- oder Übergangsregelungen geboten
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Weitergehender Vertrauensschutz
Grundsatz: Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers
Ggfs. Abmilderung von Härten durch Ausnahme-, Übergangs- oder
Ausgleichsregelungen
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Beispielsfall (schwierig)
Ein Gesetz über Verbraucherverträge sieht vor, dass für Streitigkeiten aus
solchen Verträgen ausschließlich das Gericht am Wohnsitz des Kunden
zuständig ist. Entgegenstehende Vereinbarungen sind selbst dann nichtig,
wenn sie bereits vor Inkrafttreten des Gesetzes geschlossen wurden;
bereits laufende Gerichtsverfahren bleiben allerdings unberührt.
Die X-GmbH hat mit Verbraucher V vor Inkrafttreten des Gesetzes einen
Verbrauchervertrag geschlossen, in dem die Parteien – nach damaliger
Rechtslage zulässigerweise – als Gerichtsstand den Sitz der X vereinbart
haben. Nach Inkrafttreten des Gesetzes kommt es zu einem Rechtsstreit
zwischen X und V, für den nunmehr das Gericht am Wohnsitz des V
zuständig ist. X hält das neue Gesetz für verfassungswidrig.
Zu Recht?
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Echte Rückwirkung?
Ja bei Abstellen auf Vertragsschluss und die damit bereits gesetzte
Rechtsfolge
Nein bei Abstellen auf Anwendung des Vertrags durch das Gericht
Rechtfertigung
Als echte Rückwirkung kaum denkbar
Als unechte Rückwirkung rechtfertigungsfähig wegen des Gewichts des
Verbraucherschutzes
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Lehren des Tages
Formeller und materieller Gesetzesbegriff
Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes
Grundsatz der Normenklarheit und Normenbestimmtheit
Echte/unechte Rückwirkung
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Nacharbeit
Degenhart, § 4 I und II
Vertiefung
BVerfGE 47, 46 (Sexualkundeunterricht)
BVerfGE 92, 1 (Sitzblockaden)
BVerfGE 95, 96 (Mauerschützen)
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