Vorlesung Öffentliches Recht I Allgemeine Grundrechtslehren I Wiederholungsfall Der Bundestag ändert im April 2015 das Einkommensteuergesetz. Die neuen Regelungen sehen beträchtliche Steuererhöhungen vor, die erstmals für die Einkommensteuer 2014 anfallen sollen, sofern zu dem Zeitpunkt, in dem das Gesetz in Kraft tritt, hierfür noch kein Steuerbescheid erlassen worden ist. Ist dies verfassungsrechtlich zulässig? 2 19.10.2015 Prof. Dr. Matthias Bäcker, LL.M. Themen heute Grundrechtsfunktionen Prüfung eines Abwehrrechts (1) 3 19.10.2015 Prof. Dr. Matthias Bäcker, LL.M. Grundrechtsfunktionen Primär: Inhaltliche Beschränkung staatlicher Hoheitsgewalt Abwehrrechte Gleichheitsrechte Erweiterungen Schutzpflichten gegen Übergriffe Privater Leistungsrechte zur Gewährleistung tatsächlicher Freiheit Objektiv-rechtliche Einrichtungspflichten (Mittelbare Drittwirkung) 4 19.10.2015 Prof. Dr. Matthias Bäcker, LL.M. Beispiele Welche Grundrechtsfunktionen sind in den folgenden Fällen einschlägig: 1. A beschimpft B und wird wegen Beleidigung (§ 185 StGB) zu einer Geldstrafe verurteilt. 2. A beschimpft B. B verklagt A auf Unterlassung der Beschimpfung (§§ 823, 1004 BGB). Das Gericht weist die Klage ab, weil es der Auffassung ist, dass die Beschimpfung noch von der Meinungsfreiheit des A gedeckt ist. 3. Der schwer erkrankte Sozialhilfeempfänger X wendet sich dagegen, dass der zuständige Sozialhilfeträger sich weigert, eine bestimmte (umstrittene) therapeutische Maßnahme zu bezahlen. 4. Die schwer erkrankte Angestellte X wendet sich dagegen, dass ihre gesetzliche Krankenkasse sich weigert, eine bestimmte (umstrittene) therapeutische Maßnahme zu bezahlen. 5 19.10.2015 Prof. Dr. Matthias Bäcker, LL.M. 1. 2. 3. 4. 6 Abwehrrecht Schutzpflicht (Drittwirkungsfall) Leistungsrecht Abwehrrecht wg. Krankenversicherungspflicht 19.10.2015 Prof. Dr. Matthias Bäcker, LL.M. Prüfung eines Abwehrrechts Schutzbereich Eingriff Verfassungsrechtliche Rechtfertigung 7 19.10.2015 Prof. Dr. Matthias Bäcker, LL.M. Schutzbereich (1) Persönlicher Schutzbereich Jedermanns- und Deutschengrundrechte EU-Ausländer: Anwendungserweiterung von Deutschengrundrechten (vgl. Art. 18 AEUV) Nicht-EU-Ausländer: Art. 2 Abs. 1 GG als Auffanggrundrecht Grundrechtsschutz juristischer Personen, Art. 19 Abs. 3 GG Allgemeine Voraussetzung: Anwendbarkeit dem Wesen nach Problemfall 1: juristische Personen des öffentlichen Rechts Problemfall 2: juristische Personen aus dem EU-Ausland 8 19.10.2015 Prof. Dr. Matthias Bäcker, LL.M. Schutzbereich (2) Sachlicher Schutzbereich Spezifische Schutzgehalte der Spezialgrundrechte Art. 2 Abs. 1 GG als allgemeine Handlungsfreiheit und Auffanggrundrecht 9 19.10.2015 Prof. Dr. Matthias Bäcker, LL.M. Beispielsfall Der syrische Staatsangehörige muslimischen Glaubens S ist als Metzger tätig. Sein Angebot richtet sich primär an die Angehörigen muslimischer Gemeinden vor Ort, die nach ihren religiösen Überzeugungen allein das Fleisch geschächteter (d.h. ohne Betäubung durch einen Halsschnitt getöteter und vollständig ausgebluteter) Tiere verzehren dürfen. Die zuständige Behörde untersagt S das Schächten unter Berufung auf das Tierschutzgesetz. In welchem Grundrecht ist S hierdurch betroffen? (Nach BVerfGE 104, 337) 10 19.10.2015 Prof. Dr. Matthias Bäcker, LL.M. Art. 12 GG – S ist kein deutscher Staatsangehöriger Art. 4 GG – Schächten ist für sich genommen grds. keine religiöse Handlung (<> rituelles Speiseopfer o.ä.) (a.A. gut vertretbar) BVerfG: Einschlägig ist allgemeine Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG Aber wegen Nähe zur Religionsausübung materielle Verstärkung durch Ausstrahlungswirkung des Art. 4 GG 11 19.10.2015 Prof. Dr. Matthias Bäcker, LL.M. Eingriff (1) „Klassischer“ Eingriffsbegriff unmittelbare und imperative Verkürzung grundrechtlicher Freiheit durch eine staatliche Maßnahme Unterscheide Eingriff durch Gesetz Eingriff aufgrund eines Gesetzes 12 19.10.2015 Prof. Dr. Matthias Bäcker, LL.M. Eingriff (2) Problem: mittelbare und/oder faktische Beeinträchtigung als Grundrechtseingriff? Weitgehend unproblematische Fälle Intendierte eingriffsäquivalente Wirkung auf grundrechtliche Freiheit Faktische Beeinträchtigung einer grundrechtlich geschützten dinglichen Substanz (Körper, Sache, Raum) oder Kommunikation Problematisch: bloße Einwirkung auf das (soziale) Umfeld des Freiheitsgebrauchs mit überindividueller Zielsetzung Position 1 (h.L.): Zurechnungsproblem, Zurechnungskriterien Intensität und/oder (weit verstandene) Finalität/Vorhersehbarkeit Position 2 (BVerfG-Rspr): Schutzbereichsproblem, maßgeblich ist spezifischer Gewährleistungsgehalt eines Grundrechts 13 19.10.2015 Prof. Dr. Matthias Bäcker, LL.M. Beispiele Bitte ordnen Sie die folgenden Beeinträchtigungen nach den Begriffspaaren mittelbar/unmittelbar und faktisch/imperativ ein. Handelt es sich jeweils um Grundrechtseingriffe? 1. Ein Gesetz verbietet das Rauchen in bestimmten öffentlich zugänglichen Räumlichkeiten, unter anderem auch Gastwirtschaften. Hierdurch erleiden manche Gastwirte erhebliche Umsatzeinbußen. 2. Ein Panzer der Bundeswehr gerät auf dem Weg zu einem Manöver von der Straße ab und rutscht auf einen Weinberg. Hierdurch werden die meisten Reben zerstört. 3. Ein Unternehmen erhält eine Subvention, mit deren Hilfe es seine Wettbewerbsposition zulasten konkurrierender Unternehmen verbessert. 4. Eine Universität unterhält eine Sportanlage, die ausschließlich für den Hochschulsport genutzt wird. Eine Studierendeninitiative will auf der Sportanlage eine Demonstration durchführen. Die Universität weigert sich, die Sportanlage zur Verfügung zu stellen. 14 19.10.2015 Prof. Dr. Matthias Bäcker, LL.M. 1. Für Gäste unmittelbar-imperativer Eingriff in Art. 2 Abs. 1 GG, für Gastwirte mittelbar-imperativer Eingriff in Art. 12 Abs. 1 GG 2. Unmittelbar-faktischer Eingriff in Art. 14 GG 3. Mittelbar-faktische Beeinträchtigung von Art. 12 Abs. 1 GG, Eingriffscharakter sehr str. 4. Leistungsfall, Art. 8 GG gewährleistet keinen Zugang zu Räumen ohne kommunikative Funktion 15 19.10.2015 Prof. Dr. Matthias Bäcker, LL.M. Lehren des Tages Grundrechtsfunktionen Prüfung eines Abwehrrechts Eingriffsbegriff 16 19.10.2015 Prof. Dr. Matthias Bäcker, LL.M. Nacharbeit Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher, § 4 – § 6 III Vertiefung BVerfGE 128, 226 (Fraport) 17 19.10.2015 Prof. Dr. Matthias Bäcker, LL.M.
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