Brasilien: Entwicklungsland oder neue Führungsmacht?

Brasilien
Grundlagen M a r t in Coy und S imone S andholz
Brasilien: Entwicklungsland
oder neue Führungsmacht?
Ein regionaler Überblick
B
rasilien wird zukünftig eine strategische Stellung
im Globalisierungsprozess einnehmen. Und doch
gibt es neben allen Zukunftspotenzialen des Landes
auch eine ganze Reihe von sozioökonomischen,
sozial­kulturellen und ökologischen Limitationen. So ist Brasi­
lien seit jeher durch wirtschaftliche, soziale und räumliche
Disparitäten gekennzeichnet, in denen sich historisches Erbe,
Entwicklungsstile und ihre Folgen, in jüngeren Jahren aber
sicher­lich auch die Konsequenzen der Einbindung des Landes
in die Globalisierung niederschlagen. Um die Widersprüch­
lichkeiten, vor denen das Land heute steht, in ihrer Vielfalt zu
verstehen, ist es notwendig, Brasiliens großregionale Struk­
tur, Differenzierung und Dynamik in ihrer jeweiligen histo­
rischen, ökonomischen, sozialen und ökologischen Bedingt­
heit zu begreifen.
„FIFA RAUS“ fordert die Menschenmenge zu Beginn der Proteste im Juni 2013. Ein Großteil der brasilianischen Bevölkerung verlangt Investitionen in das
Bildungs- und Gesundheitssystem anstatt in Sport-Großveranstaltungen
Foto: Reuters (Sergio Moraes)
Praxis Geographie 3|2014
lizenziert für Michael Wirk am 08.09.2015
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Brasiliens wirtschaftliche und soziale Dynamik der letzten
Jahre ist erstaunlich. Das Land ist der drittgrößte Flugzeughersteller der Welt, es ist einer der wichtigsten KFZ-Produzenten und es verfügt über Spitzenforschung in den unterschiedlichsten Bereichen. Vor allem ist Brasilien ein flächenund rohstoffreiches Land, was ihm eine führende Stellung
auf den Weltmärkten der agrarischen und mineralischen
Roh­stoffe verschafft.
Wenn man die fünf brasilianischen Großregionen hinsicht­
lich der Indikatoren Bevölkerungsverteilung oder wirtschaft­
liche Wertschöpfung betrachtet, wird die Vorrangstellung des
Südostens offensichtlich. Nach dem letzten Bevölkerungszen­
sus von 2010 leben 42 % aller Brasilianer (in absoluten Zah­
len ca. 82 Millionen) in den vier Bundesstaaten des Südostens
São Paulo, Rio de Janeiro, Minas Gerais und Espírito Santo, die
zusammen lediglich 11 % der Gesamtfläche des Landes aus­
machen. In diesen vier Bundesstaaten werden 55 % des brasi­
lianischen Bruttoinlandsproduktes (2010) ­erwirtschaftet.
Naturräumlich durch das Küstengebirge der Serra do Mar
und das Verbreitungsgebiet des Küstenregenwaldes, der Mata
Atlântica, gekennzeichnet, wurde ab dem 19. Jahrhundert der
rasch expandierende Kaffeeanbau zum Motor des Aufstiegs
des Südostens zur Kernregion Brasiliens. Das mit dem Kaf­
fee erwirtschaftete Kapital wurde in den Städten, vor allem
in São Paulo, zunehmend in gewerbliche und industrielle
Akti­vitäten investiert. Insofern kann man mit Fug und Recht
­sagen, dass die Industrieregion Südost-Brasilien ihren wesent­
lichen Ursprung im Kaffeeanbau hat. Vor allem São Paulo und
sein Umland, aber auch die Großräume Belo Horizonte und
Rio de Janeiro, wuchsen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhun­
derts zu Industrieagglomerationen von nationaler und inter­
nationaler Bedeutung heran. Fahrzeugbau, Elektrotechnik
und Elektronikindustrie, Chemie und Petrochemie sowie in
jüngerer Zeit Flugzeug- und Raumfahrtindustrie sowie ­andere
Schlüsseltechnologien kennzeichnen die industrielle Vielfalt.
Trotz der nach wie vor bestehenden Vormachtstellung des
Südostens lässt sich allerdings in den letzten Jahren doch ein
deutlicher industrieller Dekonzentrations- und Standortverla­
gerungsprozess beobachten. Beherbergte die Großregion 1996
noch mehr als 60 % aller Industriebetriebe des Landes, waren
es 2010 (wenn auch auf absolut sehr viel höherem Niveau)
„nur“ noch etwa 47 %. „Gewinner“ sind aufgrund steuerlicher
Vergünstigungen und sonstiger komparativer Kostenvorteile
insbesondere der Süden und Nordosten.
Auch für das Agrobusiness ist der brasilianische Südosten nach wie vor ein wesentlicher Standort. Neben dem
­ehemals dominierenden Kaffeeanbau hat sich seit den
1970er Jahren in erster Linie der großbetriebliche Zuckerrohr­
anbau in weiten Teilen von São Paulo im Gefolge der staat­
lich ­ geförderten Herstellung von Ethanol als Biotreibstoff
durch­gesetzt. Die großen Usinas bestimmen nicht nur den
ländlichen Raum, sondern indirekt auch zahlreiche Land­
städte, an deren Peripherien das „Arbeitsheer“ der bóia-fria,
der Tage­löhner der Zuckerrohrbetriebe, sich ein Überleben
zu sichern versucht. Vor diesem Hintergrund ist es nicht ver­
wunderlich, dass der brasilianische Südosten immer auch
eine Region der Landkonflikte war und, damit verbunden,
in den letzten Jahren zu einem wichtigen Aktionsgebiet der
Landlosen­bewegung MST (Movimento dos Trabalhadores
Sem-­Terra) ­geworden ist.
Vor allem ist es aber ein rasanter Verstädterungsprozess,
der im Lauf des 20. Jahrhunderts zum Charakteristikum des
räumlichen Wandels des brasilianischen Südostens ­ wurde.
Offi­ziell sind mehr als 93 % der Bevölkerung des Südostens
städtisch. Mit São Paulo und Rio de Janeiro verfügt der bra­silia­
nische Südosten über zwei der insgesamt vier mega­urbanen
Agglomerationen (mehr als 10 Millio­nen Einwohner) Latein­
0
Bergbau
Holzextraktion
Modernisierter Ackerbau und Viehzucht
Obstkulturen
Kleinbäuerliche Landwirtschaft
Binnentourismus
Küstentourismus
Agroindustrie
250
500
750
1000 1250
km
Traditionelle Industrie u. Dienstleistungen
Moderne Industrie und Dienstleistungen
Straßen
Flüsse
Eisenbahnen
Bundesstaatsgrenzen
Staatsgrenzen
Städte
Abb. 2: Faktoren regionaler Dynamiken
Quelle: Coy/Théry 2010
amerikas. Die Metropolitanregion von São ­Paulo gilt mit in­
zwischen mehr als 20 Millionen Einwohnern als sechst­größte
weltweit. Rio de Janeiro folgt mit einer Einwohnerzahl in der
Metropolitanregion von ca. 12 Millionen auf dem 24. Platz im
weltweiten Vergleich. Die beiden Mega­städte sind in ihrer
Struktur Vorreiter und Muster­beispiele für den Prozess der
sozialräumlichen Fragmentierung, der die Stadtentwicklung
und den städtischen Wandel in ­ allen lateinamerika­nischen
Ländern während der letzten Jahrzehnte prägte. Oftmals in
unmittel­barer Nachbarschaft finden sich ­Favelas mit den in
Brasilien als condomínios fechados bezeichneten Reichen­
ghettos. Allein in São Paulo existieren über 50 Shopping Cen­
ters, die als „Konsum- und Freizeitenklaven“ zunehmend die
Kommunikations- und Repräsentationsfunktionen des öffent­
lichen Raumes übernehmen. Die Innenstadt­bereiche durch­
liefen in den letzten Jahrzehnten tief greifende Verände­
rungen. Dabei kommt es nur allzu oft zu einer Verdrängung
derjenigen, für die das Stadtzentrum inzwischen Überlebens­
funktion erhalten hat. Diese sozialräumliche Ambivalenz
von Stadterneuerung zeigt sich im ­ Moment vor allem in
der Vor­bereitung auf die Groß-Events der nächsten Jahre:
Fußball-Welt­meisterschaft und Olympiade. ­ Dabei sind ­
Stadion-Um- und -Neubauten oder die Erstellung der olym­
pischen Sportstätten nur ein Aspekt. Die brasilianischen
­Städte – und besonders Rio de Janeiro – nutzen die Großsport­
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Die Kernregion des Südostens
Brasilien
ereignisse zum groß angelegten Stadtumbau, der, stark auf
dem Gedanken von public-private-partnerships ­ fußend, im
Sinn einer „unter­nehmerischen Stadtpolitik“ durchgeführt
wird, für die Inves­toreninteressen, Standortqualität, Stadt­
image und Stadtmarketing prioritär sind. Dagegen treten Vor­
stellungen von einem „Recht auf Stadt“ für alle, die sich in
Brasilien im Zug einer natio­nalen Stadtreformbewegung ab
den 1980er Jahren durchaus etablieren konnten, zusehends
in den Hintergrund. Wie unter dem Brennglas kann dies der­
zeit bei der Realisierung des Stadterneuerungsprojektes Por­
to ­ Maravilha in Rio de Janeiro beobachtet werden. Werden
also auf ­Dauer die bestehenden Ungleichheiten in Brasilien
auf den unterschiedlichen Maßstabsebenen eher verringert
oder weiter verstärkt? Die derzeitigen Entwicklungstrends
im ­Rahmen der bevorstehenden Megaevents weisen zumin­
dest nicht auf ­einen Wirkung versprechenden Disparitäten­
abbau hin.
Die Armutsregion des Nordostens
Die neun Bundesstaaten der Nordostregion (Maranhão, ­Piauí,
Rio Grande do Norte, Ceará, Paraíba, Pernambuco, Alagoas,
Sergipe und Bahia) stellen mit ca. 54 Millionen Einwohnern
die zweitgrößte Bevölkerungszahl des Landes. Eine Reihe von
sozialen Indikatoren kennzeichnen den Nord­osten als Problem­
60 W
40 W
Äquator
Südl. Wendekreis
Pazifik
Atlantischer Ozean
0
250
500
60 W
750
1000 1250
40 W
Südgrenze des amazonischen
Regenwaldes
Grenze des laubabwerfenden Waldes
Höhen zwischen 200 und 500 m ü. NN
Amazonien
Campos Cerrados
Caatinga
Küsten und atlantischer Regenwald
Entwaldungsbogen
Grasfluren
Entwaldung (atlantischer Regenwald)
Araukarien
Rutschungen
Pantanal
Desertifikation
Abb. 3: Ökosysteme und Bedrohungen
Quelle: Coy/Théry 2010
km
region: Das Pro-Kopf-Einkommen ist mit ca. 9 600 Reais/Jahr
(2010; rund 2 950 €) das niedrigste Brasiliens und erreicht ge­
rade einmal 40 % des Wertes für den Südosten. Der HDI-Wert
(Human Development Index) des Nordostens ist mit 0,72 der
niedrigste im Vergleich der Großregionen, die Analphabeten­
quote mit ca. 17 % und die Säuglingssterblichkeit mit 19 ‰
sind die Höchstwerte im gesamtbrasilianischen Vergleich.
Sozio­ökonomische und räumliche Disparitäten kennzeich­
nen Brasilien also nach wie vor als Land ungleicher Lebens­
bedingungen und Chancen, und hierfür ist die Nordostregion
gemein­hin das eindeutigste Beispiel.
Natur- und wirtschaftsräumlich lässt sich der Nordosten in
drei mehr oder minder parallel zur Küste verlaufende Raum­
einheiten untergliedern: Die Küstenebene der Zona da Mata,
der historische Kernraum des Nordostens, in dem die Zucker­
rohrplantagen beste Voraussetzungen fanden. Hieran schließt
sich der vergleichsweise schmale Streifen des ­ Agreste an,
ein „Übergangsraum“, in dem eine teilweise recht intensive
landwirtschaftliche Nutzung vorherrscht sowie ein Band
von Mittel­städten über Handel und Gewerbe „Drehscheiben­
funktion“ zwischen Küstenraum und Hinterland ausübt. Der
Agreste geht schließlich in die Weiten des Sertão, des klima­
tisch vorwiegend semiariden Hinterlandes, über. Das immer
wieder vorkommende Ausbleiben der Nieder­schläge führt zu
den Dürreperioden, die seit jeher die Abwanderung großer Be­
völkerungsmengen zur Folge haben. Insgesamt gilt der Nord­
osten sicherlich als die Region Brasiliens, in der das „koloniale
Erbe“ am stärksten präsent ist. Die ehemalige Dominanz der
Sklaverei als Basis der kolonialen Plantagenwirtschaft drückt
sich nach wie vor in der ethnischen Zusammensetzung der
Bevölkerung aus (im nationalen Vergleich die höchsten An­
teile schwarzer Bevölkerung), traditionelle Machtstrukturen
und coronelismo pausen sich bis heute in politischem Klien­
telismus und der Dominanz der alten regionalen Eliten durch.
Armut als Folge von wirtschaftlichem Niedergang bzw. wirt­
schaftlicher Stagnation und persistenter Ungleichheit wird
zum wesentlichen Treiber der Verdrängungsmigration, die
dazu führt, dass nordestinos sowohl das Arbeitskräftereser­
voir in den Megastädten des Südostens bilden als auch an den
Siedlungsgrenzen Amazoniens seit jeher eine wesentliche
Rolle spielen.
Aber das Bild von der Rückständigkeit und Krisenhaf­
tigkeit des Nordostens ist bei genauerer Betrachtung nur
die halbe Wahrheit. Mit den allgemeinen Modernisierungs­
bemühungen ab den 1970er Jahren verstärkte der Staat seine
Politik der Regionalentwicklung im Nordosten. Im Zentrum
stand der Bau von Staudämmen und Wasserkraftwerken ent­
lang des Rio São Francisco. Dort, zum Beispiel im Umland der
beiden Städte Petrolina und Juazeiro, entstanden auch die
großen Bewässerungsoasen, die heute als Produktions­gebiete
von tropischen Früchten – vor allem Mango und Papaya –
sowie von Tafeltrauben voll und ganz in globale Wertschöp­
fungsketten integriert sind. Mit einem seit 2007 betriebenen
Großprojekt, der Transposição do Rio São Francisco, das ­unter
anderem absolute Priorität im nationalen Investitionspro­
gramm PAC (Programa de Aceleração para o ­ Crescimento)
der Regierungen Lula und Rousseff hat, soll Wasser aus dem
Rio São Francisco in zwei Ableitungskanälen in die Trocken­
gebiete des Sertão geleitet werden. Ob von diesem Projekt
wirklich neue Perspektiven für den Nordosten Brasiliens
ausgehen, wird die Zukunft zeigen. Befürchtungen gehen da­
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Grundlagen Der Norden zwischen Ressourcenfrontier
und nachhaltiger Entwicklung
Amazonien ist nach wie vor mit ca. vier Millionen Quadratkilo­
metern das größte zusammenhängende tropische Regenwald­
gebiet der Erde, auch wenn in den letzten 40 Jahren ca. 15 %
der Regenwaldfläche zerstört oder zumindest stark degradiert
wurden, der größte Teil davon in Brasilien. Fast zwei Drittel
Amazoniens gehören zu Brasilien, und Amazonien stellt fast
60 % des brasilianischen Staatsterritoriums dar. Gemeint ist
hier die Planungsregion Amazônia Legal, in der nach dem Zen­
sus von 2010 ca. 24 Millionen Menschen, das entspricht ledig­
lich 12 % der Gesamtbevölkerung Brasiliens, auf 61 % des Ge­
samtterritoriums des Landes leben. Allerdings konzentrieren
sich mit 250 000 Bewohnern fast 60 % der indigenen Bevöl­
kerung Brasiliens in der Region Amazônia Legal. Insgesamt
wenig Menschen in einem riesigen Raum, zumal inzwischen
Städte über 70 % aller Bewohner Amazoniens beherbergen.
Schon immer war Amazonien eine Region, die die unter­
schiedlichsten Begehrlichkeiten der Menschen in besonde­
rem Maß auf sich zog. Mit dem Industrialisierungsprozess
im 19. Jahrhundert verbunden, bescherte der in der ­Region
heimische Kautschukbaum Amazonien gegen Ende des
19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen ersten Boom,
der die extreme Peripherie kurzzeitig ins weltweite Rampen­
licht ­stellte. Nach erneutem Niedergang brachte ab den 1960er
und 1970er Jahren eine im Wesentlichen durch den Staat aus­
gelöste und bis heute anhaltende Regionalentwicklungsdyna­
mik tief greifende demographische, wirtschaftliche, soziale,
kulturelle, vor allem aber auch ökologische Veränderungen
in einem zuvor unbekannten Ausmaß für die Region mit sich.
Straßenbau, kleinbäuerliche Agrarkolonisation, großbetrieb­
liche Rinderweidewirtschaft, Holzeinschlag, die Ausbeutung
mineralischer Ressourcen sowie der Ausbau des hydroener­
getischen Potenzials sind nur die wichtigsten Faktoren da­
für, dass das brasilianische Amazonien gleichzeitig als sozia­
les Sicherheitsventil, aber auch als scheinbar grenzenloser
„Ergänzungsraum“ für die brasilianische Wirtschaft galt. Ver­
bunden sind damit zahlreiche Konflikte um unterschiedliche
Nutzungsinteressen und Überlebensstrategien, um Land,
aber auch um die politische Vorherrschaft und um die geo­
strategische Kontrolle, die allzu oft gewaltsam ausgetragen
werden. Die von den brasilianischen Militärs in der Zeit der
Diktatur ab den 1960er Jahren unter dem Motto „Land ohne
Menschen für Menschen ohne Land“ betriebene Erschließung
Amazoniens sollte die vormalige Peripherie in den beschleu­
nigten Rhythmus der brasilianischen Modernisierung inkor­
porieren. Die traditionellen Bewohner Amazoniens, vor allem
die Indigenen, wurden im Interesse des vermeintlichen Fort­
schritts im wahrsten Sinn des Wortes an den Rand gedrängt.
In jüngerer Zeit beginnt man aber verstärkt auch in Amazo­
nien wieder nach Alternativen zum kompromisslosen Moder­
nisierungskurs zu suchen. So bestimmt seit der Weltumwelt­
konferenz von Rio de Janeiro 1992 das Nachhaltigkeitsleitbild
den Diskurs um Regionalentwicklung im größten Regenwald­
gebiet der Erde. Eine besondere Stellung nimmt Amazonien in
den internationalen Debatten zu anthropogenem Klimawan­
del und Klimaschutz ein, denn spätestens seit der Klimakonfe­
renz von Bali 2007 geht es in den Diskussionen zum globalen
Klimaregime in erster Linie um die bessere Einbeziehung der
großen Schwellenländer (also auch Brasilien), um die Funk­
tion der Wälder und des Waldschutzes im Klimawandel.
Jedoch bleiben die Widersprüche hinsichtlich der Funk­
tionen, die die unterschiedlichen Akteure – Politiker, Pla­
ner, Rinderzüchter, Energie- und Bergbauunternehmen, Klein­
bauern, Indigene, Umweltaktivisten, um nur einige zu nennen
– der Region zuweisen, bestehen. Amazonien als Ressourcen­
frontier, die mit Rohstoffen, Energie und vor allem mit ihren
unermesslichen Landreserven zur nationalen Wertschöpfung
beitragen soll. Dieser modernisierungsorientierten Logik,
die die Region noch stärker als bisher in die globalen Wert­
schöpfungsketten einbeziehen soll, folgen die Prioritäten des
nationalen Plans zur Wachstumsbeschleunigung (PAC): Aus­
bau der Straßen, neue Wasserkraftwerke, Implementierung
von Wasserstraßen usw. Dem stehen die Rechte der „Völker
des Waldes“, die Überlebensinteressen der Kleinbauern, der
Landlosen, der Verdrängten entgegen. Somit bleibt Amazo­
nien nach wie vor eine Region der handfesten Konflikte um
Verfügungsrechte über Land und andere Ressourcen.
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hin, dass sich die Tendenz hin zu einer „Kommodifizierung“
des Allmendegutes Wasser verstärken wird, dass in diesem
Zusammenhang die Kapitalkräftigen – beispielsweise über
die Ausdehnung von Bewässerungsoasen – die Gewinner des
­Projektes sind, die eigentlich Bedürftigen aber eher leer aus­
gehen werden.
Die globalisierte Region des Mittelwestens
Wenn es in den letzten Jahrzehnten in Brasilien eine Region
gab, die durch Einflüsse der Globalisierung ihr Profil verän­
dert hat, dann ist es der Mittelwesten. Bis in die 1960er ­Jahre
hinein traf auf die meisten Teilregionen des Mittelwestens,
zu dem offiziell die Bundesstaaten Goiás, Mato Grosso, Mato
Grosso do Sul und der Bundesdistrikt von Brasília gehören,
der Begriff des interior, des Hinterlandes, in besonderer Wei­
se zu. Viele Orte im Mittelwesten lebten über Generationen
hinweg aufgrund der enormen Entfernungen und aufgrund
der fehlenden Verkehrsanbindungen in fast kompletter Isola­
tion, weitab von den Zentren des Landes, und entwickelten
­ihren eigenen provinziellen Lebensrhythmus. Im 20. Jahrhun­
dert ändert sich dies. Vor allem unter Getúlio Vargas, in den
1930er und 1940er Jahren, gewinnt das brasilianische Hinter­
land sowohl in den politischen Diskursen als auch in den pla­
nerischen Maßnahmen an Bedeutung. In der Entwicklung und
Integration des Hinterlandes sah der Diktator einen wesent­
lichen Bestandteil seiner politischen Mission der Erneuerung,
des Estado Novo. Der Mittelwesten – vielleicht besser das
brasilianische Hinterland insgesamt – ist vor allem eine Re­
gion der Städtegründungen im Geist der Moderne. Emblema­
tische Bedeutung gewann dabei natürlich Brasília, das an der
Wende zu den 1960er Jahren unter der Präsidentschaft von
Juscelino Kubitschek, der Symbolfigur der Modernisierung
Brasiliens, gegründet und gebaut wurde. Das Gemeinschafts­
werk des Stadtplaners Lucio Costa und des Architekten ­Oscar
­Niemeyer wurde nicht nur zum weltweit bedeutsamen Sym­
bol des Städte­baus der Moderne, seine Realisierung zeugt
auch von der logistischen Fähigkeit des Landes, Großprojekte
von epochalen Ausmaßen zu realisieren. Trotz aller berech­
tigten Kritik an der sozialräumlichen Segregation, die den
Bundesdistrikt von Brasília, also den geplanten Stadtbereich
des „Plano Piloto“ und die spontan gewachsenen Vorstädte
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Grundlagen der „Cidades Satélites“, heute kennzeichnet, ist inzwischen
unbestritten, dass die Realisierung von Brasília den Auftakt
für einen der wohl tiefgreifendsten und dynamischsten Regio­
nalentwicklungsprozesse darstellte, den das Land je gesehen
hat. Denn Brasília diente seit den 1960er Jahren als Ausgangs­
punkt zur Erschließung der Peripherien. Fernstraßen – zum
Beispiel die Bundesstraßen Brasília–Belém, Brasília–Cuiabá–
Porto Velho bzw. Cuiabá–Santarém – fraßen sich durch die
Wälder und ­ Savannen und beendeten für die meisten Teil­
regionen die ­lange Zeit der Isolation und Stagnation. Mit den
Straßen kamen Landsuchende, Kolonisten, Großgrundbesit­
zer, Investoren, aber auch viele Glücksritter und Aben­teurer.
Die infrastrukturelle Erschließung war die Voraussetzung
für die „Inwertsetzung“ der weitläufigen, von Baumsavannen­
vegetation bedeckten Hochflächen des zentralbrasilianischen
Massivs. Ihr Potenzial, das wurde schon nach wenigen Jahren
deutlich, bestand vor allem in Landreserven für eine großbe­
triebliche Landwirtschaft, sei es die extensive Rinderhaltung,
die sich vor allem in den Übergangsbereichen zu den nörd­
lich anschließenden tropischen Regenwäldern ausbreitete,
oder sei es der modernisierte, mechanisierte, kapital­intensive
und nur wenig Arbeitskraft absorbierende Ackerbau. Dieser
ist heute die Grundlage der wirtschaftlichen „Erfolgsgeschich­
te“ des Mittelwestens. Die „­konservative Modernisierung“ des
brasilianischen Agrarsektors, die wir als die brasilianische
Version der Grünen Revolution bezeichnen können, hat im
Mittelwesten ihr Idealgebiet gefunden. Und mit der Soja­bohne
stand – nach entsprechenden Züchtungs- und Adaptions­
erfolgen – ab den 1980er Jahren für weite Bereiche des Mittel­
westens, insbesondere für den flächengrößten Bundesstaat
Mato Grosso, das Produkt zur Verfügung, das den über Jahr­
hunderte hinweg isolierten interior auf einen Schlag in den
Prototyp eines „globalisierten Ortes“ umwandelte. Soja-, inzwi­
schen auch Mais- und Baumwollfelder prägen heute die Agrar­
landschaft des Mittelwestens. Respektable Städte, die vor
40 Jahren als Pioniersiedlungen in Kolonisationsprojekten
überhaupt erst gegründet wurden, reihen sich perlschnur­artig
entlang der Fernstraßen auf. Von weitem sind sie bereits an
­ihren riesigen Sojalagern und Trocknungsanlagen zu erken­
nen, die als neue „Landmarken“ den wirtschaftlichen Boom
in der Kulturlandschaft materialisieren. Einige dieser neuen
Städte (Sorriso, Lucas do Rio Verde, Nova Mutum) gehören in­
zwischen zu den wirtschaftlich erfolgreichsten Muni­zipien
Brasiliens. Verantwortlich dafür ist eine erfolgreiche ­Gruppe
von Farmern, die großenteils vor wenigen Jahrzehnten erst
aus Südbrasilien kommend in den Mittelwesten zugewandert
sind und mit ihrem wirtschaftlichen Erfolg Regio­nalkultur
und lokale Eliten vollkommen auf den Kopf stellten. Der regio­
nale Wirtschaftsboom war sozial immer höchst exklusiv, eine
Breitenwirkung im Sinn von Beschäftigungseffekten zum Bei­
spiel ist vergleichsweise bescheiden. Von dem außerordent­
lichen wirtschaftlichen Erfolg profitiert wohl am meisten ein
immer stärker konzentriertes, nationales und transnationales
agrobusiness – zu nennen sind insbesondere die „­großen
vier“: ADM, Bunge, Cargill, Louis Dreyfuss.
Allerdings ist der regionale Wirtschaftserfolg höchst
­fragil. Er wird von der Preisnotierung der global vermarkte­
ten Rohstoffe an den Börsen in Chicago und anderswo auf der
Welt bestimmt, er hängt von der Preisentwicklung der Vor­
leistungsgüter (Landmaschinen, Saatgut, Düngemittel, Pesti­
zide) ebenso ab, wie von der alles entscheidenden Entwick­
lung der Transportkosten. Denn trotz aller Beschleunigung ist
der Distanzfaktor nach wie vor der entscheidende Standort­
nachteil des Mittelwestens. Und letztendlich sind natürlich
auch die ökologischen Kosten enorm. Die Baumsavanne der
Campos cerrados – nach den amazonischen Regenwäldern
das flächenmäßig zweitgrößte Biom Brasiliens – gehört wahr­
scheinlich zu den am stärksten unterschätzten Ökosystemen
des Landes. Sowohl national als auch international stand die
schleichende, aber vielerorts viel radikalere Vernichtung des
Cerrado sozusagen „im Schatten“ der Zerstörung der amazo­
nischen Regenwälder.
Ein „anderes“ Brasilien im Süden
Flächenmäßig die kleinste Region, ist der Süden Brasiliens
aber doch fast doppelt so groß wie Deutschland. Er beherbergt
mit ca. 28 Millionen gut 14 % der brasilianischen Bevölkerung,
und die wirtschaftlichen und sozialen Indikatoren weisen ihm
einen Platz unter den „Erfolgreichen“ Brasiliens zu: Mit knapp
17 % der zweitgrößte Beitrag zum Brutto­inlandsprodukt,
nach dem Südosten und dem Mittel­westen das dritt ­höchste
Pro-Kopf-Einkommen, noch vor dem Süd­osten die beste
­Platzierung hinsichtlich des Indexes der menschlichen Ent­
wicklung (HDI), geringste Säuglingssterblichkeit, mit dem
­Süd­osten ­ zusammen geringste Analphabeten­quote und ge­
ringster Anteil der Armutsbevölkerung (Einkommen ­ unter
einem salário ­ mínimo). Was macht die drei Bundesstaa­
ten ­Paraná, ­Santa ­Catarina und Rio Grande do Sul zu einem
„­anderen“ ­Brasilien?
Kulturlandschaftlich wird der Süden vom überragenden
Einfluss der europäischen Einwanderung vor allem des
19. Jahrhunderts geprägt. Durchaus im Sinn einer staatlich
geförderten „Peuplierungspolitik“ zu verstehen, kamen vor
allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zahlreiche
Migranten beispielsweise aus Italien sowie dem heutigen
Deutschland in die kaum erschlossenen ländlichen Regio­
nen des Gebirges und der Gebirgsränder. Hier bildeten sich
Pionierfronten heraus, Land wurde gerodet und es entstand
eine klein- und mittelbäuerliche Landwirtschaft, die der Sub­
sistenzsicherung, aber auch der Nahrungsmittelversorgung
diente. Neben den ländlichen Zielgebieten und der Landwirt­
schaft prägte die europäische Zuwanderung auch die Struk­
tur vieler (Klein- und Mittel-) Städte und dort vor allem die
Entwicklung von Industrie und Gewerbe. Was sind vor
­diesem Hintergrund die Entwicklungspfade des Südens im
20. und 21. Jahrhundert?
Die ländlichen Räume Südbrasiliens waren in den 1960er
und 1970er Jahren Ausgangspunkte des agrarstrukturellen
Wandels im Zeichen der Modernisierung. Die „Grüne Revo­
lution“ auf brasilianische Art, die sich auf eine Kombination
von Agrarforschung, Diffusion von Innovationen im Land­
bau (neue Anbaukulturen, neue Bewirtschaftungstechniken,
verstärkte Marktorientierung), Agrarberatung und Agrar­
kreditwesen, allerdings nicht auf eine Veränderung der agrar­
sozialen Verhältnisse gründete, nahm hier ihren Ausgang. Die
zahlreichen Kooperativen spielten dabei eine wichtige ­Rolle.
Insbesondere die rasche Expansion des Sojaanbaus, hoch­
mechanisiert und auf den Export orientiert, brachte es mit
sich, dass immer mehr Kleinbauern aufgaben, ihr Land ver­
kauften und in die Städte beziehungsweise in die Neusiedel­
gebiete des Mittelwestens oder Amazoniens abwanderten.
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Brasilien
Belém
Manaus
Fortaleza
Recife
Salvador
da Bahia
Unterstützte Familien
pro 1000 Einwohner, 2008
0 - 21
81 - 124
22 - 47
125 - 161
48 - 80
162 - 242
Rio de
Janeiro
São
Paulo
Unterstützte Familien (absolut)
218 809 São Paulo
149 689 Rio de Janeiro
2 426 Barão d. Grajaú
865 Palmopolis
2 Monte Belo d. S.
0
250
500
750
1000 1250
km
Abb. 4: Sozialprogramm Bolsa Familia
Ein oder viele Brasilien?
Quelle: Coy/Théry 2010
Abschließend stellt sich die Frage, ob sich in den letzten zehn
Jahren der Regierungen Lula und Rousseff Grundsätzliches
an den sozioökonomischen und räumlichen Strukturmustern
Brasiliens verändert hat. Erfolge bei der Armutsbekämpfung,
im Sozialbereich, beim wirtschaftlichen Wachstum und in vie­
len anderen gesellschaftlichen Bereichen sind nicht zu über­
sehen. In den letzten Jahren hat Brasilien beispielsweise mit
dem Programm „Ciência sem Fronteiras“ eine Bildungs-Offen­
sive gestartet, die derzeit offizielle Abkommen mit 27 Ländern
weltweit vorweisen kann. Mit dem vor zehn Jahren gestar­
teten Programm „Bolsa Familia“, einem inzwischen auch
inter­national viel beachteten Transferprogramm, hat Brasi­
lien mittlerweile 13,8 Millionen Familien (50 Millionen Indivi­
duen) erreicht (Campello und Côrtes Neri 2013).
Die Bilanz, die die Brasilianer ziehen, ist überwiegend posi­
tiv. Allerdings ist auch nicht zu übersehen, dass die generel­
len entwicklungsstrategischen Orientierungen auch im Kreuz­
feuer der Kritik stehen.
Zwar ist „diskursiv“ ein Bekenntnis zu den sozialen und
ökologischen Zielen der Nachhaltigkeit allenthalben zu
konsta­tieren, bei genauerer Betrachtung der entscheidenden
Verlautbarungen und vor allem der konkreten Politik wird
jedoch die Persistenz einer modernisierungstheoretisch be­
gründeten Gleichsetzung von (Regional-) Entwicklung mit
ökonomischem Wachstum offensichtlich. So werden wohl
die im Programm zur Wachstumsbeschleunigung PAC fest­
geschriebenen Maßnahmen des Infrastrukturausbaus (Fern­
straßen, Energie-Großprojekte etc.) über kurz oder lang zu
­einer deutlichen Verschärfung der ohnehin schon bestehen­
den Konfliktlagen, vor allem in sensiblen Gebieten wie Ama­
zonien, beitragen. Auch wenn Brasiliens Entwicklung der letz­
ten ­Jahre durchaus als Erfolgsstory gelesen werden kann, so
bleiben doch zahlreiche Probleme auch angesichts des Glo­
balen Wandels nach wie vor ungelöst. Sie ergeben sich nicht
zuletzt aus den strukturellen Disparitäten des Landes, rufen
unterschiedliche regionale Dynamiken hervor und perpetuie­
ren diese gleichzeitig. Damit steckt in der regionalen Vielfalt
Brasiliens Zukunftspotenzial und Zukunftshypothek gleicher­
maßen.
Ein Ausblick
Die 2014 und 2016 in Brasilien stattfindenden sportlichen
Großereignisse, Fußball-Weltmeisterschaft und Olympische
Sommerspiele, sind auch im Kontext eines wachsenden natio­
nalen Selbstbewusstseins Brasiliens zu sehen. Bei der ­Vergabe
der Olympischen Spiele nach Rio de Janeiro im Oktober 2009
sagte Präsident Lula emotional gerührt „Heute hat Brasilien
endgültig die inter­nationale Anerkennung erhalten. […] Ein
Tag, an dem ich mehr als je zuvor den Stolz spürte, Brasilia­
ner zu sein.“
Drei Jahre später stellt sich diese anfängliche Euphorie in
einem anderen Licht dar. Von den insgesamt zwölf ­ Stadien
werden fünf um- und sieben neugebaut. Kritik kam bereits
auf beim Beschluss von Stadion-Neubauten an ­ Orten wie
­Manaus oder Natal, „weißen Elefanten“ für Städte ohne Erst­
ligaverein. Bei gleich mehreren Stadien gibt es massive Zeit­
verzögerungen der geplanten Fertigstellung, so beispiels­
weise in ­ Cuiabá, wo gleichzeitig auch der geplante Ausbau
des öffentlichen Nahverkehrs dem Zeitplan weit hinterher­
hinkt. ­ Insbesondere der Ausbau der Verkehrsinfrastruktur
gibt Anlass zur Annahme, dass einerseits nicht alle Maßnah­
men bis zur WM fertig gestellt werden und andererseits die
WM ein möglicherweise nicht unwillkommener Anlass war,
Praxis Geographie 3|2014
lizenziert für Michael Wirk am 08.09.2015
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Der ländliche Raum erlebte also einen raschen und tief grei­
fenden Strukturwandel, der in erheblichem Ausmaß durch
Besitzkonzentra­tion und Bevölkerungsverlust gekennzeich­
net war. Demgegenüber gibt es heute in den ländlichen Räu­
men Südbrasiliens immer mehr Anzeichen für neue Produk­
tionsformen (z. B. Ansätze von ökologischer Landwirtschaft,
Versuche der Förderung von Regionalprodukten etc.), für eine
breiter werdende Palette von Erwerbsalternativen (z. B. länd­
licher Tourismus) beziehungsweise für veränderte Lebens­
stile. Der Süden Brasiliens ist unter den Großregionen Brasili­
ens wohl am ehesten der Raum, in dem sich neue Formen des
„Ländlichen“ (im Spanischen wird von der „nueva ruralidad“
gesprochen) beobachten lassen.
Besondere, auch über Brasilien hinausgehende Impulse
gingen in den letzten Jahrzehnten von den großen städtischen
Agglomerationen Südbrasiliens aus. Hier sind insbesondere
Curitiba, die Hauptstadt des Bundesstaates Paraná, und Porto
Alegre, die Hauptstadt des Bundesstaates Rio Grande do Sul,
zu nennen. Beide Städte sind durch ihre innovative Stadtpoli­
tik bekannt und von zahlreichen anderen Städten im In- und
Ausland zum Vorbild genommen geworden. Auch darin mani­
festiert sich also ein „anderes“ Brasilien, ein Brasilien des bür­
gerschaftlichen Aufbruchs, der sozialen und politischen Viel­
falt, in dem ein Mehr an cidadania zum Symbol für steigendes
Selbstbewusstsein und neue soziale Verantwortung zu wer­
den scheint.
Grundlagen um Maßnahmen zu genehmigen, die unter den üblichen Be­
dingungen wohl eher langfristigen Genehmigungsverfahren
und ­strengeren Umweltauflagen unterworfen gewesen ­wären,
wie etwa der Neubau einer mehrspurigen Straße durch die
­geschützten Mangrovegebiete Recifes.
Rio de Janeiro steht als Ausrichter gleich beider Groß­
events besonders im Fokus. Eine Besonderheit ist hier die Pazi­
fikation vieler innerstädtischer Favelas, die nicht nur posi­
tiv beurteilt wird. Kritisch hinterfragt wird etwa, ob in den
­Favelas lediglich die eine Besatzungsmacht (nämlich der Dro­
genhandel) durch eine andere (korrupte Polizeieinheiten)
­ersetzt wird und ob hier nicht lediglich versucht wird, Symp­
tome zu beseitigen, statt an den Ursachen zu arbeiten. Neben
der Strategie der Befriedung werden aber auch nach wie vor
Favelas abgerissen und ihre Bewohner umgesiedelt. Ein pro­
minentes Beispiel hierfür ist etwa die Favela Vila Autódromo
in der Nähe des geplanten Olympiaparks, die zu großen Tei­
len abgerissen werden sollte. Nur der massive Widerstand
der Bewohner, die über eine eigene Website die Öffentlichkeit
suchten und lokale Universitäten als Partner bei der Erarbei­
tung eines alternativen Siedlungskonzeptes gewinnen konn­
ten, hat die Umsetzung des Plans der Präfektur bisher verhin­
dern können (siehe Website: www.comunidadevilaautodromo.
blogspot.com.br).
Die beschriebenen Probleme waren neben der Erhöhung
der Buspreise ein Mit-Auslöser der Proteste, die während des
Confederation Cups im Sommer 2013 in ganz Brasilien statt­
fanden, mit Slogans wie „Wir wollen Fifa-Standards nicht nur
für die Stadien, sondern auch für die Metro“. Allein am 20. Juni
2013 gingen mehr als 1,5 Millionen Brasilianer auf die Straße
(Fernandes und de Freitas Rosenos 2013, S. 13). Diese Proteste
stellen dabei etwas Neues dar, denn sie folgen nicht mehr den
klassischen Linien von arm und reich, sondern sind deutlich
diffuser und viel schwerer in den gesellschaftlichen Kontext
einzuordnen. Ähnlich wie die Revolutionen des „Arabischen
Frühlings“ findet ein großer Teil der Meinungsbildung und
Mobilmachung in Kanälen der Social Media wie Facebook,
Twitter, Instragram und Youtube statt. Neue Akteure gewin­
nen an Popularität und Einfluss, wie Mídia Ninja, ein Journa­
listen-Kollektiv, das erst 2011 gegründet wurde, aber seit den
Protesten weltweites Interesse erfährt und inzwischen fast
230 000 „Likes“ auf seiner Facebook-Seite vorzuweisen hat.
Als erste Reaktion auf die Proteste stellte Präsidentin
­Dilma Rousseff einen Drei-Punkte-Plan vor, nach dem ein
natio­naler Verkehrsplan mit Fokus auf dem öffentlichen Nah­
10
verkehr aufgestellt werden soll. Zehn Prozent der Gewinne
aus dem staatlichen Erdölsektor sollen künftig ins Bildungs­
system fließen. Es bleibt abzuwarten, wie die Konflikte in den
kommenden Monaten und insbesondere während der Fuß­
ballweltmeisterschaft weitergehen und wie Polizei und Regie­
rung damit umgehen. L i t era t ur
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