Brasilien Grundlagen M a r t in Coy und S imone S andholz Brasilien: Entwicklungsland oder neue Führungsmacht? Ein regionaler Überblick B rasilien wird zukünftig eine strategische Stellung im Globalisierungsprozess einnehmen. Und doch gibt es neben allen Zukunftspotenzialen des Landes auch eine ganze Reihe von sozioökonomischen, sozialkulturellen und ökologischen Limitationen. So ist Brasi lien seit jeher durch wirtschaftliche, soziale und räumliche Disparitäten gekennzeichnet, in denen sich historisches Erbe, Entwicklungsstile und ihre Folgen, in jüngeren Jahren aber sicherlich auch die Konsequenzen der Einbindung des Landes in die Globalisierung niederschlagen. Um die Widersprüch lichkeiten, vor denen das Land heute steht, in ihrer Vielfalt zu verstehen, ist es notwendig, Brasiliens großregionale Struk tur, Differenzierung und Dynamik in ihrer jeweiligen histo rischen, ökonomischen, sozialen und ökologischen Bedingt heit zu begreifen. „FIFA RAUS“ fordert die Menschenmenge zu Beginn der Proteste im Juni 2013. Ein Großteil der brasilianischen Bevölkerung verlangt Investitionen in das Bildungs- und Gesundheitssystem anstatt in Sport-Großveranstaltungen Foto: Reuters (Sergio Moraes) Praxis Geographie 3|2014 lizenziert für Michael Wirk am 08.09.2015 lizenziert für Michael Wirk am 08.09.2015 Brasiliens wirtschaftliche und soziale Dynamik der letzten Jahre ist erstaunlich. Das Land ist der drittgrößte Flugzeughersteller der Welt, es ist einer der wichtigsten KFZ-Produzenten und es verfügt über Spitzenforschung in den unterschiedlichsten Bereichen. Vor allem ist Brasilien ein flächenund rohstoffreiches Land, was ihm eine führende Stellung auf den Weltmärkten der agrarischen und mineralischen Rohstoffe verschafft. Wenn man die fünf brasilianischen Großregionen hinsicht lich der Indikatoren Bevölkerungsverteilung oder wirtschaft liche Wertschöpfung betrachtet, wird die Vorrangstellung des Südostens offensichtlich. Nach dem letzten Bevölkerungszen sus von 2010 leben 42 % aller Brasilianer (in absoluten Zah len ca. 82 Millionen) in den vier Bundesstaaten des Südostens São Paulo, Rio de Janeiro, Minas Gerais und Espírito Santo, die zusammen lediglich 11 % der Gesamtfläche des Landes aus machen. In diesen vier Bundesstaaten werden 55 % des brasi lianischen Bruttoinlandsproduktes (2010) erwirtschaftet. Naturräumlich durch das Küstengebirge der Serra do Mar und das Verbreitungsgebiet des Küstenregenwaldes, der Mata Atlântica, gekennzeichnet, wurde ab dem 19. Jahrhundert der rasch expandierende Kaffeeanbau zum Motor des Aufstiegs des Südostens zur Kernregion Brasiliens. Das mit dem Kaf fee erwirtschaftete Kapital wurde in den Städten, vor allem in São Paulo, zunehmend in gewerbliche und industrielle Aktivitäten investiert. Insofern kann man mit Fug und Recht sagen, dass die Industrieregion Südost-Brasilien ihren wesent lichen Ursprung im Kaffeeanbau hat. Vor allem São Paulo und sein Umland, aber auch die Großräume Belo Horizonte und Rio de Janeiro, wuchsen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhun derts zu Industrieagglomerationen von nationaler und inter nationaler Bedeutung heran. Fahrzeugbau, Elektrotechnik und Elektronikindustrie, Chemie und Petrochemie sowie in jüngerer Zeit Flugzeug- und Raumfahrtindustrie sowie andere Schlüsseltechnologien kennzeichnen die industrielle Vielfalt. Trotz der nach wie vor bestehenden Vormachtstellung des Südostens lässt sich allerdings in den letzten Jahren doch ein deutlicher industrieller Dekonzentrations- und Standortverla gerungsprozess beobachten. Beherbergte die Großregion 1996 noch mehr als 60 % aller Industriebetriebe des Landes, waren es 2010 (wenn auch auf absolut sehr viel höherem Niveau) „nur“ noch etwa 47 %. „Gewinner“ sind aufgrund steuerlicher Vergünstigungen und sonstiger komparativer Kostenvorteile insbesondere der Süden und Nordosten. Auch für das Agrobusiness ist der brasilianische Südosten nach wie vor ein wesentlicher Standort. Neben dem ehemals dominierenden Kaffeeanbau hat sich seit den 1970er Jahren in erster Linie der großbetriebliche Zuckerrohr anbau in weiten Teilen von São Paulo im Gefolge der staat lich geförderten Herstellung von Ethanol als Biotreibstoff durchgesetzt. Die großen Usinas bestimmen nicht nur den ländlichen Raum, sondern indirekt auch zahlreiche Land städte, an deren Peripherien das „Arbeitsheer“ der bóia-fria, der Tagelöhner der Zuckerrohrbetriebe, sich ein Überleben zu sichern versucht. Vor diesem Hintergrund ist es nicht ver wunderlich, dass der brasilianische Südosten immer auch eine Region der Landkonflikte war und, damit verbunden, in den letzten Jahren zu einem wichtigen Aktionsgebiet der Landlosenbewegung MST (Movimento dos Trabalhadores Sem-Terra) geworden ist. Vor allem ist es aber ein rasanter Verstädterungsprozess, der im Lauf des 20. Jahrhunderts zum Charakteristikum des räumlichen Wandels des brasilianischen Südostens wurde. Offiziell sind mehr als 93 % der Bevölkerung des Südostens städtisch. Mit São Paulo und Rio de Janeiro verfügt der brasilia nische Südosten über zwei der insgesamt vier megaurbanen Agglomerationen (mehr als 10 Millionen Einwohner) Latein 0 Bergbau Holzextraktion Modernisierter Ackerbau und Viehzucht Obstkulturen Kleinbäuerliche Landwirtschaft Binnentourismus Küstentourismus Agroindustrie 250 500 750 1000 1250 km Traditionelle Industrie u. Dienstleistungen Moderne Industrie und Dienstleistungen Straßen Flüsse Eisenbahnen Bundesstaatsgrenzen Staatsgrenzen Städte Abb. 2: Faktoren regionaler Dynamiken Quelle: Coy/Théry 2010 amerikas. Die Metropolitanregion von São Paulo gilt mit in zwischen mehr als 20 Millionen Einwohnern als sechstgrößte weltweit. Rio de Janeiro folgt mit einer Einwohnerzahl in der Metropolitanregion von ca. 12 Millionen auf dem 24. Platz im weltweiten Vergleich. Die beiden Megastädte sind in ihrer Struktur Vorreiter und Musterbeispiele für den Prozess der sozialräumlichen Fragmentierung, der die Stadtentwicklung und den städtischen Wandel in allen lateinamerikanischen Ländern während der letzten Jahrzehnte prägte. Oftmals in unmittelbarer Nachbarschaft finden sich Favelas mit den in Brasilien als condomínios fechados bezeichneten Reichen ghettos. Allein in São Paulo existieren über 50 Shopping Cen ters, die als „Konsum- und Freizeitenklaven“ zunehmend die Kommunikations- und Repräsentationsfunktionen des öffent lichen Raumes übernehmen. Die Innenstadtbereiche durch liefen in den letzten Jahrzehnten tief greifende Verände rungen. Dabei kommt es nur allzu oft zu einer Verdrängung derjenigen, für die das Stadtzentrum inzwischen Überlebens funktion erhalten hat. Diese sozialräumliche Ambivalenz von Stadterneuerung zeigt sich im Moment vor allem in der Vorbereitung auf die Groß-Events der nächsten Jahre: Fußball-Weltmeisterschaft und Olympiade. Dabei sind Stadion-Um- und -Neubauten oder die Erstellung der olym pischen Sportstätten nur ein Aspekt. Die brasilianischen Städte – und besonders Rio de Janeiro – nutzen die Großsport Praxis Geographie 3|2014 lizenziert für Michael Wirk am 08.09.2015 lizenziert für Michael Wirk am 08.09.2015 Die Kernregion des Südostens Brasilien ereignisse zum groß angelegten Stadtumbau, der, stark auf dem Gedanken von public-private-partnerships fußend, im Sinn einer „unternehmerischen Stadtpolitik“ durchgeführt wird, für die Investoreninteressen, Standortqualität, Stadt image und Stadtmarketing prioritär sind. Dagegen treten Vor stellungen von einem „Recht auf Stadt“ für alle, die sich in Brasilien im Zug einer nationalen Stadtreformbewegung ab den 1980er Jahren durchaus etablieren konnten, zusehends in den Hintergrund. Wie unter dem Brennglas kann dies der zeit bei der Realisierung des Stadterneuerungsprojektes Por to Maravilha in Rio de Janeiro beobachtet werden. Werden also auf Dauer die bestehenden Ungleichheiten in Brasilien auf den unterschiedlichen Maßstabsebenen eher verringert oder weiter verstärkt? Die derzeitigen Entwicklungstrends im Rahmen der bevorstehenden Megaevents weisen zumin dest nicht auf einen Wirkung versprechenden Disparitäten abbau hin. Die Armutsregion des Nordostens Die neun Bundesstaaten der Nordostregion (Maranhão, Piauí, Rio Grande do Norte, Ceará, Paraíba, Pernambuco, Alagoas, Sergipe und Bahia) stellen mit ca. 54 Millionen Einwohnern die zweitgrößte Bevölkerungszahl des Landes. Eine Reihe von sozialen Indikatoren kennzeichnen den Nordosten als Problem 60 W 40 W Äquator Südl. Wendekreis Pazifik Atlantischer Ozean 0 250 500 60 W 750 1000 1250 40 W Südgrenze des amazonischen Regenwaldes Grenze des laubabwerfenden Waldes Höhen zwischen 200 und 500 m ü. NN Amazonien Campos Cerrados Caatinga Küsten und atlantischer Regenwald Entwaldungsbogen Grasfluren Entwaldung (atlantischer Regenwald) Araukarien Rutschungen Pantanal Desertifikation Abb. 3: Ökosysteme und Bedrohungen Quelle: Coy/Théry 2010 km region: Das Pro-Kopf-Einkommen ist mit ca. 9 600 Reais/Jahr (2010; rund 2 950 €) das niedrigste Brasiliens und erreicht ge rade einmal 40 % des Wertes für den Südosten. Der HDI-Wert (Human Development Index) des Nordostens ist mit 0,72 der niedrigste im Vergleich der Großregionen, die Analphabeten quote mit ca. 17 % und die Säuglingssterblichkeit mit 19 ‰ sind die Höchstwerte im gesamtbrasilianischen Vergleich. Sozioökonomische und räumliche Disparitäten kennzeich nen Brasilien also nach wie vor als Land ungleicher Lebens bedingungen und Chancen, und hierfür ist die Nordostregion gemeinhin das eindeutigste Beispiel. Natur- und wirtschaftsräumlich lässt sich der Nordosten in drei mehr oder minder parallel zur Küste verlaufende Raum einheiten untergliedern: Die Küstenebene der Zona da Mata, der historische Kernraum des Nordostens, in dem die Zucker rohrplantagen beste Voraussetzungen fanden. Hieran schließt sich der vergleichsweise schmale Streifen des Agreste an, ein „Übergangsraum“, in dem eine teilweise recht intensive landwirtschaftliche Nutzung vorherrscht sowie ein Band von Mittelstädten über Handel und Gewerbe „Drehscheiben funktion“ zwischen Küstenraum und Hinterland ausübt. Der Agreste geht schließlich in die Weiten des Sertão, des klima tisch vorwiegend semiariden Hinterlandes, über. Das immer wieder vorkommende Ausbleiben der Niederschläge führt zu den Dürreperioden, die seit jeher die Abwanderung großer Be völkerungsmengen zur Folge haben. Insgesamt gilt der Nord osten sicherlich als die Region Brasiliens, in der das „koloniale Erbe“ am stärksten präsent ist. Die ehemalige Dominanz der Sklaverei als Basis der kolonialen Plantagenwirtschaft drückt sich nach wie vor in der ethnischen Zusammensetzung der Bevölkerung aus (im nationalen Vergleich die höchsten An teile schwarzer Bevölkerung), traditionelle Machtstrukturen und coronelismo pausen sich bis heute in politischem Klien telismus und der Dominanz der alten regionalen Eliten durch. Armut als Folge von wirtschaftlichem Niedergang bzw. wirt schaftlicher Stagnation und persistenter Ungleichheit wird zum wesentlichen Treiber der Verdrängungsmigration, die dazu führt, dass nordestinos sowohl das Arbeitskräftereser voir in den Megastädten des Südostens bilden als auch an den Siedlungsgrenzen Amazoniens seit jeher eine wesentliche Rolle spielen. Aber das Bild von der Rückständigkeit und Krisenhaf tigkeit des Nordostens ist bei genauerer Betrachtung nur die halbe Wahrheit. Mit den allgemeinen Modernisierungs bemühungen ab den 1970er Jahren verstärkte der Staat seine Politik der Regionalentwicklung im Nordosten. Im Zentrum stand der Bau von Staudämmen und Wasserkraftwerken ent lang des Rio São Francisco. Dort, zum Beispiel im Umland der beiden Städte Petrolina und Juazeiro, entstanden auch die großen Bewässerungsoasen, die heute als Produktionsgebiete von tropischen Früchten – vor allem Mango und Papaya – sowie von Tafeltrauben voll und ganz in globale Wertschöp fungsketten integriert sind. Mit einem seit 2007 betriebenen Großprojekt, der Transposição do Rio São Francisco, das unter anderem absolute Priorität im nationalen Investitionspro gramm PAC (Programa de Aceleração para o Crescimento) der Regierungen Lula und Rousseff hat, soll Wasser aus dem Rio São Francisco in zwei Ableitungskanälen in die Trocken gebiete des Sertão geleitet werden. Ob von diesem Projekt wirklich neue Perspektiven für den Nordosten Brasiliens ausgehen, wird die Zukunft zeigen. Befürchtungen gehen da Praxis Geographie 3|2014 lizenziert für Michael Wirk am 08.09.2015 lizenziert für Michael Wirk am 08.09.2015 Grundlagen Der Norden zwischen Ressourcenfrontier und nachhaltiger Entwicklung Amazonien ist nach wie vor mit ca. vier Millionen Quadratkilo metern das größte zusammenhängende tropische Regenwald gebiet der Erde, auch wenn in den letzten 40 Jahren ca. 15 % der Regenwaldfläche zerstört oder zumindest stark degradiert wurden, der größte Teil davon in Brasilien. Fast zwei Drittel Amazoniens gehören zu Brasilien, und Amazonien stellt fast 60 % des brasilianischen Staatsterritoriums dar. Gemeint ist hier die Planungsregion Amazônia Legal, in der nach dem Zen sus von 2010 ca. 24 Millionen Menschen, das entspricht ledig lich 12 % der Gesamtbevölkerung Brasiliens, auf 61 % des Ge samtterritoriums des Landes leben. Allerdings konzentrieren sich mit 250 000 Bewohnern fast 60 % der indigenen Bevöl kerung Brasiliens in der Region Amazônia Legal. Insgesamt wenig Menschen in einem riesigen Raum, zumal inzwischen Städte über 70 % aller Bewohner Amazoniens beherbergen. Schon immer war Amazonien eine Region, die die unter schiedlichsten Begehrlichkeiten der Menschen in besonde rem Maß auf sich zog. Mit dem Industrialisierungsprozess im 19. Jahrhundert verbunden, bescherte der in der Region heimische Kautschukbaum Amazonien gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen ersten Boom, der die extreme Peripherie kurzzeitig ins weltweite Rampen licht stellte. Nach erneutem Niedergang brachte ab den 1960er und 1970er Jahren eine im Wesentlichen durch den Staat aus gelöste und bis heute anhaltende Regionalentwicklungsdyna mik tief greifende demographische, wirtschaftliche, soziale, kulturelle, vor allem aber auch ökologische Veränderungen in einem zuvor unbekannten Ausmaß für die Region mit sich. Straßenbau, kleinbäuerliche Agrarkolonisation, großbetrieb liche Rinderweidewirtschaft, Holzeinschlag, die Ausbeutung mineralischer Ressourcen sowie der Ausbau des hydroener getischen Potenzials sind nur die wichtigsten Faktoren da für, dass das brasilianische Amazonien gleichzeitig als sozia les Sicherheitsventil, aber auch als scheinbar grenzenloser „Ergänzungsraum“ für die brasilianische Wirtschaft galt. Ver bunden sind damit zahlreiche Konflikte um unterschiedliche Nutzungsinteressen und Überlebensstrategien, um Land, aber auch um die politische Vorherrschaft und um die geo strategische Kontrolle, die allzu oft gewaltsam ausgetragen werden. Die von den brasilianischen Militärs in der Zeit der Diktatur ab den 1960er Jahren unter dem Motto „Land ohne Menschen für Menschen ohne Land“ betriebene Erschließung Amazoniens sollte die vormalige Peripherie in den beschleu nigten Rhythmus der brasilianischen Modernisierung inkor porieren. Die traditionellen Bewohner Amazoniens, vor allem die Indigenen, wurden im Interesse des vermeintlichen Fort schritts im wahrsten Sinn des Wortes an den Rand gedrängt. In jüngerer Zeit beginnt man aber verstärkt auch in Amazo nien wieder nach Alternativen zum kompromisslosen Moder nisierungskurs zu suchen. So bestimmt seit der Weltumwelt konferenz von Rio de Janeiro 1992 das Nachhaltigkeitsleitbild den Diskurs um Regionalentwicklung im größten Regenwald gebiet der Erde. Eine besondere Stellung nimmt Amazonien in den internationalen Debatten zu anthropogenem Klimawan del und Klimaschutz ein, denn spätestens seit der Klimakonfe renz von Bali 2007 geht es in den Diskussionen zum globalen Klimaregime in erster Linie um die bessere Einbeziehung der großen Schwellenländer (also auch Brasilien), um die Funk tion der Wälder und des Waldschutzes im Klimawandel. Jedoch bleiben die Widersprüche hinsichtlich der Funk tionen, die die unterschiedlichen Akteure – Politiker, Pla ner, Rinderzüchter, Energie- und Bergbauunternehmen, Klein bauern, Indigene, Umweltaktivisten, um nur einige zu nennen – der Region zuweisen, bestehen. Amazonien als Ressourcen frontier, die mit Rohstoffen, Energie und vor allem mit ihren unermesslichen Landreserven zur nationalen Wertschöpfung beitragen soll. Dieser modernisierungsorientierten Logik, die die Region noch stärker als bisher in die globalen Wert schöpfungsketten einbeziehen soll, folgen die Prioritäten des nationalen Plans zur Wachstumsbeschleunigung (PAC): Aus bau der Straßen, neue Wasserkraftwerke, Implementierung von Wasserstraßen usw. Dem stehen die Rechte der „Völker des Waldes“, die Überlebensinteressen der Kleinbauern, der Landlosen, der Verdrängten entgegen. Somit bleibt Amazo nien nach wie vor eine Region der handfesten Konflikte um Verfügungsrechte über Land und andere Ressourcen. lizenziert für Michael Wirk am 08.09.2015 hin, dass sich die Tendenz hin zu einer „Kommodifizierung“ des Allmendegutes Wasser verstärken wird, dass in diesem Zusammenhang die Kapitalkräftigen – beispielsweise über die Ausdehnung von Bewässerungsoasen – die Gewinner des Projektes sind, die eigentlich Bedürftigen aber eher leer aus gehen werden. Die globalisierte Region des Mittelwestens Wenn es in den letzten Jahrzehnten in Brasilien eine Region gab, die durch Einflüsse der Globalisierung ihr Profil verän dert hat, dann ist es der Mittelwesten. Bis in die 1960er Jahre hinein traf auf die meisten Teilregionen des Mittelwestens, zu dem offiziell die Bundesstaaten Goiás, Mato Grosso, Mato Grosso do Sul und der Bundesdistrikt von Brasília gehören, der Begriff des interior, des Hinterlandes, in besonderer Wei se zu. Viele Orte im Mittelwesten lebten über Generationen hinweg aufgrund der enormen Entfernungen und aufgrund der fehlenden Verkehrsanbindungen in fast kompletter Isola tion, weitab von den Zentren des Landes, und entwickelten ihren eigenen provinziellen Lebensrhythmus. Im 20. Jahrhun dert ändert sich dies. Vor allem unter Getúlio Vargas, in den 1930er und 1940er Jahren, gewinnt das brasilianische Hinter land sowohl in den politischen Diskursen als auch in den pla nerischen Maßnahmen an Bedeutung. In der Entwicklung und Integration des Hinterlandes sah der Diktator einen wesent lichen Bestandteil seiner politischen Mission der Erneuerung, des Estado Novo. Der Mittelwesten – vielleicht besser das brasilianische Hinterland insgesamt – ist vor allem eine Re gion der Städtegründungen im Geist der Moderne. Emblema tische Bedeutung gewann dabei natürlich Brasília, das an der Wende zu den 1960er Jahren unter der Präsidentschaft von Juscelino Kubitschek, der Symbolfigur der Modernisierung Brasiliens, gegründet und gebaut wurde. Das Gemeinschafts werk des Stadtplaners Lucio Costa und des Architekten Oscar Niemeyer wurde nicht nur zum weltweit bedeutsamen Sym bol des Städtebaus der Moderne, seine Realisierung zeugt auch von der logistischen Fähigkeit des Landes, Großprojekte von epochalen Ausmaßen zu realisieren. Trotz aller berech tigten Kritik an der sozialräumlichen Segregation, die den Bundesdistrikt von Brasília, also den geplanten Stadtbereich des „Plano Piloto“ und die spontan gewachsenen Vorstädte Praxis Geographie 3|2014 lizenziert für Michael Wirk am 08.09.2015 Grundlagen der „Cidades Satélites“, heute kennzeichnet, ist inzwischen unbestritten, dass die Realisierung von Brasília den Auftakt für einen der wohl tiefgreifendsten und dynamischsten Regio nalentwicklungsprozesse darstellte, den das Land je gesehen hat. Denn Brasília diente seit den 1960er Jahren als Ausgangs punkt zur Erschließung der Peripherien. Fernstraßen – zum Beispiel die Bundesstraßen Brasília–Belém, Brasília–Cuiabá– Porto Velho bzw. Cuiabá–Santarém – fraßen sich durch die Wälder und Savannen und beendeten für die meisten Teil regionen die lange Zeit der Isolation und Stagnation. Mit den Straßen kamen Landsuchende, Kolonisten, Großgrundbesit zer, Investoren, aber auch viele Glücksritter und Abenteurer. Die infrastrukturelle Erschließung war die Voraussetzung für die „Inwertsetzung“ der weitläufigen, von Baumsavannen vegetation bedeckten Hochflächen des zentralbrasilianischen Massivs. Ihr Potenzial, das wurde schon nach wenigen Jahren deutlich, bestand vor allem in Landreserven für eine großbe triebliche Landwirtschaft, sei es die extensive Rinderhaltung, die sich vor allem in den Übergangsbereichen zu den nörd lich anschließenden tropischen Regenwäldern ausbreitete, oder sei es der modernisierte, mechanisierte, kapitalintensive und nur wenig Arbeitskraft absorbierende Ackerbau. Dieser ist heute die Grundlage der wirtschaftlichen „Erfolgsgeschich te“ des Mittelwestens. Die „konservative Modernisierung“ des brasilianischen Agrarsektors, die wir als die brasilianische Version der Grünen Revolution bezeichnen können, hat im Mittelwesten ihr Idealgebiet gefunden. Und mit der Sojabohne stand – nach entsprechenden Züchtungs- und Adaptions erfolgen – ab den 1980er Jahren für weite Bereiche des Mittel westens, insbesondere für den flächengrößten Bundesstaat Mato Grosso, das Produkt zur Verfügung, das den über Jahr hunderte hinweg isolierten interior auf einen Schlag in den Prototyp eines „globalisierten Ortes“ umwandelte. Soja-, inzwi schen auch Mais- und Baumwollfelder prägen heute die Agrar landschaft des Mittelwestens. Respektable Städte, die vor 40 Jahren als Pioniersiedlungen in Kolonisationsprojekten überhaupt erst gegründet wurden, reihen sich perlschnurartig entlang der Fernstraßen auf. Von weitem sind sie bereits an ihren riesigen Sojalagern und Trocknungsanlagen zu erken nen, die als neue „Landmarken“ den wirtschaftlichen Boom in der Kulturlandschaft materialisieren. Einige dieser neuen Städte (Sorriso, Lucas do Rio Verde, Nova Mutum) gehören in zwischen zu den wirtschaftlich erfolgreichsten Munizipien Brasiliens. Verantwortlich dafür ist eine erfolgreiche Gruppe von Farmern, die großenteils vor wenigen Jahrzehnten erst aus Südbrasilien kommend in den Mittelwesten zugewandert sind und mit ihrem wirtschaftlichen Erfolg Regionalkultur und lokale Eliten vollkommen auf den Kopf stellten. Der regio nale Wirtschaftsboom war sozial immer höchst exklusiv, eine Breitenwirkung im Sinn von Beschäftigungseffekten zum Bei spiel ist vergleichsweise bescheiden. Von dem außerordent lichen wirtschaftlichen Erfolg profitiert wohl am meisten ein immer stärker konzentriertes, nationales und transnationales agrobusiness – zu nennen sind insbesondere die „großen vier“: ADM, Bunge, Cargill, Louis Dreyfuss. Allerdings ist der regionale Wirtschaftserfolg höchst fragil. Er wird von der Preisnotierung der global vermarkte ten Rohstoffe an den Börsen in Chicago und anderswo auf der Welt bestimmt, er hängt von der Preisentwicklung der Vor leistungsgüter (Landmaschinen, Saatgut, Düngemittel, Pesti zide) ebenso ab, wie von der alles entscheidenden Entwick lung der Transportkosten. Denn trotz aller Beschleunigung ist der Distanzfaktor nach wie vor der entscheidende Standort nachteil des Mittelwestens. Und letztendlich sind natürlich auch die ökologischen Kosten enorm. Die Baumsavanne der Campos cerrados – nach den amazonischen Regenwäldern das flächenmäßig zweitgrößte Biom Brasiliens – gehört wahr scheinlich zu den am stärksten unterschätzten Ökosystemen des Landes. Sowohl national als auch international stand die schleichende, aber vielerorts viel radikalere Vernichtung des Cerrado sozusagen „im Schatten“ der Zerstörung der amazo nischen Regenwälder. Ein „anderes“ Brasilien im Süden Flächenmäßig die kleinste Region, ist der Süden Brasiliens aber doch fast doppelt so groß wie Deutschland. Er beherbergt mit ca. 28 Millionen gut 14 % der brasilianischen Bevölkerung, und die wirtschaftlichen und sozialen Indikatoren weisen ihm einen Platz unter den „Erfolgreichen“ Brasiliens zu: Mit knapp 17 % der zweitgrößte Beitrag zum Bruttoinlandsprodukt, nach dem Südosten und dem Mittelwesten das dritt höchste Pro-Kopf-Einkommen, noch vor dem Südosten die beste Platzierung hinsichtlich des Indexes der menschlichen Ent wicklung (HDI), geringste Säuglingssterblichkeit, mit dem Südosten zusammen geringste Analphabetenquote und ge ringster Anteil der Armutsbevölkerung (Einkommen unter einem salário mínimo). Was macht die drei Bundesstaa ten Paraná, Santa Catarina und Rio Grande do Sul zu einem „anderen“ Brasilien? Kulturlandschaftlich wird der Süden vom überragenden Einfluss der europäischen Einwanderung vor allem des 19. Jahrhunderts geprägt. Durchaus im Sinn einer staatlich geförderten „Peuplierungspolitik“ zu verstehen, kamen vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zahlreiche Migranten beispielsweise aus Italien sowie dem heutigen Deutschland in die kaum erschlossenen ländlichen Regio nen des Gebirges und der Gebirgsränder. Hier bildeten sich Pionierfronten heraus, Land wurde gerodet und es entstand eine klein- und mittelbäuerliche Landwirtschaft, die der Sub sistenzsicherung, aber auch der Nahrungsmittelversorgung diente. Neben den ländlichen Zielgebieten und der Landwirt schaft prägte die europäische Zuwanderung auch die Struk tur vieler (Klein- und Mittel-) Städte und dort vor allem die Entwicklung von Industrie und Gewerbe. Was sind vor diesem Hintergrund die Entwicklungspfade des Südens im 20. und 21. Jahrhundert? Die ländlichen Räume Südbrasiliens waren in den 1960er und 1970er Jahren Ausgangspunkte des agrarstrukturellen Wandels im Zeichen der Modernisierung. Die „Grüne Revo lution“ auf brasilianische Art, die sich auf eine Kombination von Agrarforschung, Diffusion von Innovationen im Land bau (neue Anbaukulturen, neue Bewirtschaftungstechniken, verstärkte Marktorientierung), Agrarberatung und Agrar kreditwesen, allerdings nicht auf eine Veränderung der agrar sozialen Verhältnisse gründete, nahm hier ihren Ausgang. Die zahlreichen Kooperativen spielten dabei eine wichtige Rolle. Insbesondere die rasche Expansion des Sojaanbaus, hoch mechanisiert und auf den Export orientiert, brachte es mit sich, dass immer mehr Kleinbauern aufgaben, ihr Land ver kauften und in die Städte beziehungsweise in die Neusiedel gebiete des Mittelwestens oder Amazoniens abwanderten. Praxis Geographie 3|2014 lizenziert für Michael Wirk am 08.09.2015 lizenziert für Michael Wirk am 08.09.2015 Brasilien Belém Manaus Fortaleza Recife Salvador da Bahia Unterstützte Familien pro 1000 Einwohner, 2008 0 - 21 81 - 124 22 - 47 125 - 161 48 - 80 162 - 242 Rio de Janeiro São Paulo Unterstützte Familien (absolut) 218 809 São Paulo 149 689 Rio de Janeiro 2 426 Barão d. Grajaú 865 Palmopolis 2 Monte Belo d. S. 0 250 500 750 1000 1250 km Abb. 4: Sozialprogramm Bolsa Familia Ein oder viele Brasilien? Quelle: Coy/Théry 2010 Abschließend stellt sich die Frage, ob sich in den letzten zehn Jahren der Regierungen Lula und Rousseff Grundsätzliches an den sozioökonomischen und räumlichen Strukturmustern Brasiliens verändert hat. Erfolge bei der Armutsbekämpfung, im Sozialbereich, beim wirtschaftlichen Wachstum und in vie len anderen gesellschaftlichen Bereichen sind nicht zu über sehen. In den letzten Jahren hat Brasilien beispielsweise mit dem Programm „Ciência sem Fronteiras“ eine Bildungs-Offen sive gestartet, die derzeit offizielle Abkommen mit 27 Ländern weltweit vorweisen kann. Mit dem vor zehn Jahren gestar teten Programm „Bolsa Familia“, einem inzwischen auch international viel beachteten Transferprogramm, hat Brasi lien mittlerweile 13,8 Millionen Familien (50 Millionen Indivi duen) erreicht (Campello und Côrtes Neri 2013). Die Bilanz, die die Brasilianer ziehen, ist überwiegend posi tiv. Allerdings ist auch nicht zu übersehen, dass die generel len entwicklungsstrategischen Orientierungen auch im Kreuz feuer der Kritik stehen. Zwar ist „diskursiv“ ein Bekenntnis zu den sozialen und ökologischen Zielen der Nachhaltigkeit allenthalben zu konstatieren, bei genauerer Betrachtung der entscheidenden Verlautbarungen und vor allem der konkreten Politik wird jedoch die Persistenz einer modernisierungstheoretisch be gründeten Gleichsetzung von (Regional-) Entwicklung mit ökonomischem Wachstum offensichtlich. So werden wohl die im Programm zur Wachstumsbeschleunigung PAC fest geschriebenen Maßnahmen des Infrastrukturausbaus (Fern straßen, Energie-Großprojekte etc.) über kurz oder lang zu einer deutlichen Verschärfung der ohnehin schon bestehen den Konfliktlagen, vor allem in sensiblen Gebieten wie Ama zonien, beitragen. Auch wenn Brasiliens Entwicklung der letz ten Jahre durchaus als Erfolgsstory gelesen werden kann, so bleiben doch zahlreiche Probleme auch angesichts des Glo balen Wandels nach wie vor ungelöst. Sie ergeben sich nicht zuletzt aus den strukturellen Disparitäten des Landes, rufen unterschiedliche regionale Dynamiken hervor und perpetuie ren diese gleichzeitig. Damit steckt in der regionalen Vielfalt Brasiliens Zukunftspotenzial und Zukunftshypothek gleicher maßen. Ein Ausblick Die 2014 und 2016 in Brasilien stattfindenden sportlichen Großereignisse, Fußball-Weltmeisterschaft und Olympische Sommerspiele, sind auch im Kontext eines wachsenden natio nalen Selbstbewusstseins Brasiliens zu sehen. Bei der Vergabe der Olympischen Spiele nach Rio de Janeiro im Oktober 2009 sagte Präsident Lula emotional gerührt „Heute hat Brasilien endgültig die internationale Anerkennung erhalten. […] Ein Tag, an dem ich mehr als je zuvor den Stolz spürte, Brasilia ner zu sein.“ Drei Jahre später stellt sich diese anfängliche Euphorie in einem anderen Licht dar. Von den insgesamt zwölf Stadien werden fünf um- und sieben neugebaut. Kritik kam bereits auf beim Beschluss von Stadion-Neubauten an Orten wie Manaus oder Natal, „weißen Elefanten“ für Städte ohne Erst ligaverein. Bei gleich mehreren Stadien gibt es massive Zeit verzögerungen der geplanten Fertigstellung, so beispiels weise in Cuiabá, wo gleichzeitig auch der geplante Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs dem Zeitplan weit hinterher hinkt. Insbesondere der Ausbau der Verkehrsinfrastruktur gibt Anlass zur Annahme, dass einerseits nicht alle Maßnah men bis zur WM fertig gestellt werden und andererseits die WM ein möglicherweise nicht unwillkommener Anlass war, Praxis Geographie 3|2014 lizenziert für Michael Wirk am 08.09.2015 lizenziert für Michael Wirk am 08.09.2015 Der ländliche Raum erlebte also einen raschen und tief grei fenden Strukturwandel, der in erheblichem Ausmaß durch Besitzkonzentration und Bevölkerungsverlust gekennzeich net war. Demgegenüber gibt es heute in den ländlichen Räu men Südbrasiliens immer mehr Anzeichen für neue Produk tionsformen (z. B. Ansätze von ökologischer Landwirtschaft, Versuche der Förderung von Regionalprodukten etc.), für eine breiter werdende Palette von Erwerbsalternativen (z. B. länd licher Tourismus) beziehungsweise für veränderte Lebens stile. Der Süden Brasiliens ist unter den Großregionen Brasili ens wohl am ehesten der Raum, in dem sich neue Formen des „Ländlichen“ (im Spanischen wird von der „nueva ruralidad“ gesprochen) beobachten lassen. Besondere, auch über Brasilien hinausgehende Impulse gingen in den letzten Jahrzehnten von den großen städtischen Agglomerationen Südbrasiliens aus. Hier sind insbesondere Curitiba, die Hauptstadt des Bundesstaates Paraná, und Porto Alegre, die Hauptstadt des Bundesstaates Rio Grande do Sul, zu nennen. Beide Städte sind durch ihre innovative Stadtpoli tik bekannt und von zahlreichen anderen Städten im In- und Ausland zum Vorbild genommen geworden. Auch darin mani festiert sich also ein „anderes“ Brasilien, ein Brasilien des bür gerschaftlichen Aufbruchs, der sozialen und politischen Viel falt, in dem ein Mehr an cidadania zum Symbol für steigendes Selbstbewusstsein und neue soziale Verantwortung zu wer den scheint. Grundlagen um Maßnahmen zu genehmigen, die unter den üblichen Be dingungen wohl eher langfristigen Genehmigungsverfahren und strengeren Umweltauflagen unterworfen gewesen wären, wie etwa der Neubau einer mehrspurigen Straße durch die geschützten Mangrovegebiete Recifes. Rio de Janeiro steht als Ausrichter gleich beider Groß events besonders im Fokus. Eine Besonderheit ist hier die Pazi fikation vieler innerstädtischer Favelas, die nicht nur posi tiv beurteilt wird. Kritisch hinterfragt wird etwa, ob in den Favelas lediglich die eine Besatzungsmacht (nämlich der Dro genhandel) durch eine andere (korrupte Polizeieinheiten) ersetzt wird und ob hier nicht lediglich versucht wird, Symp tome zu beseitigen, statt an den Ursachen zu arbeiten. Neben der Strategie der Befriedung werden aber auch nach wie vor Favelas abgerissen und ihre Bewohner umgesiedelt. Ein pro minentes Beispiel hierfür ist etwa die Favela Vila Autódromo in der Nähe des geplanten Olympiaparks, die zu großen Tei len abgerissen werden sollte. Nur der massive Widerstand der Bewohner, die über eine eigene Website die Öffentlichkeit suchten und lokale Universitäten als Partner bei der Erarbei tung eines alternativen Siedlungskonzeptes gewinnen konn ten, hat die Umsetzung des Plans der Präfektur bisher verhin dern können (siehe Website: www.comunidadevilaautodromo. blogspot.com.br). Die beschriebenen Probleme waren neben der Erhöhung der Buspreise ein Mit-Auslöser der Proteste, die während des Confederation Cups im Sommer 2013 in ganz Brasilien statt fanden, mit Slogans wie „Wir wollen Fifa-Standards nicht nur für die Stadien, sondern auch für die Metro“. Allein am 20. Juni 2013 gingen mehr als 1,5 Millionen Brasilianer auf die Straße (Fernandes und de Freitas Rosenos 2013, S. 13). Diese Proteste stellen dabei etwas Neues dar, denn sie folgen nicht mehr den klassischen Linien von arm und reich, sondern sind deutlich diffuser und viel schwerer in den gesellschaftlichen Kontext einzuordnen. Ähnlich wie die Revolutionen des „Arabischen Frühlings“ findet ein großer Teil der Meinungsbildung und Mobilmachung in Kanälen der Social Media wie Facebook, Twitter, Instragram und Youtube statt. Neue Akteure gewin nen an Popularität und Einfluss, wie Mídia Ninja, ein Journa listen-Kollektiv, das erst 2011 gegründet wurde, aber seit den Protesten weltweites Interesse erfährt und inzwischen fast 230 000 „Likes“ auf seiner Facebook-Seite vorzuweisen hat. Als erste Reaktion auf die Proteste stellte Präsidentin Dilma Rousseff einen Drei-Punkte-Plan vor, nach dem ein nationaler Verkehrsplan mit Fokus auf dem öffentlichen Nah 10 verkehr aufgestellt werden soll. Zehn Prozent der Gewinne aus dem staatlichen Erdölsektor sollen künftig ins Bildungs system fließen. Es bleibt abzuwarten, wie die Konflikte in den kommenden Monaten und insbesondere während der Fuß ballweltmeisterschaft weitergehen und wie Polizei und Regie rung damit umgehen. L i t era t ur Anhuf, D.: Kein Waldschutz ohne Klimaschutz. Die Rolle der Regenwäl der Amazoniens im Kampf gegen den Klimawandel. Geographische Rundschau 62 (2010) H. 9, S. 28–33 Campello, T. und Côrtes Neri, M.: Programa Bolsa Família: uma década de inclusão e cidadania. Brasília 2013 Coy, M.: Stadtentwicklung und Stadtpolitik. Sozioökonomische Frag mentierung und Beispiele zukunftsorientierter Planung. In: Costa, S. u. a. (Hrsg.): Brasilien heute. Geographischer Raum, Politik, Wirt schaft, Kultur. Frankfurt am Main 2010, S. 51–73 Coy, M.: Environmental Justice? Sozialökologische Konfliktkonstellatio nen in Amazonien. In: Burchardt, H.-J. u. a. (Hrsg.): Umwelt und Entwicklung im 21. Jahrhundert. Impulse und Analysen aus Latein amerika. Studien zu Lateinamerika 20. Baden-Baden 2013, S. 121–133 Coy, M.: Umweltprobleme und Umweltpolitik in Brasilien. Der Bürger im Staat (2013) H. 1–2; S. 48–56 Coy, M. und Klingler, M.: Pionierfronten im brasilianischen Amazonien zwischen alten Problemen und neuen Dynamiken. Das Beispiel des „Entwicklungskorridors“ Cuiabá (Mato Grosso) – Santarém (Pará). In: Innsbrucker Geographische Gesellschaft (Hrsg.): Jahresbericht 2008–2010. Innsbruck 2011, S. 109–129 Coy, M. und Schmitt, T.: Brasilien – Schwellenland der Gegensätze. Geographische Rundschau 59 (2007) H. 9, S. 30–39 Coy, M. und Théry, H.: Brasilien. Sozial- und wirtschaftsräumliche Disparitäten – regionale Dynamiken. Geographische Rundschau 62 (2010) H. 9, S. 4–11 Fernandes, E. und de Freitas Rosenos, R.: Protesta Brasil: Das redes sociais às manifestações de rua. São Paulo 2013 ISA (Instituto Socioambiental): Almanaque Brasil Socioambiental. São Paulo 2007 Kohlhepp, G.: Regionale Disparitäten und Regionalplanung. In: Costa, S. u. a. (Hrsg.): Brasilien heute. Geographischer Raum, Politik, Wirtschaft, Kultur. Frankfurt am Main 2010, S. 91–109 Kohlhepp, G.: Bevölkerungsentwicklung und -struktur. In: Costa, S. u. a. (Hrsg.): Brasilien heute. Geographischer Raum, Politik, Wirtschaft, Kultur. Frankfurt am Main 2010, S. 33-50 Kohlhepp, G. und Coy, M.: Amazonien. Vernichtung durch Regional entwicklung oder Schutz zur nachhaltigen Nutzung? In: Costa, S. u. a. (Hrsg.): Brasilien heute. Geographischer Raum, Politik, Wirt schaft, Kultur. Frankfurt am Main 2010, S. 111–134 Neuburger, M.: Entwicklungsprobleme des ländlichen Raumes. In: Costa, S. u. a. (Hrsg.): Brasilien heute. Geographischer Raum, Politik, Wirtschaft, Kultur. Frankfurt am Main 2010, S. 75–89 Schmitt, T.: „O Sertão vai virar mar“. Wasser als Schlüssel der Inwertsetzungsstrategien im Nordosten Brasiliens. Geographische Rundschau 62 (2010) H. 9, S. 12–19 Théry, H. und de Mello, N. A.: Atlas do Brasil. Disparidades e Dinâmicas do Território. São Paulo 2005 Praxis Geographie 3|2014 lizenziert für Michael Wirk am 08.09.2015 lizenziert für Michael Wirk am 08.09.2015 Brasilien
© Copyright 2024 ExpyDoc