Sitzung des Bundesausschusses Friedensratschlag 11.10.15 – Kassel Impuls-Referat zu aktuellen Kriegsentwicklungen Lühr Henken Es gibt zurzeit eine Fülle Brennpunkten, in denen Konflikte gewaltförmig ausgetragen werden: in Syrien, der Ukraine und Afghanistan, in der Türkei, im Jemen, den Irak, zwischen Israel und Palästina oder in Libyen. Und das sind nur diejenigen, die hierzulande am augenfälligsten erscheinen. Diese Kriege werden von der Friedensbewegung beobachtet und analysiert. Wir versuchen aus friedenspolitischer Sicht zur Lösung der Konflikte Empfehlungen zu entwickeln, Vorschläge zu machen und Forderungen zu stellen. Da uns dieses Treffen zeitlich begrenzt, konzentriere ich mich hier auf Syrien, die Ukraine und Afghanistan. Syrien Nach den USA, Großbritannien und Frankreich greift nun auch seit dem 30. September russisches Militär aktiv in den Syrien-Krieg ein. In der ersten September-Woche bereits hatte die US-Aufklärung den Bau von Wohnbaracken und die massive Anlieferung von Kriegsmaterial mittels großer russischer Transportmaschinen im Westen Syriens gemeldet. Die US-Regierung spekulierte öffentlich über ein mögliches Eingreifen Russlands in den Syrienkrieg. Dies wurde zunächst von russischer Seite heruntergespielt. Die US-Spekulation erwies sich jedoch als richtig. Vordergründig verfolgen der Westen und Russland in Syrien dasselbe Ziel. Die NATO-Länder bombardieren in Syrien den „Islamischen Staat“ und Russland gibt das Ziel vor, analog zur Anti-Hitler-Koalition des Zweiten Weltkriegs eine gemeinsame Anti-Terror-Front gegen den IS zu bilden. Jedoch hat nicht der Westen die Russen nach Syrien eingeladen, sondern die Einladung kam aus Damaskus. Und damit ist auch schon der Interessengegensatz offenbar. Erklärtes russisches Ziel ist es nämlich auch, den Sturz Assads zu verhindern. Dagegen hat der Westen das Ziel, den Sturz Assads herbeizuführen ebenso wenig aus den Augen verloren wie die Türkei und die sunnitischen Herrscherhäuser vom Golf, die ihre Schützlinge am Boden mit Geld und Waffen beliefern. Wie gestern der FAZ (10.10.15) zu entnehmen war, unterstützt der CIA direkt die „Freie syrische Armee“ (FSA) durch die Lieferung von Panzerabwehrwaffen, die gegen die syrische Armee zum Einsatz kommen. Kooperationen mit dem syrischen Al-Kaida-Ableger AlNusra sind dabei gang und gebe. Deshalb waren die beteiligten NATO-Staaten auch eifrig in ihrem Protest, Russland dafür zu kritisieren, dass es angeblich vor allem solche Gruppen bombardiert, die im Sold der GolfStaaten stehen. Dem widerspricht allerdings das russische Verteidigungsministerium in seinen Stellungnahmen, wo nur von ISIS-Stellungen die Rede ist, die ins Visier genommen 1 werden. Allerdings weisen die Karten im neuesten SPIEGEL (10.10.15) deutlich aus, dass die russischen Angriffe nur etwa zu 20 Prozent in Gebieten des IS erfolgen, alle anderen in von „Rebellen“ gehaltenem Gebiet im Nordwesten des Landes. Als Machtdemonstration verwendeten die Russen zum ersten Mal Marschflugkörper, die von im Kaspischen Meer operierenden Kriegsschiffen abgefeuert wurden. Von 26 Projektilen sollen jedoch vier im Iran eingeschlagen sein, behaupten US-Quellen. Zur russischen Ausrüstung gehören neben drei Dutzend Kampfbombern auch Helikopter und leistungsstarke Luft-Abwehrraketen, die dazu geeignet sind, eigene Feldlager und Konvois gegen Angriffe aus der Luft zu schützen. Wobei man sich fragt, von wem die Russen Luftangriffe zu befürchten haben. Vom IS und Al-Nusra sicher nicht. Von wem sonst? Den NATO-Ländern, von Saudi-Arabien oder Katar? Wohl auch nicht, denn die daraus resultierende Eskalation wäre unkalkulierbar. Dann bleibt als Erklärung eher die Annahme, dass die Luftabwehrraketen zum Schutz von syrischen staatlichen oder militärischen Einrichtungen dienen sollen. Wir werden sehen. Wie ist der russische Kriegseinsatz zu bewerten? Er kommt zu einem Zeitpunkt, als deutlich wurde, dass die syrische Regierung und die sie unterstützenden schiitischen Kämpfer aus dem Iran und dem Libanon zusehends in die Defensive geraten sind und ihnen der Nachschub an syrischen Kämpfern ausging. Gleichzeitig wuchs mit dem Eintritt Frankreichs in den Luftkrieg die Gegnerschaft Assads. Der Eintritt Russlands in den Krieg stärkt nun die Moral und die Kampfkraft der Regierungstruppen. Damaskus hat sogleich Angriffsoperationen am Boden befohlen. Es ist damit zu rechnen, dass als Reaktion darauf die Golfmonarchien die finanziellen und militärischen Unterstützungen verstärken werden. Von der Lieferung von Boden-LuftRaketen an die islamistischen Rebellen von Seiten Saudi-Arabiens zum Einsatz gegen die russische Luftwaffe ist bereits die Rede. Es ist zu befürchten, dass die russische Militärintervention zu mehr Blutvergießen und mehr Fluchtbewegungen führen wird. Der Krieg wird somit noch intensiver werden. Zwei bemerkenswerte Erkenntnisse: Es ist der erste Kriegseinsatz Russlands außerhalb des Gebiets der ehemaligen Sowjetunion. Und bedeutsam ist auch, dass USA und NATO diesen Einsatz, der ihren Kriegszielen entgegensteht, nicht verhindern können. Wie wirkt sich der russische Eintritt in den Syrienkrieg politisch aus? Die vielen Flüchtlinge aus Syrien, die die EU – insbesondere unser Land – erreichen, haben zu einem ansatzweisen Umdenken in den EU-Regierungen geführt. Kanzlerin Merkel machte den Anfang, indem sie sagte, „man muss auch mit Assad reden“. Das ist insofern von besonderer Bedeutung, weil dies die Maxime der „Freunde Syriens“ aufweicht, die Verhandlungen mit Assad ablehnen. Wir erinnern uns an den UN-Sicherheitsratsbeschluss 2 vom Juni 2012, der Verhandlungen unter Einschluss Assads vorsah, jedoch nachträglich von den Oppositionsgruppen und den USA zu Fall gebracht wurde, weil sie die Bedingung stellten, Assad davon auszuschließen. Unter den „Freunden Syriens“ wächst nunmehr die Einsicht, dass es ohne Assad nicht geht, insbesondere jetzt, wo a) Russland auf Seiten Assads eingreift und b) der Iran durch Lockerung der Sanktionen absehbar liquider wird, und noch mehr Soldaten und Kriegsmaterial nach Syrien entsenden kann. Assad wird sich so noch schwerer auf dem Schlachtfeld besiegen lassen. Diese Konstellation könnte den Westen konzilianter machen und Verhandlungen beschleunigen. Unter Leitung des UN-Sonderbeauftragten Staffan de Mistura sind vier Arbeitsgruppen eingerichtet worden, die mit Vertretern von innersyrischer Opposition und Regierung die vier Themenkomplexe Militär, politische Ordnung, Übergangsautorität und humanitäre Fragen behandeln sollen. Der schiitisch geprägte Iran und das sunnitisch geprägte Saudi-Arabien als regionale Rivalen sollen einbezogen werden. Der IS nicht. Ziel ist eine Einigung untereinander, die über lokale und regionale Waffenstillstände zu einem gesamten Waffenstillstand führen soll, so dass diese anschließend koordiniert gegen den IS in den Krieg ziehen sollen. Inwiefern die kurdische Seite einbezogen werden soll, ist unklar. Ich bin der Meinung, dass der IS und die Kurden sehr früh in den Verhandlungsprozess mit einbezogen werden müssen. Das schafft die Möglichkeit, das nicht homogene Bündnis des „Islamischen Staates“, bestehend aus so ungleichen Partnern wie Salafisten aus verschiedenen Ländern und irakischen Baath-Militärs zu auseinanderzubrechen. Wichtig ist, dass von deutscher Seite kein Öl ins Feuer gegossen wird. Das heißt Waffenexporte in die gesamte Region müssen unterbleiben. Die Gefahr, dass sie von den Empfängerländern am Golf in Syrien landen, ist überhaupt nicht auszuschließen. Ukraine Aus der Ukraine gibt es eigentlich nur gute Nachrichten. Der Waffenstillstand hält schon so lange wie nie, seit Anfang September – und wird immer stabiler. Die Scharmützel sind nahezu zum Erliegen gekommen. Beide Seiten ziehen unter OSZE-Aufsicht nun auch erste Panzer und mittlere Geschütze je 15 Kilometer hinter die Front zurück und einem wichtigen Anliegen des Treffens von Holland, Merkel, Poroschenko und Putin, dass die Aufständischen ihre Kommunalwahlen verschieben, ist die Führung der Aufständischen nachgekommen. Sie sollen nun im Februar stattfinden. Die Umsetzung von Minsk 2 wurde von allen Teilnehmern des Vierer-Gipfels bekräftigt. Jedoch haben die Vertreter der nicht anerkannten „Volksrepubliken“ die Verschiebung der Wahlen an Bedingungen geknüpft. Wie ihre Nachrichtenagentur meldet, soll Kiew zuvor drei Punkte erfüllen: erstens dem Donbass einen Autonomiestatus zuerkennen, zweitens, alle Teilnehmer an den Auseinandersetzungen im Donbass amnestieren und drittens eine neue ukrainische Verfassung verabschieden, an dessen Ausarbeitung die Aufständischen zu beteiligen sind. Kiew hat darauf noch nicht reagiert. Auf jeden Fall stößt die Konsultation der Aufständischen bei der Ausarbeitung der 3 Verfassung in Kiew auf Ablehnung. Das heißt, der Machtpoker geht weiter. Solange nicht geschossen wird, ist das sicher im Rahmen des Konflikts normal. In jedem Fall wird der Zeitplan von Minsk 2 nicht zu halten sein, wonach ab Ende des Jahres, die Kontrollen der Grenzen der „Volksrepubliken“ mit Russland von der Regierung in Kiew durchgeführt werden sollen. Die Vorgänge verdienen weiterhin unsere große Aufmerksamkeit – handelt es sich doch um Geopolitik. Afghanistan Auch der Krieg in Afghanistan verlangt wieder eine größere Aufmerksamkeit. Ausgelöst wurde dies durch die blitzartige militärische Einnahme der Provinzhauptstadt Kunduz im Norden Afghanistans durch die Taliban. Der Angriff erfolgte koordiniert von drei Seiten und war der zweite in diesem Jahr auf die 300.000 Einwohner zählende Stadt, der ersten Provinzhauptstadt überhaupt im Laufe des Krieges seit 14 Jahren. Dieser Erfolg der Taliban machte zweierlei deutlich. Sie sind in der Lage, komplexere Angriffe unter Beteiligung von 1000 bis 2000 Kämpfern (SPIEGEL 2.10.15) zu koordinieren. Bisher war das nur mit bis zu 400 Kämpfern möglich. Und, was ebenso bedeutsam ist, sie konnten es, ohne dass die afghanische oder die NATO-Aufklärung davon rechtzeitig Wind bekommen hatte. Da schrillten bei der NATO die Alarmglocken. Die Lage in Afghanistan hat sich ohnehin umfassend verschlechtert. Die FAZ berichtet, die Wirtschaft befinde sich im freien Fall, „seitdem internationale Hilfsgelder immer weniger werden und lukrative Aufträge zur Versorgung der internationalen Truppen ausbleiben“(FAZ 30.9.15). Die Zahl der getöteten Sicherheitskräfte und Zivilpersonen ist so hoch wie nie in diesen 14 Jahren Krieg. Ausgebildete Afghanen „verlassen in Scharen das Land“, schreibt die FAZ. (30.9.15) Verteidigungsministerin von der Leyen findet die Sicherheitslage „besorgniserregend“. Die Kanzlerin will die Bundeswehr eigentlich nicht weiter abziehen. Bis Ende nächsten Jahres sollte der Ausbildungseinsatz abgeschlossen sein. So die bisherige Planung. Von den derzeit 13.000 NATO-Soldaten in Afghanistan stellt die Bundeswehr gut 800, 700 davon in Masar-iScharif, 100 in Kabul. Nun hat die Kanzlerin gesagt, sie würde nicht abziehen wollen, wenn auch die USA länger blieben. Das Pentagon hatte schon am Tag vor dem Taliban-Angriff auf Kunduz einen Plan seines Afghanistan-Kommandeurs Campbell vorgelegt, wie nach dem von Obama für Ende 2016 vorgesehenen Abzug bis auf 1.000 Mann weiter verfahren werden soll. Afghanistans Präsident Ghani hatte schon erfolgreich um eine Verlangsamung des Abzugs in diesem Jahr gebeten. Campbell legte nun dem Präsidenten drei Optionen zur Entscheidung vor: Erstens: Die Beibehaltung der Truppenstärke bei 10.000, zweitens die Verringerung um ein Fünftel oder drittens auf die Hälfte. D.h. also praktisch eine Zahl zwischen 5.000 und 10.000 käme am Ende dabei heraus. Nach den bisherigen Äußerungen aus der Bundesregierung zu urteilen, würde das bedeuten, dass auch die Bundeswehrstärke ab 2017 bei 400 bis 800 liegen würde. Das Treffen der NATO-Verteidigungsminister am vergangenen Donnerstag (8.10.) erbrachte, dass die NATO nun prüfe, „dauerhaft“ auch militärisch in Afghanistan zu bleiben. Also überhaupt kein Abzug. 4 Die Prognose darf gewagt werden, dass das an der Lage in Afghanistan nichts ändern wird. Der „Brain drain“ wird sich ebenso fortsetzen wie der Krieg. Die Gründe sind vielfältig. Die Regierung in Kabul ist in Machtkämpfe verstrickt wie die Provinzregierungen auch. Selbstbereicherung geht vor Talibanbekämpfung. Die Gräben ziehen sich quer durch Polizei und Armee. Aber gewichtiger noch: das Grundproblem des Krieges ist nicht gelöst, der Konflikt zwischen Pakistan und Indien. Pakistan will Einfluss in Afghanistan, um im möglichen Krieg gegen Indien über ein strategisches Hinterland verfügen zu können. Dazu dient ihnen eine mögliche Talibanregierung in Kabul. Eine militärische Lösung kann es auch für Afghanistan nicht geben. Das haben die Kriege seit 1979 gezeigt. Also muss nach politischen Wegen gesucht werden, die alle Konfliktparteien zusammen führt. Indien und Pakistan gehören ebenso mit an den gemeinsamen Verhandlungstisch wie der Iran, der seinen Einfluss in Westafghanistan massiv ausbaut. 5
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