Probleme wie in jeder Familie Familien, die jugendliche Flüchtlinge aufnehnnen, leben Integration vor - das ist nicht immer einfach Hunderttausende Flüchtlinge sind in den vergangenen Monaten ins Land gekommen. Die meisten leben in großen Unterkünften, kennen kaum Deutsche und den Alltag bei uns. Bis sie in Deutschland wirklich heimisch werden, wird es lange dauern - wenn der Integrationsprozess überhaupt gelingt. Dennoch stellt sich die Frage, wie dieses Zusammenleben zwischen Einheimischen und neuen Nachbarn aussehen könnte. Die Pflegefamilien Ricken und Mühlenbein und ihre Pflegesöhne Abel, Saber und Merhawi leben dieses Miteinander vor. VON KARL-MARTIN FLÜTER Es gab diesen Moment, nachdem sich Katharina Ricken sicher war, alles richtig gemacht zu haben. Das war, als Abel und Saber m i t dem Fahrrad die Straße hinunterfuhren und dabei laut u n d unbeschwert sangen. So, als hätten sie einen Augenblick lang vergessen, was hinter ihnen liegt. Als hätten sie realisiert, dass sie i n Deutschland angekommen sind, i n Sicherheit. Katharina Ricken lächelt, wenn sie das erzählt. Seit etwas mehr als einem Monat leben Abel u n d Saber i m Haus von Raimund u n d Katharina Ricken. Doch die Stimmung ist seit einigen Tagen ein wenig getrübt. Das Ehepaar macht sich Sorgen. Abel, der jüngere der beiden, ist ein gläubiger eritreisch-orthodoxer Christ. Er fastet: sieben Wochen lang kein Fleisch, kein Fisch, keine Eier, keine Milch, nichts zu Essen u n d zu Trinken vor zwölf Uhr. „Dabei ist er schon so dünn", sagt Katharina Ricken, „das kann doch nicht gesund sein." Abel und Saber sind Mitte Februar i n den Haushalt der Familie Ricken eingezogen. Der Dom • Nr. 14 • 3. April 2016 Die beiden Jungen sind aus Eritrea über den Sudan, Libyen u n d das Mittelmeer nach Europa geflohen. Überall drohten Gewalt, Versklavung, Tod. I m Sudan ist Abel so krank geworden, dass er beinahe gestorben wäre. Weil sie als 16-Jährige unter das deutsche Jugendschutzgesetz fallen, müssen Abel u n d Saber i n einem Heim untergebracht werden - oder bei Pflegeeltern wie dem Ehepaar Ricken. Über einen Dienst des Sozialdienstes katholischer Frauen (SkF) i n Paderborn wurden Saber u n d Abel i n die Familie Ricken vermittelt. Bislang lief alles gut, doch jetzt brechen die ersten Probleme auf. Nicht nur Abel, auch Saber macht seinen Pflegeeltern Sorgen. Er w i l l zu seinem Freund i n Frankfurt. Die beiden sind zusammen aufgewachsen u n d haben die gefährliche lange Flucht überstanden. Erst i n Frankfurt, als Saber nach Paderborn kam, wurden sie getrennt. Jetzt vermisst Saber den Freund, er w i l l zu i h m zurück. Katharina Ricken hat gemerkt, wie wichtig Saber der Freund ist. Deshalb hat sie den SkF angerufen u n d u m Beratung gebeten. So k o m m t es, dass Andrea Dominicus v o m SkF-Vermittlungsdienst „Westfälische Pflegefamilien" u n d der gesetzlich bestellte Vormund, eine Mitarbeiterin v o m Jugendamt, i n Sabers Zimmer sitzen u n d m i t i h m über seinen Wunsch reden. „Wir sind ständige A n sprechpartner für die Pflegefamilien, auch bei kleineren Fragen u n d Problemen", sagt Andrea Dominicus. Oft reicht ein Gespräch, u m die Sorge aus der Welt zu schaffen. Doch jetzt scheint die Lage ernster zu sein. Katharina Ricken hat i n i h rem Heimatort Dahl Deutschunterricht für Flüchtlinge gegeben u n d lange Zeit eine Familie als Patin betreut. Diese Erfahrungen waren ausschlaggebend für ihre Entscheidung, Saber u n d Abel aufzunehmen. Trotz ihrer vielen Erfahrung wirkt sie jetzt ein wenig verunsichert. „Ich weiß auch nicht, was w i r d " , sagt sie. Es gibt keinen Grund, sich bei den Rickens n i c h t wohlzu- fühlen. Das Ehepaar lebt i n einem gemütlichen Haus i m Paderborner Ortsteil Dahl. Von hier kann Raimund Ricken m i t dem Fahrrad durchs Grüne bis zur Universität fahren, wo er als Ingenieur arbeitet. Auch Abel u n d Saber haben bereits Räder. Platz ist genug für alle da. Das Ehepaar hatte den Keller für die fünf eigenen Kinder ausgebaut. Seitdem die Kinder aus dem Haus sind, haben die Rickens mehrfach Austauschschüler und -Studenten i n ihrem Haushalt aufgenommen. Doch es ist ein Unterschied, ob der Mitbewohner ein mehrsprachiger Schüler oder ein Student ist, der i n seinem Heimatland bereits studiert hat, oder ein Junge aus Eritrea, der nur eine der neun Sprachen seines afrikanischen Geburtslandes kennt. „Die Sprache macht vieles schwierig", sagt Raimund Ricken. Manchmal liegen die Gründe für Missverständnisse noch tiefer. Abel u n d Saber k o m m e n aus einer Kultur, i n der es sich nicht gehört, Erwachsenen mit einem „Nein" zu antworten. Doch Raimund u n d Katharina Ricken hinterfragen ihre Antworten. Wie ernst ist das „Ja" wirklich gemeint? Handelt es sich wirklich u m Zustimmung oder ist es doch eine Ausflucht? Verstehen die Jungen nicht, was ihnen gesagt wird u n d wollen das nicht zugeben? Kurz darauf ist die Familie Mühlenbein zu Besuch. Katharina u n d Raimund Ricken nehmen für eine Woche den Pflegesohn v o n Manuela u n d Ulrich Mühlenbein auf: Merhawi, 16 Jahre, ebenfalls aus Eritrea. Er hat seine Pflegeeltern an dem Tag kennengelernt, an dem auch Abel u n d Saber das Ehepaar Ricken zum ersten Mal trafen. Seit diesem ersten Treffen stehen die Familien i n Kontakt. Auch die drei Jungen freuen sich über die regelmäßigen gegenseitigen Besuche. „Hoffentlich passt die Che- mie", hatte sich Manuela Mühlenbein vor der ersten Begegnung m i t Merhawi gefragt. Als sie den Jungen sah, war sie „auf Anhieb begeistert": „Er hat mein Herz i m Sturm gen o m m e n . " Auch Merhawi habe am Anfang etwas verlegen gewirkt, erinnert sich Manuela Mühlenbein. Doch die anfängliche Zurückhaltung verwandelte sich schnell i n Aufgeschlossenheit u n d Neugierde. Seitdem hat sich Merhawi gut eingelebt, vor allem m i t dem fast gleichaltrigen Carlos, dem leiblichen Sohn der Familie, k o m m t er gut aus. Die beiden gehen wie Brüder m i t einander u m , einschließlich der morgendlichen Streitereien ums Bad. Manuela Mühlenbein ist Schulsekretärin. So ist sie i h rem Pflegesohn tagsüber nahe, wenn Merhawi die internationale Klasse i n der Hauptschule besucht, i n der sie arbeitet. Nur für einige Stunden am Wochenende geht Merhawi eigene Wege. D a n n fährt er zum Flüchtlingswohnheim i m Nachbarort. Dort leben Eritreer, m i t denen er Freundschaft geschlossen hat - ein Stück vertraute Heimat. Jetzt trennt sich die junge Pflegefamilie z u m ersten M a l . Die Mühlenbeins hatten schon lange vorher einen Skiurlaub i n Österreich gebucht. Für die deutschen Behörden ist es ausgeschlossen, dass Merhawi deutsche Staatsgrenzen überschreitet. Selbst den Kreis Paderborn darf er n i c h t verlassen. Also hat die Familie Ricken den Jungen für diese Zeit aufgenommen. Platz haben sie genug - u n d vielleicht gelingt es Merhawi ja, Abel u n d Saber aufzuheitern. Abends unterrichtet Raim u n d Ricken Abel u n d Saber: Deutsch, Mathe, Englisch, alles was i n der internationalen Klasse des Paderborner Berufskollegs behandelt w i r d , die die beiden besuchen. Nach Feierabend u n d w e n n er frei hat, kümmert sich Raimund Ricken u m die Bürokratie, die anfällt. Beispielsweise die Be- scheinigung über die Aufenthaltsgestattung v o n Saber. Di( w i r d gebraucht, weil der Jung i n einem Paderborner Fußball verein trainiert, aber bei Meis terschaftsspielen nicht mitma chen kann. Der Spielerpass fehlt - u n d den gibt es nur m i der Aufenthaltsgestattung. Die Mehrarbeit u n d der Auf wand ist Raimund Ricken egal. „Eigentlich ist es wie i n jeder Familie", sagt er, „die Kinder sehen die Dinge ander als die Erwachsenen." Katharina Ricken macht sich weiter noch Sorgen u m Abel, der immer noch fastet. Gemeinsam waren sie bei einem Arzt. Auch für Sabers Prc blem könnte es eine Lösung geben. Der Paderborner SkF sucht i n Frankfurt nach Saber Freund. Katharina u n d Raim u n d Ricken haben sich bereit erklärt, den Jungen als drittes Pflegekind aufzunehmen. „Aber nur für eine Übergangszeit", sagt Katharina Ricken. Mehr schafft auch sie jetzt n i c h t mehr. Der Dom • Nr. 14 • 3. April Kultureller Kippschalter Die Ethnologin Sandra de Vries ist Fachfrau für interkulturelle Kompetenz PADERBORN. Die Ethnologin Sandra de Vries bereitet Pflegeeltern von minderjährigen Flüchtlingen auf ihre Aufgabe vor. Dabei lernen sie, dass interkulturelle Begegnung nicht schwierig sein muss - wenn man die eigenen Scheuklappen ablegt. nicht deshalb so gut, leben w i r nicht deshalb so sicher, weil „Interkulturelle Kompetenz unsere Kultur anderen Kultufängt bei der eigenen Person ren überlegen ist? an", sagt Sandra de Vries. Die Wenn es jedoch zu einer Ethnologin hat lange i n Pakiswirklichen Begegnung zwitan und Westafrika gelebt. Der schen Menschen aus zwei verIslam ist ihr Schwerpunkt. schiedenen Kulturbereichen Auch deshalb ist sie zurzeit k o m m e n soll, geht das nur dauerbeschäftigt als Vortragsohne diese Scheuklappen. reisende i n Sachen interkultu„Anerkennung der Diversität", relle Begegnung. Auch der Panennt Sandra de Vries das. derborner SkF hat die Fachfrau M a n müsse den kulturellen für einen Workshop gewon„Kippschalter" umlegen können. Etwa 30 Frauen u n d nen, u m zwischen den EinstelMänner, die einen minderjählungen u n d Lebensweisen rigen Flüchtling aufnehmen h i n - u n d herzuwechseln. wollen oder schon PflegeelDas beginnt m i t der Spratern sind, sitzen i n einem Vorche. Die Deutschen leben i n tragsraum i n Haus Widey bei einem homogenen SprachSalzkotten zusammen. raum. Wer n i c h t unsere Sprache spricht, gehört n i c h t „Alle Menschen sind davon ü berzeugt, dazu. Das ist aber n i c h t dass ihre Kultur die beste ist. selbstverSandra de Vries ständlich. Viele Menschen, die als Flüchtlinge zu uns kommen, Sandra de Vries zuzuhören haben i n ihrer Heimat m i t viehat eine desillusionierende len fremden Sprachen auf Wirkung. Nach u n d nach engstem Raum gelebt. Dass sie n i m m t sie ihren Zuhörern i n jetzt nur noch eine sprechen Haus Widey scheinbar selbstsollen, ist neu für sie. verständliche Selbstgewissheiten. U n d selbst wenn Menschen „Alle Menschen haben das eine Sprache sprechen, müsGefühl, ihre Kultur sei die bessen sie sich n i c h t verstehen. te", sagt sie. Interkulturelle Ein „Nein" gibt es i n vielen Kompetenz ist es jedoch, v o n Gesellschaften nicht. Widerder eigenen überheblichen spruch, Verweigerung, OppoSelbsteinschätzung abzusehen sition ist i n diesen „Ja-Kultuund andere Kulturen als ren" schlicht undenkbar. gleichberechtigt wahrzunehU n d dann diese Angewohnmen. Das fällt auch uns heit, dass alle immer gleichscheinbar aufgeklärten Eurozeitig reden. Wer n i c h t aus Eupäern schwer: Geht es uns ropa stammt, dem kann das VON KARL-MARTIN FLÜTER Der Dom • Nr. 14 • 3. April 2016 Die Ethnologin Sandra de Vries. wie eine Respektlosigkeit vor dem anderen vorkommen. Die Diversität erstreckt sich über alle Lebensbereiche. Sandra de Vries kann stundenlang Beispiel an Beispiel reihen. Das andere Frauenbild etwa i m Islam w i r d i n Deutschland seit Silvester erregt diskutiert. Doch es gibt andere Regeln, die ebenso w i c h t i g sind. Etwa die, dass viele junge Männer Distanzlosigkeit n i c h t ertragen. Körperkontakt ist i n vielen Gesellschaften bei kleinen Kindern erlaubt, n i c h t aber bei Männern. Anders als i n Europa ist i n anderen Kulturen das Alter wichtig. Wer alt ist, hat Einfluss. U n d noch mehr als bei uns lässt sich an- , • . - Foto: Flüter dernorts der soziale Status an der Kleidung ablesen. M i t Sensibilität u n d Aufmerksamkeit, Respekt u n d Offenheit könne es gelingen, Missverständnisse zu überwinden, betont Sandra de Vries i n ihrem Workshop vor den Pflegeeltern. Sie gibt ihren Zuhörern am Ende des Workshops einige Regeln für den Alltag m i t den jugendlichen Flüchtlingen an die Hand. I m Kern sind sie alle v o n einem Gedanken getragen: M a n muss m i t den interkulturellen Irritationen leben lernen. „Bleiben Sie authentisch, aber schleppen Sie Ihre Differenz n i c h t m i t i n die Beziehung." Der SkF-Pflegedienst lädt Pflegeeltern und die, die es werden wollen, regelmäßig zu Schulungen ein, um sie auf diese Aufgabe vorzubereiten. Foto; Flüter Platz, Zeit un d Kraft für eine neue Aufgabe Der Sessel mit Aufstehhilfe! Maßgeschneidert für Ihre Größe und Ihr Gewicht. Der SkF sucht Pflegeeltern für junge Flüchtlinge Seit November 2015 vermittelt der Sozialdienst katholischer Frauen e.V. (SkF) in Paderborn minderjährige unbegleitete Flüchtlinge in Pflegefamilien. VON KARL-MARTIN FLÜTER M i t der Vermittlung jugendlicher Flüchtlinge aus aller Welt ist der SkF-Pflegekinderdienst „Westfälische Pflegefamilien" neue Wege gegangen. Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge kamen bislang nur selten i n Pflegefamilien unter. Am 1. November ist das „Gesetz zur Verbesserung der Unterbringung, Versorgung und Betreuung ausländischer Kinder und Jugendlicher" i n Kraft getreten. Seitdem werden allen Städten u n d Gemeinden unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (UMF) zugewiesen, die sie i n Wohnhei- men oder Pflegeheimen unterbringen müssen. Die Jugendlichen k o m m e n vor allem aus vier Ländern: Afghanistan, Eritrea, Syrien u n d Somalia. Fast 90 Prozent der minderjährigen Flüchtlinge sind männlich, die meisten sind zwischen 16 oder 17 Jahre alt. Der SkF sucht Familien, Lebensgemeinschaften u n d Einzelpersonen für diese Aufgabe. Eine Bevölkerungsgruppe hat der SkF besonders ins Auge gefasst: Menschen u m die 50, die vielleicht selber Kinder groß gezogen haben. Voraussetzung für die neue Aufgabe ist, dass die Pflegeeltern Platz, Zeit u n d genug Kraft für die neue Aufgabe haben. Für die Zeit der Pflege erhalten sie eine angemessene finanzielle Leistung, vor allem aber die Unterstützung des SkF-Fachteams. • Unverbindliche Beratung bei Ihnen zu Hause. • 4 verschiedene Modelle zur Auswahl. • In vielen Ausstattungsvarianten erhältich! ab1.299€ Revilax Sessel werden ganz individuell auf Ihre Bedürfnisse abgestimmt und hergestellt. Sie sind in zahlreichen Farben, Materialien und Sonderausstattungen erhältlich. Weitere Informationen und persönliche Beratung unter: 0 21 62 / 50 39 0 oder www.revilax.de Der Dom • Nr. 14 • 3. April 201
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