Dom-Artikel 3.4.2016

Probleme wie
in jeder Familie
Familien, die jugendliche Flüchtlinge aufnehnnen,
leben Integration vor - das ist nicht immer einfach
Hunderttausende Flüchtlinge sind in den vergangenen Monaten ins Land gekommen. Die meisten leben in großen Unterkünften, kennen kaum Deutsche und den Alltag bei uns. Bis sie
in Deutschland wirklich heimisch werden, wird es lange dauern - wenn der Integrationsprozess überhaupt gelingt. Dennoch stellt sich die Frage, wie dieses Zusammenleben zwischen
Einheimischen und neuen Nachbarn aussehen könnte. Die Pflegefamilien Ricken und Mühlenbein und ihre Pflegesöhne Abel,
Saber und Merhawi leben dieses Miteinander vor.
VON KARL-MARTIN FLÜTER
Es gab diesen Moment, nachdem sich Katharina Ricken sicher war, alles richtig gemacht
zu haben. Das war, als Abel
und Saber m i t dem Fahrrad
die Straße hinunterfuhren
und dabei laut u n d unbeschwert sangen. So, als hätten
sie einen Augenblick lang vergessen, was hinter ihnen liegt.
Als hätten sie realisiert, dass
sie i n Deutschland angekommen sind, i n Sicherheit.
Katharina Ricken lächelt,
wenn sie das erzählt. Seit etwas mehr als einem Monat leben Abel u n d Saber i m Haus
von Raimund u n d Katharina
Ricken. Doch die Stimmung
ist seit einigen Tagen ein wenig getrübt. Das Ehepaar
macht sich Sorgen. Abel, der
jüngere der beiden, ist ein
gläubiger eritreisch-orthodoxer Christ. Er fastet: sieben
Wochen lang kein Fleisch,
kein Fisch, keine Eier, keine
Milch, nichts zu Essen u n d zu
Trinken vor zwölf Uhr. „Dabei
ist er schon so dünn", sagt Katharina Ricken, „das kann
doch nicht gesund sein."
Abel und Saber sind Mitte
Februar i n den Haushalt der
Familie Ricken eingezogen.
Der Dom • Nr. 14 • 3. April 2016
Die beiden Jungen sind aus
Eritrea über den Sudan, Libyen u n d das Mittelmeer nach
Europa geflohen. Überall
drohten Gewalt, Versklavung,
Tod. I m Sudan ist Abel so
krank geworden, dass er beinahe gestorben wäre.
Weil sie als 16-Jährige unter
das deutsche Jugendschutzgesetz fallen, müssen Abel u n d
Saber i n einem Heim untergebracht werden - oder bei Pflegeeltern wie dem Ehepaar Ricken. Über einen Dienst des
Sozialdienstes katholischer
Frauen (SkF) i n Paderborn
wurden Saber u n d Abel i n die
Familie Ricken vermittelt.
Bislang lief alles gut, doch
jetzt brechen die ersten Probleme auf. Nicht nur Abel,
auch Saber macht seinen Pflegeeltern Sorgen. Er w i l l zu seinem Freund i n Frankfurt. Die
beiden sind zusammen aufgewachsen u n d haben die gefährliche lange Flucht überstanden. Erst i n Frankfurt, als
Saber nach Paderborn kam,
wurden sie getrennt. Jetzt vermisst Saber den Freund, er w i l l
zu i h m zurück.
Katharina Ricken hat gemerkt, wie wichtig Saber der
Freund ist. Deshalb hat sie
den SkF angerufen u n d u m
Beratung gebeten. So k o m m t
es, dass Andrea Dominicus
v o m SkF-Vermittlungsdienst
„Westfälische Pflegefamilien"
u n d der gesetzlich bestellte
Vormund, eine Mitarbeiterin
v o m Jugendamt, i n Sabers
Zimmer sitzen u n d m i t i h m
über seinen Wunsch reden.
„Wir sind ständige A n sprechpartner für die Pflegefamilien, auch bei kleineren Fragen u n d Problemen", sagt
Andrea Dominicus. Oft reicht
ein Gespräch, u m die Sorge
aus der Welt zu schaffen.
Doch jetzt scheint die Lage
ernster zu sein.
Katharina Ricken hat i n i h rem Heimatort Dahl Deutschunterricht für Flüchtlinge gegeben u n d lange Zeit eine Familie als Patin betreut. Diese
Erfahrungen waren ausschlaggebend für ihre Entscheidung,
Saber u n d Abel aufzunehmen.
Trotz ihrer vielen Erfahrung
wirkt sie jetzt ein wenig verunsichert. „Ich weiß auch
nicht, was w i r d " , sagt sie.
Es gibt keinen Grund, sich
bei den Rickens n i c h t wohlzu-
fühlen. Das Ehepaar lebt i n einem gemütlichen Haus i m Paderborner Ortsteil Dahl. Von
hier kann Raimund Ricken
m i t dem Fahrrad durchs Grüne bis zur Universität fahren,
wo er als Ingenieur arbeitet.
Auch Abel u n d Saber haben
bereits Räder. Platz ist genug
für alle da. Das Ehepaar hatte
den Keller für die fünf eigenen
Kinder ausgebaut.
Seitdem die Kinder aus dem
Haus sind, haben die Rickens
mehrfach Austauschschüler
und -Studenten i n ihrem
Haushalt aufgenommen.
Doch es ist ein Unterschied,
ob der Mitbewohner ein
mehrsprachiger Schüler oder
ein Student ist, der i n seinem
Heimatland bereits studiert
hat, oder ein Junge aus Eritrea,
der nur eine der neun Sprachen seines afrikanischen Geburtslandes kennt.
„Die Sprache macht vieles
schwierig", sagt Raimund Ricken. Manchmal liegen die
Gründe für Missverständnisse
noch tiefer.
Abel u n d Saber k o m m e n aus
einer Kultur, i n der es sich
nicht gehört, Erwachsenen
mit einem „Nein" zu antworten. Doch Raimund u n d Katharina Ricken hinterfragen
ihre Antworten. Wie ernst ist
das „Ja" wirklich gemeint?
Handelt es sich wirklich u m
Zustimmung oder ist es doch
eine Ausflucht? Verstehen die
Jungen nicht, was ihnen gesagt wird u n d wollen das
nicht zugeben?
Kurz darauf ist die Familie
Mühlenbein zu Besuch. Katharina u n d Raimund Ricken
nehmen für eine Woche den
Pflegesohn v o n Manuela u n d
Ulrich Mühlenbein auf: Merhawi, 16 Jahre, ebenfalls aus
Eritrea. Er hat seine Pflegeeltern an dem Tag kennengelernt, an dem auch Abel u n d
Saber das Ehepaar Ricken zum
ersten Mal trafen. Seit diesem
ersten Treffen stehen die Familien i n Kontakt. Auch die
drei Jungen freuen sich über
die regelmäßigen gegenseitigen Besuche.
„Hoffentlich passt die Che-
mie", hatte sich Manuela
Mühlenbein vor der ersten Begegnung m i t Merhawi gefragt.
Als sie den Jungen sah, war sie
„auf Anhieb begeistert": „Er
hat mein Herz i m Sturm gen o m m e n . " Auch Merhawi habe am Anfang etwas verlegen
gewirkt, erinnert sich Manuela
Mühlenbein. Doch die anfängliche Zurückhaltung verwandelte sich schnell i n Aufgeschlossenheit u n d Neugierde. Seitdem hat sich Merhawi
gut eingelebt, vor allem m i t
dem fast gleichaltrigen Carlos,
dem leiblichen Sohn der Familie, k o m m t er gut aus. Die
beiden gehen wie Brüder m i t einander u m , einschließlich
der morgendlichen Streitereien ums Bad.
Manuela Mühlenbein ist
Schulsekretärin. So ist sie i h rem Pflegesohn tagsüber nahe,
wenn Merhawi die internationale Klasse i n der Hauptschule
besucht, i n der sie arbeitet.
Nur für einige Stunden am
Wochenende geht Merhawi
eigene Wege. D a n n fährt er
zum Flüchtlingswohnheim i m
Nachbarort. Dort leben Eritreer, m i t denen er Freundschaft geschlossen hat - ein
Stück vertraute Heimat.
Jetzt trennt sich die junge
Pflegefamilie z u m ersten M a l .
Die Mühlenbeins hatten
schon lange vorher einen Skiurlaub i n Österreich gebucht.
Für die deutschen Behörden
ist es ausgeschlossen, dass
Merhawi deutsche Staatsgrenzen überschreitet. Selbst den
Kreis Paderborn darf er n i c h t
verlassen. Also hat die Familie
Ricken den Jungen für diese
Zeit aufgenommen. Platz haben sie genug - u n d vielleicht
gelingt es Merhawi ja, Abel
u n d Saber aufzuheitern.
Abends unterrichtet Raim u n d Ricken Abel u n d Saber:
Deutsch, Mathe, Englisch, alles was i n der internationalen
Klasse des Paderborner Berufskollegs behandelt w i r d , die
die beiden besuchen. Nach
Feierabend u n d w e n n er frei
hat, kümmert sich Raimund
Ricken u m die Bürokratie, die
anfällt. Beispielsweise die Be-
scheinigung über die Aufenthaltsgestattung v o n Saber. Di(
w i r d gebraucht, weil der Jung
i n einem Paderborner Fußball
verein trainiert, aber bei Meis
terschaftsspielen nicht mitma
chen kann. Der Spielerpass
fehlt - u n d den gibt es nur m i
der Aufenthaltsgestattung.
Die Mehrarbeit u n d der Auf
wand ist Raimund Ricken
egal. „Eigentlich ist es wie i n
jeder Familie", sagt er, „die
Kinder sehen die Dinge ander
als die Erwachsenen."
Katharina Ricken macht
sich weiter noch Sorgen u m
Abel, der immer noch fastet.
Gemeinsam waren sie bei einem Arzt. Auch für Sabers Prc
blem könnte es eine Lösung
geben. Der Paderborner SkF
sucht i n Frankfurt nach Saber
Freund. Katharina u n d Raim u n d Ricken haben sich bereit erklärt, den Jungen als
drittes Pflegekind aufzunehmen. „Aber nur für eine Übergangszeit", sagt Katharina Ricken. Mehr schafft auch sie
jetzt n i c h t mehr.
Der Dom • Nr. 14 • 3. April
Kultureller Kippschalter
Die Ethnologin Sandra de Vries ist Fachfrau für interkulturelle Kompetenz
PADERBORN. Die Ethnologin Sandra de Vries bereitet Pflegeeltern von minderjährigen Flüchtlingen auf ihre Aufgabe vor.
Dabei lernen sie, dass interkulturelle Begegnung nicht schwierig sein muss - wenn man die eigenen Scheuklappen ablegt.
nicht deshalb so gut, leben w i r
nicht deshalb so sicher, weil
„Interkulturelle Kompetenz
unsere Kultur anderen Kultufängt bei der eigenen Person
ren überlegen ist?
an", sagt Sandra de Vries. Die
Wenn es jedoch zu einer
Ethnologin hat lange i n Pakiswirklichen Begegnung zwitan und Westafrika gelebt. Der
schen Menschen aus zwei verIslam ist ihr Schwerpunkt.
schiedenen Kulturbereichen
Auch deshalb ist sie zurzeit
k o m m e n soll, geht das nur
dauerbeschäftigt als Vortragsohne diese Scheuklappen.
reisende i n Sachen interkultu„Anerkennung der Diversität",
relle Begegnung. Auch der Panennt Sandra de Vries das.
derborner SkF hat die Fachfrau M a n müsse den kulturellen
für einen Workshop gewon„Kippschalter" umlegen können. Etwa 30 Frauen u n d
nen, u m zwischen den EinstelMänner, die einen minderjählungen u n d Lebensweisen
rigen Flüchtling aufnehmen
h i n - u n d herzuwechseln.
wollen oder schon PflegeelDas beginnt m i t der Spratern sind, sitzen i n einem Vorche. Die Deutschen leben i n
tragsraum i n Haus Widey bei
einem homogenen SprachSalzkotten zusammen.
raum. Wer n i c h t unsere Sprache spricht,
gehört n i c h t
„Alle Menschen sind davon ü berzeugt,
dazu. Das ist
aber n i c h t
dass ihre Kultur die beste ist.
selbstverSandra de Vries
ständlich.
Viele Menschen, die als
Flüchtlinge zu uns kommen,
Sandra de Vries zuzuhören
haben i n ihrer Heimat m i t viehat eine desillusionierende
len fremden Sprachen auf
Wirkung. Nach u n d nach
engstem Raum gelebt. Dass sie
n i m m t sie ihren Zuhörern i n
jetzt nur noch eine sprechen
Haus Widey scheinbar selbstsollen, ist neu für sie.
verständliche Selbstgewissheiten.
U n d selbst wenn Menschen
„Alle Menschen haben das
eine Sprache sprechen, müsGefühl, ihre Kultur sei die bessen sie sich n i c h t verstehen.
te", sagt sie. Interkulturelle
Ein „Nein" gibt es i n vielen
Kompetenz ist es jedoch, v o n
Gesellschaften nicht. Widerder eigenen überheblichen
spruch, Verweigerung, OppoSelbsteinschätzung abzusehen
sition ist i n diesen „Ja-Kultuund andere Kulturen als
ren" schlicht undenkbar.
gleichberechtigt wahrzunehU n d dann diese Angewohnmen. Das fällt auch uns
heit, dass alle immer gleichscheinbar aufgeklärten Eurozeitig reden. Wer n i c h t aus Eupäern schwer: Geht es uns
ropa stammt, dem kann das
VON KARL-MARTIN FLÜTER
Der Dom • Nr. 14 • 3. April 2016
Die Ethnologin Sandra de Vries.
wie eine Respektlosigkeit vor
dem anderen vorkommen.
Die Diversität erstreckt sich
über alle Lebensbereiche.
Sandra de Vries kann stundenlang Beispiel an Beispiel reihen. Das andere Frauenbild etwa i m Islam w i r d i n Deutschland seit Silvester erregt diskutiert. Doch es gibt andere Regeln, die ebenso w i c h t i g sind.
Etwa die, dass viele junge
Männer Distanzlosigkeit n i c h t
ertragen. Körperkontakt ist i n
vielen Gesellschaften bei kleinen Kindern erlaubt, n i c h t
aber bei Männern. Anders als
i n Europa ist i n anderen Kulturen das Alter wichtig. Wer
alt ist, hat Einfluss. U n d noch
mehr als bei uns lässt sich an-
,
• . -
Foto: Flüter
dernorts der soziale Status an
der Kleidung ablesen.
M i t Sensibilität u n d Aufmerksamkeit, Respekt u n d Offenheit könne es gelingen,
Missverständnisse zu überwinden, betont Sandra de Vries i n
ihrem Workshop vor den Pflegeeltern.
Sie gibt ihren Zuhörern am
Ende des Workshops einige
Regeln für den Alltag m i t den
jugendlichen Flüchtlingen an
die Hand. I m Kern sind sie alle
v o n einem Gedanken getragen: M a n muss m i t den interkulturellen Irritationen leben
lernen. „Bleiben Sie authentisch, aber schleppen Sie Ihre
Differenz n i c h t m i t i n die Beziehung."
Der SkF-Pflegedienst lädt Pflegeeltern und die, die es werden wollen,
regelmäßig zu Schulungen ein, um
sie auf diese Aufgabe vorzubereiten.
Foto; Flüter
Platz, Zeit un d Kraft
für eine neue Aufgabe
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Der SkF sucht Pflegeeltern für junge Flüchtlinge
Seit November 2015 vermittelt der Sozialdienst katholischer Frauen e.V. (SkF) in
Paderborn minderjährige
unbegleitete Flüchtlinge in
Pflegefamilien.
VON KARL-MARTIN FLÜTER
M i t der Vermittlung jugendlicher Flüchtlinge aus aller Welt
ist der SkF-Pflegekinderdienst
„Westfälische Pflegefamilien"
neue Wege gegangen. Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge kamen bislang nur selten i n Pflegefamilien unter.
Am 1. November ist das
„Gesetz zur Verbesserung der
Unterbringung, Versorgung
und Betreuung ausländischer
Kinder und Jugendlicher" i n
Kraft getreten. Seitdem werden allen Städten u n d Gemeinden unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (UMF) zugewiesen, die sie i n Wohnhei-
men oder Pflegeheimen unterbringen müssen.
Die Jugendlichen k o m m e n
vor allem aus vier Ländern:
Afghanistan, Eritrea, Syrien
u n d Somalia. Fast 90 Prozent
der minderjährigen Flüchtlinge sind männlich, die meisten
sind zwischen 16 oder 17 Jahre alt.
Der SkF sucht Familien, Lebensgemeinschaften u n d
Einzelpersonen für diese Aufgabe. Eine Bevölkerungsgruppe hat der SkF besonders ins
Auge gefasst: Menschen u m
die 50, die vielleicht selber
Kinder groß gezogen haben.
Voraussetzung für die neue
Aufgabe ist, dass die Pflegeeltern Platz, Zeit u n d genug
Kraft für die neue Aufgabe haben. Für die Zeit der Pflege erhalten sie eine angemessene
finanzielle Leistung, vor allem
aber die Unterstützung des
SkF-Fachteams.
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Der Dom • Nr. 14 • 3. April 201