Predigt am 20.12.15 Rinja Müller

Predigt am 4. Advent zu Phil 4,4-7 (20.12.2015)
Gnade sei mit Euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn, Jesus Christus.
Liebe Gemeinde,
I.
Nachrichten von geliebten Menschen, als Brief oder auch digital. Weihnachtspost.
Kennen Sie das: Ich lese einige Zeilen und höre die herzliche Stimme der Person
innerlich, ihre tröstende oder befreiende Wirkung senkt sich beim Lesen langsam in
mich ein, wird sogar zur Körperempfindung. Ich kann aufatmen. Und ich lese alles
unweigerlich noch einmal. Ich spüre die Person in dem Moment wie leiblich anwesend,
mir wird ähnlich wohl und warm wie in ihrer Gegenwart. So ist eine Person mir nah,
ohne selbst anwesend sein zu müssen.
Ob es den Christinnen und Christen in Philippi auch so ging, als sie den Brief von
Paulus erhielten, aus dem uns eben der Beginn des Briefschlusses vorgelesen wurde? Ist
einigen der Philipper auch warm ums Herz geworden, als sie lasen: „Freuet euch in dem
Herrn allewege, und abermals sage ich: Freuet euch!“ Ob sie den Paulus vor sich sahen,
wie er einige Zeit zuvor selbst in Philipi zu Besuch war und ihnen leidenschaftlich
predigte? Konnten sie hören, wie er die Worte betonte? Und spürten sie seine Freude
überschwappen auf sie? Welchen Grund hatte Paulus denn eigentlich zur Freude? Dazu
ist es hilfreich, sich die Situation in Erinnerung zu rufen, in der dieser Brief entstanden
ist.
II.
Zur Zeit der Abfassung des Briefes befand sich Paulus in einer für ihn äußerst
bedrohlichen Lage. Er schreibt - vermutlich im Frühjahr 55 - aus der Haft in Ephesus.
Vieles spricht dafür, dass Paulus – entgegen der Darstellung in der Apostelgeschichte –
in der römischen Gefangenschaft auch Folter, Hunger und Blöße erlitt. Außerdem
musste er mit seinem eigenen Todesurteil rechnen. Mit diesem Wissen erscheint der
Brief in einem ganz anderen Licht – nämlich dem des Abschieds. Für Paulus sind die
Zeilen aus der Gefangenschaft potenziell letzte Grüße.
„Freuet euch in dem Herrn allewege, und abermals sage ich: Freuet euch!“
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Wieso war es Paulus so wichtig, den Philippern die Freude ans Herz zu legen? Und
woran konnte Paulus sich in der Haft freuen? Man könnte außerdem einwenden, dass
die Freude nicht befohlen werden kann. Chairete steht im Griechischen. Chara, die
Freude, hat mit Charis, der Gnade, zu tun. Dieser etymologische Zusammenhang erinnert
daran, dass man Freude nicht erzwingen kann, sondern - wie auch bei der Gnade – von
ihr beschenkt wird. Ich kann mir vorstellen, dass die Philipper die Freude des Paulus
spüren konnten, dass es ihnen ähnlich ging wie mir, wenn ich Briefe von aufrichtiger
Freude oder ehrlich ausgedrücktem Kummer erhalte. Wenn das stimmt, dann handelt es
sich hier weder um einen Imperativ noch um eine positive Affirmation, sondern um ein
Geschenk des Paulus an die Philipper. Seine eigene Freude möge die der Philipper
werden. Was für ein Abschiedsgeschenk! Und was für ein Gottvertrauen, in
Gefangenschaft und Todesnähe Freude empfinden und verschenken zu können! Woher
rührt dieses tiefe Vertrauen?
III.
Die folgenden Sätze zeigen es: „Eure Güte lasst kund sein allen Menschen! Der Herr ist
nahe!“
Der Herr ist nahe! Wie doppelsinnig! Wir denken wahrscheinlich zunächst an das
bevorstehende Fest der Geburt, Paulus aber spricht von der Wiederkunft Jesu. Der
Doppelsinn verdeutlicht noch einmal die Spannung, unter der die Adventszeit steht. Der
Herr ist nahe! Der Herr ist uns so nahe gekommen damals mit seiner Geburt, dass er die
niedrige Magd Maria zur Königin des Glaubens erhoben hat – gerade wegen ihres
Vertrauens. Und so fern ist uns das allen zugleich heute, wo die überfüllten
Terminkalender, Läden und Weihnachtsmärkte und die überzogenen
Geschenkerwartungen keineswegs erhebend sind, sondern allenfalls abgehoben. Und
doch versuchen wir es jedes Jahr auf Neue, uns darauf einzulassen, zu vertrauen, dass
mit jedem Heiligabend ein Neuanfang möglich ist, dass endlich Frieden werde auf Erden.
Dieses Hoffen angesichts der vielen, scheinbar nicht enden wollenden
Schreckensnachrichten von Kriegen, von Terror, von Fluchten erfordert echte
Glaubensarbeit und ist zugleich ein Geschenk. „Eure Güte lasst kund sein allen Menschen!
Der Herr ist nahe.“ – diese Aufforderung spricht Paulus den Philippern ebenso zu wie wir
uns davon angesprochen fühlen dürfen. Gott sei Dank erleben wir auch das: die
zahllosen Helferinnen und Helfer, die ihre Güte kund sein lassen – ALLEN Menschen.
Zwischendurch mal müde zu werden, ist erlaubt. Und viele unserer Bemühungen, am
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Frieden auf Erden mitzuwirken, bleiben bruchstückhaft. Für diese realistische
Einschätzung steht das Bild von der Wiederkunft Jesu Christi am Ende der Tage, die
Paulus in seinem Ausruf benennt: Der Herr ist nahe! - Freut euch trotzdem, auch wenn
ihr ängstlich seid, scheint Paulus den Christinnen und Christen zurufen zu wollen, und
ich fühle mich auch gemeint. Christus wird kommen und wird abwischen alle Tränen.
Aber bis dahin bleibt uns die Erinnerungsarbeit, immer wieder aufs Neue, daran, dass es
bereits begonnen hat, dass ein Anfang gemacht ist mit dem ersten Kommen Jesu in
unsere Welt damals als ein Kind, der alles verwandelt hat. Ein Anlass zur Freude, wenn
uns jemand daran zu erinnern vermag!
IV.
„Sorgt euch um nichts, sondern in allen Dingen lasst eure Bitten in Gebet und Flehen mit
Danksagung vor Gott kundwerden!“
In diesem Ratschlag des Paulus drückt sich wahrscheinlich seine eigene Lebens- und
Bet-Erfahrung aus: Bitten und Flehen, ja, aber mit Danksagung. In seinem Bemühen, das
eine mit dem anderen zu verbinden, ist möglicherweise ein weiterer Grund für die
Fähigkeit zur Freude zu sehen. Es gab im Gefängnis sicherlich viele ängstliche und
traurige Stunden und ebenso viele Bitten, die Paulus vor Gott brachte. Diese Gefühle
sind nicht an den realen Ort des Kerkers gebunden, auch wenn sie uns gefangen nehmen
können. Traurige, ängstliche Stunden und Sorgen kennen wir alle. Die überwältigende
Angst um einen geliebten Menschen, wenn er krank ist oder sogar sterben muss. Die
schlaflosen Nächte, wenn der Schmerz nicht weichen will. Die vielen Sorgen, kleine und
große am Arbeitsplatz, finanziell, um die Kinder. Paulus sorgte sich auch und kämpfte
mit seinen Ängsten, aber er ließ sich nicht nur von ihnen gefangen nehmen, sondern er
vergaß dabei den Dank nicht. Der Herr ist nahe! Und manches Mal wird sich dabei die
Freude eingestellt haben. Ein Geschenk der Gnade.
Die Freude des Paulus ist aber ja nicht nur fromm vom Himmel gefallen, sondern
auch Ausdruck von menschlicher Hilfe. Ich habe den Philipperbrief noch mal im Ganzen
gelesen, und dann erfährt man: Paulus hatte ein gutes Verhältnis zu den Philippern.
Anders als etwa die Galater oder die Korinther bereiteten die Philipper ihm keine
größeren Sorgen. Er gewährte der Gemeinde in Philippi auch, dass sie ihn durch
finanzielle und andere Gaben unterstützte, während er sonst bewusst auf Unterstützung
durch die Gemeinden verzichtete. Er beschreibt seine Freude darüber, dass die Fürsorge
der Philipper für ihn wieder aufgeblüht sei. Gottesfreude ist zwar nicht nur vermittelt
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durch Menschen erfahrbar, aber unter anderem in solchen Momenten, in denen ich mich
an anderen Menschen erfreue. In diesem Sinne kann die Korrespondenz des Paulus uns
auch dazu ermutigen, in Gedanken, Gebeten und auch in Weihnachtskarten Danke zu
sagen jenen Menschen, die uns im zurückliegenden Jahr Freude bereitet haben und
denen wir dankbar sind: Danke, dass es dich gibt. Ich freue mich an dir!
V.
Der Schluss des Predigttextes aus dem Brief an die Philipper beschließt zugleich auch
zahllose Predigten, bis heute, fast 2000 Jahre später - hier in St. Nikolai und in vielen
anderen Kirchen. Vielleicht bringt der sogenannte ‚Kanzelgruß’ in Ihrer Erinnerung an
vergangene Gottesdienste oder Predigten etwas zum Klingen. Er lautet:
„Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in
Christus Jesus.“
Dazu sei mir ein persönliches Wort gestattet: ehrliche Predigten zu halten ist nicht
immer leicht. Es gibt biblische Texte, die mir den Atem stocken lassen. Die mich in ihrer
Spannung zur Wirklichkeit so stark herausfordern, dass sich meine Zweifel nicht
beruhigen wollen, so oft ich auch den Text gedanklich und im Gebet umkreise. Dann
begleiten sie mich bis auf die Kanzel. Und manches Mal hat sich im Ringen mit der
eigenen Sprachlosigkeit nur deshalb mein Mund aufgetan, weil ich weiß, dass alles, was
ich sage, von diesem schönen Kanzelgruß beschlossen wird... Denn wenn ich diesen
Gruß aus dem Brief an die Philipper lese, dann geht es mir jedes Mal ein bisschen so, als
ob ich Paulus selber gekannt hätte, als ob ich seine eigenen Zweifel, glaubenserprobt
und immer wieder neu von Zuversicht überwunden, höre. Dann senken sich seine Worte
in mich ein, lassen mich aufatmen und mich im Glauben vor Gott über Zeit und Raum
hinweg mit ihm, einem Bruder im Glauben, verbunden fühlen. Dann freut und weitet
sich mein Herz. – Wer weiß: Vielleicht geht es Ihnen auch so?
Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und
Sinne in Christus Jesus.
Amen.
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