In guter Obhut? - Schutzauftrag und gute Qualität

Inobhutnahme
kinderschutz
In guter Obhut?
Immer häufiger werden Kinder und Jugendliche aus ihrer Familie genommen. Dass Kinderschutz vorgeht, ist positiv zu bewerten. Doch verfügen aufnehmende Einrichtungen oft
nicht über die Voraussetzungen, um den Schutzauftrag und gute Qualität zu gewährleisten.
Stefan Rücker
DER ScHUTZ UnD die Unversehrtheit von Kindern sind in der jüngeren
Vergangenheit immer mehr in den Fokus
geraten. So schließt die Un-Kinderrechtskonvention seit 1990 weltweit geltende
Standards zur Sicherung der Rechte von
Kindern auf Gesundheit, Förderung, Bildung, gewaltfreie Erziehung und Beteiligung ein. Auf nationaler Ebene wurden
vom Gesetzgeber zudem der § 8 a (2005,
Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung,
SGB VIII) sowie das Bundeskinderschutzgesetz (2012) eingeführt. Dieses Instrumentarium bildet gemeinsam mit dem
§ 1666 BGB die rechtliche Grundlage für
die Wahrnehmung des staatlichen Wächteramtes, das bei Kindeswohlgefährdung
die Inobhutnahme (§ 42 SGB VIII) von
Kindern vorsieht. Inobhutnahmen bieten
Kindern Schutz und Geborgenheit, wenn
es im familiären Rahmen zu krisenhaften
Zuspitzungen, Vernachlässigung, Misshandlung oder Missbrauch kommt. Dabei
fungiert der Staat als Garant für das Kindeswohl, bis geklärt ist, ob das Kind in seine Familie zurückkehren kann oder anderweitig untergebracht werden muss.
Im Bereich der Inobhutnahme vollzieht
sich gegenwärtig allerdings eine dynamische Entwicklung, die Fragen eines gelingenden Kinderschutzes in Einrichtungen
der Inobhutnahme berührt und neue
Anforderungen an die Fachpraxis stellt.
Mehr Fälle denn je
noch nie wurden so viele Kinder und
Jugendliche in Obhut genommen wie heute. Eine differenzierte empirische Analyse
neue caritas 9/2015
der Gründe für die hohen Fallzahlen steht
noch aus, verschiedene Einflüsse erscheinen jedoch plausibel. Einerseits ist denkbar, dass es in den letzten Jahren zu einem
realen Anstieg an Kindeswohlgefährdung
gekommen ist. Die auf einen neuen
Höchststand angestiegene Armut in
Deutschland1 versetzt eine zunehmende
Zahl von Familien in prekäre Lebensverhältnisse, die ungünstigerweise häufig
Gefährdungslagen von Kindern einschließen. Zusätzlich dürfte sich der U3-Ausbau
auf die Fallzahlen auswirken. Betreuungsplätze für unter Dreijährige erleichtern
den Zugang zu den kritischen Adressaten.
Zudem bilden sich in den Fallzahlen seit
einigen Jahren auch die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge ab. Der Anstieg
von 2012 auf 2013 lässt sich größtenteils
auf diese Gruppe zurückführen.
Außerdem kam es nach einer Reihe von
medial intensiv beachteten Fällen von Kindeswohlgefährdungen sowie Kindstötungen durch Eltern seit dem Jahr 2005 zu
jährlichen Steigerungen in den Fallzahlen
bis auf 42.123 Fälle im Jahr 2013 (vgl.
Tab. 1). Dies entspricht einem Plus von
64 Prozent.2 In diesem Anstieg spiegelt
sich sicherlich ein gesteigertes öffentliches
Bewusstsein für den Schutz von Kindern
wider. Wenngleich diese Entwicklung
generell positiv zu bewerten ist, dürfen
damit einhergehende Risiken nicht übersehen werden.
Schließlich hat die mediale Berichterstattung, die teils eklatante Schwächen im
Kinderschutz offenbarte, vermutlich auch
dazu geführt, dass vermehrt Kinder vor-
sichtshalber in Obhut genommen werden.
Im Sinne einer Absicherungstendenz
könnten herabgesetzte Indikationskriterien für Herausnahmen folglich die Fallzahlensteigerung mitbewirkt haben. Aufgrund
der äußerst komplexen und schwierigen
Bedingungen im Feld der Inobhutnahme
bewegen sich Abwägungsentscheidungen
deshalb jedoch oftmals zwischen den
Extremen, wie zum Beispiel das „Kind
trotz latenter Gefahr in der Familie belassen“ und der „Herausnahme des Kindes als
Vorsichtsmaßnahme unter dem Risiko
einer Traumatisierung durch den Eingriff“,
da die unvermittelte Trennung von den
Eltern oftmals die Stressbewältigungsmöglichkeiten von Kindern übersteigt.3
Betroffene Kinder sind häufig
akut traumatisiert
Es liegen deutliche Hinweise darauf vor,
dass ein nicht unerheblicher Anteil der
Kinder und Jugendlichen zum Zeitpunkt
der Inobhutnahme mindestens ein psychotraumatisches Lebensereignis erfahren
hat. Vielfach weisen die Kinder sogar aku-
„Mobbingattacken mit
In-die-Haare-Spucken
in der Einrichtung“
21
kinderschutz
Inobhutnahme
befragten Kinder und Jugendlichen fühlte
sich während der Zeit in der Inobhutnahme-Einrichtung jedoch an wichtigen Entscheidungen nicht beteiligt.
Rückführung zu Eltern gegen
den eigenen Wunsch
Tab. 1: Jährliche Fallzahlen-Steigerungen im Bereich der Inobhutnahme
te psychotraumatische Belastungen auf
und zeigen selbstverletzendes Verhalten
sowie Suizidalität.4 Einrichtungen der
Inobhutnahme sind jedoch nicht auf die
Erkennung und Behandlung von Psychotraumata spezialisiert, wodurch es gerade
bei länger andauernden Inobhutnahmen
zur chronifizierung psychischer Belastungen kommen kann.
Längere Verweildauer bringt
zusätzliche Belastung
Die mittlere Dauer von Inobhutnahmen
ist in den vergangenen Jahren gestiegen
und beträgt heute 30 Tage, wobei sich die
Maßnahmen in der Praxis oft über mehrere Monate oder gar Jahre hinziehen.5 Vor
allem bei längeren Aufenthalten in Einrichtungen der Inobhutnahme entstehen
Kindern allein mit Blick auf bindungs- und
beziehungsrelevante Bedürfnisse Zusatzbelastungen mit Trauma-Qualität.6
Angesichts der hohen Komplexität und
Problemdichte im Bereich der Inobhutnahme stellt sich die Frage, wie gut es
gelingt, den Schutzauftrag zu gewährleisten und Qualitätsstandards, wie beispielsweise die Partizipation von Kindern und
Jugendlichen, einzuhalten.
Eine Studie im sozialen netzwerk Facebook hat zum Beispiel gezeigt, dass die
Hälfte der einbezogenen 12- bis 18-Jähri22
gen mit Inobhutnahme-Erfahrung belastende Erfahrungen in der Einrichtung
im Zusammenhang mit ebenfalls untergebrachten Kindern und Jugendlichen
machen musste.7 Gewaltbezogene Erlebnisse wurden dabei am häufigsten genannt.
Die Berichte der Kinder und Jugendlichen reichen dabei von „Mobbingattacken
mit In-die-Haare-Spucken und Beleidigungen und so“, oder „Gewalt und Schlägerei zwischen Bewohnern, einige Leute
haben mich provoziert“ über „Dass sie mir
manchmal eine geklatscht haben, dass sie
mich fertiggemacht haben“ bis hin zu „Ich
wurde von ein paar Mädchen aus der
Gruppe zusammengeschlagen“. Auch
sexuell motivierte Übergriffe wurden in
Form von „Vergewaltigung“ und „Ein Junge, der dort lebte, ist sexuell übergriffig
geworden“ berichtet.
Schutzauftrag und Qualität:
problematische Befunde
Darüber hinaus hat die Studie Beteiligungsmöglichkeiten von in Obhut genommenen Kindern und Jugendlichen erfasst.
Beteiligung beziehungsweise Partizipation
gilt in der Jugendhilfe als Qualitätsmerkmal und spiegelt sich als handlungsleitende Maxime in verschiedenen Gesetzesteilen des SGB VIII wider (zum Beispiel §§ 5,
8, 8a, 12, 17 und 36). Mehr als die Hälfte der
Vielmehr noch fand in jedem zweiten Fall
eine Rückführung in das Elternhaus gegen
den Wunsch der Kinder und Jugendlichen
statt, obwohl sie dort teils schwere körperliche Misshandlungen erlitten hatten.
Wenngleich diese Studienergebnisse
sicherlich keinen repräsentativen Ausschnitt aus dem Leistungsfeld der Inobhutnahme bilden, haben sie dennoch Aufforderungscharakter. Es stellt sich die
Frage, welche Anforderungen aus den vorgetragenen Problemstellungen für die
Fachpraxis resultieren.
Trauma-Belastungen künftig
systematisch erfassen
Professionelles Handeln evoziert neben
den intendierten Wirkungen in der Regel
auch Wechsel- und nebenwirkungen. Eine
selbstkritische und zugleich unvoreingenommene Reflexion hilft jedoch bei der
Weiterentwicklung von Praxisfeldern. Die
Jugendhilfe-Einrichtung Projekt PETRA
beispielsweise ist in einem von der World
childhood Foundation geförderten Projekt (Pro-Ju-Save) dazu übergegangen,
routinemäßig standardisierte Screenings
zur Erfassung von Traumabelastungen,
selbstverletzendem Verhalten und Suizidalität bei in Obhut genommenen Kindern
und Jugendlichen durchzuführen. In der
oben angesprochenen Facebook-Studie
hat sich gezeigt, dass die Fachkräfte zwar
Kenntnis von körperlichen Übergriffen
der Eltern gegen die aufgenommenen Kinder hatten, Ausmaß und Intensität waren
dagegen nicht systematisch erhoben worden und folglich nicht bekannt. TraumaScreenings unterstützen jedoch die Exploration und bilden folglich eine dringend
benötigte Ergänzung zu den face-to-face
gewonnenen qualitativen Informationen
für das Fall-clearing. Des Weiteren entwickelt die oben genannte Jugendhilfe-Einneue caritas 9/2015
Inobhutnahme
richtung ein traumasensibles Gesprächsmodul unter anderem zur Verminderung
selbstschädigender Verhaltensweisen sowie zur stärkeren Partizipation der Kinder
und Jugendlichen bei der Entwicklung
einer Anschlussperspektive für die Zeit
nach der Inobhutnahme.
Darüber hinaus wäre eine migrationsspezifische Betreuung in Einrichtungen
der Inobhutnahme erforderlich. So findet
sich in der Gruppe der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge vermutlich ebenfalls ein hoher Anteil an traumatisierten
Kindern und Jugendlichen, die allein aufgrund der sprachlichen Barrieren kaum
Zugang zu entlastenden Gesprächsangeboten haben. Zum anderen ist aufgrund
der internationalen politischen Entwicklungen weiterhin mit einem zahlenmäßigen Anstieg dieser Gruppe zu rechnen.8
Zudem sollten vor dem Hintergrund
der teils über Monate andauernden „vorläufigen Schutzmaßnahmen“ Verfahrenswege und Prozesse in Jugendämtern, Familiengerichten und Einrichtungen der
Inobhutnahme analysiert und zumutbare
Verweildauern angestrebt werden (ein
entsprechendes Projekt wird aktuell von
der Forschungsgruppe PETRA realisiert).
Infolge einer solchen defizitorientierten Betrachtung des Leistungsfelds Inobhutnahme besteht die Gefahr einer unzulässigen Komplexitätsreduktion. Dies ist
selbstverständlich keinesfalls beabsichtigt,
neue caritas 9/2015
schließlich können der Wert des Instruments Inobhutnahme sowie die Leistungen der darin beschäftigten Protagonist(inn)en nicht hoch genug geschätzt
werden. Vielmehr sollen die hier aufgezeigten Problemstellungen und Lösungsansätze eine Diskussion anregen, um auf
dem Weg zu einem aktiven und umfassenden Kinderschutz im Bereich der Inobhutnahme weiter voranzukommen.
kinderschutz
schen und die Leistungen der Kinder- und
Jugendhilfe in Deutschland. Berlin, 2013.
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UnD
JUgenD: 14. Kinder- und Jugendbericht –
Bericht über die Lebenssituation junger Men-
Dr. Stefan Rücker
Diplom-Psychologe,
Projekt PETRA GmbH &
Co. KG, SchlüchternAhlersbach
E-Mail: s.ruecker@
projekt-petra.de
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