Erziehungsfähigkeit und Veränderungsfähigkeit von Eltern einschätzen und bewerten Möglichkeiten und Grenzen Dr. Eginhard Walter Erziehungsfähigkeit Definition Erziehung Der Erziehungsfähigkeit muss ein Erziehungsbegriff zugrunde gelegt werden, der nicht ausschließlich absichtsvolles und/oder positives Handeln einschließt, sondern auch absichtliche oder unabsichtliche Fehlerziehung und Unterlassungen erfasst, Erziehung also, aus der sich Kindeswohlgefährdungen ergeben. Näher kommt dem folgende Definition: "Erziehung ist der Prozess der Wechselwirkung (Interaktion) von Lehren und Lernen. Der Begriff des Lehrens bezeichnet eine Klasse von Tätigkeiten, wobei weder die Absichten, die damit verfolgt werden, noch die etwaigen Wirkungen, die man dabei erzielt, für die Verwendung des Wortes von Bedeutung sein sollen. Unter Lernen werden dagegen bestimmte Änderungen von Persönlichkeitseigenschaften verstanden, die sich in Verhaltensänderungen bemerkbar machen." (Klauer 1973) 10.06.2015 Dr. Eginhard Walter 2 Erziehungsfähigkeit Erziehung als Interaktionsprozess Erziehung ist als ein Interaktionsprozess, ein wechselseitiger Beeinflussungsprozess zwischen dem Erziehenden und dem Kind zu begreifen. Das Kind ist dabei nicht passives Objekt, sondern beeinflusst den Erziehungsprozess aktiv durch sein Temperament und sein eigenes Verhalten. Erziehung ist somit keine lineare Kausalbeziehung zwischen Erziehungsverhalten einerseits und Erzogenenmerkmalen andererseits, sondern stellt einen zirkulärer Prozess mit positiven und negativen Rückkopplungseffekten dar (Schneewind 1999). Elternperson verhält sich einfühlsam Elternperson verhält sich abweisend, strafend Elternperson empfindet Ärger, fühlt sich hilflos Kind fühlt sich unverstanden, nicht akzeptiert Elternperson ist zufrieden, erlebt positive Wirkung des Erziehungsverhaltens Kind verhält sich verschlossen und aggressiv 10.06.2015 Kind fühlt sich verstanden und akzeptiert Kind verhält sich offen und kooperativ Dr. Eginhard Walter 3 Erziehungsfähigkeit Exosystem Einflüsse auf die kindliche Sozialisation Makrosystem Historische Prozesse Mesosystem Entwicklung des sozialen Netzes Mikrosystem Familienzyklus Subsystem Kind Lebensgeschichte in Anlehnung an Bronfenbrenner 1981 10.06.2015 Dr. Eginhard Walter 4 Erziehungsfähigkeit Definition Erziehungsfähigkeit „Erziehungsfähigkeit bedeutet, an den Bedürfnissen und Fähigkeiten eines Kindes orientierte Erziehungsziele und Erziehungseinstellungen auf der Grundlage angemessener Erziehungskenntnisse auszubilden und unter Einsatz ausreichender persönlicher Kompetenzen in der Interaktion mit dem Kind in kindeswohldienliches Erziehungsverhalten umsetzen zu können.“ (Dettenborn & Walter 2015) Relevant sind elterliche - Ziele, - Einstellungen, - Kenntnisse und - Kompetenzen also nur dann, wenn sie sich in konkretem Verhalten gegenüber dem Kind manifestieren oder mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit manifestieren werden. 10.06.2015 Dr. Eginhard Walter 5 Erziehungsfähigkeit Befriedigung kindlicher Grundbedürfnisse Als kindeswohldienlich kann Erziehungsverhalten bezeichnet werden, wenn es die vom konkreten Entwicklungsstand ausgehenden Grundbedürfnisse eines Kindes befriedigt und dessen Fähigkeiten fördert. Hierzu gehört das Bedürfnis nach: - körperlicher Zufriedenheit und Unversehrheit durch angemessene Nahrung, Pflege, Versorgung, - Sicherheit, - emotionaler Zuwendung in stabilen sozialen Beziehungen, - Umwelterkundung, - Zugehörigkeit, - Anerkennung, - Orientierung, - Selbstbestimmung, - Selbstverwirklichung und - Wissen / Bildung. 10.06.2015 Dr. Eginhard Walter 6 Erziehungsfähigkeit Unterschiedliche Grenzwerte der Erziehungsfähigkeit Erziehungsfähigkeit ist kontinuierlich ausgeprägt, d.h. wir finden ein Kontinuum von optimaler Erziehungsfähigkeit bis zu völliger Erziehungsunfähigkeit. Nicht alle Ausprägungsgrade sind von gleichem Interesse für familienrechtspsychologische Fragestellungen. Es sind verschiedene Konstellationen, die Fragen zur Erziehungsfähigkeit aufwerfen: 1. Die Bestimmung von Vergleichswerten, die eine Abwägung zwischen zwei oder mehreren Erziehenden zulassen, wessen Erziehungsfähigkeit dem Kindeswohl eher dienlich ist. 2. Die Bestimmung eines Grenzwertes, unter dem eine ausreichende Erziehungsfähigkeit nicht mehr als gegeben angesehen werden kann und Hilfen etabliert werden müssen. 3. Die Bestimmung eines Grenzwertes, unter dem eine ausreichende Erziehungsfähigkeit nicht mehr als gegeben angesehen werden kann und eine Herausnahme des Kindes erfolgen muss. 10.06.2015 Dr. Eginhard Walter 7 Erziehungsfähigkeit Operationalisierung Die „Messbarmachung“ des Erziehungsverhaltens als Ausdruck der Erziehungsfähigkeit erfolgt primär über sog. elternbezogene Sorgerechtskriterien: - Erziehungsfähigkeit und –bereitschaft - Interesse am Kind - Feinfühligkeit / Empathiefähigkeit - Förderkompetenz (kognitiv, gesundheitlich, sozial, kreativ) - Schutz des Kindes vor körperlichen und psychischen Schäden - Lenkung (Regeldichte, Grenzsetzung, Strafverhalten) - Kooperationsfähigkeit und –bereitschaft (hier vorrangig mit dem Hilfesystem) - Bindungstoleranz Sekundär erfolgt sie aber auch über kindbezogene Sorgerechtskriterien - Kontinuitätsgrundsatz (erzieherische, soziale und räumliche Kontinuitäten bzw. Diskontinuitäten im Leben des Kindes und deren bisherigen und prognostizierbaren Auswirkungen) - Emotionale Bindungen und Beziehungen des Kindes - Kindeswille und den allgemeinen Entwicklungsstand des Kindes (Dettenborn & Walter 2015). 10.06.2015 Dr. Eginhard Walter 8 Erziehungsfähigkeit Erhebungsmethoden Als Erhebungsmethoden stehen der familienrechtspsychologischen Begutachtung grundsätzlich zur Verfügung: - Aktenanalyse Verhaltens- und Interaktionsbeobachtung Interview des Kindes, der Erwachsenen und dritter Personen testpsychologische Untersuchungen. 10.06.2015 Dr. Eginhard Walter 9 Erziehungsfähigkeit Kindeswohlprognose In Anlehnung an Wulf & Reich (2007) ist das Ziel der Kindeswohlprognose eine das Kindeswohl am ehesten verwirklichende Entscheidung zu treffen. Voraussetzung hierfür ist eine methodisch fundiertes Vorgehen (Diagnostik vor Intervention): - Erhebung / Anamnese Befunde Diagnose Prognose Interventionsvorschlag Tatsachen müssen ausreichend genau bestimmt werden. Frühere Misshandlung, Missbrauch oder Vernachlässigung sind nur prognostizierbar, wenn sie als Tatsachen feststehen. Der Sicherheitsgrad der Prognose sollte angesichts der Tragweite der Entscheidung hoch sein. Es sollte ein Prognosezeitraum definiert werden (kurz-, mittel- und langfrisitig). Je länger dieser ist, um so ungenauer wird er sein. 10.06.2015 Dr. Eginhard Walter 10 Erziehungsfähigkeit Dreistufige Prognose 1. Basisprognose Grundsätzliches Gefährdungspotential 2. Aktuelle Prognose Derzeitige Gefährdungslage 3. Interventionsprognose Gefährdungsreduktion durch Intervention 10.06.2015 Dr. Eginhard Walter 11 Erziehungsfähigkeit Basisprognose Prüfung grundsätzlich vorhandener Risiko- und Schutzfaktoren - Einschätzung der personalen, familiären und sozialen Belastungsfaktoren und Ressourcen Einschätzung der Erziehungsfähigkeit der Eltern, insbesondere Einschätzung spezifischen Gefährdungsverhaltens und ggf. früherer Gefährdungsmomente 10.06.2015 Dr. Eginhard Walter 12 Erziehungsfähigkeit Aktuelle Prognose Prüfung der aktuellen Risiko- und Schutzfaktoren - Ist das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes aktuell gefährdet oder ist eine Gefährdung mit ziemlicher Sicherheit zu erwarten? Worin liegt die konkrete Gefährdung? - Worin besteht die gegenwärtige, konkrete Einschränkung der Erziehungsfähigkeit? Ist diese Einschränkung der Erziehungsfähigkeit Ausdruck einer lebensphasischen Veränderung, eines schicksalhaften Konflikts oder einer besonderen aktuellen Situation versus eingeschliffener Verhaltensmuster (siehe Basisprognose)? Sind Ressourcen erkennbar? - Ist die eingetretene oder mit ziemlicher Sicherheit zu erwartende Schädigung des Kindes darauf zurückzuführen? - Wie wird diese eingetretene oder zu erwartende Schädigung den weiteren Entwicklungsverlauf des Kindes mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit beeinträchtigen bzw. gefährden? 10.06.2015 Dr. Eginhard Walter 13 Erziehungsfähigkeit Interventionsprognose Prüfung der potentiellen Wirksamkeit von Hilfen - Wird die gegebene oder drohende Kindeswohlgefährdung von den Eltern erkannt? Besteht Einsicht in die eigenen Anteile an den aktuellen Gefährdungsmomenten? - Sind Hilfsangebote vorhanden, angemessen und werden sie angeboten? Werden Hilfen von den Eltern grundsätzlich angenommen oder abgelehnt? Arbeiten die Eltern in der Hilfe mit oder verweigern sie sich? 10.06.2015 Dr. Eginhard Walter 14 Erziehungsfähigkeit Konsequenzen 1. Erziehungsfähigkeit manifestiert sich im Erziehungsverhalten. 2. Die Vielfalt von Erziehungsverhalten und Verhaltensdispositionen (Ziele, Einstellungen, Kompetenzen, Kenntnisse) ist zu tolerieren, wenn nicht die Grundbedürfnisse eines Kindes im Sinne einer Kindeswohlgefährdung ignoriert / verletzt werden. 3. Erziehung ist Interaktion, keine Einbahnstraße. Erziehungsfähigkeit kann sich gegenüber unterschiedlichen Kindern in Abhängigkeit von deren Persönlichkeitsmerkmalen unterschiedlich darstellen und ist nur im Einzelfall, im Verhältnis eines bestimmten Erziehenden zu einem bestimmten Kind zu bewerten. 4. Erziehungsverhalten ist von komplexen Kontexten abhängig, d.h. von der Erzieherpersönlichkeit und den Einflüssen des Kindes, darüber hinaus aber auch von der Beziehungsqualität der Bezugspersonen (Elternebene), von der Unterstützungsqualität und –dichte des sozialen Netzwerkes und den Arbeits- und Lebensbedingungen des Erziehenden. Veränderungen des Kontextes können die Erziehungsfähigkeit positiv, aber auch negativ beeinflussen. 5. Erziehungsfähigkeit kann deshalb mit hoher Sicherheit bestenfalls zum gegebenen Zeitpunkt bewertet werden. Immer sind Entwicklungsperspektiven der Erziehungsfähigkeit zu berücksichtigen. 6. Auch fachliche Grenzen der Beurteilbarkeit sind festzustellen. Die Forschungslage zur Wirkung unterschiedlichen Erziehungsverhaltens auf Kinder ist in vielen Bereichen keineswegs eindeutig. Dies ist ggf. zu bennenen. 10.06.2015 Dr. Eginhard Walter 15 Erziehungsfähigkeit Vorgaben des BVerfG für die Bewertung 1. Es gehört nicht zur Ausübung des Wächteramts, gegen den Willen der Eltern für eine bestmögliche Förderung der Fähigkeiten des Kindes zu sorgen. Dies kann damit auch nicht Ziel einer gutachtlichen Empfehlung sein. Eltern müssen ihre Erziehungsfähigkeit nicht positiv „unter Beweis stellen“; vielmehr setzt eine Trennung von Eltern und Kind umgekehrt voraus, dass ein das Kind gravierend schädigendes Erziehungsversagen mit hinreichender Gewissheit feststeht. Die Eltern und deren sozio-ökonomische Verhältnisse gehören grundsätzlich zum Schicksal und Lebensrisiko eines Kindes (BVerfG 1 BvR 1178-14 vom 19.11.14, Rn. 38). 2. Um eine Trennung des Kindes von den Eltern zu rechtfertigen, muss das elterliche Fehlverhalten ein solches Ausmaß erreichen, dass das Kind bei den Eltern in seinem körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl nachhaltig gefährdet wird (BVerfG 1 BvR 1178-14 vom 19.11.14, Rn. 23). 3. Die Annahme einer solchen nachhaltigen Gefährdung des Kindes setzt voraus: 1. dass bereits ein Schaden des Kindes eingetreten ist oder 2. sich eine erhebliche Schädigung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt (BVerfG 1 BvR 1178-14 vom 19.11.14, Rn. 23). 10.06.2015 Dr. Eginhard Walter 16 Erziehungsfähigkeit Vorgaben des BVerfG für die Bewertung Fazit: Beides beinhaltet eine prognostische Einschätzung dahingehend, ob sich ein solches Fehlverhalten mit ziemlicher Sicherheit wiederholen oder erstmalig ereignen wird. 4. Dabei darf nicht nur auf Defizite der Erziehungsfähigkeit eingegangen werden, sondern es muss dargestellt werden, von welcher Art, Schwere und Wahrscheinlichkeit die befürchteten Beeinträchtigungen des Kindes sind und weshalb diese Gefahren so gravierend sind, dass sie eine Fremdunterbringung legitimieren (BVerfG 1 BvR 1178-14 vom 19.11.14, Rn. 25). 5. Die dem Kind drohenden Schäden müssen ihrer Art, Schwere und Eintrittswahrscheinlichkeit konkret benannt und vor dem Hintergrund des grundrechtlichen Schutzes vor der Trennung des Kindes von seinen Eltern bewertet werden (BVerfG 1 BvR 1178-14 vom 19.11.14, Rn. 37). Fazit: Bei einer Fremdunterbringung ist eine Risikoabwägung vorzunehmen, das Risiko der potentiellen Schädigung eines Kindes bei einem Verbleib in der Herkunftsfamilie ist dem Risiko, das mit einer Herausnahme verbunden ist, gegenüberzustellen und zu diskutieren. 10.06.2015 Dr. Eginhard Walter 17 Erziehungsfähigkeit Vorgaben des BVerfG für die Bewertung 6. Vage Andeutungen, die eine Gefährdungssituation assoziativ in den Raum stellen, ohne den konkreten Sachverhalt zu beschreiben und auf sein tatsächliches Gefährdungspotenzial hin zu analysieren, genügen nicht (BVerfG 1 BvR 1178-14 vom 19.11.14, Rn. 47). Fazit: Begutachtung ist Beweisführung. Gutachtliche Aussagen müssen differenziert und nach bestem fachlichen Wissen belegt werden. 7. Die Trennung des Kindes von seinen Eltern darf nur unter strikter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erfolgen und aufrechterhalten werden. Das setzt voraus, dass die Trennung zur Erreichung der Abwendung einer nachhaltigen Kindeswohlgefahr geeignet und erforderlich ist und dazu in angemessenem Verhältnis steht. Insbesondere muss der Staat wegen des Erforderlichkeitsgebots zur Vermeidung der Trennung der Kinder von ihren Eltern nach Möglichkeit versuchen, durch helfende, unterstützende, auf Herstellung oder Wiederherstellung eines verantwortungsgerechten Verhaltens der leiblichen Eltern gerichtete Maßnahmen sein Ziel zu erreichen. 8. Die Begutachtung hat mit der gebotenen Neutralität und Unvoreingenommenheit gegenüber den Beteiligten zu erfolgen (BVerfG 1 BvR 1178-14 vom 19.11.14, Rn. 30). 10.06.2015 Dr. Eginhard Walter 18 Erziehungsfähigkeit 9. Vorgaben des BVerfG für die Bewertung Die Eltern können grundsätzlich frei von staatlichen Eingriffen nach eigenen Vorstellungen darüber entscheiden, wie sie die Pflege und Erziehung ihrer Kinder gestalten… Die primäre Erziehungszuständigkeit beruht auf der Erwägung, dass die Interessen des Kindes in aller Regel am besten von seinen Eltern wahrgenommen werden und die spezifisch elterliche Zuwendung dem Wohl der Kinder grundsätzlich am besten dient. Daher müssen die Eltern ihre Erziehungsfähigkeit nicht positiv „unter Beweis stellen“; vielmehr setzt eine Trennung von Eltern und Kind umgekehrt voraus, dass ein das Kind gravierend schädigendes Erziehungsversagen mit hinreichender Gewissheit feststeht. Außerdem folgt aus der primären Erziehungszuständigkeit der Eltern in der Sache, dass der Staat seine eigenen Vorstellungen von einer gelungenen Kindererziehung grundsätzlich nicht an die Stelle der elterlichen Vorstellungen setzen darf. Daher kann es keine Kindeswohlgefährdung begründen, wenn die Haltung oder Lebensführung der Eltern von einem bestimmten, von Dritten für sinnvoll gehaltenen Lebensmodell abweicht und nicht die aus Sicht des Staates bestmögliche Entwicklung des Kindes unterstützt (BVerfG 1 BvR 1178-14 vom 19.11.14, Rn. 29). Fazit: Hieraus kann für den Bewertungsprozess nicht folgen, dass nicht auch Stärken und Ressourcen der Eltern erhoben werden müssen. Dies muss schon deshalb geschehen, um ggf. eine Risikoabwägung - Verbleib in der Familie versus Fremdunterbringung – vornehmen zu können. 10.06.2015 Dr. Eginhard Walter 19 Erziehungsfähigkeit Artikel 6 GG 1. Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung. 2. Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft. 3. Gegen den Willen der Erziehungsberechtigten dürfen Kinder nur auf Grund eines Gesetzes von der Familie getrennt werden, wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen. 4. Jede Mutter hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der staatlichen Gemeinschaft. 5. Den unehelichen Kindern sind durch die Gesetzgebung die gleichen Bedingungen für ihre leibliche und seelische Entwicklung und ihre Stellung in der Gemeinschaft zu schaffen wie den ehelichen Kindern. 10.06.2015 Dr. Eginhard Walter 20 Erziehungsfähigkeit § 1631 BGB Inhalte und Grenzen der Personensorge 1. Die Personensorge umfasst insbesondere die Pflicht und das Recht, das Kind zu pflegen, zu erziehen, zu beaufsichtigen und seinen Aufenthalt zu bestimmen. 2. Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig. 3. Das Familiengericht hat die Eltern auf Antrag bei der Ausübung der Personensorge in geeigneten Fällen zu unterstützen. 10.06.2015 Dr. Eginhard Walter 21 Erziehungsfähigkeit § 1666 BGB Gefährdung des Kindeswohls 1. Wird das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes oder sein Vermögen gefährdet und sind die Eltern nicht gewillt oder nicht in der Lage, die Gefahr abzuwenden, so hat das Familiengericht die Maßnahmen zu treffen, die zur Abwendung der Gefahr erforderlich sind. 2. In der Regel ist anzunehmen, dass das Vermögen des Kindes gefährdet ist, wenn der Inhaber der Vermögenssorge seine Unterhaltspflicht gegenüber dem Kind oder seine mit der Vermögenssorge verbundenen Pflichten verletzt oder Anordnungen des Gerichts, die sich auf die Vermögenssorge beziehen, nicht befolgt. 3. Zu den gerichtlichen Maßnahmen nach Absatz 1 gehören insbesondere 1. Gebote, öffentliche Hilfen wie zum Beispiel Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe und der Gesundheitsfürsorge in Anspruch zu nehmen, 2. Gebote, für die Einhaltung der Schulpflicht zu sorgen, 3. Verbote, vorübergehend oder auf unbestimmte Zeit die Familienwohnung oder eine andere Wohnung zu nutzen, sich in einem bestimmten Umkreis der Wohnung aufzuhalten oder zu bestimmende andere Orte aufzusuchen, an denen sich das Kind regelmäßig aufhält, 4. Verbote, Verbindung zum Kind aufzunehmen oder ein Zusammentreffen mit dem Kind herbeizuführen, 5. die Ersetzung von Erklärungen des Inhabers der elterlichen Sorge, 6. die teilweise oder vollständige Entziehung der elterlichen Sorge. 10.06.2015 Dr. Eginhard Walter 22 Erziehungsfähigkeit § 1666 BGB Gefährdung des Kindeswohls 4. In Angelegenheiten der Personensorge kann das Gericht auch Maßnahme gegen einen Dritten treffen. 10.06.2015 Dr. Eginhard Walter 23 Erziehungsfähigkeit § 1666 a BGB Grundsatz der Verhältnismäßigkeit 1. Maßnahmen, mit denen eine Trennung des Kindes von der elterlichen Familie verbunden ist, sind nur zulässig, wenn der Gefahr nicht auf andere Weise, auch nicht durch öffentliche Hilfen, begegnet werden kann. Dies gilt auch, wenn einem Elternteil vorübergehend oder auf unbestimmte Zeit die Nutzung der Familienwohnung untersagt werden soll. Wird einem Elternteil oder einem Dritten die Nutzung der vom Kind mitbewohnten oder einer anderen Wohnung untersagt, ist bei der Bemessung der Maßnahme auch zu berücksichtigen, ob diesem das Eigentum, das Erbbaurecht oder der Nießbrauch an dem Grundstück zusteht, auf dem sich die Wohnung befindet; Entsprechendes gilt für das Wohnungseigentum, das Dauerwohnrecht, das dringliche Wohnrecht oder wenn der Elternteil oder Dritte Mieter der Wohnung ist. 2. Die gesamte Personensorge darf nur entzogen werden, wenn andere Maßnahmen erfolglos geblieben sind oder wenn anzunehmen ist, dass sie zur Abwendung der Gefahr nicht ausreichen. 10.06.2015 Dr. Eginhard Walter 24 Erziehungsfähigkeit § 157 FamFG Erörterung der Kindeswohlgefährdung 1. In Verfahren nach den §§ 1666 und 1666a des Bürgerlichen Gesetzbuchs soll das Gericht mit den Eltern und in geeigneten Fällen auch mit dem Kind erörtern, wie einer möglichen Gefährdung des Kindeswohls, insbesondere durch öffentliche Hilfen, begegnet werden und welche Folgen die Nichtannahme notwendiger Hilfen haben kann. Das Gericht soll das Jugendamt zu dem Termin laden. 2. Das Gericht hat das persönliche Erscheinen der Eltern zu dem Termin nach Absatz 1 anzuordnen. Das Gericht führt die Erörterung in Abwesenheit eines Elternteils durch, wenn dies zum Schutz eines Beteiligten oder aus anderen Gründen erforderlich ist. 3. In Verfahren nach den §§ 1666 und 1666a des Bürgerlichen Gesetzbuchs hat das Gericht unverzüglich den Erlass einer einstweiligen Anordnung zu prüfen. 10.06.2015 Dr. Eginhard Walter 25 Erziehungsfähigkeit Literatur Bronfenbrenner, U. (1981) Die Ökologie der menschlichen Entwicklung. 1. Auflage. Stuttgart: Klett-Cotta. Bundesverfassungsgericht, 1 BvR 1178-14, Entscheidung vom 19.11.14 Dettenborn, H. & Walter, E. (2015). Familienrechtspsychologie. 2. Auflage. München: Ernst Reinhard. Schneewind, K. A. (1999). Familienpsychologie. 2. Auflage. Stuttgart: Kohlhammer. Wulf, R. & Reich, K. (2007). Kindeswohlprognose. Ein kriminologischer und viktimologischer Beitrag. ZKJ 7/8, 266-268. 10.06.2015 Dr. Eginhard Walter 26
© Copyright 2024 ExpyDoc