Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 3 2. Postkoloniale Positionierungen 11 2.1. Die hiesige Frauenbewegung ... 16 2.2. ... und die andere Frau 19 2.3. Schlussfolgerung 22 3. Azentrierte Konzeptionalisierungen von Geschlecht 3.1. Dekonstruktion als „Philosophie der Differenz“ 3.1.1. 3.1.2. 4. 23 25 Dekonstruktion im Kontext der Philosophie Derridas 28 Azentrierung durch rhizomatisches Denken 37 3.2. „Der hiesige Feminismus/die Anderen“ 42 3.3. Schlussfolgerung 45 Der Begriff „Postmoderne“ 50 4.1. Die Postmoderne Lyotards 51 4.2. Postfeminismus 59 4.2.1. Transversal ... 61 4.2.2. ... und postmodern 62 4.3. Schlussfolgerung 70 1 5. Postfeministische Politik 74 5.1. „Die Digitalität ist unter uns“ Jean Baudrillard 75 5.2. „Superbee Spix Cola 139“ 78 5.3. Die „riot grrrl“- Bewegung 81 5.4. 5.3.1. „I don‘t want to play girl to your boy no more“ 82 5.3.2. Von den „riot grrrls“ zu den „Girlies“ 86 5.3.3. „Grrrls only“ 88 Schlussfolgerung 93 6. Fazit: Postfeminismus als Herausforderung 98 7. Literatur 102 2 1. Einleitung Frauenbewegung, Frauenforschung, Frauenpolitik ... feministische Theorie und Praxis implizieren eine Bezugnahme auf den Begriff „Frau“. Doch wie ist dieser gefüllt? Auf welcher Grundlage konstituiert er sich? Wer ist Subjekt oder Adressatin feministischer Politik? Die vorliegende Arbeit greift diese Fragen auf. Bevor ich jedoch meine Vorgehensweise näher erläutere, will ich die Arbeit innerhalb der aktuellen feministischen Debatte verorten, um eine erste Orientierung zu ermöglichen und meine Fragestellung zu präzisieren: Feministische Theorien haben trotz unterschiedlicher Ansätze und disziplinärer Ausrichtungen die Analyse von Geschlecht, Geschlechterverhältnissen, Geschlechterdifferenzen und deren gesellschaftliche Auswirkungen zum Gegenstand. Hierbei kristallisieren sich zwei Hauptströmungen heraus (vgl. Becker-Schmidt/Knapp 2000): Erstens die gesellschafts- und strukturtheoretischen sozialwissenschaftlichen Forschungen, die den Zusammenhang von gesellschaftlicher Ungleichheit und der Kategorie Geschlecht untersuchen. Geschlecht fungiert als eine Strukturkategorie, die zur Klassifikation und Hierachisierung funktionalisiert wird und so gesellschaftliche Benachteiligung, Diskriminierung und Gewalt an Frauen begünstigt. Als Beispiele für diese Forschungsrichtung sind der „Bielefelder Ansatz“ sowie der „Hannoveraner Ansatz“ zu nennen (vgl. Treibel 1995). Zweitens – und hier setzt diese Arbeit an - eine erkenntnistheoretische Strömung, die sich mit der Voraussetzung zweier Geschlechter und deren kultureller Repräsentation beschäftigt. Diese Richtung ist beeinflusst durch ethnomethodologische sowie poststrukturalistische1 Theorien und führte zu einer heftigen Diskussion innerhalb der feministischen Theorie der 1990er Jahre, die als sex-gender Debatte2 bezeichnet wird (vgl. Becker- Schmidt/Knapp 2000). 1 als Überblick vgl. Stäheli 2000 sowie Kapitel 3.1.1. sex bezeichnet das biologisch-körperliche Geschlecht, während gender das soziale Geschlecht bzw. die Geschlechtsidentität umschreibt 2 3 Ethnomethodologische Ansätze fragen mit einem empirischen Bezug danach, wie Geschlecht im alltäglichen Handeln der Individuen vermittelt wird. Der Ansatz „doing gender“ (Geschlechtsdarstellung und –wahrnehmung) setzt voraus, dass Geschlecht etwas ist, was wir tun und nicht etwas, was wir haben. Geschlecht wird als soziales Konstrukt bestimmt, das innerhalb des symbolischen Systems der Zweigeschlechtlichkeit von jedem Individuum permanent hergestellt wird (vgl. Hagemann-White 1994 und Gildemeister 1992). Zudem gründet die sex-gender Debatte auf der Rezension sog. Diskurstheorien, zu denen u.a. poststrukturalistische Ansätze zu zählen sind. Feministische Diskurstheorien untersuchen, welche Bedeutung Sprache und Wissensproduktion für die Konstruktion und kulturelle Repräsentation von Geschlecht haben (vgl. Becker-Schmidt/Knapp 2000). An dieser Stelle will ich mich vor allem auf die poststrukturalistischen Arbeiten Judith Butlers beziehen, die die sex-gender Debatte nachhaltig beeinflussten. In dem 1991 auf deutsch erschienen Werk „Das Unbehagen der Geschlechter“ bestimmt Butler das körperliche Geschlecht ‚sex‘ als diskursives Produkt: „Demnach gehört die Geschlechtsidentität (gender) nicht zur Kultur wie das Geschlecht (sex) zur Natur. Die Geschlechtsidentität umfaßt auch jene diskursiven/kulturellen Mittel, durch die eine ‚geschlechtliche Natur‘ oder ein ‚natürliches Geschlecht‘ als vordiskursiv, d.h. als der Kultur vorgelagert oder als politisch neutrale Oberfläche, auf der sich Kultur einschreibt, hergestellt und etabliert wird“ (Butler 1991: 24). Butler analysiert die diskursiven Prozesse der Naturalisierung von Geschlecht und zeigt, wie die diskursiv hergestellte Geschlechterdifferenz als natürlich, der Kultur vorgelagert wahrgenommen wird. Sie kommt zu dem Schluss, dass die diskursive Konstruktion von Geschlechtsidentität nicht nur Subjekte und Handlungen hervorbringt, sondern auch materialisierte Konfigurationen. Die Bestimmung des biologischen Geschlechts ist somit das Ergebnis politischer Aushandlungsprozesse innerhalb spezifisch-historischer Kontexte (vgl. Lacqueur 1992). Die Konsequenzen dieser Theorie sind weitreichend: Wenn sex als Klassifikationsmerkmal von „Frauen“ diskursiv produziert ist und keine essentielle Andersartigkeit von „Frauen“ und „Männern“ existiert, wer sind dann diese „Frauen“, auf die sich die feministische Theorie und Praxis beziehen? Die Annahme einer spezifischen Weiblichkeit ist scheinbare Prämisse für feministische Theorie und Praxis. In ihr manifestiert sich der ‚Archimedische 4 Punkt‘ des Feminismus (vgl. Flax 1992), der die Bewegung festigt: Das kollektive Subjekt „Frau“ als Essenz und Universalie bestimmt, fungiert als theoretischer Bezug und als Garant für politische Handlungsfähigkeit – das Reden, Handeln und Forschen im Namen der „Frauen“ wird durch das Konstrukt einer spezifischen Weiblichkeit ermöglicht. Butler hingegen problematisiert die Formulierung eines abstrakten Subjektes „Frau“, da der scheinbar deskriptive Begriff „Frau“ immer auch ein normatives Element beinhaltet: „Jedesmal, wenn diese spezifische Weiblichkeit formuliert wird, macht sich jedoch ein Widerstand und eine Zersplitterung innerhalb der Wählerschaft bemerkbar, die durch die Formulierung eines gemeinsamen Elementes gerade vereinigt werden sollte“ (Butler 1993: 49). Sie verweist hiermit auf die Kritik von Schwarzen Frauen an dem großen feministischen „Wir“, „welches stets weiß war (...) und die Ursache für eine schmerzliche Zersplitterung darstellte“ (ebd.: 49). Ähnlich verhält es sich mit dem „Versuch, eine spezifische Weiblichkeit über die Mutterschaft – sei diese biologisch oder gesellschaftlich verstanden – zu charakterisieren (...). Denn zweifellos sind nicht alle Frauen Mütter: Einige können nicht Mutter werden, andere sind zu jung oder zu alt, einige haben sich dagegen entschieden (...)“ (ebd.: 49). Diese Beispiele verdeutlichen, dass die Konstitution eines großen feministischen „Wirs“, einer universalen „Frau“ auf Kosten von anderen Frauen, die sich in der jeweiligen definitorischen Zuschreibung nicht wiederfinden, vonstatten geht. Der abstrakten Formulierung einer spezifischen Weiblichkeit sind Ausschluß und Subsumtion immanent; denn wird eine universale Skizze der „Frau an sich“ entworfen, führt dies unweigerlich zu einer expliziten Bestimmung, welche Frauen dem Feminismus angehören oder eben nicht. Genau hier setzt meine Arbeit an. Sie fragt mit einem erkenntnistheoretischen Impetus nach der diskursiven Herstellung des kollektiven Subjektes „Frau“, auf das sich die bundesrepublikanische feministische Wissenschaft sowie die Frauenbewegung berufen. Die Fragestellung lautet: Auf welchen normativen Grundlagen, auf welchen Ausschlüssen basiert das feministische Subjekt der bundesdeutschen Frauenbewegung und forschung? Das 2. Kapitel „Postkoloniale Positionierungen“ greift die Kritik seitens Frauen mit Migrationserfahrungen auf, die den bundesrepublikanischen 5 Feminismus als Projektionsfläche weißer, heterosexueller Feministinnen des Mittelstandes problematisieren. Das abstrakte Konzept „Frau“ konstituiert sich demnach innerhalb eines hegemonialen Diskurses, der die Erfahrungen einiger weniger privilegierter Frauen als Maßstab für feministische Wissenschaft und Politik setzt (vgl. Thürmer-Rohr 1995). Postkoloniale feministische poststrukturalistischer Positionierungen, Theorien darstellen, die beziehen eine die Lesart koloniale Vergangenheit der westlichen Länder sowie das aktuelle Nord-Südverhältnis in ihre Analysen der Kategorie Geschlecht ein. In diesem Zusammenhang fragen sie, welche Subjektpositionierungen von dem „hiesigen Feminismus“ ausgegrenzt und verschwiegen werden. Dabei wird ein besonderes Augenmerk auf die Subjektpositionierung Ethnizität gelegt (vgl. Gutiérrez Rodríguez 1999). In 2.1. „Die hiesige Frauenbewegung ...“ wird deutlich, dass das Unterdrückungsmoment Sexismus vor diesem Hintergrund als gesellschaftlicher Hauptwiderspruch gilt; weitere Formen von struktureller Diskriminierung, denen Frauen ausgesetzt sind - wie z.B. Rassismus oder Heterosexismus - werden von der bundesrepublikanischen Frauenbewegung und –forschung als Nebenwiderspruch stilisiert (vgl. Gümen 1994). Das Kapitel 2.2. „ ... und die andere Frau“ zeigt anhand eines erkenntnistheoretischen Hintergrundes, wie es zu dieser Hierarchisierung von gesellschaftlichen Herrschaftsmechanismen kommt. Die Konstitution einer „Anderen Frau“, die in Abgrenzung zu der „Identischen Frau“ als Migrantin, Lesbe oder arme Frau bezeichnet wird, wurzelt in der okzidentalen Philosophietradition der Metaphysik 3. Diese gründet auf binären begrifflichen Gegensätzen, die die Wirklichkeit durch dichotome Benennungspraktiken ordnen: Das Konzept der „Identischen Frau des hiesigen Feminismus“ fungiert dabei als der übergeordnete Begriff, der die „Andere Frau“ per Definition als solche konstruiert und von dem Entwurf der „Identischen Frau“ ausschließt (vgl. Gutiérrez Rodríguez 1999). Postkoloniale feministische Kritik entlarvt in diesem Zusammenhang das bundesdeutsche feministische "Wir" als ethnozentristisch. Zudem schärft die Metaphysik verstehe ich als philosophische „Lehre von Wesen und Sinn des Seins, die eine übergreifende, widerspruchsfreie und harmonische Weltanschauung zu bieten versucht“ (vgl. Rammstedt 1994) 3 6 postkoloniale Perspektive den Blick für weitere Ausschlussmechanismen, durch die sich die „Identische Frau“ konstituiert - postkoloniale Kritik verdeutlicht, dass die hiesige feministische Theorie und Praxis innerhalb eines hegemonialen Diskurses von weißen, heterosexuellen Feministinnen des Mittelstandes stattfindet. Aus diesem Grund formieren sich meine weiteren Ausführungen um folgende Fragestellung: Wie kann die Kategorie Geschlecht als Gegenstand feministischer Wissenschaft und Politik unter Berücksichtigung von postkolonialer Kritik konzeptionalisiert werden? Das 3. Kapitel „Azentrierte Konzeptionalisierungen von Geschlecht“ stellt zwei Zugangsmöglichkeiten vor, die die Kategorie Geschlecht von ihrer hegemonialen Verfasstheit befreien und so postkolonialen Positionierungen Rechnung tragen: Die dekonstruktivistische Lesart Jacques Derridas löst binär konstituierte Kategorien – wie z. B. männlich/weiblich, Kultur/Natur, Identisch/Anders - aus der metaphysischen Gegensatzstruktur. Durch den Kunstgriff der „différance“ zeigt Derrida, wie der privilegierte Begriff des „Identischen“ durch den ihm untergeordneten Begriff des „Anderen“ erst ermöglicht wird. Da beide Begriffe ständig Bezug aufeinander nehmen und das Eine durch das Andere geschaffen wird, bestimmt Derrida scheinbare Widersprüche als Elemente des Gleichen (vgl. Derrida 1988 und Wartenpfuhl 2000). Die dekonstruktivistische Lesart auf die Kategorie Geschlecht angewandt befreit diese von der Annahme einer Essenz oder eines Ursprungs – binäre Oppositionen wie männlich/weiblich oder „die identische Frau/die andere Frau“ weisen keine essentielle Andersartigkeit auf, die eine hierachische Anordung der Begrifflichkeiten rechtfertigen könnte. Vielmehr erschließt sich ihre Bedeutung aus dem Kontext, in dem sie situiert sind; demnach wird in 3.1.1. „Dekonstruktion im Kontext der Philosophie Derridas“ Geschlecht als eine zu kontextualisierende Größe bestimmt, die mit vielen weiteren Subjektpositionierungen wie z.B. sexuelle Orientierung, Ethnizität oder Alter verwoben ist. Diese Verwobenheit von Gegensatzstrukturen, die die „différance“ zu umschreiben versucht, wird durch die Metapher des „Rhizoms“ von Gilles Deleuze und Félix Guattari veranschaulicht. Ein Rhizom ist ein Wurzelstock 7 mit langen, verzweigten Ästen und Linien, die quer, über- und untereinander verlaufen (vgl. Deleuze/Guattari 1976). In 3.1.2. „Azentrierung durch rhizomatisches Denken“ bestimme ich die Kategorie Geschlecht als eine rhizomatische Konfiguration, die netzartig mit weiteren Subjektpositionierungen verflochten ist. Die Kategorie Geschlecht wird so von essentialistischen und universalistischen Vorstellungen befreit, da ihre Bedeutung aufgrund unterschiedlicher Kontexte variiert. Dekonstruktion und rhizomatisches Denken führen nach Birgit Wartenpfuhl zu dem Begriff des „Transversalen“ (vgl. Wartenpfuhl 2000). Die Kategorie Geschlecht wird durch den transversalen Gestus für vielfältige Bedeutungen geöffnet und wirkt so hegemonialen Bestimmungen von Geschlecht entgegen. In Kapitel 3.2. „Der hiesige Feminismus/die Anderen“ wende ich das transversale Denken beispielhaft auf die metaphysische Gegensatzstruktur „die Identische Frau/die Andere Frau“ an. Es zeigt sich, dass die transversale Perspektive auf die Kategorie Geschlecht mit den Forderungen der postkolonialen Kritik kooperiert: Das feministische „Wir“ des hiesigen Feminismus wird durch den transversalen Blick als hegemonial konstituiert bestimmt; gleichzeitig ebnet das Transversale durch einen differentialen und relationalen Blick auf die Kategorie Geschlecht den Weg für eine feministische Subjektkonstitution, die Hegemonie und Ausschluss vermeiden kann. Im 4. Kapitel „Der Begriff Postmoderne“ verorte ich den transversalen Blick auf die Kategorie Geschlecht innerhalb der philosophischen Strömung der „Postmoderne“. Die Überlegungen Jean-Francois Lyotards bezüglich der „Großen Erzählungen der Moderne“ lassen sich auf die hiesige „Große Erzählung über die Frau“ übertragen: Lyotard sieht den Keim der Fehlentwicklung der Moderne in den „Großen Metaerzählungen“ des Funktionalismus und Marxismus verwirklicht. Beide Formen, Gesellschaft zu denken, zeichnen sich durch Abstraktion und der Negation von Heterogenität aus (vgl. Lyotard 1979). Herrschaft vollzieht sich durch eine alles umfassende Idee von Gesellschaft, die widerstreitende Elemente versöhnen will. Die „Große Erzählung über die Frau“ rekurriert auf einem ähnlichen Muster. In ihr vereinigt sich das normative Element des großen feministischen „Wirs“, das sich explizit auf das Unterdrückungsmoment „Sexismus“ bezieht und andere Formen von Diskriminierung ausblendet. So entsteht das kollektive Subjekt 8 „Frau“, das die Migrantin, die Lesbe etc. als „die Andere Frau“ kodifizieren kann. Als Gegenentwurf zu den „Großen Erzählungen“ entwickelt Lyotard das „Patchwork der Minderheiten“. Innerhalb dieser Politik gilt Heterogenität als Wert - einer normativen Bestimmung des feministischen Subjektes wird so entgegengewirkt. Beide Perspektiven – die transversale sowie die postmoderne – zeichnen sich durch eine kritische Distanz gegenüber normativen Denkweisen aus, die prinzipiell anti-hegemonial verfährt. Durch eine Allianz beider Konzepte gelange ich in Kapitel 4.2. zu dem Begriff des „Postfeminismus“. Ich begreife die postfeministische Perspektive als einen herrschaftskritischen Blick auf die hiesige feministische Theorie und Praxis. Das transversale sowie das postmoderne Konzept, aus dem ich den Begriff „Postfeminismus“ ableite, bieten zum einen erkenntnistheoretische Aspekte, zum anderen politische Handlungsoptionen für den Feminismus an. Die Frage nach politischer Handlungsfähigkeit jenseits einer normativen Grundlage, die „stets in die Macht verwickelt ist“ (Butler 1993: 35), wird im folgenden näher beleuchtet: Wie verhält es sich mit der politischen Handlungsfähigkeit im Zeichen des Postfeminismus? Das 5. Kapitel „Postfeministische Politik“ widmet sich der Problematik einer politischen Handlungsfähigkeit jenseits normativer politischer Konzepte, jenseits einer Politik im Namen der „Frauen“. Die transversale und postmoderne Perspektive auf politische Konzepte öffnen den Begriff des Politischen für vielfältige Bedeutungen und Praxen. Um diese Bedeutungsvielfalt zu illustrieren, stelle ich in 5.3. die „riot grrrl“- Bewegung vor, deren politische Taktiken auf der Ebene von kulturellen Codierungen greifen. Die Relevanz des politischen Widerstandes auf der Ebene der Signifikation leite ich aus den zeichentheoretischen Überlegungen Jean Baudrillards her (5.1. „Die Digitalität ist unter uns“ sowie 5.2. „Superbee Spix Cola 139“). Dieser sieht in der Irritation des Zeichensystems, das durch hegemoniale Benennungspraxen allgemeingültige Bedeutungen hervorbringt, eine politische Strategie (vgl. Baudrillard 1982). „Riot grrrls“ werden zu politischen Akteurinnen im Sinne Baudrillards, da sie durch Zynismus und Ironie das patriarchale Zeichensystem irritieren. 9 Eine Politik im Zeichen des Postfeminismus impliziert demnach die Erschließung neuer politischer Widerstandsformen wie der des „semiotischen Guerillakrieges“ (vgl. Eco 1967). Zudem will sie durch die Politik des „strategischen Essentialismus“ (vgl. Kearny 1998 sowie Spivak 1988) reflexiv und kritisch einer hegemonialen Bestimmung des feministischen Subjektes entkommen. Dieser skizzenhafte Überblick illustriert die Vorgehensweise meiner Arbeit, die in drei Schritte eingeteilt werden kann: Der Problematisierung des feministischen Subjektes „Frau“ (2. Kapitel) folgen im 3. und 4. Kapitel Lösungsvorschläge für eine Konzeptionalisierung der Kategorie Geschlecht, die weitreichende theoretische sowie politische Konsequenzen für den Feminismus beinhalten. Vor diesem Hintergrund fokussiert das 5. Kapitel die politischen Implikationen von postfeministischen Zeichen für die feministische Praxis. Somit ist meine Arbeit als eine Suchbewegung nach feministischen Entwürfen zu verstehen, die dem Anspruch einer herrschaftsfreien Theorie und politischen Praxis gerecht werden könnten (vgl. Thürmer-Rohr 1995). 10 2. Postkoloniale Positionierungen Feministische Wissenschaftskritik entstand in der Bundesrepublik im Kontext der Neuen Frauenbewegung Ende der 1960er Jahre. Das erklärte Ziel war und ist die Thematisierung der blinden Flecken der Wissenschaft, die durch eine bislang androzentristische Sicht auf Forschungsgegenstände entstanden sind. Demnach wird die Objektivität bisheriger wissenschaftlicher Aussagen angezweifelt, da geschlechtsspezifische Perspektiven keinen Eingang in den wissenschaftlichen Diskurs fanden. Feministische Wissenschaftskritik ist politisch-normativen Ansprüchen herrschaftskritischen sowie verpflichtet. emanzipatorischen Sie verfolgt Ansatz; einen bestehende gesellschaftliche Macht- und Herrschaftsverhältnisse sollen aufgedeckt und in politische Forderungen übersetzt werden. In den Anfängen beeinflussten sich feministische Wissenschaft und feministische Politik bzw. die Frauenbewegung gegenseitig. Die ehemals bestehende enge Verbindung zwischen feministischer Wissenschaftskritik und feministischer Politik ist in den letzten Jahren loser geworden; zu deutlich wurde, dass beide Sphären unterschiedlichen Rationalitäten folgen (vgl. Wartenpfuhl 2000: 13-16). Seit Anfang der 1990er werden zunehmend Stimmen innerhalb des feministischen Diskurses rezepiert, die den anti-hegemonialen Charakter sowohl der feministischen Wissenschaft als auch der Politik zur Disposition stellen: Feministische Theorie sowie feministische Politik (re)produziere die Macht- und Herrschaftsverhältnisse, in denen sie sich bewege - weiße, heterosexuelle Feministinnen des Mittelstandes führen einen hegemonialen Diskurs, der sich um die für die eigene Gruppe relevanten Fragen formiert und diesen für alle Frauen verallgemeinert. Die Vorstellung, dass es eine relativ homogene Gruppe von Frauen gibt, wird dadurch permanent reproduziert – ohne zu berücksichtigen, dass die Zugehörigkeit zur gleichen Genus-Gruppe nicht mit ähnlichen Erfahrungen oder politischen Interessen einhergeht. Das Subjekt feministischer Politik und Wissensproduktion wird somit als Repräsentation einiger weniger privilegierter Frauen problematisiert (vgl. 2.1.). Den Referenzrahmen für diese grundlegende innerfeministische Kritik stellen vor allem poststrukturalistische Theorien dar. Im folgenden soll die Perspektive 11 des Postkolonialismus als eine Ausdrucksweise poststrukturalistischer Kritik vertieft werden. Der Begriff der postkolonialen Kritik wurde innerhalb des feministischen Diskurses vor allem von der Literaturwissenschaftlerin Gayatri C. Spivak formuliert. Ausgehend von der Annahme, dass sich Wissensproduktion bzw. das „Wissen um die Welt“ (Gutiérrez Rodríguez 1999: 40) nicht in einem herrschaftsfreiem Raum bewegt sondern vielmehr geopolitisch situiert ist, verweist sie auf die Kolonialgeschichte Europas und der USA. Kolonialismus steht synonym für die westliche Perspektive auf Länder des Südens und beschreibt somit nicht nur die Annexion von Raum und Territorien sondern ebenfalls deren Aneignung durch Sprache und Schrift. Die Kolonialisierung anderer Kontinente im Namen Europas sicherte die hegemoniale Stellung des Westens, die Durchsetzung kapitalistischer Strukturen sowie die Verbreitung der okzidentalen Philosophietradition der Metaphysik (vgl. 2.2.). Die binäre begriffliche Codierung „Zivilisation/Barbarei“ markiert dabei die geopolitischen Standorte, die den Westen als „Wiege der Zivilisation“ und wissendes Subjekt im Gegensatz zu den Ländern des Südens konstituieren (vgl. Gutiérrez Rodríguez 1999). Postkoloniale Kritik impliziert demnach eine „Gesellschaftskritik, die die Wissensproduktion des Westens und die aktuellen Herrschaftsverhältnisse immer im Kontext der kolonialen Vergangenheit und dem aktuellen Nord-Südverhältnis setzt“ (Gutiérrez Rodríguez 1999: 41). Hier wird die grundlegende erkenntnistheoretische Brisanz, die postkoloniale Kritik aufwirft, deutlich: Das „Wissen um die Welt“ ist Ergebnis einer Wissensproduktion, die sich innerhalb eines machtvollen Diskurses bewegt und somit andere Stimmen marginalisiert und/oder nicht zur Kenntnis nimmt; die Beschreibung von Wirklichkeit ist damit ein Politikum, da die geopolitische Situiertheit der Beschreibenden ihre Einflussmöglichkeiten bezüglich der Wissensproduktion determiniert. Postkoloniale KritikerInnen fordern daher eine Reflexion westlicher Wissenschaft und Politik, die die koloniale Vergangenheit Europas und der USA bedenkt und die geopolitische Situiertheit von Wissen berücksichtigt. Westliche Wissenschaft und Politik als Ausdruck hegemonialer Wissensproduktion muss sich der Frage stellen, auf welchen unbewussten Voraussetzungen ihr Wissen basiert. Oder wie GudrunAxeli Knapp es formuliert: 12 „Das transzendentale ICH der Philosophie und der externe Beobachter der Wissenschaft werden auf die Erde geholt und aufgefordert, Rechenschaft abzulegen über ihren Ort und die Bedingungen, unter denen ‚Erkenntnis‘ und ‚Wissen‘ Geltung als Wahrheit oder Wissenschaft beanspruchen können sollen“ (Knapp 1998: 52). Knapp verortet postkoloniale feministische Kritik unter dem Stichwort „Achsen der Differenz“ (vgl. Knapp 2001). Hiermit umschreibt sie die „Thematisierung der sozialen und kulturellen Heterogenität der Genus-Gruppe ‚Frauen‘ “ (Knapp 2001: 39), die die Frage nach dem Subjekt feministischer Politik und Forschung stellt. Der feministische Blick auf das Geschlechterverhältnis wird erweitert durch die Betrachtung der Differenzen innerhalb der Genus-Gruppe Frauen. Postkoloniale feministische Kritik formiert sich demnach um die Fragen, in welcher Weise verschiedene Unterdrückungsmechanismen wie Geschlecht, Ethnizität oder sexuelle Orientierung innerhalb der Genus-Gruppe Frauen zueinander vermittelt sind. Diese „Aufmerksamkeitsverschiebung“ (Knapp 2001: 38) fand in den USA bereits in den 1970er Jahren statt, während sie die bundesrepublikanische sozialwissenschaftliche Frauenforschung erst in den letzten Jahren erreichte. Schwarze Feministinnen (z.B. Alice Walker, das Combahee River Collective oder bell hooks) und die „Women of Colour“ (z.B. Gloria Anzaldua) kritisieren die weiße US-amerikanische Frauenbewegung, da diese sich ausschließlich auf das Geschlechterverhältnis als gesellschaftliches Herrschaftsmoment beziehe. Sexismus als einziges Unterdrückungsverhältnis beschreibe die Lebensrealität von Schwarzen Frauen jedoch nur ungenügend. Das Combahee River Collective, ein 1974 von lesbischen und sozialistischen Schwarzen Feministinnen gegründetes Kollektiv in den USA, fordert in diesem Zusammenhang eine Perspektivenerweiterung feministischer Analysen um die Herrschaftsverhältnisse Rassismus und Klassenzugehörigkeit. Denn „eine soziale Kategorie Geschlecht, die sich nur auf das Moment des Geschlechterverhältnisses bezieht und den Ort und den Zeitpunkt nicht benennt, in dem sie sich bewegt und wo sie ausgehandelt wird, hat nur einen Aussagewert für die Gruppe von Frauen, die sich über sie repräsentiert fühlen, doch sie kann keine universellen Aussagen über Frauen treffen“ (Gutiérrez Rodríguez 1996: 166f.). Differenzen innerhalb der Genus-Gruppe „Frauen“ brechen mit einer ahistorischen, kontextlosen Bestimmung des feministischen Subjektes – es ist nicht länger haltbar, die Kategorie „Frau“ zu homogenisieren und sie auf ein Unterdrückungsmoment, den Sexismus, zu abstrahieren. 13 Die Aufmerksamkeitsverschiebung innerhalb des bundesrepublikanischen feministischen Diskurses setzte nach Encarnación Gutiérrez Rodríguez erst Anfang der 1990er ein. Zuvor blendete die sozialwissenschaftliche Frauenforschung die Situation von Migrantinnen und Fragen der soziokulturellen Heterogenität unter Frauen weitgehend aus (vgl. Gutiérrez Rodríguez 1996: Sozialwissenschaften 177). zwei Allerdings lassen idealtypische sich innerhalb Entwicklungslinien der des Forschungsbereiches „Frauen in der Migration“ ausmachen: Zum einen findet auf der Grundlage des Modernitäts-Differenz-Paradigmas, das auf der Unterscheidung Tradition/Moderne gründet, Ende der 1970er Jahre eine Auseinandersetzung mit der Einwanderung von Frauen in den Sozialwissenschaften statt (vgl. Gutiérrez Rodríguez 1999). Die Dichotomie Tradition/Moderne kooperiert mit der bereits erwähnten Codierung Barbarei/Zivilisation; die Herkunftsländer der eingewanderten Frauen werden als „traditionelle, von der Zivilisation unberührte Agrargesellschaften geschildert, während die Anwerbegesellschaft zum Inbegriff einer modernen Industrienation konstruiert wird“ (Gutiérrez Rodríguez 1999: 26). Diese Perspektive zementiert das Bild einer „defizitären Ausländerin“, die erst nach dem Zeitpunkt ihrer Einwanderung mit Modernisierungsprozessen konfrontiert wird. Bis Mitte der 1980er Jahre setzte sich in den Erziehungswissenschaften diese „Defizitannahme“ (Gutiérrez Rodríguez 1999: 27) durch. Das Muster zahlreicher Untersuchungen rekurriert auf dem Stereotyp einer bedürftigen, unterdrückten, zumeist muslimischen Frau. Zum anderen erfolgte im Kontext einer „interkulturellen Frauenforschung“ der 1980er und 1990er Jahre der Umkehrschluss: Die defizitäre, andere Frau wird zur „Pionierin der Moderne“ (Gümen 1996: 96) stilisiert; sie funktioniert als Spiegelung von Befreiung und Selbstbestimmung: Aus ihren vormodernen Lebensumständen herausgerissen, behauptet sich die Migrantin in einer ihr fremden, modernen Welt und symbolisiert so Kraft und Stärke. Die Kennzeichnung von Migrantinnen als defizitär erfährt hier keine Revision; es erfolgt lediglich eine positive Umwertung der auferlegten Stigmata des Fremdseins, Andersseins, Unterdrücktseins. Nach Sedef Gümen handelt es sich bei diesem Umkehrschluss ebenfalls um eine Verobjektivierung von 14 Migrantinnen, da sie als Projektionsfläche für Emanzipationsbestrebungen fungieren (vgl. Gümen 1996). Ab den 1990er Jahren erfolgt ein Perspektivenwechsel innerhalb der sozialwissenschaftlichen Frauenforschung4. Diese Positionen sollen im folgenden genauer dargestellt werden. Die Autorinnen, auf die ich mich hierbei hauptsächlich beziehe – Sedef Gümen und Encarnación Gutiérrez Rodríguez – lassen sich dem wissenschaftskritischen Spektrum innerhalb zuordnen und sozialwissenschaftlichen Frauenforschung konstruktivistische dekonstruktivistische sowie Perspektiven der greifen auf (vgl. Wartenpfuhl 2000). Sie entwickeln ihre Kritik an zweigeschlechtlichen Erklärungsmustern konsequent weiter, indem sie die blinden Flecken der Frauenforschung aufdecken und thematisieren. Das Beharren des feministischen Erkenntnisinteresses auf der Kategorie Geschlechterdifferenz führt zu einer Vereinheitlichung und Abstraktion des feministischen Subjektes, da Geschlecht isoliert von anderen Kategorien sozialer Schließung wie z.B. Ethnizität oder sexueller Orientierung betrachtet wird. Differenzen unter Frauen werden durch diesen eindimensionalen Blick vernachlässigt und übersehen. Dieser reduktionistische Gestus impliziert die Konstitution einer universalen Frau, an deren Aushandlung jedoch nur einige wenige Frauen – in diesem Fall weiße, westliche und heterosexuelle Feministinnen des Mittelstandes (vgl. Thürmer-Rohr 1995: 87f.) - beteiligt sind. Der blinde Fleck der sozialwissenschaftlichen Frauenforschung manifestiert sich folglich in der unreflektierten Bezugnahme auf ein feministisches „Wir“. In Kapitel 2.1. „Die hiesige Frauenbewegung ...“ argumentiere ich mit Gümen, dass eine Kontextualisierung der Kategorie Geschlecht im Sozialen für die feministische Theorie und Praxis vonnöten ist. Gümen greift vor allem konstruktivistische Perspektiven auf, um das Subjekt des Feminismus für die Analyseebene Ethnizität zu öffnen. Hierbei orientiert sie sich an der Konzeptionalisierung von Ilse Lenz (vgl. Lenz 1993), die eine systematische Erweiterung des feministischen Erkenntnisinteresses um die Kategorie Nationalstaat vornimmt. Dies ist zudem der Berührungspunkt zu den Ausführungen von Gutiérrez Rodríguez. Ihr dekonstruktivistischer Ansatz 4 Gutiérrez Rodríguez verweist hierbei auf den 1991 erschienen Band der beiträge zur feministischen theorie und praxis „Geteilter Feminismus“, in dem eine der ersten 15 formiert sich jedoch nicht nur um die Situierung von Geschlecht im Sozialen und der Inblicknahme der Kategorie Ethnizität. Vielmehr vertieft sie sich in Denkschemata der okzidentalen Philosophietradition, die Voraussetzung für Ausschluss und Hegemonie sind. In dem Kapitel 2.2. „... und die andere Frau“ werde ich mit Gutiérrez Rodríguez aufzeigen, auf welcher Grundlage der „hiesige Feminismus“ die „andere, fremde Frau“ konstituiert und nach Möglichkeiten suchen, dieses binäre Denken aufzubrechen. 2.1. Die hiesige Frauenbewegung ... Die Inblicknahme der Kategorie Ethnizität sowie anderer sozialer Macht- und Herrschaftsverhältnisse, denen Frauen ausgesetzt sind, setzte nach Gümen mit der Rezeption der sex-gender-Debatte5 aus dem englischsprachigen Raum ein. Die herkömmliche feministische Wissenschaft in der Bundesrepublik, deren Diskurs sich um die Analyse der isolierten Kategorie Geschlecht und das binäre Modell der Zweigeschlechtlichkeit formiert (vgl. Gümen 1998), erfährt einen Perspektivenwechsel: Die Kategorie Geschlecht kann nicht für sich allein betrachtet werden, da sie im Sozialen situiert und somit mit weiteren Subjektpositionierungen wie Klasse oder Ethnizität verwoben ist. Der prozesshafte und relationale Charakter bestimmt die Kategorie Geschlecht als eine zu kontextualisierende soziale Größe, die sich nicht festschreiben lässt. Geschlecht rückt als „durch und durch soziales Phänomen und im größeren Zusammenhang gesamtgesellschaftlicher Prozesse“ (Gümen 1998: 188) in das Blickfeld der feministischen Forschung. Diese „analytische Öffnung“ (Gümen 1998: 188) der Kategorie Geschlecht impliziert die Forderung nach der politischen Öffnung feministischer Praxis: Die Ausblendung und Funktionalisierung von Migrantinnen innerhalb der bundesrepublikanischen Frauenforschung (vgl. 2.) steht im Zusammenhang mit der Marginalisierung und Ausschließung von Migrantinnen innerhalb der Frauenbewegung6. Auseinandersetzungen mit Rassismus und Antisemitismus innerhalb der weißen deutschen Frauenbewegung stattfand (vgl. Gutiérrez Rodríguez 1999: 32f.) 5 als Überblick Becker-Schmidt/Knapp 2000 6 als kritischer Überblick vgl. FeMigra 1994 16 Beispielhaft für die Ausblendungsmechanismen der Frauenbewegung ist Gümens dekonstruktivistische Lektüre eines Briefes, der anlässlich kritischer Stimmen von den Organisatorinnen der Tagung „Differenz und Gleichheit: Menschenrechte haben (k)ein Geschlecht“ (1990) verfasst wurde. Die Kritik an der Tagung bezog sich vornehmlich auf die fehlende Thematisierung von Rassismus sowie die marginale Beteiligung von Frauen mit Migrationserfahrung. Der Antwortbrief der Organisatorinnen illustriert die Ausschließungsmechanismen, die zur Konstitution einer allgemeingültigen Frauenbewegung im nationalstaatlichen Rahmen beitragen: Die „hiesige Frauenbewegung“, die um einzelne „Asylantinnen- und Ausländerinnenprobleme“ weiß und bislang „keine theoretische oder politisch dominante Debatte um das Verhältnis von Rasse, Körper, Klasse und Geschlecht“ führte, will sich „sehr viel grundsätzlicher“ mit der „Analyse und Erörterung der strukturellen Gründe der gesellschaftlichen und rechtlichen Diskriminierung der Frau“ befassen (vgl. Gerhard u.a. 1990). Der Terminus „hiesige Frauenbewegung“ negiert nicht nur Strömungen innerhalb der deutschen Frauenbewegung, die sich seit längerem mit der Kategorie Ethnizität beschäftigen, sondern erhebt gleichzeitig einen Allgemeinheitsanspruch in Abgrenzung zu dem „Randphänomen“ (Gümen 1998: 189) Ethnizität. Wer sich „grundsätzlicher“ mit der „Analyse und Erörterung der strukturellen Gründe der gesellschaftlichen und rechtlichen Diskriminierung der Frau“ auseinandersetzen will, bezieht sich ausschließlich auf die Dimension der Geschlechterungleichheit. Dies führt unweigerlich zu einer Hierachisierung von Unterdrückungsmechanismen, wobei der Sexismus als das Grundlegende, Rassismus dagegen als Sonderform von Unterdrückung interpretiert wird. Die Konstitution des Subjektes feministischer Politik in der bundesrepublikanischen Frauenbewegung zeugt von einem feministischen Ethnozentrismus: „Die homogene Kategorie Frau entspricht einem als homogen gedachten Nationalstaat“ (Gümen 1998: 191). Um die konstruierte Großkategorie „Frau“ ihrer hegemonialen Verfasstheit zu überführen, benötigt die feministische Theorie und Praxis eine kritische Distanz zu zweigeschlechtlichen Erklärungsmustern; die Markierung der Geschlechterdifferenz zwischen Frauen und Männern (Sexismus) als Hauptwiderspruch führt zwangsläufig zu einer Essentialisierung der Kategorie 17 Frau, der einer Homogenisierung des feministischen Subjektes immanent ist. Das politische „Wir“ dieses Feminismus erhebt den Anspruch, „den ‚wahren‘ – bzw. von anderen gesellschaftlichen Herrschaftsstrukturen befreiten und ausschließlich über die Geschlechterkategorie definierten – Feminismus zu repräsentieren“ (Gümen 1996: 80). Eine bloße Erweiterung der Kategorie Geschlecht um die analytische Kategorie Ethnizität führt jedoch zu einem additiven Verfahren, das der Kontextualisierung von Geschlecht im Sozialen nicht gerecht werden kann. Folgende Gleichungen illustrieren diese Problematik: „Frau = Geschlecht“ / „fremde Frau = Geschlecht + Ethnizität“ (vgl. Gümen 1994). Eine Enthierachisierung der Kategorien sozialer Schließung scheint hiermit nicht möglich, da Geschlecht weiterhin als unabhängige Variable wirkt. Die Verwobenheit der Dimension des Geschlechtlichen mit anderen Subjektpositionierungen wie sexuelle Orientierung, Klasse oder Alter gerät durch Addition aus dem Blick. Gümen spricht sich in diesem Zusammenhang für eine „größere Textualität“ (Gümen 1998: 199) feministischer Theorieentwicklung aus, die eine kontextualisierte Perspektive auf die Kategorie Geschlecht zulässt und mit der Forderung nach der Inblicknahme der Kategorie Ethnizität und anderer Kategorien sozialer Schließung kooperiert. Damit einher geht eine Neubestimmung des politischen Subjektes feministischer Politik und Wissenschaft; denn wenn „die Geschlechterdifferenz gesellschaftlich hergestellt ist, wird es schwierig zu behaupten, dass es ‚die Frauen‘ gibt, die aus ihren sozialen und historischen Kontexten herausgelöst sind und transhistorisch sowie transkulturell eine gemeinsame Unterdrückungsgeschichte als ‚Frauen‘ teilen. Nicht mehr vorauszusetzen ist, was oder wen der Begriff ‚Frauen‘ bezeichnen soll. Die implizierte Frage in jeder Analyse wird: ‚Welche Frauen‘?“ (Gümen 1994: 8). Der dekonstruktivistische Charakter dieser Frage wird von Gutiérrez Rodríguez ausbuchstabiert. Sie schließt in ihren Ausführungen an den von Spivak entwickelten Begriff der kritischen Dekonstruktion an. Bezogen auf das Subjekt sozialwissenschaftlicher Frauenforschung und Frauenbewegung beinhaltet diese Perspektive die Kontextualisierung und Historisierung des Begriffs „Frau“ – die Frage, die Gutiérrez Rodríguez an feministische Wissenschaft und Politik stellt, lautet: „Wer redet, von wo aus und für wen?“ (Gutiérrez Rodríguez 1996: 170). 18 2.2. Das ... und die andere Frau Subjekt der bundesdeutschen Frauenbewegung und –forschung konstituiert sich – so Gutiérrez Rodríguez - über „die Andere“ in Abgrenzung zum „herrschenden Selbst“ (Gutiérrez Rodríguez 1996: 161). Dies scheint notwendig, um Unterschiede zwischen Frauen zu überwinden und so zu einem allgemeingültigen Feminismus zu gelangen. Migrantinnen werden als Differentes gesetzt, indem sie als „anders“ und noch zu emanzipieren gelten: „Die Ausländerin (...) ist ‚anders‘, weil sie ein Kopftuch trägt, schlecht deutsch spricht und zur ‚Unterschicht‘ gehört“ (FeMigra 1994: 10). Im Gegensatz dazu werden sie als „gleich“ vereinnahmt, wenn sie das eigene Selbstbild einer emanzipierten Frau spiegeln. Ab diesem Zeitpunkt sind sie nicht mehr die ethnisch Differenten, sondern erlangen Subjektstatus. „Die Ausländerin ist somit ‚gleich‘, weil sie angepasst ist, das heißt, gut deutsch spricht, zum Beispiel studiert statt putzt“ (ebd.:10). Beiden Aneignungsmustern ist die Definitionsmacht des „herrschenden Selbst“ – hier der weißen deutschen Frauenbewegung – immanent. Nach Gutiérrez Rodríguez wurzelt das duale Denken „die andere Frau/die identische Frau“ in der okzidentalen Philosophietradition der Metaphysik. Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) bestimmte die westlichen Philosophien als zusammenhängende Einheit (vgl. Kimmerle 2000: 18f.). Er systematisiert die Entwicklung der Philosophie, indem er von „den alten orientalischen Reichen“ über die „griechisch-römischen Reiche“ einen Fortschritt hin zur Philosophie der „germanisch-christlichen Welt“ prognostiziert (ebd.: 19). Dieser „Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit“ (ebd.: 19) markiert eine Abstraktion der westlichen Philosophie als Höhepunkt des Denkens. Hegels Dialektik – These, Antithese, Synthese - gibt Aufschluss über die Prinzipien des metaphysischen Verständnisses in der okzidentalen Philosophietradition. Wirklichkeit wird in binäre begriffliche Schemata eingeordnet, denen ein Ursprungsgedanke inhärent ist. Dieser Ursprungsgedanke ist vor allem durch Identitätslogik gekennzeichnet. Identitätslogik basiert auf Widerspruchsfreiheit; Abweichendes wird als das Andere, nicht-Identische ausgegrenzt, abgewertet und als Gegensatz konstituiert. 19 Beispielhaft hierfür zeigte Simone de Beauvoir (1908-1986), wie die Frau als das Andere des Mannes konstruiert wird. Frauen sind nicht autonome Subjekte, sondern erlangen ihre Bedeutung nur in Bezugnahme auf das privilegierte identische Eine, den Mann. Das Eine ist Ursprung und Maßstab: Die Frau „wird bestimmt und unterschieden mit Bezug auf den Mann, dieser aber nicht mit Bezug auf sie, sie ist das Unwesentliche angesichts des Wesentlichen. Er ist das Subjekt, er ist das Absolute: sie ist das Andere“ (Beauvoir 1949: 11). Der Mann ist in diesem Fall das Konkrete bzw. das Eine, während die Frau als das undefinierte Andere von ihm abgeleitet wird. Die binäre Opposition das Eine/das Andere korrespondiert mit der weiter oben ausgeführten Annahme, dass die „Migrantin“ in Abgrenzung zu der „Frau“ konstituiert wird. Die metaphysische Logik der Identität operiert demnach über begriffliche Gegensätze (z.B. Mann/Frau, Frau/Migrantin), die hierarchisch angeordnet sind. Der „Eine“ Begriff beherrscht und dominiert den „Anderen“, da ersterer höher bewertet wird und die Definitionsmacht über den „Anderen“ inne hat: „Durch dieses Dominanz- und Unterordnungsverhältnis werden bestimmte Bedeutungen idealisiert, höher geschätzt oder sublimiert, andere wiederum verschwiegen, negiert oder marginalisiert“ (Wartenpfuhl 2000: 128). Metaphysisches Denken in der okzidentalen Philosophietradition ist gekennzeichnet durch binäre begriffliche Schemata, die auf der Annahme eines Ursprungs gründen. Vielfalt und Heterogenität wird negiert, indem Begriffen ein abstraktes Zentrum unterstellt wird, auf das sie sich zurückführen lassen. Diese Essentialisierung von Begrifflichkeiten hat einen ordnenden Charakter; ihre Funktion besteht nach Stuart Hall darin, „uns eine ungestörte Nachtruhe zu verschaffen“ (Hall 1994: 67). Begriffliche Gegensätze ermöglichen eine systematische Identifikation der Welt, indem sie Widersprüchliches und NichtIdentisches assimilieren oder ausgrenzen – entweder das Eine (Vereinnahmung durch Definition des „Einen“) oder das Andere (Ausgrenzung durch Definition des „Einen“): „In dieser Abstraktion liegt die Gleichmachung der Dinge beschlossen, die zugleich auch Reduktion ihrer Vielfalt an Eigenschaften ist“ (Engelmann 1990: 14). Hierarchisch gesetzte Binaritäten wie „Frau“ oder „Migrantin“ weisen demnach einen Abstraktionsgrad auf, der vereinheitlichend wirkt. Der Begriff „Migrantin“ wird trotz heterogener Bedeutungen (z.B. verschiedene Migrationserfahrungen, sozialer Status, Alter, sexuelle Orientierung) auf das 20 „Andere“ in Abgrenzung zu dem hegemonial verfassten Begriff „Frau“ reduziert. Wenn sich nun Frauenbewegung und sozialwissenschaftliche Frauenforschung im Namen der „Frau“ ereignen, um welche Frauen handelt es sich dabei? Die postkoloniale Kritik gibt Aufschluss darüber: Die homogenisierte Großkategorie „Frau“ universalisiert die Erfahrungen weißer, heterosexueller Feministinnen des Mittelstandes (vgl. Thürmer-Rohr 1995: 87/88) und setzt diese als Maßstab. Sexismus wird als Hauptwiderspruch und – Unterdrückungsverhältnis der Gesellschaft analysiert (vgl. 2.1.). „Andere“ Formen von Unterdrückung werden subsumiert oder fließen als Sonderformen in die Analyse ein. Das Reden und Handeln im Namen der Frau negiert somit die unterschiedlichen Lebensumstände und Subjektpositionierungen von Frauen: „Die Verquickung der Verhältnisse, in denen Frauen leben, kann nicht über eine universelle Kategorie Frau repräsentiert werden, da Momente wie Hautfarbe, sozialer Status, körperliche Stigmatisierung und Diskriminierung von Behinderung und lesbischem Begehren Frauen in unterschiedliche gesellschaftliche Positionen setzt“ (Gutiérrez Rodríguez 1996: 166). Um den Begriff der Frau bzw. das Subjekt feministischer Theorie und Praxis für vielfältige, heterogene Bedeutungen zu öffnen und somit der postkolonialen Kritik Rechnung zu tragen, bietet sich die dekonstruktivistische Lesart an. Dekonstruktion7 bedeutet „die Freilegung des Nicht-Identischen aus seiner Verdrängung“ (Wartenpfuhl 2000: 135). Sie fragt in diesem Zusammenhang: Was verschweigt der Begriff „Frau“? Auf welchen Ausschlüssen basiert er? Prämisse für die dekonstruktivistische Lesart ist der erweiterte Textbegriff. Nach Spivak markiert der Text den Ort der Produktion von Diskursen: „Der Text ist somit an der Darstellung aber auch an der Produktion von Bewusstseinskonzepten, von Subjektpositionen in Form von homogenen Einheiten wie Geschlecht, Klasse und Ethnizität beteiligt“ (Spivak 1988: 77/78). Somit ist Text nicht an schriftliche Äußerungen gebunden; er umfasst „jegliche Formen der Darstellung bzw. Repräsentation von Welt, Mensch und Dingen“ (Gutiérrez Rodríguez 1996: 171). Gutiérrez Rodríguez entwickelt mit Bezugnahme auf Spivak eine kritische Zugangsweise der Dekonstruktion. Diese bezieht feministische sowie marxistische Perspektiven in die Textanalyse ein. So kann ein Text auf seinen 7 Der Begriff Dekonstruktion ist auf den Philosophen Jacques Derrida zurückzufüren, ausfühlich siehe 3. Kapitel 21 soziokulturellen, historischen und ökonomischen Hintergrund gelesen werden, da sich Bezeichnungs- und Benennungspraktiken nicht in einem neutralen Rahmen vollziehen, sondern geopolitisch situiert sind (vgl. 2.). Die kritische Dekonstruktion „als Gesellschaftskritik gedacht bestimmt Essenzen nicht als universelle Wesenheiten, die im Geiste vorhanden sind, sondern als materialisierte Formen, die kontextbezogen erzeugt werden“ (Gutiérrez Rodríguez 1996: 172). Feministische Theoriebildung oder politische Handlungen im Namen der „Frauen“ müssen somit kontextualisiert werden: Welche Frauen treffen welche Aussagen aufgrund welcher Erfahrungshintergründe? Dieser radikale Perspektivismus wirkt einer Essentialisierung und Universalisierung der Kategorie Frau entgegen. Das ausgegrenzte und verschwiegene „Andere“ feministischer Wissenschaft und Politik wird sichtbar, da die soziale Situiertheit und der Zeitpunkt jeglicher Aussagen in den Vordergrund tritt. Die kritisch - dekonstruktivistische Analyse trägt dazu bei, Aussagen historischpolitisch zu verorten. Ein hegemonial verfasstes feministisches „Wir“, das von dem Kollektivsubjekt „Frau“ ausgeht, ist nicht länger haltbar. 2.3. Schlussfolgerung Kapitel 2.1. und 2.2. zeigten, wie das Subjekt der bundesdeutschen Frauenbewegung und –forschung problematisiert und wie dieses durch Ausschluss und die Identifikation des „Anderen“ konstituiert wird. Es wurde deutlich, dass sich feministische Wissenschaft und Politik nicht jenseits hegemonialer Diskurse ereignen. Wenn feministische Wissenschaft und Politik herrschaftsfrei8 arbeiten wollen, benötigen sie ein Instrumentarium, das Abstand nimmt von kollektivistischen und universalistischen Deutungsmustern. In Kapitel 2.2. wurde ein möglicher Lösungsansatz bereits angesprochen: Der Kunstgriff der Dekonstruktion legt das Verworfene und Verschwiegene des hiesigen feministischen Diskurses frei, dass aufgrund der Annahme einer Binarität erst geschaffen wurde. Die 8 Thürmer-Rohr bestimmt die feministische Theorie und Politik als Absage an jegliche Form von Herrschaft (vgl. Thürmer-Rohr 1995) 22 Dekonstruktion bricht mit der binären Logik „entweder/oder“ bzw. „der (hiesige) Feminismus/die Anderen“, die Kategorien sozialer Schließung als identische Momente konstituiert; sie weist auf die Verflechtungen verschiedener Kategorien hin und kongruiert mit der Verortung von Geschlecht im Sozialen (vgl. 2.1.). Damit ist das Subjekt sowohl der feministischen Wissenschaft als auch der Frauenbewegung im Zentrum der Kritik. Es ist dieser Zugriff, der dem Dekonstruktivismus den Vorwurf des Unpolitischen einhandelt (vgl. dazu 3.1.). Im folgenden soll die Perspektive der Dekonstruktion vertieft werden. Hierbei orientiere ich mich an den Ausführungen von Wartenpfuhl, die den Gedanken der Dekonstruktion Derridas mit der Metapher des Rhizoms von Deleuze und Guattari verbindet und daraus den Begriff des Transversalen entwickelt. Dieser Blick scheint für eine Konzeption von Geschlecht jenseits metaphysischer Identitätslogik fruchtbar. Eine angemessene Theorieproduktion feministischer Forschung, die postkolonialer Kritik gerecht wird und einen anti-hegemonialen Anspruch aufweist, ist hiermit denkbar. 3. Azentrierte Konzeptionalisierungen von Geschlecht Der Theorie der Dekonstruktion geht es um das Aufspüren binärer Logiken, die Realität in Gegensätzen begreifen. Durch die „entweder/oder Struktur“ (Wartenpfuhl 2000: 123) werden Kategorien sozialer Schließung – wie z.B. Frau, Lesbe, Migrantin – als identische Subjektpositionen erzeugt. In 2.1. wurde bereits verdeutlicht, dass eine Identitäten-Addition im Sinne einer „entweder/oder Struktur“ – entweder Frau oder Migrantin, entweder Frau oder Lesbe - der Verortung von Geschlecht im Sozialen nicht gerecht werden kann. Positionierungen wie Frau, Migrantin oder Lesbe sind nie für sich alleine wirksam oder in sich identisch. Gümen spricht in diesem Zusammenhang von der Verflochtenheit der Kategorie Geschlecht mit anderen Subjektpositionierungen. Die Dimension der Kategorie Geschlecht nimmt durch weitere Subjektpositionierungen nicht einfach zu (z.B. Geschlecht + Migration + sexuelle Orientierung), sondern verändert seine gesamte 23 Beschaffenheit und seinen Gehalt9. Die Perspektive der Dekonstruktion zeigt in diesem Zusammenhang, „wie sich Differenzen als Kategorien sozialer Schließung überschneiden und sich vielfach durchkreuzen“ (Wartenpfuhl 2000: 123f.). Dies widerspricht der metaphysischen Identitätslogik bzw. der „entweder/oder Struktur“, die Kategorien als essentiell und klar voneinander abgrenzbar begreift. Assimilation und Ausgrenzung von Widersprüchlichem und Nicht-Identifizierbarem, also jenem, dass sich der „entweder/oder Struktur“ nicht beugt, kann durch die Dekonstruktion wieder sichtbar werden. Der Bruch mit der metaphysischen Identitätslogik markiert die Dekonstruktion als ein politisch-wissenschaftliches Instrumentarium, das Hegemonie zu begreifen und zu subvertieren versucht. Denn wie bereits in Kapitel 2.2. gezeigt wurde, konstituiert sich Herrschaft und Unterdrückung durch binäre, in sich identische Gegensätze. Zwei Merkmale verdeutlichen das hegemoniale Moment der metaphysischen Gegensatzstruktur: Zum einen beherrscht und definiert ein Begriff innerhalb des Gegensatzpaares den anderen (vgl. Beauvoir 1949), wodurch „bestimmte Bedeutungen idealisiert, höher geschätzt oder sublimiert, andere wiederum verschwiegen, negiert oder marginalisiert“ werden (Wartenpfuhl 2000: 128). Abweichendes wird als das Andere, nichtIdentische ausgegrenzt, abgewertet und als Gegensatz konstituiert. Der „Eine“ Begriff beherrscht den „Anderen“, da Ersterer höher bewertet wird und die Definitionsmacht über den „Anderen“ inne hat. Zum anderen fordert die identifizierende Logik eine unmissverständliche Zuordnung von Bedeutungen innerhalb der Gegensatzstruktur: Was das Eine ist, kann nicht das Andere sein. Abweichendes, das sich nicht innerhalb der „entweder/oder Struktur“ einordnen lässt, aber dennoch präsent ist, wird nicht erfasst. Widersprüchliches oder Nicht-Identisches verliert sich in der „metaphysischen Einheit von Gegensätzen“ (Wartenpfuhl 2000: 128). Assimilation oder Ausgrenzung bzw. „entweder/oder“ negiert die Heterogenität und Vielfalt von Wirklichkeit, da Bedeutungen unweigerlich klassifiziert werden müssen. Abstraktion und Vereinheitlichung ist der metaphysischen Identitätslogik immanent - es handelt sich hierbei nach Becker-Schmidt um „eine Manie des Gleichmachenwollens“ (Becker-Schmidt 1989: 53). 9 ausführlich in 3.1.2. 24 Dem klassifizierenden Denken in hegemonial verfassten Dichotomien, der Abstraktion und Negation von Vielfalt und Heterogenität will die Dekonstruktion durch Subversion binärer Denkschemata begegnen. Die dekonstruktivistische Perspektive Derridas soll nun kurz vorgestellt (3.1.1.) und durch das von Deleuze und Guattari entwickelte rhizomatische Denken, das in Kapitel 3.1.2. skizziert wird, erweitert werden. Ergebnis der „fruchtbaren Allianz“ (Wartenpfuhl 2000: 157) von Dekonstruktion und rhizomatischen Konfigurationen ist der Begriff des Transversalen, der auf eine Konzeptionalisierung von Geschlecht jenseits metaphysischer Dichotomien hinweist (3.1.2.). Das transversale Denken wird in Kapitel 3.2. auf die binär konstituierte Opposition „hiesiger Feminismus/die Anderen“ angewendet, um die Möglichkeit und das emanzipatorische Potential azentrierter Forschungsperspektiven auszuloten. 3.1. Dekonstruktion als „Philosophie der Differenz“ Einführend soll die Frage nach der politischen Bedeutung des Dekonstruktivismus, die von weiten Teilen der sozialwissenschaftlichen Frauenforschung angezweifelt wird (vgl. Wartenpfuhl 2000: 124), kurz dargestellt werden. Heinz Kimmerle verortet das Denken Derridas innerhalb einer philosophischen Strömung, die er als „Philosophie der Differenz“10 bezeichnet (vgl. Kimmerle 2000). Er leitet diesen Begriff aus der Kritik des identifizierenden Denkens ab, wie sie von Theodor W. Adorno formuliert worden ist (vgl. Adorno 1982). Adorno als einer der Hauptvertreter der Kritischen Theorie bestimmte bereits 1947 in seinem mit Max Horkheimer verfassten Werk „Dialektik der Aufklärung“ die abendländische Aufklärungsgeschichte als eine Fehlentwicklung. Sein verhaltener Optimismus bezüglich der Kontinuität aufklärerischer und marxistischer Perspektiven in den 1930er Jahren weicht der Überzeugung, dass das Programm der Aufklärung in ihr Gegenteil umschlägt: Völlige Naturbeherrschung und technische Rationalität kennzeichnen die 10 als weitere VertreterInnen dieser Strömung nennt Kimmerle Michel Foucault, Gilles Deleuze, Jean-Francois Lyotard, Julia Kristeva sowie Luce Irigaray 25 Aufklärung als ein zerstörerisches, herrschaftsicherndes Prinzip, dem eine Entmenschlichung immanent ist (vgl. Lang 1995). Die Philosophien der Differenz radikalisieren die Kritik von Adorno, da sie nicht nur die Aufklärung, sondern die gesamte okzidentale Philosophietradition als hegemonial begreifen. Somit geht ihre Herrschaftskritik über die Kritik an den Prinzipien der Aufklärung hinaus. „Differenz denken“ im Sinne der Philosophien der Differenz bedeutet „nicht identifizieren, das Andere und das Verschiedene nicht zurückführen auf dasselbe und das Gleichartige“ (Kimmerle 2000: 17). Dies steht der grundlegenden Operation der abendländischen Philosophietradition diametral gegenüber: Seit Platon ist sie vornehmlich auf das Eine, Identische, einem Ursprung gerichtet, von dem aus sie das Verschiedene zu erschließen versucht. Dem Denken der Identität in der Tradition dieser Philosophie ist es nicht möglich, das Viele, das Verschiedene, die Differenz zu erfassen. Abweichendes, das der metaphysische Identitätslogik widerspricht, wird negiert, obwohl es präsent ist (vgl. 3.). Die Anerkennung und das Denken der Differenz kann der „totalitären Gefahr“ (Derrida 1988: 108) entgegenwirken, die der okzidentalen Philosophietradition eingeschrieben ist. Totalitarismus bzw. die „totalitäre Gefahr“ bezieht sich in diesem Zusammenhang auf das Denken in binären Oppositionen, dem ordnenden Prinzip der „entweder/oder Struktur“, das Vielheit, Heterogenität und Differenz nicht begreifen kann. Die Philosophie der Differenz will diesem reduktionistischen Gestus der metaphysischen Tradition entkommen. Vielheit, Heterogenität und Differenz haben ihre Berechtigung und gelten innerhalb der Philosophien der Differenz als Werte (vgl. Kimmerle 2000: 17). Kimmerle prognostiziert dem Denken der Differenz ein emanzipatorisches Potential, aus dem eine politische Praxis resultieren kann, der eine radikale Herrschaftskritik inhärent ist. Er sieht in der Differenzphilosophie bzw. der Dekonstruktion eine erfolgversprechende Strategie, „im Horizont allgemeiner Fragestellungen begriffliche Mittel zu erarbeiten, die dazu beitragen, bestehende gesellschaftlich-politische Probleme besser durchdenken und an ihrer Lösung mitwirken zu können“ (Kimmerle 2000: 12). Nichtsdestotrotz wird der Perspektive der Dekonstruktion von Teilen der bundesrepublikanischen sozialwissenschaftlichen 26 Frauenforschung der kritisch-politische Impetus abgesprochen. Worauf gründet diese Kritik? Vereinfacht geht es um zwei scheinbare Prämissen für feministische Wissenschaft und Politik, die von der dekonstruktivistischen Perspektive in Frage gestellt werden: 1. Feministische Wissenschaft benötigt ein stabiles, identifizierbares Subjekt, auf das sie sich berufen kann (die „Frauen“) und 2. Feministische Politik ist angewiesen auf politisch-normative Grundlagen und Zielvorstellungen, von denen aus sie agieren kann. Beide Axiome werden von der Dekonstruktion problematisiert; denn wird der radikale Perspektivismus des Dekonstruktivismus ausbuchstabiert, ist es nicht länger möglich, im Namen aller Frauen zu sprechen, zu forschen oder politisch zu handeln. Das Kollektivsubjekt Frau des Feminismus ist hegemonial verfasst und repräsentiert nur die Gruppe von Frauen, die Sexismus als das Hauptunterdrückungsmoment wahrnehmen – allerdings werden von dieser Gruppe Aussagen im Namen der Frauen getroffen. Eigene Erfahrungen werden universalisiert und weitere Unterdrückungsmechanismen, denen Frauen ausgesetzt sind (z.B. Rassismus, Heterosexismus), nachrangig behandelt (vgl. 2.1.). Herrschaftsfreies feministisches Handeln und Forschen ist demnach nur möglich, wenn das Kollektivsubjekt Frau in Frage gestellt wird und reflektiert wird, dekonstruktivistische auf welchen Subjektkritik Ausschlüssen verlangt eine es basiert. Die perspektivistische Kontextualisierung des Begriffs Frau – und stößt damit in ein Wespennest. Denn auf der Grundlage eines identifizierbaren Subjektes, das abstrahiert und universalisiert wird, können politische Forderungen und Zielvorstellungen formuliert werden, die für alle Frauen gelten. Subjektkritik bedeutet sodann den Verlust von normativen politischen Vorstellungen; wenn die Existenz eines Kollektivsubjektes Frau Herrschaft organisiert und strukturiert, gilt dies auch für scheinbar allgemeingültige politische Aussagen. Die Kritik an dem Kollektivsubjekt Frau kooperiert demnach mit der Kritik an normativen politischen Grundlagen des Feminismus. Die zentrale Frage, die Butler in diesem Zusammenhang stellt und die den Kern der Problematik trifft, lautet: Erfordert Politik ein stabiles Subjekt?11 Bevor ich jedoch auf die politische Handlungsfähigkeit jenseits kollektiver Subjektkonstitutionen eingehe (5. Kapitel), soll die dekonstruktivistische 11 vgl. hierzu Benhabib/ Butler/Cornell/ Fraser 1993 27 Lesart Derridas vorgestellt werden. Eine nähere Betrachtung seiner Theorie gibt Aufschluss über den herrschaftskritischen Gestus der dekonstruktivistischen Perspektive und weist den Vorwurf des Unpolitischen zurück. 3.1.1. Dekonstruktion im Kontext der Philosophie Derridas Jaques Derrida formulierte seine Theorie in den 1960er Jahren im Kontext des französischen Poststrukturalismus. Er bezieht sich jedoch nicht auf TheoretikerInnen dieser Strömung; er wendet die dekonstruktivistische Lesart auf Texte der Geschichte der europäischen Philosophie an (so z.B. Hegel, Marx). Das Erkenntnisinteresse dieser Lektüre formiert sich um die Fragen: Was verschweigt der Text? Auf welchen unbewussten Voraussetzungen und Ausschlüssen basiert er? Wo befindet sich der „blinde Fleck“ des Autors? Der Punkt, von dem dieser aus sieht und den er gerade deshalb nicht sehen kann? Die dekonstruktivistische Lesart Derridas versieht Texte, die in der metaphysischen Tradition stehen, mit Randbemerkungen und Kommentaren – Derrida liest und schreibt somit zwischen den Zeilen. Demnach geht es um die Erfassung des Verborgenen der metaphysischen Tradition, um das, was durch die allgegenwärtige Gegensatzstruktur sowie der Ursprungsannahme verschwiegen, subsumiert, eliminiert und verdrängt wurde. Der Begriff der Dekonstruktion verweist kritisch auf den von Martin Heidegger12 (1889-1976) geprägten Terminus Destruktion. Das Programm einer Destruktion der Metaphysik wurde von Heidegger als die Aufgabe des zweiten Teils von „Sein und Zeit“ (1927) formuliert. Durch eine Destruktion der Metaphysik will er den Grund freilegen, auf dem metaphysische Systeme aufgebaut sind. Im Kontext der Fragestellung von „Sein und Zeit“ beinhaltet der Begriff Destruktion eine kritische Prüfung der Geschichte der abendländischen Ontologie. Die in dem Terminus „Destruktion“ enthaltende negative Konnotation, das destruktive Element, ergänzt Derrida durch die Silbe kon. So betont er den konstruktiven Charakter der Dekonstruktion, die Heideggers Schrift „Identität und Differenz“ gilt als Gründungsdokument der Differenzphilosophie (vgl. Kimmerle 2000: 18) 12 28 zerstörerisch und aufbauend zugleich ist. Außerdem verweist die Silbe kon auf eine dem Kontext angepasste Perspektive. Kimmerle spricht in diesem Zusammenhang von einem „Perspektivismus des Denkens“ (Kimmerle 2000a: 48), der das erneute Verabsolutieren eines Standpunktes vermeiden kann. Wenn nun die Dekonstruktion eine dem Kontext angepasste Perspektive ist, handelt es sich hierbei um eine philosophische Methode? Methodische Vorgehensweisen implizieren verallgemeinerte Regeln, die es zulassen, von kleinen Phänomenen auf das Ganze zu schließen. Abstrahierte und universelle Aussagen stehen jedoch den Ansprüchen der dekonstruktivistischen Lesart diametral gegenüber. Daher widersetzt sich Derrida der Vermutung, dass es sich bei der Dekonstruktion um eine Methode handelt, da eine Methode „eine Technik des Befragens oder der Lektüre ist, die ohne Rücksicht auf die idiomatischen Züge in anderen Zusammenhängen wiederholbar sein soll“ (Derrida 1987: 70). Methoden bergen demnach die „totalitäre Gefahr“ in sich, von der bereits weiter oben die Rede war – also genau das, was das Derridasche Unternehmen verhindern will. Dennoch existieren Orientierungspunkte und „relative Regeln“ (Wartenpfuhl 2000: 133), die die Dekonstruktion erst ermöglichen: 1. Die Erweiterung des Textbegriffs sowie 2. die Anerkennung der Heterogenität von Texten. In Kapitel 2.2. wurde der erweiterte Textbegriff bereits präzisiert. Um der Dekonstruktion ihre Möglichkeit zu geben, geht Derrida von einem Textbegriff aus, der alles umfasst: “Der Text beschränkt sich folglich nicht auf das Geschriebene, auf das, was man Schrift nennt im Gegensatz zur Rede. Die Rede ist ein Text, die Geste ist ein Text, die Realität ist ein Text in diesem neuen Sinne“ (Derrida 1987: 108). Das heißt, dass Wirklichkeit als Text gelesen und verstanden werden kann. Der Text beschränkt sich nicht auf Geschriebenes oder Gesprochenes – Text im Sinne der dekonstruktivistischen Lesart versteht z.B. die Kategorie Geschlecht als Text, ebenso wie kulturelle Phänomene oder politische Praxen13. Peter Engelmann sieht in dem erweiterten Textbegriff eine „bekannte, grundlegende Geste“ (Engelmann 1990: 20) der Philosophie: Der erweiterte Textbegriff konstituiere eine Allgemeinheit und Derrida erfülle damit eine in der Philosophie traditionell geforderte 13 Voraussetzung, nämlich die die politischen Implikationen des erweiterten Textbegriffs zeige ich im 5. Kapitel anhand der „riot grrrl“- Bewegung 29 Praktizierung einer methodischen Vorgehensweise. Derrida kritisiert jedoch die Logik der Methode, da diese durch Abstraktion zu universellen Aussagen gelangt, die der Heterogenität von Wirklichkeit und seiner Forderung nach einer radikalen perspektivistischen Sichtweise auf Dinge nicht gerecht werden kann. Der erweiterte Textbegriff als Prämisse für die Dekonstruktion scheint demnach ein Einfallstor für KritikerInnen der dekonstruktivistischen Lesart zu sein. Um diesem Dilemma zu entkommen, greift Engelmann die Metapher einer Leiter auf, die nach Gebrauch zurückgestossen wird, wenn man auf ihr hochgestiegen ist. Er bezeichnet die Bedingung des erweiterten Textbegriffs als eine Gratwanderung, die der Dekonstruktion inne wohnt. Außerdem verweist er auf die zweite Bedingung der Dekonstruktion; denn wenn von der „Existenz einer Vielzahl von Sprachen“ (Engelmann 1990: 25) ausgegangen wird, beschneidet dies die Verallgemeinbarkeit von Regeln bzw. die Kennzeichnung der Dekonstruktion als Methode: „Die Aufmerksamkeit für den Kontext, die Derrida auch Abhängigkeit nennt, grenzt den Allgemeinheitsgrad der gewinnbaren Regeln ein, sie ist dafür verantwortlich, das (sic!) es keine allgemeine Methodologie der Dekonstruktion gibt“ (ebd.: 26). Dieser Aspekt verdeutlicht das poststrukturalistische Moment der dekonstruktivistischen Lesart. Die Anerkennung der Heterogenität von Texten, die Vielzahl von Sprachen bricht mit der starren, von Ferdinand de Saussure (1857 - 1913) entwickelten Vorstellung einer in sich geschlossenen, universalistischen und strukturell aufgebauten Sprache. Im folgenden stelle ich die Überlegungen des linguistischen Strukturalismus de Saussures‘ sowie die des Poststrukturalismus14 kurz vor, um die Zentralität des erweiterten Textbegriffs innerhalb der Theorie der Dekonstruktion zu begründen. De Saussure gilt als Begründer des linguistischen Strukturalismus. In den 1960er Jahren erfolgte eine breite Rezension seiner posthum veröffentlichten Schriften, die als „‚Gründungstext‘ für ein neues differenztheoretisches Denken“ (Stäheli 2000: 17) gelten. Für de Saussure ist Sprache ein System von Zeichen, bestehend aus einem „Bezeichnenden“ und einem „Bezeichneten“. Jedes Zeichen ist demnach die Verbindung von Signifikat und Signifikant. Die Anreihung der Buchstaben TISCH ist das Bezeichnende (Signifikant bzw. 14 zu den TheoretikerInnen, die als PoststrukturalistInnen bezeichnet werden können, gehören u.a. Jacques Derrida, Gilles Deleuze, Félix Guattari, Jacques Lacan, Judith Butler, Jean Baudrillard und Michel Foucault (vgl. Stäheli 2000: 6) 30 Lautbild), das das Bezeichnete Tisch (Signifikat bzw. die Vorstellung eines Gebildes auf womöglich vier Holzbeinen) impliziert. Die Verbindung oder Beziehung zwischen Signifikant und Signifikat ist willkürlich gewählt; de Saussure verweist hiermit auf die Arbitrarität von Zeichen. Wirklichkeit wird nicht von der Sprache widergespiegelt, sondern erst durch sie hervorgebracht. De Saussures‘ Strukturalismus bestreitet eine natürliche Verbindung zwischen Wort und Sache; Sinn und Bedeutung eines Zeichens sind konstruiertes Ergebnis bestimmter Bedeutungssysteme, die von allen Menschen geteilt werden. Jegliches Zeichen gewinnt nur durch Verschiedenheit von anderen Zeichen eine Bedeutung. Tisch bedeutet nicht Stuhl. Somit ist „die Bedeutung (...) dem Zeichen nicht auf geheimnisvolle Weise immanent, sondern sie ist funktional, das Ergebnis seiner Verschiedenheit von anderen Zeichen“ (Eagleton 1988: 75). Hier greift die Relationalität des Zeichens: Es erlangt nur in einem Beziehungsgeflecht mit anderen Zeichen, einem Zeichensystem oder Differenzsystem, eine Bedeutung. Ein Zeichen kann demnach nicht verabsolutiert oder einer autonomen Betrachtung unterzogen werden. Es erhält erst im Zusammenspiel mit anderen Zeichen einen Sinn. Entscheidend ist somit nicht das Zeichen an sich, sondern seine Stellung oder Position innerhalb eines Differenzsystems. Das zeichentheoretische Modell de Saussures, das auf einer symmetrischen Einheit zwischen einem bestimmten Signifikanten und einem bestimmten Signifikat fundiert, wird durch den Poststrukturalismus in Frage gestellt. Die Differenztheorie des Zeichens kann aus der poststrukturalistischen Perspektive auf einer weiteren Ebene angewandt werden. Der Signifikant „Tisch“ transportiert die Vorstellung eines Tisches, weil er sich von dem Signifikant „Fisch“ unterscheidet. Das Signifikat ist hier das Ergebnis der Differenz zweier Signifikanten - und damit das Ergebnis der Differenz zu vielen anderen Signifikanten. Die Differenzkette ließe sich unendlich weiterführen und stellt de Saussures Modell in Frage: „Bedeutung ist das Nebenprodukt eines potentiell endlosen Spiels von Signifikanten und nicht so sehr eine Vorstellung, die fest an einen bestimmten Signifikat geklebt worden ist“ (Eagleton 1988: 110/111). Derrida geht einen Schritt weiter, indem er den Signifikanten vom Signifikat trennt. Es existiert keine absolute Unterscheidung zwischen Signifikanten und 31 Signifikat, ihr Zusammenspiel ist zirkulär. Terry Eagleton beschreibt diesen Vorgang folgendermaßen: „Wenn man die Bedeutung (oder das Signifikat) eines Signifikanten herausfinden will, kann man im Wörterbuch nachschlagen; aber was man dort finden wird, sind nur noch mehr Signifikanten, deren Signifikate man wiederum nachschlagen kann, etc.“ (ebd.: 111). Die Bedeutung eines Zeichens ist immer als Resultat einer Teilung von Zeichen zu betrachten. Sie ist demnach nicht unmittelbar gegeben; vielmehr wird sie durch die Abwesenheit anderer Bedeutungen hergestellt, sie ist „niemals in einem Zeichen vollständig präsent, sondern stellt mehr eine Art konstantes Flackern von gleichzeitiger An- und Abwesenheit dar“ (ebd.: 111). Die Eindeutigkeit des zeichentheoretischen Modells de Saussures verliert sich in der Hybridität seiner Signifikanten. Die scheinbare Stabilität des Zeichenmodells oder der Sprache wird noch an einem anderen Punkt angegriffen: Bedeutungen sind kontextabhängig. Dies widerspricht dem ahistorischen, formalen Charakter strukturalistischer Analysen. Das Signifikat ist mit der Signifikantenkette, in der es sich zu einem bestimmten Zeitpunkt Bedeutungskette ist befinden, irgendwie verstrickt: von allen „Jedes anderen Zeichen in überzogen der oder durchdrungen, um so ein komplexes, unerschöpfliches Gewebe zu bilden“ (ebd.: 112). Signifikanten verweisen auf andere Signifikanten, diese wiederum auf weitere - wo eine Bedeutung aufhört, beginnt die nächste. Zeichen können demnach nicht eindeutig sein, da sie immer die Spuren anderer Zeichen in sich tragen und „sich für die Spuren der folgenden offenhalten“ (ebd.: 112). Daraus folgt ein neues zeichentheoretisches Modell, das die Statik des Strukturalismus überwindet: Kein Zeichen, kein Element kann vollständig definiert werden oder jemals absolute Bedeutung erlangen, da alles zirkuliert, an- oder abwesend ist, ja sogar austauschbar erscheint. Die poststrukturalistische Zeichentheorie verweist hiermit auf die Dialektik der Bedeutungsbildung von Texten, welche „die Verbindung zwischen Signifikat und Signifikant nur zu einem Moment flüchtiger Stabilität in einem ständigen Prozeß“ (Lutter/Reisenleitner 1998: 73) werden lässt. Während der strukturalistische Ansatz ein „zugrundeliegendes Regelsystem, eine Art Grammatik der symbolischen Ordung“ (ebd.: 73) annimmt, will die poststrukturalistische Analyse „den Prozeß der Produktion von Bedeutungen in 32 ihrer ständig wechselden Relationalität analysieren“ (ebd.: 73). Sprache erschließt sich demnach kontextuell und ist „auf keinen festen Punkt zu reduzieren. (...) Anzuerkennen, dass es eine Vielzahl von Sprachen gibt, die die Vielzahl der unterschiedlichen Kontexte bestimmen, so wie diese Kontexte die Vielzahl der Sprachen bedingen, heißt die Anerkennung von Heterogenität eines Textes, Text in dem von Derrida erweiterten Sinne“ (Wartenpfuhl 2000: 134). Als Konsequenz aus dem erweiterten Textbegriff existiert für Derrida kein Text-Außerhalb. Das bedeutet zudem, dass die binär codierte Sprache, die dichotome Logik der herrschenden begrifflichen Ordnung, nicht verlassen werden kann. Dekonstruktion ist demnach nur von Innen her möglich; sie begibt sich in den zu dekonstruierenden Text hinein, um ihn durch seine eigene Logik und der ihm innewohnenden Prinzipien zu überführen. Dies gelingt Derrida durch eine „doppelte Geste“, einer „doppelten Wissenschaft“ (vgl. Wartenpfuhl 2000: 135), die er in zwei Phasen einteilt. Die erste Phase, die Derrida als die „Phase des Umbruchs“ beschreibt, entlarvt die im Text enthaltenen binären Oppositionen als eine hierarchisch angeordnete Gegensatzstruktur. Sie verdeutlicht, dass „man es bei einem klassischen philosophischen Gegensatz nicht mit der friedlichen Koexistenz eines Vis-à-Vis, sondern mit einer gewaltsamen Hierarchie zu tun hat. Einer der beiden Ausdrücke beherrscht (...) den anderen, steht über ihm“ (Derrida 1986: 88). Die erste Phase der Dekonstruktion besteht nun darin, die Hierarchie der im Text enthaltenden binären Oppositionen umzustürzen. Diese Phase der Umwertung bzw. des Umsturzes einer binären Opposition kennzeichnet die vermeintliche Gegensatzstruktur (philosophischer) Begriffe als interdependentes bzw. wechselseitiges Abhängigkeitsverhältnis: Das Eine, das Zentrierte, ist konstitutiv für das Andere, Marginalisierte und umgekehrt. Zum Beispiel ist Weiblichkeit als das entgegengesetzte Andere von Männlichkeit konstitutiv für die Positionierung und Identifizierung von Männlichkeit. Das privilegierte bzw. zentrierte Männliche erlangt seine Definition durch das marginalisierte Weibliche und wird dadurch erst ermöglicht; die Existenz des Anderen ist Voraussetzung und Bedingung für die Existenz des Einen. Das Andere des privilegierten, zentrierten Begriffs fungiert für diesen identitätsstiftend – das Eine wird durch das Andere geschaffen. Die Phase des Umbruchs verdeutlicht somit die Interdependenz binärer Oppositionen. Allerdings lässt sie das zu dekonstruierende Feld intakt. Denn findet eine bloße Umkehrung binärer Oppositionen statt, wird z.B. 33 Weiblichkeit als das Zentrierte, Ursprüngliche und Männlichkeit als das Marginalisierte der begrifflichen Ordnung stilisiert, ist das metaphysische Prinzip der Binarität wieder hergestellt. Es bedarf somit einer weiteren Geste, „die der Verschiebung des allgemeinen Systems, die weder das Zentrierte auflöst, noch das Marginalisierte vereinnahmt oder Widersprüche aufhebt“ (Wartenpfuhl 2000: 136). Diese Geste nennt Derrida différance - différance mit „a“ statt mit „e“15, um die „Konfliktgeladenheit und Produktivität von ‚différance‘“ (Wartenpfuhl 2000: 137) zu unterstreichen. Kimmerle hebt die Bedeutung des graphischen Einschubes „a“ durch folgende Formulierung hervor: „Zugespitzt kann man sagen, bei Derridas ‚Philosophie der Differenz‘ geht es schließlich um einen Buchstaben, den Buchstaben ‚a‘ (...)“ (Kimmerle 2000a: 77). Der Buchstabe „a“ innerhalb des Begriffs der „différance“ lässt sich akustisch nicht wahrnehmen, ist aber dennoch präsent. Dies verweist auf das Verborgene, Verdrängte der metaphysischen Philosophietradition, das durch die „différance“ sichtbar wird. Zudem wirkt der graphische Einschub „a“, die Schreibweise der „différance“, irritierend, was als ein Hinweis auf den subversiven Charakter der Dekonstruktion gelesen werden kann. Derrida setzt durch die différance etwas neben die Struktur der binären Oppositionen; seine Philosophie ist demnach weder einheitlich noch gegensätzlich. Die erneute Festlegung auf eine hierarchisch angeordnete „entweder/oder“ -Position wird durch die Markierung des Abstandes als das „Unentscheidbare“ (Wartenpfuhl 2000: 136) verhindert. Das Unentscheidbare siedelt sich jenseits der Binarität an und fungiert als die „allgemeine Verschiebung des Systems“ (ebd.: 137). Um dies zu verdeutlichen, assoziiert Derrida die différance mit einem Bündel oder Gewebe von dezentrierten Kraftlinien. Gegensätze sind nicht länger an festen Orten zu lokalisieren. Vielmehr fluktuieren sie innerhalb eines Gewebes bzw. Netzes aus unterschiedlichen Kraftlinien und sind anwesend und abwesend zugleich. Die différance verweist auf diese Gleichzeitigkeit, die jedoch nicht die Aufhebung oder Auflösung von Gegensätzen zu einer Einheit impliziert: „Kein Begriff Kimmerle spricht in diesem Zusammenhang von „Differänz“, wobei er betont, dass diese Übersetzung einen wichtigen Punkt Derridas nachahmt: Die Veränderung der Schreibweise wirkt sich nicht auf das gesprochene Wort aus (vgl. Kimmerle 2000: 77) 15 34 darf zu Gunsten des anderen verworfen werden, sondern ein Begriff stellt die Notwendigkeit für den anderen dar“ (ebd.: 141). Derrida leitet différance von dem Verb „différer“ ab, welches zwei verschiedene Bedeutungen vereint: Zum einen meint „différer“ Verzögerung, Umweg, Aufschub, zum anderen nicht identisch sein, anders sein. Ersteres bezeichnet Derrida als Verzeitlichung („différer“ im Sinne von „aufschieben“), zweiteres als Verräumlichung („différer“ im Sinne von „verschieden sein“). Am Beispiel des Realitäts- und Lustprinzips bei Siegmund Freud zeigt Derrida, dass Verzeitlichung als ständiges Aufschieben mit der zweiten Bedeutung von „différer“ (Verräumlichung) – sich unterscheiden, nicht identisch sein – kooperiert. Nach der Freudschen Theorie regelt das Lustprinzip („es“) die psychischen Primärvorgänge des Individuums, welche nach einer sofortigen Bedürfnisbefriedigung streben. Demgegenüber steht das Realitätsprinzip („ich“), das imstande ist, die Lust zu kontrollieren. Freud sieht das Lustprinzip (Streben nach Lust, Vermeidung von Unlust) mit dem Realitätsprinzip konfrontiert, da das Realitätsprinzip die Einschränkungen der Lusterfüllung organisiert. Derrida zeigt nun, dass die zwei scheinbar entgegengesetzten Prinzipien nach der Ökonomie der différance verfahren: Das Realitätsprinzip, das die Befriedigung von Bedürfnissen aufschiebt (Verzeitlichung), ist der Umweg (Verräumlichung) zur Lust. Durch Aufschub vermehrt und strukturiert das Realitätsprinzip das Lustprinzip; es erweist sich als „langer Umweg zur Lust“ (Kimmerle 2000: 82). Hier greift die différance, welche Realitäts- und Lustprinzip als Element des Gleichen bestimmt. Die scheinbar entgegengesetzten Prinzipien liegen ineinander und unterscheiden sich lediglich durch Aufschub und Umweg: „Gegensätze werden zu differentiellen Verweisungen, die nicht mehr in einem hierarchischen Verhältnis stehen, sondern als ein Gewebe von Differenzen“ (Wartenpfuhl 2000: 139). Sie sind Elemente eines Bündels dezentrierter Spuren, die aufeinander verweisen und sich aufeinander beziehen. Der Begriff der Spur ist zentrales Element der dekonstruktivistischen Lesart. Wenn nach Wartenpfuhl différance die „differentielle Verweisung von einer Spur auf die andere“ bedeutet und sich „in keinem Moment (...) etwas außerhalb des Bereiches der differentiellen Verweisungen“ (ebd.: 138) fixieren lässt, wird das 35 metaphysische Unternehmen dekonstruiert. Derrida setzt dem identitätslogischen Ursprungsdenken den Begriff der Spur daneben. Sie ist weder ein „Grund, noch eine Begründung, noch ein Ursprung“ (Derrida 1986: 106). Als Folge dessen ist für Derrida das nicht-Identische, das in der okzidentalen Philosophietradition als das Andere gesetzt wird (vgl. 2.2), das Gleiche. Denn scheinbare Gegensätze befinden sich in einem Kräftestreit, der durch Aufschub und Umweg gekennzeichnet ist. Durch das Konstrukt der différance werden binäre Oppositionen als relationaler Teil des Gleichen bestimmt. In diesem Sinne lässt sich jedes philosophische Gegensatzpaar, so z.B. Kultur/Natur, intelligible/sinnlich, männlich/weiblich, dekonstruieren. Der eine Begriff der Gegensatzstruktur erscheint als die différance des anderen. Hall beschreibt den Kunstgriff der différance so: „Derrida jedoch betritt in dem Maße neuen Boden, indem er ‚verschieden sein‘ unmerklich in ‚aufschieben‘ übergehen lässt“ (Hall 1994: 75). Diese Beschreibung der différance betont den subversiven Charakter der dekonstruktivistischen Perspektive. Unmerklich wie das akustisch nicht wahrnehmbare „a“ der différance stellt die Dekonstruktion die Machtfrage. Wissenschaften sowie Gesellschaften, die in der Tradition der okzidentalen Philosophie stehen, privilegieren und marginalisieren über binäre Oppositionen spezifische Subjektpositionen: „Mit wissenschaftlichen wie auch vor allem mit gesellschaftlich gängigen Bezeichnungspraktiken, wie die – ‚Frauen‘, ‚MigrantInnen‘, ‚Homosexuelle‘, ‚dritte Welt‘ – sind ganz anders sollen die binären Oppositionen und Trennungen zwischen Frauen und Männern, MigrantInnen und Mehrheitsdeutschen, Homosexuellen und Heterosexuellen, Peripherie und Zentrum aufrechterhalten und so deutlich wie möglich markiert werden“ (Wartenpfuhl 2000: 156). Die hegemoniale gesellschaftliche Norm wird demnach durch dichotome Benennungspraktiken produziert und reproduziert. Wenn nun durch die Dekonstruktion hierarchisch strukturierte, binär verfasste Oppositionen als Elemente des Gleichen bestimmt werden, dokumentiert dies den antihegemonialen Impetus der dekonstruktivistischen Lesart. Das Stellen der Machtfrage manifestiert sich in der „Dekonstruktion binärer Oppositionen als Verschiebungen und Verrückungen von Grenzen“ (Wartenpfuhl 2000: 156). Die anfänglich aufgestellte Vermutung, dass es sich bei der Dekonstruktion entgegen der Annahme weiter Teile der sozialwissenschaftlichen Frauenforschung - um eine politisch-kritische Verfahrensweise handelt, kann 36 somit bestätigt werden. Konkretisiert wird das emanzipatorische Potential der Dekonstruktion durch die Verquickung der Derridaschen différance mit der Metapher des Rhizoms - ein Wurzelstock mit sehr langen und nach allen Richtungen hin verzweigten Wurzeln - von Deleuze und Guattari. Das Rhizom illustriert die différance und zeichnet sich nach Wartenpfuhl durch „einen besonders antiautoritären Gestus“ (Wartenpfuhl 2000: 157) aus. Die Verbindung von différance und rhizomatischen Konfigurationen beschreibt Wartenpfuhl als transversales Denken, das im folgenden dargestellt wird. 3.1.2. Azentrierung durch rhizomatisches Denken Gilles Deleuze entwickelte seine Theorie im gleichen Zeitraum wie Derrida. Sein Hauptwerk erschien 1968 unter dem Titel „Differenz und Wiederholung“. Obwohl beide Theoretiker nicht explizit Bezug aufeinander nehmen, weisen ihre Ausführungen über das Denken von Differenz überraschende Parallelen auf. Diese Parallelen zu dem Denken Derridas werden vor allem in der Schrift „Rhizom“ von 1976 deutlich, in der Gilles Deleuze gemeinsam mit Félix Guattari die Metapher des Rhizoms als Ausdruck azentrierten Denkens formuliert. Nach Wartenpfuhl ist „die Metapher des Rhizoms eine treffende Bestimmung für das, was die différance zu benennen versucht“ (Wartenpfuhl 2000: 158). Die différance denkt Gegensätze als Gewebe von Differenzen; das Rhizom ist vor diesem Hintergrund als eine Metapher zu begreifen, da es ein natürliches Gewebe aus sehr langen, verzweigten Wurzeln ist, die über- und untereinander sowie in alle Richtungen verlaufen. Das Rhizom visualisiert somit die différance. Das von Deleuze und Guattari entworfene rhizomatische Denken wendet sich – ebenso wie der Kunstgriff der différance – gegen ein identifizierendes Denken in binären Oppositionen, das Ausschluss, Subsumtion und Hegemonie sichert. Um das rhizomatische Denken, das Denken in Verkettungen, Verflechtungen und Verbindungen zu erklären und von anderen Denkformen abzugrenzen, greifen sie auf zwei weitere idealtypische Denkarten zurück, die sie wiederum durch Wurzeltypen veranschaulichen. Deleuze und Guattari sprechen in diesem 37 Zusammenhang auch von drei verschiedenen Buchtypen, die sie in einen historischen Kontext stellen: Der erste Buchtyp gleicht dem Modell eines Wurzelbaums. Der Wurzelbaum steht für das metaphysische Denken. Nach Deleuze und Guattari hat das Wurzelbuch „die Mannigfaltigkeit nie begriffen“ (Wartenpfuhl 2000: 159), da es einer „ursprünglichen Einheit, jener Hauptwurzel, die die Nebenwurzel trägt“ (Deleuze/Guattari 1976: 14), verhaftet ist. Es folgt einer dichotomen Logik, die auf einem Ursprung bzw. einer vorangehenden Einheit fußt. Dieses essentialistische Denken entspricht einer bestimmbaren, identifizierbaren und definitiv festgeschriebenen Kategorie Geschlecht. Geschlecht ist demnach nur in einer „entweder/oder Struktur“ zu begreifen – entweder Frau oder Mann – und existiert als Essenz und Wahrheit innerhalb sozialer Wirklichkeit. Das Denkmuster der okzidentalen Philosophietradition spiegelt sich in der Metapher einer ursprünglichen Hauptwurzel, an die mehrere Nebenwurzeln angeschlossen sind. Die Nebenwurzel „Frau“, die von der Hauptwurzel „Mann“ abgeleitet ist (vgl. Beauvoir 1949, 2.2.) kann aufgrund natürlicher Gegebenheiten abstrahiert und universalisiert werden. Innerhalb dieser Logik ist es zulässig, von „der Frau an sich“ zu sprechen, da das Kollektivsubjekt „Frau“ sich innerhalb eines naturgegebenen Systems von Zweigeschlechtlichkeit von dem „Mann an sich“ unterscheidet. Deleuze und Guattari bestimmen den ersten Buchtyp als das „älteste klassische Denken, das ‚völlig abgenutzt‘ ist“ (Wartenpfuhl 2000: 159 und Deleuze/Guattari 1976: 8). Der zweite Buchtyp veranschaulicht das moderne Denken. Das Wurzelbüschel als Sinnbild für modernes Denken symbolisiert das System der kleinen Wurzeln, welches im Gegensatz zu dem klassischen Denken die Heterogenität und Vielheit zu begreifen versucht. Für Deleuze und Guattari stellt jedoch allein der Versuch, die Mannigfaltigkeit zu verstehen, den Wunsch nach Einheit und Totalität dar. Das moderne Denken bleibt somit der Logik des Ursprungs verhaftet: „Die Hauptwurzel ist verkümmert, ihr Ende abgestorben; und schon beginnt eine Vielheit von Nebenwurzeln wild zu wuchern. Hier erscheint die natürliche Realität als Verkümmerung der Hauptwurzel; gleichwohl besteht ihre Einheit als vergangene, zukünftige oder als mögliche fort“ (Deleuze/Guattari 1976: 9). 38 Wartenpfuhl nennt als Beispiel hierfür das Verfahren der Identitäten-Addition (vgl. 2.1.) in Teilen der sozialwissenschaftlichen Frauenforschung, das nach Butler das Streben nach einem identifizierbaren, situierten Subjekt verdeutlicht. Der Kategorie „Frau“ werden verschiedene Subjektpositionierungen hinzugefügt (z.B. sexuelle Orientierung, Ethnizität und Klasse), um sie zu vervollständigen und abzuschließen. Dieses kategorische Denken widerspricht dem Denken in Verflechtungen und Verkettungen, da z.B. das binäre Geschlechtermodell unangetastet bleibt: „Mannigfaltigkeit ist also in diesem Zusammenhang nur durch die Beibehaltung von Einheit möglich, die Vielheit wird der Einheit hinzuaddiert oder hinzugefügt“ (Wartenpfuhl 2000: 160). Mannigfaltigkeit kann hiernach nicht durch Ergänzung einer Dimension durch weitere Dimensionen erreicht werden. Deleuze und Guattari schlagen das Gegenteil vor: Anstatt des Hinzufügens von Dimensionen „muß man (...) in allen Dimensionen, über die man verfügt, das Einzelne abziehen, also jedesmal n –1 Dimensionen“ (ebd.: 161). Kategorien und Klassifikationen werden durch n –1 dekonstruiert; sie werden nicht in ihrer einheitlichen, dichotomen Struktur bestätigt, sondern als differentielle Linien und Spuren bestimmt (vgl. 3.1.1.). n –1 entspricht in diesem Zusammenhang der différance und verweist auf das rhizomatische Denken in Verflechtungen, Verkettungen und Verbindungen. Der dritte Buchtyp definiert das rhizomatische Denken als die aktuelle Form des Denkens. Während das metaphysische sowie das moderne Denken den Prinzipien der Einheit und Ursprünglichkeit folgen, zeichnet sich das rhizomatische Denken durch Konnexion und Heterogenität aus: „Im Unterschied zum Baum (metaphysisches Denken) oder der Wurzel (modernes Denken), die einen Punkt und eine Ordnung festsetzen, wird im Rhizom jeder Punkt mit jedem anderen Punkt verbunden“ (Wartenpfuhl 2000: 161). Das bedeutet, dass die Mannigfaltigkeit durch die Zunahme von Dimensionen keine bloße Erweiterung erfährt, sondern seine Beschaffenheit verändert. Wenn nun die Kategorie Geschlecht mit anderen Subjektpositionierungen wie Ethnizität oder Klasse verflochten wird, nimmt die Dimension der Kategorie nicht einfach im Sinne einer Identitäten-Addition zu. Vielmehr verändert sich die gesamte Beschaffenheit und der Gehalt der Kategorie Geschlecht. 39 Butler zeigt anhand ihrer Filminterpretation von „Paris is burning“ (1995), wie sich „Differenzen in, durch und mit anderen Kategorien sozialer Schließung artikulieren“ (Wartenpfuhl 2000: 147). Die Logik des Identifizierens verschiedener Subjektpositionierungen wie Geschlecht, sexuelle Orientierung, Ethnizität oder Klasse sowie deren Aneinanderreihung durch ein „verlegenes usw.“ (Butler 1991: 210) bringt die Konnexion von Differenzen nicht zum Ausdruck und bleibt der Identitätslogik verhaftet. Butler illustriert dies anhand ihrer Analyse von „Paris is burning“. Sie dezentriert die binär verfasste Kategorie Geschlecht, indem sie aufzeigt, wie diese durch andere binär verfasste Differenzen getragen und hervorgebracht wird. Die Hauptdarstellerin des Films, Venus Xtravaganza, ist eine Latina, voroperative Transsexuelle und Prostituierte. Ihr Wunsch, eine Frau zu werden, äussert sich in dem Traum von einem Haus am Stadtrand, einer Waschmaschine und einem Ehemann, der für ein „bestimmtes Klassen- und Rassenprivileg steht“ (Butler 1995: 175). Die Subjektpositionierung Frau beinhaltet für Venus Xtravaganza somit nicht nur eine Bezugnahme auf die Kategorie Geschlecht – vielmehr verbindet sie mit dem Begriff „Frau“ eine bestimmte Vorstellung von Ethnizität und Klassenzugehörigkeit: „Frau“ zu sein bedeutet für sie, von Rassismus und Armut befreit zu werden. Die Identifikation mit der Positionierung „Frau“ erfolgt, um an Privilegien teilzuhaben. Geschlecht ist demnach durch Ethnizität und Klassenzugehörigkeit markiert: „Die Identifizierung mit einem sozialen Geschlecht kann erfolgen, um die Identifizierung mit einer Rasse zu verwerfen oder an ihr teilzuhaben; was als ‚Ethnizität‘ gilt, gestaltet und erotisiert Sexualität oder kann selbst eine sexuelle Markierung sein“ (Butler 1995: 160). Butler verweist hiermit auf die Verknüpfungen und Verflechtungen verschiedener Identifizierungen und Subjektpositionierungen. Geschlecht kann nicht als Universalie oder Essenz bestimmt werden, da sich die Bedeutung von Geschlecht kontextuell erschließt. Hier greift die Metapher des Rhizoms: Geschlecht kann nur in Konnexion mit anderen Elementen begriffen werden. Rhizomatische Konfigurationen verhindern so das Absolutsetzen von Differenzen. Differenzen sind nicht länger identisch, sondern relational aufgrund ihrer unterschiedlichen Konnexionen mit anderen Differenzen. Geschlecht kann nicht innerhalb der dichotomen Struktur "Mann/Frau" verortet werden, da seine Bedeutung kontextuell variiert und sich nicht mehr eindeutig 40 festschreiben lässt: „Geschlecht ist dann nicht mehr innerhalb einer binären Logik zu denken, wie beispielsweise in Natur/Kultur- oder Mann/FrauOppositionen, sondern als Spur oder Linie, die sich mit anderen Linien kreuzen und diese Linien zusammen sind rhizomatisch verbreitet“ (Wartenpfuhl 2000: 163). Demnach erfolgt eine Azentrierung der Kategorie Geschlecht, die nach Wartenpfuhl mit dem Vorgang der Dekonstruktion zu vergleichen ist. Jedoch verdeutlicht vor allem das azentrische System des Rhizoms den Bruch mit jeder Vorstellung von Ordnung und Struktur: „Im Unterschied zu einer Struktur sind die Punkte in einem azentrischen System keine lokalisierbaren und damit festgelegten Einheiten oder Entitäten, sondern die Punkte sind miteinander verbunden, und nicht jede Verbindung oder Linie eines Punktes verweist notwendigerweise auf andere, gleichartige Linien. Es sind die unterschiedlichsten Linien, die aufeinanderzu- oder voneinanderweglaufen, die sich kreuzen und mischen. Ein Rhizom besteht aus Dimensionen, aus beweglichen Richtungen, es hat weder Anfang noch Ende (...)“ (ebd.: 169). Hier zeigt sich der anfangs erwähnte „anti-autoritäre Gestus“ des rhizomatischen Denkens. Während zentrierte (metaphysische) und polyzentrische (moderne) Denksysteme Hierarchie und Autorität organisieren, erkennt das azentrierte (rhizomatische) Denken – ähnlich wie die différance hierarchisch angeordnete Gegensatzstrukturen als ein Gewebe von Differenzen, Spuren und Linien. Wartenpfuhl entwickelt den Begriff des Transversalen aus der azentrischen Vorgehensweise der différance sowie der des rhizomatischen Denkens. Transversale Verbindungen und Linien desorganisieren Kategorien, da sie „schräg-, diagonal und querverlaufend (...) über und durch die Dinge hindurch“ (Wartenpfuhl 2000: 170) binäre Oppositionen als relationalen Teil des Gleichen erfassen. Das Denken in Kategorien, das Herrschaft sichert und produziert, wird durch das Transversale subvertiert. Transversale Konzeptionalisierungen von Geschlecht tragen somit durch ihren anti-hegemonialen Impetus und Anspruch zu einer feministischen Theorieproduktion und -Praxis bei, die postkolonialer Kritik gerecht wird. Ausschluss und Subsumtion, die im Kontext binärer Denkschemata entstehen, werden durch die transversale Perspektive vermieden. Der transversale Gestus soll nun am Beispiel der binär konstituierten Opposition „hiesiger Feminismus/die Anderen“ illustriert werden. 41 3.2. „Der hiesige Feminismus/die Anderen“ Im 2. Kapitel dieser Arbeit wurde das Muster, auf dem die Unterscheidung „der hiesige Feminismus/die Anderen“ rekurriert, bereits vorgestellt. Der „hiesige Feminismus“ als das „herrschende Selbst“ (Gutiérrez Rodríguez 1996: 161) besitzt die Definitionsmacht über „die Anderen“: Migrantinnen werden als gleich, der hiesigen Frauenbewegung zugehörig, oder als different gesetzt. Dieses binäre Denkschemata verfährt nach identitätslogischen Prinzipien. Identitätslogik bedeutet in diesem Zusammenhang Widerspruchsfreiheit, da Abweichendes, das sich dem Identischen – hier der weißen deutschen Frauenbewegung – nicht fügt, als das Andere ausgegrenzt wird. Das Identische und das Nicht-Identische werden als Gegensätze konstituiert, als einander ausschließende Elemente. Diese binäre Opposition ist Ausgangspunkt für die dekonstruktivistische, transversale Lesart. Die erste Geste der Dekonstruktion, die Phase des Umbruchs, stürzt die Hierarchie des Gegensatzes „hiesiger Feminismus/die Anderen“. Die Migrantin als die Andere fungiert innerhalb der binären Opposition als der untergeordnete Begriff. Zugleich ist das Andere jedoch das versichernde Element des Einen: Die Migrantin ist konstitutiv für die Identität und den Entwurf des „hiesigen Feminismus“ (vgl. 3.1.1.). Der erste, privilegierte Begriff „hiesiger Feminismus“ ist von dem zweiten, ihm untergeordneten Begriff „die Anderen“ abhängig, da Ersterer seine Definition und Identität nur durch Bezugnahme auf den zweiten Begriff gewinnt. So wird der „hiesige Feminismus“ durch die Konstitution „der Anderen“ erst ermöglicht. Die Interdependenz beider Begriffe wird durch die erste Phase der Dekonstruktion verdeutlicht. Durch sie erfolgt eine Enthierarchisierung der binären Opposition, da Gegensatzstrukturen in einem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis stehen und der Eine Begriff ohne den Anderen nicht denkbar wäre. Die dekonstruktivistische Lesart beinhaltet jedoch eine weitere Geste, die „der Verschiebung des allgemeinen Systems, die weder das Zentrierte auflöst, noch das Marginalisierte vereinnahmt oder Widersprüche aufhebt (...)“ (Wartenpfuhl 2000: 145). Die Geste des Unentscheidbaren verhindert eine erneute Ansiedlung von Gegensätzen innerhalb der binären Logik. Die durch die erste Geste vorgenommene Umwertung ließe für sich 42 genommen das zu dekonstruierende Feld intakt, da nun der ehemals zweite Begriff als der Privilegierte erscheinen würde; „die Anderen“ als ursprünglicher Begriff würde die metaphysische Einheit wieder herstellen. Es ist die différance, die zweite Geste der dekonstruktivistischen Lesart, welche Gegensätze als differentielle Verweisungen aufeinander bestimmt. Différance im Sinne von Verzeitlichung (aufschieben) sowie im Sinne von Verräumlichung (verschieden sein) entlarvt scheinbar fixierte binäre Oppositionen als Elemente des Gleichen (vgl. 3.1.1.). Die vermeintlich entgegengesetzten Prinzipien „hiesiger Feminismus/die Anderen“ liegen ineinander und unterscheiden sich lediglich durch Aufschub und Umweg: Wird über das Eine, die „hiesige Frauenbewegung“, gesprochen, ist das Andere immer schon mitgedacht. Die Anderen sind dem „hiesigen Feminismus“ eingeschrieben; ohne das universelle Bild der Migrantin, die „verschleierte Frau, die keusche Frau“ (Wartenpfuhl 2000: 151), ist die Selbstdefinition westlicher Feministinnen als säkulär, befreit und selbstbestimmt nicht möglich. Der „hiesige Feminismus“ ist markiert durch „die Anderen“, trägt deren Spuren in sich und ist somit Teil des Selben. Ein Kräftestreit beider Elemente, der sich durch An- und Abwesenheit auszeichnet, bestimmt das scheinbare Gegensatzpaar als differential. Elemente fluktuieren innerhalb eines rhizomatischen Gewebes aus Differenzen und gewinnen ihre jeweilige Bedeutung aus dem Kontext, in dem sie sich bewegen. Die transversale Perspektive auf die identitätslogische Konzeption „hiesiger Feminismus/die Anderen“ beinhaltet somit zwei Annahmen: Identitäten sind „immer differential, aufgrund ihrer Angewiesenheit und Abhängigkeit von dem ausgegrenzten Anderen“ (Wartenpfuhl 2000: 147). Zudem sind Identitäten relational, sie „stehen immer in einem Verhältnis zu etwas anderem und können daher niemals mit sich identisch, einheitlich oder essentiell sein“ (ebd.: 147). Die Kennzeichnung der Unterscheidung „hiesiger Feminismus/die Anderen“ durch Differentialität und Relationalität entspricht dem Transversalen. Binäre Oppositionen werden durch den transversalen Blick außer Kraft gesetzt. Gleichzeitig fragt die transversale Perspektive nach der Funktion von Produktion und Reproduktion binärer Oppositionen: In welchem historischen und sozialen Kontext, in welchem Interesse werden sie konstituiert? 43 Anhand dieser Fragestellung wird das Potential des transversalen Blicks für die postkoloniale Kritik deutlich. Die von postkolonialen Theoretikerinnen problematisierte Unterscheidung „hiesiger Feminismus/die Anderen“ wird als interessengeleiteter, hegemonialer Gestus innerhalb eines spezifischen Kontextes bestimmt, der durch identitätslogische Konzeptionen geschaffen wird. Die transversale Sichtweise der Differentialität und Relationalität kooperiert mit der postkolonialen Kritik auf zweifache Weise: 1. Das Prinzip der Differentialität zeigt, dass die Trennung „hiesiger Feminismus/die Anderen“ ein politisches Konstrukt ist. Durch die Aufrechterhaltung des Gegensatzes wird der privilegierte Status der bundesdeutschen Frauenbewegung und –forschung aufrechterhalten und legitimiert. Durch die Konstitution der „Anderen Frau“ im Kontext des Modernitäts-Differenz-Paradigmas (vgl. 2. Kapitel) erlangt der „hiesige Feminismus“ seine moderne, aufgeklärte Identität. Die Unzulänglichkeit der „Anderen Frau“ projiziert das eigene emanzipatorische Potential und wirkt identitätsstiftend. Differentielles Denken – das Eine ist konstitutiv für das Andere und umgekehrt – entlarvt die scheinbare Dichotomie als konstruierte, hegemonial verfasste und damit als politisch relevante, induzierte Handlung. 2. Die Relationalität der transversalen Perspektive räumt mit jeglicher Vorstellung von essentiellen, universalen und kollektivistischen Identitäten auf. Die Entwürfe „weiße, emanzipierte Frau“ sowie „schwarze, unterdrückte Frau“, auf die die Unterscheidung „hiesiger Feminismus/die Anderen“ zurückzuführen ist, bestimmen Differenzen als Essenzen. Eine IdentitätenAddition, die diesem Schemata immanent ist, nimmt die Verflechtungen und Verkettungen verschiedenster Differenzen und Subjektpostionierungen von Frauen nicht wahr. Vielfalt, Konnexion und Heterogenität werden subsumiert und vereinheitlicht. Das Prinzip der Relationalität begreift die rhizomatischen Konfigurationen von Differenzen, deren Bedeutung sich nur kontextuell erschließt. Das Beispiel der Venus Xtravaganza zeigt, dass die Bedeutung der Kategorie Geschlecht sozial situiert ist und damit dem Kontext entsprechend variiert. Das differentielle und relationale Denken von Geschlecht kongruiert demnach mit einer postkolonialen Konzeption feministischer Politik und Wissenschaft. Der transversale, azentrierte Blick auf die Kategorie Geschlecht kann die (Re)44 Produktion hegemonialer Denkmuster und Praktiken vermeiden und so identitätslogischen Ausschlussmechanismen entgegenwirken. 3.3 Schlussfolgerung Zu Beginn dieses Kapitels wurde bereits auf den politischen Impetus der dekonstruktivistischen Lesart von binär konstituierten Oppositionen verwiesen (3.1.). In der Theorie der Dekonstruktion wird die binäre, der Identitätslogik verhaftete Opposition aufgespürt und mit dem Kunstgriff der différance subvertiert (3.1.1.). Dies bedeutet, dass die Dekonstruktion die Machtfrage stellt, da Hegemonie und Unterdrückung sich innerhalb der metaphysischen Gegensatzstruktur im Kontext der okzidentalen Philosophietradition konstituiert. Zwei Merkmale verdeutlichen dies: Der Eine Begriff des Gegensatzpaares definiert und beherrscht den Anderen (hegemoniale Binarität); die Konstruktion unmissverständliche von Gegensätzen erfordert von Bedeutungen innerhalb Zuordnung eine der Gegensatzstruktur (Identitätslogik). Die Prinzipien der hegemonialen Binarität sowie der Identitätslogik wurden in Kapitel 3.2. am Beispiel „hiesiger Feminismus/die Anderen“ gezeigt. Der Ausschluss „der Anderen“ wird durch die Defintitionsmacht der „hiesigen Frauenbewegung“ vorgenommen. Die (Re)Produktion identitätslogischer Oppositionen kann an vielen anderen Beispielen veranschaulicht werden: Was „Frau“ ist, kann nicht „Mann“ sein; was „Kultur“ ist, kann nicht „Natur“ sein; was das „Andere“ ist, kann nicht das „Identische“ sein etc. Die transversale Perspektive, die durch die Verbindung von Dekonstruktion und dem rhizomatischen Denken nach Deleuze und Guattari von Wartenpfuhl entwickelt wurde (3.1.2.), bietet dementsprechend zwei Zugangsmöglichkeiten, um der hegemonialen Binarität sowie der Identitätslogik zu entkommen: Das Prinzip der Differentialität erkennt die scheinbar dichotome Struktur von Gegensätzen als ein politisch wirksames und gewolltes Konstrukt, da das Eine durch das Andere geschaffen wird. Relationalität entspricht dem kontextuellen Denken in Verflechtungen und Verkettungen, das eine essentielle Bestimmung von Differenzen unmöglich werden lässt (3.2.). 45 Diese Erkenntnisse haben Auswirkungen auf die Frauenforschung und – bewegung, da die grundlegenden Kategorien „Frau“ und „Mann“ hinterfragt werden. Universelle und essentielle Aussagen über „Frauen“ – oder über „Männer“ als Gegensatz – sind nicht länger haltbar, da Subsumtion und Ausgrenzung Ergebnis der Negation von Heterogenität sind. Das feministische „Wir“ muss sich demnach folgenden Fragen stellen: Welche Frauen treffen welche Aussagen aufgrund welcher Erfahrungshintergründe? In welchem Kontext entstanden und entstehen feministische Theorien und Politikformen? Für welche Frauen bzw. Subjektpositionierungen sind diese repräsentativ? Die Kontextualisierung jeglicher Aussage und der darin enthaltende radikale Perspektivismus – „wer redet von wo aus und für wen?“ (Gutiérrez Rodríguez 1996: 170) – widersprechen der Formulierung allgemeingültiger Aussagen über die Situation „der Frauen“ oder Formen einer „gemeinsamen Unterdrückung“. Denn wie bereits im 2. Kapitel ausgeführt wurde, hat „eine soziale Kategorie Geschlecht, die sich nur auf das Moment des Geschlechterverhältnisses bezieht und den Ort und den Zeitpunkt nicht benennt, in dem sie sich bewegt und wo sie ausgehandelt wird, (...) nur einen Aussagewert für die Gruppe von Frauen, die sich über sie repräsentiert fühlen, doch sie kann keine universellen Aussagen über Frauen treffen“ (Gutiérrez Rodríguez 1996: 166f.). Die daraus resultierende Problematik liegt auf der Hand: Politische Forderungen im Namen „der Frauen“ implizieren einen Abstraktionsgrad und Allgemeinheitsanspruch, der einer differentiellen und relationalen Perspektive nicht gerecht werden kann (vgl. 3.1.). Als Ausweg schlägt Birgit Wartenpfuhl das transversale Denken vor. Das Transversale als differentiale und relationale Perspektive auf Kategorien sozialer Schließung ist für eine Konzeptionalisierung von Geschlecht jenseits metaphysischer Denkschemata geeignet. Die hegemoniale Binarität sowie die Identitätslogik der okzidentalen Philosophietradition kann demnach durch das transversale Denken von Differentialität und Relationalität vermieden werden. Feministische Theorie und Praxis im Kontext des Transversalen kann ihrem anti-hegemonialen, emanzipatorischen Anspruch gerecht werden. Das Reden und Handeln im Namen der „Frauen“, wie es von postkolonialen Theoretikerinnen problematisiert worden ist, weicht einem radikalen Perspektivismus, einer Kontextualisierung von Geschlecht im Sozialen, die variabel ist. 46 Der transversalen Perspektive ist nicht nur eine Problematisierung normativer politischer Handlungskonzepte inhärent – sie erschüttert ebenso die Grundfesten der soziologischen Disziplin. Transversale oder im weitesten Sinne poststrukturalistische Konzepte (vgl. 3.1.1.) haben fundamentale Auswirkungen auf Denktraditionen und Arbeitsweisen der Soziologie16: Das Transversale ist Ausdruck einer poststrukturalistischen Strategie; ähnlich wie bei der dekonstruktivistischen Lesart Derridas kann es sich bei der transversalen Sicht auf Forschungsgegenstände nicht um eine zu verallgemeinernde und universell anwendbare Methode handeln (vgl. 3.1.1.), da das Transversale kontextuell und radikal perspektivistisch arbeitet. Dieser Abstand zu formalen und ahistorischen Analysekonzepten kennzeichnet das Transversale als poststrukturalistische Position. Der poststrukturalistische Blick unterminiert etablierte soziologische Analysekategorien wie z.B. Geschlecht, Ethnizität oder Klasse, indem er aufzeigt, dass verschiedene Subjektpositionierungen nicht für sich alleine stehen, sondern immer auch durch andere Positionierungen markiert sind (vgl. Butler 1995). Das Transversale als poststrukturalistisches Konzept problematisiert demnach zum einen die traditionellen methodischen Vorgehensweisen der soziologischen Disziplin. Die Logik und Funktion der Methode wurde bereits in Kapitel 3.1.1. dargestellt: Universelle Aussagen über einen soziologischen Forschungsgegenstand beruhen auf Abstraktion desselben – vom „Kleinen“ kann auf das „Große“ geschlossen werden. Das transversale Konzept fordert demgegenüber eine perspektivistische Sichtweise auf Forschungsgegenstände, die der Heterogenität desselben Rechnung trägt. Dies kann durch die Anwendung traditioneller Methoden nicht gewährleistet werden. Zum anderen macht das Transversale skeptisch gegenüber der abstrakten und universalisierenden Anwendung von Kategorien innerhalb der Forschungsarbeit. Es ist das normative Element soziologischer Kategorien, das durch die transversale Perspektive außer Kraft gesetzt wird. Aus diesem Grund steht die Soziologie vor weitreichenden erkenntnistheoretischen Fragestellungen: Wie kann die Soziologie der Krise der Kategorien, die durch 16 an dieser Stelle sollen die Konsequenzen einer Rezension poststrukturalistischer Theorien innerhalb der Soziologie nur kurz skizziert werden, da eine ausführliche Bearbeitung der Problematik den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde und zudem eine andere Fragestellung berührt 47 transversales Denken heraufbeschworen wird, begegnen? Wie ist eine Gesellschaftsanalyse jenseits klar umrissener Kategorien wie Geschlecht oder Klasse zu denken? Wie können soziologische Forschungsmethoden einer differentiellen und relationalen Perspektive gerecht werden? Es ist offensichtlich, dass durch poststrukturalistische Ansätze die Axiome soziologischer Denktraditionen in Frage gestellt werden. Vor diesem Hintergrund weist Urs Stäheli dem poststrukturalistischem Denken innerhalb der Soziologie die Rolle eines „Parasiten“ (Stäheli 2000: 7) zu - allerdings die eines „weitsichtigen Parasitens“ (ebd.: 7), da „die poststrukturalistischen Interventionen ihrem Gastgeber (...) nicht die Lebensgrundlage“ (ebd.: 7) entziehen. Vielmehr handelt es sich bei der parasitären Anwesenheit des Poststrukturalismus um eine ständige Irritation der Soziologie: „Poststrukturalistische Konzepte werden für soziologische Theorien (...) deshalb relevant, weil durch diese Konzepte die basalen Kategorien der Soziologie (wie z.B. Handlung, Subjekt, Struktur, Gesellschaft, Sozialstruktur/Semantik) in Frage gestellt werden. (...) An die Stelle eines stabilen, geschlossenen Gegenstandes wie Gesellschaft tritt nun die Untersuchung des Scheiterns der Gegenstandskonstitution – ein Scheitern, das immer auch die Eröffnung neuer (Denk-)Möglichkeiten beinhaltet“ (ebd.: 6f.). Demzufolge wird der stabile, geschlossene Gegenstand „Geschlecht“ durch die Rezension poststrukturalistischer Theoreme irritiert. Er gewinnt eine neue Bedeutung, da Geschlecht sozial situiert, durchzogen von weiteren Subjektpositionierungen und demnach nur kontextuell zu begreifen ist. Normative soziologische Konzepte, die Geschlecht eine Essenz unterstellen, sind nicht länger haltbar. Diese Sicht auf die Kategorie Geschlecht sorgt vor allem in der sozialwissenschaftlichen Frauenforschung für Furore. Die Skepsis gegenüber der für die sozialwissenschaftliche Frauenforschung fundamentalen Kategorie Geschlecht wird oftmals als „Grundlagenkrise“ (Knapp 2001: 15) interpretiert. Geht mit dem Einfluss poststrukturalistischer Theorien ein Bedeutungsverlust der Kategorie Geschlecht einher? Oder handelt es sich vielmehr um eine „Erweiterung des Erkenntnispotenzials feministischer Theorie und einen Komplexitätsgewinn, die nur zu begrüßen sind“ (Knapp 2001: 42)? Die Debatte, die die sozialwissenschaftliche Frauenforschung zur Zeit führt 17, illustriert ein Spannungsverhältnis, das einem „extremen Spagat“ (ebd.: 11) gleichkommt: Die Unverzichtbarkeit sowie die gleichzeitige Unmöglichkeit 17 z.B. Knapp 1998 oder Knapp/Wetterer 2001 48 einer Bezugnahme auf ein feministisches „Wir“. Unmöglich, da postkoloniale feministische Kritik sowie transversale Positionierungen zeigen, dass ein feministisches „Wir“ Hegemonie sichert und Ausschlüsse produziert; unverzichtbar, da normativ-politische feministische Gesellschaftskritik scheinbar eine Bezugnahme auf „die Frauen“ erfordert (vgl. Knapp 2001: 11). Hier befindet sich der Anknüpfungspunkt für meine weitere Fragestellung: Ist feministische Politik jenseits eines großen feministischen „Wirs“ zu denken? Benötigt feministische Politik normative Grundlagen, von denen aus sie agieren kann? Bevor ich jedoch dieser Frage nachgehe (5. Kapitel), verorte ich das Transversale innerhalb einer philosophischen Strömung, die unter dem Begriff der „Postmoderne“ Einzug in den wissenschaftlichen Diskurs fand (4. Kapitel). Die Perspektive des Transversalen ist meiner Ansicht nach Ausdruck postmodernen Denkens innerhalb der feministischen Theorie, da sie metatheoretische Fragestellungen aufwirft. Transversales, dekonstruktivistisches oder rhizomatisches Denken will skeptisch machen gegenüber den „Glauben an Wahrheit, Wissen, Macht, Subjekt und Sprache, die oft als selbstverständlich vorausgesetzt werden und die Legitimation für die zeitgenössische westliche Kultur sind“ (Flax 1992: 74). Hiermit scheint die postmoderne Philosophie eine vielversprechende Allianz für feministische Theoriebildung zu sein, da sie metaphysische Selbstverständlichkeiten hinterfragt und problematisiert. Im folgenden soll das Potenzial postmoderner Denkströmungen für die feministische Theorie untersucht werden (4.1.). Anschließend entwickle ich den Begriff des Postfeminismus, der die Frage nach politischer Handlungsfähigkeit jenseits Verallgemeinerung und Abstraktion konkretisiert und Lösungsmöglichkeiten aufzeigt (4.2.). 49 4. Der Begriff „Postmoderne“ „Gegen die Verwandlung von Philosophien in Markenartikel stehen Philosophen vermutlich auf verlorenem Posten“ (Engelmann 1990: 6). Diese Bemerkung Engelmanns in seiner Einführung des Bandes „Postmoderne und Dekonstruktion“ von 1990 bezieht sich auf die inflationäre und ungenaue Verwendung des Begriffs „Postmoderne“. Nach Engelmann wurde der von Lyotard geprägte Terminus aus seinem philosophischen Kontext gerissen und avancierte zu einem „Schlagwort der Medien“ (ebd.: 5). Knapp zielt in ihrem Aufsatz „Postmoderne Theorie oder Theorie der Postmoderne? Anmerkungen aus feministischer Sicht“ (1998) in eine ähnliche Richtung; ihrer Meinung nach fungiert der Begriff „Postmoderne“ als „Subsumtionskategorie“ (Knapp 1998: 31), die unterschiedliche und sogar widersprüchliche Theorien und Strömungen unter ein Etikett zusammenfasst: „Im Zuge der explosionsartigen Ausdehnung des Geltungsbereiches des Begriffs werden poststrukturalistische, dekonstruktivistische und die unterschiedlichsten Varianten postmodern genannter Ansätze in der Regel ineins gesetzt“ (ebd.: 29). Definitionsversuche des Begriffs gestalten sich schwierig, da die als Begründer der postmodernen Philosophie stilisierten Theoretiker wie z.B. Lyotard, Derrida, Baudrillard oder Foucault die Bezeichnung „postmodern“ zum Teil für sich ablehnten. Zudem lassen sich die Ansätze der genannten Theoretiker kaum in Einklang bringen. So sind z.B. Kontroversen zwischen Foucault und Baudrillard, Derrida und Foucault sowie Lyotard und Derrida dokumentiert (ebd.: 31). Diese Auseinandersetzungen illustrieren einen wichtigen Aspekt postmoderner Philosophie: Die Wahrung einer kritischen Distanz gegenüber vereinheitlichenden Theorien führt zu Widersprüchen, Heterogenität und Vielfalt innerhalb der postmodernen Denkströmungen. Insofern sind abstrakte Definitionsversuche des Begriffs „Postmoderne“ mit dem Charakter postmoderner Philosophien nicht zu vereinbaren. Butler beschreibt dies folgendermaßen: “Wenn und in dem Maße, wie der Begriff Postmoderne als ein (...) vereinheitlichendes Zeichen funktioniert, ist er ein entschieden ‚modernes‘ Zeichen. Die Frage ist, ob man überhaupt für oder gegen diese Postmoderne debattieren kann. Setzt man nämlich diesen Terminus so ein, dass man ihn entweder nur bejahen oder verneinen kann, so zwingt man ihn, eine Position innerhalb eines binären Gegensatzes einzunehmen (...)“ (Butler 1993: 35). 50 Vor diesem Hintergrund ist z.B. die Weigerung Derridas zu verstehen, sich nicht unter dem Zeichen „Postmoderner Theoretiker“ subsumieren zu lassen. Eine klare Positionierung innerhalb des binären Gegensatzes „modern/postmodern“ würde seiner Theorie der Dekonstruktion nicht gerecht werden, da sie dem Kontext entsprechend variiert und nicht abstrakt zu fassen ist. Da eine klare Definition postmoderner Philosophien unmöglich zu sein scheint, stimmt Knapp zu, wenn es heißt: „Trying to define postmodernism is like hunting the dodo“ (Doherty/Graham/Malek 1992, in Knapp 1998: 30). Um den Begriff „Postmoderne“ für diese Arbeit zugänglich zu machen, beziehe ich mich auf den Theoretiker Jean-Francois Lyotard (1925-1998). Lyotard gilt als Gründungsvater der philosophischen Postmoderne. Seine 1979 verfasste Schrift „Das Postmoderne Wissen. Ein Bericht.“ wurde 1982 in deutscher Sprache publiziert und gilt seitdem als Schlüsseltext für die damals beginnende deutschsprachige Diskussion um die Postmoderne (vgl. Engelmann 1990: 9). Sein Ansatz scheint für die Fragestellung meiner Arbeit, die sich um die Problematik der politischen Handlungsfähigkeit jenseits normativer Elemente formiert, fruchtbar zu sein. 4.1. Die Postmoderne Lyotards Lyotard bezieht sich in seinen Schriften vor allem auf Adorno und Heidegger sowie auf Marx, Nietzsche und Freud. Seine Ausführungen sind zum größten Teil Relektüren („ré-écire“) der genannten Autoren. Lyotard arbeitet ihre Werke – ähnlich wie Derrida – durch, um ihnen neue Impulse und Ideen abzugewinnen. Der frühe Lyotard schrieb ab Mitte der 1950er Jahre für die Zeitschrift „Socialisme ou barbarie“, in der er seine damalige radikal marxistische philosophische Position vertrat. Die Ereignisse des Jahres 1968 und die darauffolgende Desillusionierung revolutionärer Erwartungen brachten eine Wende im Denken Lyotards mit sich: In der Publikation „Das Postmoderne Wissen“ von 1979 verabschiedet sich Lyotard vom Marxismus und radikalisiert diese Haltung, indem er alle Ideologien und „Großen Erzählungen“ („grands récits“) der Philosophie verwirft. Dabei konzentriert 51 sich seine Kritik auf die aus dem 19. Jahrhundert stammenden „Großen Erzählungen“: Zum systemtheoretische einen Perspektive, auf den dem Funktionalismus gesellschaftlichem bzw. die Modell des „funktionalem Ganzen“ (Lyotard 1979: 42); zum anderen auf den marxistischen Ansatz, „jenem der zweigeteilten Gesellschaft“ (Lyotard 1979: 42). Beide Formen, Gesellschaft zu denken und zu realisieren, beschreibt Lyotard als unbrauchbar (vgl. Engelmann 1990: 12). Die Gründe hierfür leiten sich aus seiner Kritik an der philosophischen Moderne her, die im folgenden kurz dargestellt werden soll. Zu Beginn der Neuzeit verändert sich „der Legitimationsmodus diskursiver, insbesondere wissenschaftlicher Aussagen“ (Engelmann 1990: 13). An die Stelle Gottes als letzter Wahrheitsinstanz tritt das Subjekt. Der Mensch konstituiert sich als erkennendes Subjekt, dem die Welt als Objekt gegenübersteht. Der „subjektzentrische Ordnungsgestus der Neuzeit“ (ebd.: 14) wird vor allem in der Philosophie René Descartes (1596-1650) deutlich, da dieser einen doppelten Abstraktionsprozess vornimmt. Descartes bestimmt das Subjekt als „Denken“, um „über die phänomenale Vielheit der Menschen hinwegzukommen und sicherzustellen, dass die Wahrheit für alle Menschen gleichermaßen verbindlich ist“ (ebd.: 14). Gleichzeitig führt die Abstraktion des Subjektes auf eine vergleichbare Eigenschaft zu der Abstraktion des Objektes, also des Gedachten: „Der auf das Subjekt als Denken reduzierte Mensch nimmt die Phänomene als gedachte auf. In dieser Abstraktion liegt die Gleichmachung der Dinge beschlossen, die zugleich auch Reduktion ihrer Vielheit an Eigenschaften ist“ (ebd.: 14). Das Paradigma neuzeitlicher Wissenschaft und modernen Denkens gründet demnach auf der Konstitution eines denkenden Subjektes und eines gedachten Objektes, die als abstrakte Elemente bestimmt werden. Lyotards Kritik an der philosophischen Moderne setzt genau hier an: Abstraktion von Subjekt und Objekt negiert Vielheit und Heterogenität, da ein Zentrum, eine Essenz bzw. ein Ursprung unterstellt wird18. Lyotard sieht in der Entwertung der Heterogenität durch Abstraktion den „Keim für eine Fehlentwicklung der Moderne“ (Engelmann 1990: 16). Wichtig ist in diesem 18 die Nähe zur dekonstruktivistischen Lesart Derridas ist in diesem Punkt offensichtlich; auch Derrida sieht in der Annahme eines Ursprungs die Gefahr der Negation von Heterogenität, die durch einen totalitären Gestus gekennzeichnet ist (vgl. 3.1. sowie 3.1.1.) 52 Zusammenhang, dass der Begriff der Moderne nicht mit den Werten der Moderne – Aufklärung, Humanismus, Emanzipation – gleichgesetzt werden darf. Denn Lyotard will, so paradox dies klingen mag, durch sein Denken die Werte der Moderne realisieren. Die großen Fortschritts-Ideologien der Moderne, der Funktionalismus und Marxismus, sind abstrakte Gesellschaftsmodelle, die augenscheinlich nicht in der Lage sind, die Ideen der Moderne zu verwirklichen. Engelmann erinnert in diesem Zusammenhang an die „extremen Einbrüche“ (Engelmann 1990: 10) des Modernisierungsprozesses, den Nationalsozialismus und Stalinismus. Er sieht die Moderne durch diese vormodernen Modelle bedroht und konterkariert. Demgegenüber meint Christina Thürmer-Rohr: „Die Zerstörungsgreuel und Entmenschlichungen dieses Jahrhunderts – Auschwitz, Hiroshima, Nationalsozialismus, Stalinismus als Schockerfahrungen – sind nicht als atavistische Rückfälle in ein vorzivilisatorisches Entwicklungsstadium zu verstehen, sondern als vollwertige Projekte der Moderne, die mit allen Mitteln modernster Wissenschaft, Bürokratie, Propaganda und einer entwickelten menschlichen Disziplin praktiziert worden sind“ (Thürmer-Rohr 1995: 93). Die Divergenz der beiden Annahmen ist offensichtlich: Während Engelmann den Nationalsozialismus und Stalinismus als vormodern, d.h. der Moderne nicht zugehörig bestimmt, weist Thürmer-Rohr ihnen einen explizit modernen Impetus zu. Sie begibt sich hiermit in die Nähe Lyotards, der die Annahme vertritt, „daß das Projekt der Moderne (die Verwirklichung der Universalität), nicht aufgegeben, vergessen, sondern zerstört, ‚liquidiert‘ worden ist. Es gibt mehrere Modi der Zerstörung, mehrere Namen, die sie symbolisieren. ‚Auschwitz‘ kann als ein paradigmatischer Name für die tragische ‚Unvollendetheit‘ der Moderne genommen werden“ (Lyotard 1987: 50). Nach Lyotard korrespondiert das Scheitern des bisherigen Projekts der Moderne mit dem Scheitern der großen Metaerzählungen der Moderne. Diese Erzählungen diskreditieren sich selbst, indem sie nicht in der Lage sind, die Werte der Moderne zu realisieren – im Gegenteil: Die Großen Erzählungen führen zu Terror und Vernichtung, da ihr „Verlangen nach einer einheitlichen und totalisierenden Wahrheit“ (Lyotard 1979: 47) auf einem Herrschaftsanspruch über die Gesellschaft gründet, der auf Negation von Heterogenität basiert. Es handelt sich bei den Großen Erzählungen um allumfassende Ideen, die Gesellschaft durch ein abstraktes Modell herzustellen versuchen. Lyotard sieht die Anerkennung von Heterogenität und Individualität hierdurch verletzt. Die Normativität der modernen Erzählungen und die damit 53 einhergehende Entwertung des Heterogenen führte zu der Liquidation der modernen Idee. Dieser kurze Einblick in das Moderne-Verständnis Lyotards gibt Aufschluss über sein Konzept der Postmoderne. Wie bereits weiter oben erwähnt, distanziert sich Lyotard nicht von den Werten der Moderne. Vielmehr ist sein Entwurf der Postmoderne als ein „strategischer Distanzierungsbegriff“ (Engelmann 1990: 8) zu verstehen, der inhaltlich die Grundideen der Moderne aufnimmt und nach Formen sucht, diese zu verwirklichen. Aus diesem Grund handelt es sich bei dem Begriff „Postmoderne“ nicht um ein epochenbildendes Davor und Danach. Postmoderne kann als eine Perspektive auf die Moderne beschrieben werden, als eine kritische Lesart derselben, um es mit den Worten Derridas auszudrücken. Lyotard verabschiedet sich durch diesen Begriff nicht von der Moderne, sondern konzeptualisiert ihn als Bedingung und Möglichkeit, neue, adäquate Gesellschaftstheorien und –philosophien zu entwickeln, die dem Kerngedanken der Moderne, der Freiheit des Individuums, gerecht werden. Frank Fechner charakterisiert das Postmoderne-Konzept Lyotards als „Radikalisierung der Moderne, als deren radikales Korrektiv“ (Fechner 1990: 29). Die Freiheit des Individuums ist nach Lyotard indes nicht durch die Realisierung abstrakter Gesellschaftsmodelle zu erreichen. Lyotard greift diesen Gedanken in seinem philosophisches Hauptwerk „Der Widerstreit“ (1983) auf; er entwickelt hier eine philosophische Strategie, die dem Dissens verpflichtet ist und jede konsensorientierte Theorie ablehnt, da diese „den Terror strukturell in sich trägt“ (Pries/Welsch 1995: 544). Widerstreitende Elemente sollen nicht durch eine alles umfassende Idee versöhnt oder subsumiert werden: „Krieg dem Ganzen (...), aktivieren wir die Differenzen“ (Lyotard 1982: 48). Seit Friedrich Nietzsche (1844-1900) wird das Problem der Verallgemeinerung und Entwertung der Heterogenität als Problem der Sprache diskutiert (vgl. Engelmann 1990: 17). In diesem Kontext lässt sich Lyotards Methode der Sprachspiele verorten. Den Begriff der Sprachspiele entlehnt Lyotard dem späten Ludwig Wittgenstein (1889-1951). Wittgenstein kennzeichnet mit dem Begriff der Sprachspiele die Regeln sprachlich eingeübter Lebensformen (vgl. Fechner 1990: 59), wobei die „Kreativitätsmöglichkeiten der Sprache (...) das zentrale Integrationsmedium von Gesellschaften“ (Fechner 1990: 59) bilden. 54 Aus diesem Grund ist die Ebene der Sprache oder der Sprachspiele als politisch relevant einzustufen, da die Praxis der ungehemmten Rede eine „permanente Gefahrenquelle für die Herrschaftsordnung von Gesellschaften“ darstellt (Fechner 1990: 59). In diesem Zusammenhang meint Herrschaft den Versuch, „den Strom der sprachlichen Äußerungen, den Artikulationsspielraum und das Themenspektrum der sozialen Sprachleistungen zu organisieren und unter Kontrolle zu halten" (Fechner 1990: 56/60). Während Wittgenstein zwischen verschiedenen Sprachspielen unterscheidet (wie z.B. Erzählen, Sprechen, Befehlen) und die Auffassung vertritt, dass sich Sprachspiele durch einen Vertrag zwischen den SpielerInnen konstituieren, meint Lyotard, dass „Sprechen Kämpfen im Sinne des Spielens ist und dass Sprechakte einer allgemeinen Agnostik angehören“ (Lyotard 1979: 40). Eine vertragliche Spielebene beruht auf Konsens; Lyotard hingegen sieht in den Sprachspielen das Streben nach Gewinnen – nicht nach Konsens oder Wahrheit. Diese Sichtweise entspricht seiner Theorie des Widerstreits, seiner dem Dissens verpflichteten Philosophie. Er begreift den Konsens nicht als Ziel, sondern als Zustand einer Diskussion, da „das eigentlich Fruchtbare, neue Erkenntnisse hervorbringende (...) der Dissens“ (Kimmerle 2000: 123) ist. Dissens ist mit der „einheitlichen und totalisierenden Praxis“ (Lyotard 1979: 47) der großen Erzählungen nicht zu vereinbaren. Eine Annäherung an den „sozialen Zusammenhang“ (Engelmann 1990: 11) kann nach Lyotard nur durch die Methode der Sprachspiele erfolgen, da diese Strategie Individualität und Heterogenität Rechnung trägt und Gesellschaft – im Gegensatz zu den Großen Erzählungen, die Gesellschaft als abstraktes Modell verstehen - als etwas Herzustellendes begreift. Lyotard räumt ein, dass Sprachspiele „gewissermaßen das Minimum an Beziehungen darstellen, das für das bestehen einer Gesellschaft erforderlich ist“ (Lyotard 1979: 56). Und weiter: „Wir behaupten nicht, dass der gesamte soziale Zusammenhang dieser Ordnung zugehört – das bleibt hier eine offene Frage“ (ebd.: 56). Nach Walter Reese-Schäfer gibt Lyotards „Das Postmoderne Wissen“ keine Antwort auf die Frage nach einer „Theorie der Gerechtigkeit“ (Reese-Schäfer 1995: 36), die die Werte der Moderne realisieren könnte. Nichtsdestotrotz bietet das „Postmoderne Wissen“ wichtige Anhaltspunkte für eine Konzeptionalisierung politischen Handelns, nämlich die Wahrung einer 55 kritischen Distanz gegenüber normativen Elementen. Normativität entwertet durch Abstraktion Heterogenität und Individualität – die Historie der Großen Erzählungen zeigt, wohin dies führen kann. Aus diesem Grund wendet sich Lyotard der kleinsten Ebene zu, die für das Bestehen der Gesellschaft vonnöten ist, die der Sprachspiele. Die „Großen Erzählungen“, die eine systematische und allumfassende Deutung von Gesellschaft und Welt vornehmen, gelten „konkret für eine Mehrheit, die ihnen im Namen der Gesellschaft im Ganzen Gültigkeit verleiht“ (Kimmerle 2000: 35). Da die „Großen Erzählungen“ nach Lyotard keinen Erklärungswert mehr besitzen (vgl. Lyotard 1979: 52), „bleiben nur Sinnfragmente übrig, auf die sich jeweils ein konkretes Wir einigen kann“ (Kimmerle 2000: 35). Hier zeigt sich die soziologische und politische Relevanz der Theorie der Sprachspiele und damit die von Reese-Schäfers vermisste „Theorie der Gerechtigkeit“: Der Abstand von abstrakten Gesamtdeutungen einer gesellschaftlichen Mehrheit wertet gesellschaftliche Minderheiten auf, die bislang marginalisiert worden sind. Es gilt, „Sprachblockierungen aufzuheben, d.h. der durch den herrschenden Diskurs in die Sprachlosigkeit gedrängten Partei zur Artikulation zu verhelfen“ (Fechner 1990: 63). Durch die Theorie der Sprachspiele, die die Relevanz der kleinsten Ebene des sozialen Zusammenhangs aufgreift, „verschwindet das Verhältnis einer Mehrheit zu Minderheiten, die für diese mitentscheidet, und es entsteht ein ‚Patchwork der Minderheiten‘“ (Kimmerle 2000: 35) 19. Das „Patchwork der Minderheiten“ impliziert die „Legitimität radikaler Pluralität der Sprachspiele, Lebensweisen, Handlungsformen“ (Fechner 1990: 29). Durch die Anerkennung und Wertschätzung der Pluralität und Heterogenität von Lebensformen, Kulturen und Sprachspielen kann den uniformierenden Tendenzen, die die gesellschaftliche Herrschaft der Mehrheit organisieren, entgegengewirkt werden. Der Entwurf „Patchwork der Minderheiten“ korrespondiert mit der postkolonialen Forderung nach einer perspektivistischen und kontextualisierten Sicht auf die Kategorie Geschlecht. Die im bundesdeutschen feministischen Diskurs konstruierte Minderheit „Frauen mit Migrationserfahrungen“ können nicht länger als „die Anderen“ subsumiert oder ausgeschlossen werden, da sie 19 hier bezieht sich Kimmerle auf Lyotard 1977 56 innerhalb der Theorie der Sprachspiele nicht als Minderheit kodifiziert werden können. Im Kontext des „Patchwork der Minderheiten“ existiert keine Mehrheit weißer, heterosexueller Frauen des Mittelstandes – das Subjekt feministischer Theorie und Praxis erschließt sich aus der jeweiligen Positionierung der SprachspielerInnen. Die politische Relevanz von Sprachspielen im Kontext feministischer Praxis werde ich im 5. Kapitel näher beleuchten. Zuvor will ich jedoch zusammenfassend aufzeigen, wie die Strategie der Postmoderne mit dem Transversalen kooperiert: Zum einen nehmen beide Ansätze Abstand von einer normativen Denkweise, die homogenisierend und verallgemeinernd wirkt. Der radikale Perspektivismus und der kontextuelle Gestus des Transversalen wirkt Subsumtion und Ausgrenzung entgegen, die Ergebnis der Negation von Heterogenität sind; das Konzept Lyotards setzt ebenfalls an dieser Stelle an: Das postmoderne Paradigma „Wahrung der Heterogenität“ ist nur zu verwirklichen, wenn Abstand von den Großen Erzählungen und deren innewohnender Normativität genommen wird. Durch die Theorie der Sprachspiele und dem daraus resultierenden Entwurf „Patchwork der Minderheiten“ erlangen gesellschaftliche Gruppierungen ihr politisches Recht, die bislang von der gesellschaftlichen Mehrheit marginalisiert und ausgegrenzt wurden. Zum anderen operieren beide Ansätze prinzipiell herrschaftskritisch. Hegemonie, die sich im Kontext von Binarität und Identitätslogik der okzidentalen Philosophietradition ereignet, begegnet das Transversale durch Differentialität und Relationalität (vgl. 3.3.). Die Postmoderne Lyotards sieht das hegemoniale Moment durch die Großen Erzählungen und Ideologien der Moderne verwirklicht. Durch eine kritische Distanz zu normativen Erzählungen gelangt Lyotard zu der Perspektive der Postmoderne, die einer Suchbewegung gleicht: Wie kann Gesellschaft jenseits abstrakter Modelle, die Heterogenität und Individualität widersprechen und demnach Hegemonie sichern, gedacht werden? Damit ist die philosophische Postmoderne Lyotards nicht nur eine vielversprechende Allianz (vgl. 3.3.) für den transversalen feministischen Blick – mehr noch: Das Transversale kann als Ausdruck postmodernen Denkens innerhalb der feministischen Theorie 57 bezeichnet werden, da sein dekonstruktivistischer, rhizomatischer Gestus die „Große Erzählung über die Frau“ in Frage stellt. Die Perspektivierung und Kontextualisierung der Kategorie Geschlecht durch das Transversale wurzelt in der Skepsis gegenüber einer ahistorischen, universellen und essentiellen Anwendung des Begriffes „Frau“. Postkoloniale Kritikerinnen problematisieren die Metakategorie Frau bzw. das feministische „Wir“ als weiß, heterosexuell und der Mittelschicht zugehörig. Die Entwertung von Heterogenität im Sinne Lyotards manifestiert sich in dieser abstrahierten, normativen Anwendung des Begriffes „Frau“. Somit entspricht das hegemonial verfasste Subjekt feministischer Theorie und Praxis einer „Großen Erzählung“ im Sinne Lyotards, die es zu vermeiden gilt. Heterogenität kann nur außerhalb einer „Großen Erzählung“ Rechnung getragen werden. Ein solches „Außerhalb“20 bietet die transversale Perspektive, da sie eine kritische Distanz gegenüber normativen Deutungsmustern der Kategorie Geschlecht einnimmt. An dieser Stelle will ich den Begriff des Postfeminismus einführen, der sich meiner Ansicht nach aus dem Transversalen in Verbindung mit dem Postmoderne-Konzept Lyotards ergibt: Das Transversale begreift durch eine azentrische, dekonstruktivistische Perspektive auf die Kategorie Geschlecht das Subjekt des Feminismus als hegemonial verfasst (vgl. 3.1.2.). Durch den kontextuellen und perspektivistischen Gestus des transversalen Denkens öffnet sich die Kategorie Geschlecht für vielfältige Bedeutungen. Somit kann das Subjekt des Feminismus, die „Frau“, nicht länger essentiell und universal bestimmt werden. Dieser Gedanke wird durch den postmodernen Blick konkretisiert. Die „Große Erzählung über die Frau“ der feministischen Theorie und Praxis basiert auf der Konstitution des kollektiven Subjektes „Frau“. In 4.2.2. werde ich zeigen, dass dieses Subjekt vornehmlich über das gesellschaftliche Unterdrückungsmoment Sexismus definiert wird und damit Frauen, die weiteren Herrschaftsmechanismen ausgesetzt sind (Rassismus, Heterosexismus) keinen Raum bietet. Die Frage der Repräsentation, die bereits durch das Transversale formuliert wird (auf welche Frauen bezieht sich die „Große Erzählung über die Frau“?), wird durch die Frage nach den politischen Konsequenzen eines die Postulierung eines „Außerhalbs“ ist vor dem Hintergrund des erweiterten Textbegriffs von Derrida problematisch; nichtsdestotrotz verwende ich hier die Kennzeichnung „außerhalb“, um den Bruch des Transversalen mit der „Großen Erzählung“ zu unterstreichen 20 58 kollektiven Subjektes ergänzt. Die postmoderne Perspektive verdeutlicht, dass normative politische Handlungskonzeptionen Ergebnis der Konstitution eines kollektiven Subjektes sind. Als Gegenentwurf bietet Lyotard das Konzept „Patchwork der Minderheiten“ an. Bevor ich nun den Begriff „Postfeminismus“ als transversal (4.2.1.) und postmodern (4.2.2.) definiere, skizziere ich kurz dessen Bedeutung innerhalb des feministischen Diskurses (4.2.). 4.2. Postfeminismus Der Begriff des Postfeminismus umfasst im Kontext des universitären Diskurses theoretische Ansätze, die vor allem von Judith Butler, Jane Flax, Donna Haraway, Sandra Harding und Joan Wallach Scott vertreten werden (vgl. Knapp 2001: 15). Ähnlich wie der Begriff der Postmoderne wird der Begriff des Postfeminismus durch die Massenmedien bis zur Unkenntlichkeit verzerrt, indem er als „anti“- und „nach“-feministisch definiert wird (ebd.: 47). Nach Knapp handelt es sich jedoch „um ein Amalgam aus verschiedenen ‚anti-fundamentalistischen‘ Strömungen (...), insbesondere feministische Lesarten des postmodernism, postcolonialism, poststructuralism und der Psychoanalyse, als deren Gemeinsames zum einen eine kritische Auseinandersetzung mit ‚dem Feminismus‘ der 70er Jahre und zum anderen eine Wendung zu Fragen der Kultur und der Repräsentation von ‚Differenz‘ gesehen wird“ (ebd.: 47). Eine klare Definition des Begriffs „Postfeminismus“ existiert demnach nicht. Allerdings lässt sich vor dem Hintergrund meiner Fragestellung ein Muster des Begriffs „Postfeminismus“ entwerfen, das sowohl die Frage nach der Subjektkonstitution feministischer Theorie und Praxis (vgl. 2. Kapitel) als auch die Frage nach politischen Handlungsmöglichkeiten jenseits normativer Ideen berührt (vgl. 4.1. und 5. Kapitel). Meiner Ansicht nach verbindet die postfeministische Perspektive den transversalen Blick auf die Kategorie Geschlecht mit dem postmodernen Blick auf die „Große Erzählung über die Frau“. An dieser Stelle würde sich eine analytische Trennung zwischen feministischer Theorieproduktion auf der einen Seite, die durch das Transversale erschüttert 59 wird, und feministischer Praxis auf der anderen, problematisiert durch das Konzept der Postmoderne, anbieten. Folgendes spricht dagegen: Der transversale Blick auf die Kategorie Geschlecht führt zu einer theoretischen Öffnung des feministischen Subjektes innerhalb des wissenschaftlichen Diskurses. Feministische Theorieproduktion wird durch das Transversale mit den eigenen hegemonialen Ausschlussmechanismen konfrontiert. Das Transversale ist Resultat postkolonialer feministischer Kritik, die politische Forderungen durch die Frage nach der Repräsentation – wer redet von wo aus für wen? – sichtbar werden lässt. Indem die transversale Perspektive zu einer Theorieproduktion beiträgt, die Machtverhältnisse reflektiert und analysiert, befindet sie sich auf der Ebene des Politischen und ist als politisches Konzept zu verstehen. Der postmoderne Entwurf berührt ebenfalls die theoretische sowie die politische Ebene des Feminismus: Die Kritik an normativer feministischer Theorieproduktion durch den postmodernen Blick auf die „Große Erzählung über die Frau“ führt zu einer Bedeutungsvielfalt innerhalb der Kategorie „Frau“. Diese Wertschätzung von Differenzen innerhalb der Kategorie markiert den – theoretischen wie politischen - Abstand zu der Konstitution eines kollektiven Subjektes. Theorieproduktion und politische Forderungen im Namen der „Frauen“ sind mit einer postmodernen Perspektive nicht zu vereinbaren, da durch die Negation von Heterogenität Herrschaft (re)produziert wird. Das „Patchwork der Minderheiten“ als Gegenentwurf, das der Wahrung von Heterogenität Rechnung trägt, kann sowohl als politisches als auch theoretisches Modell verstanden werden. Aus diesen Gründen gestaltet sich eine klare Differenzierung zwischen dem Transversalen als theoretischem Entwurf und der Postmoderne als politischem Modell schwierig, da beide Perspektiven erkenntnistheoretische und politischpraktische Konsequenzen für den Feminismus implizieren. Eine Definition des Begriffs „Postfeminismus“ formiert sich demnach um die Gemeinsamkeiten der transversalen und postmodernen Perspektive, die theoretische sowie politische Konzeptionalisierungen für den Feminismus anbieten. Diese zeichnen sich durch eine kritische Distanz zu normativen Erklärungsmustern sowie einem herrschaftskritischem Impetus aus (vgl. 4.1.). 60 4.2.1. Transversal ... Der transversale Blick auf die Kategorie Geschlecht ergibt sich aus der postkolonialen feministischen Subjektkritik. Das differentielle und relationale Denken von Geschlecht kongruiert mit einer postkolonialen Konzeption feministischer Politik und Wissenschaft. Durch die Prinzipien der Differentialität und Relationalität wirkt das transversale Denken der (Re)Produktion hegemonialer Denkmuster und Praktiken sowie identitätslogischen Ausschlussmechanismen der feministischen Theorie und Praxis entgegen. Differentialität erkennt den scheinbaren Gegensatz „die hiesige Frauenbewegung/die Anderen“, der von postkolonialen Theoretikerinnen problematisiert wird, als ein politisch wirksames und gewolltes Konstrukt. In Kapitel 3.2. wurde bereits deutlich, dass die Konstitution der „Anderen Frau“ der Legitimierung und Aufrechterhaltung des privilegierten Status der „hiesigen Frauenbewegung“ dient. Durch das Konstrukt der „Anderen Frau“ erlangt der „hiesige Feminismus“ im Kontext des Modernitäts-DifferenzParadigmas (vgl. 2.) seine emanzipatorische Identität. Differentielles Denken – das Eine ist konstitutiv für das Andere und umgekehrt – entlarvt die scheinbare Dichotomie als konstruierte, hegemonial verfasste und damit als politisch relevante Handlung. Relationalität weist auf die rhizomatischen Konfigurationen der Kategorie Geschlecht hin, deren Bedeutung sich nur kontextuell erschließen lässt. Essentielle, kollektivistische und universalistische Entwürfe eines feministischen „Wirs“ sind nicht länger haltbar, da die Kategorie Geschlecht dem Kontext entsprechend variiert. Subjektpositionierungen wie Geschlecht, Ethnizität oder sexuelle Orientierung verhalten sich relational zueinander; sie „stehen immer in einem Verhältnis zu etwas anderem und können daher niemals mit sich identisch, einheitlich oder essentiell sein“ (Wartenpfuhl 2000: 147). Somit wird der Vielfalt, Konnexion und Heterogenität der Kategorie Geschlecht Rechnung getragen. Feministische Theorie und Praxis im Kontext des Transversalen kann ihrem herrschaftskritischen, emanzipatorischen Anspruch gerecht werden, da das Reden und Handeln im Namen der „Frauen“ einem radikalen Perspektivismus 61 und einer Kontextualisierung von Geschlecht im Sozialen weicht. Aus diesem Grund kennzeichne ich das transversale Denken als postfeministisch. Auch hier impliziert die Silbe „post“ kein epochenbildendes Davor oder Danach (vgl. 4.1), sondern ist vielmehr als ein strategischer Distanzierungsbegriff zu verstehen. „Post“ markiert die kritische Distanz zu den Erklärungsmustern der Kategorie Geschlecht, die nur für einige wenige privilegierte Frauen repräsentativ sind. Durch diesen Abstand entlarvt die postfeministische Perspektive den normativen Gehalt der Kategorie Geschlecht als Ergebnis eines hegemonialen Aushandlungsprozesses weißer, heterosexueller Mittelschichtsfrauen. Das Transversale kann als ein postfeministisches Konzept verstanden werden, das dem normativen Gehalt der Kategorie Geschlecht durch das Denken von Differentialität und Relationalität entkommt. Die Kategorie Geschlecht erfährt durch das Transversale eine Öffnung für vielfältige Bedeutungen und bereitet den Weg für anti-hegemoniale, emanzipatorische feministische Theorie und Praxis. Daraus lässt sich eine erste Definition des Begriffs Postfeminismus ableiten: Das postfeministische Konzept impliziert einen transversalen Blick auf die Kategorie Geschlecht, um einer essentiellen und universalistischen Bestimmung des feministischen Subjektes entgegenzuwirken. 4.2.2. ... und postmodern Der postmoderne Blick Lyotards korrespondiert mit der postkolonialen Forderung nach einer perspektivistischen und kontextualisierten Sicht auf das politische Subjekt der bundesdeutschen Frauenbewegung. Während das Transversale durch eine azentrische, dekonstruktivistische Perspektive auf die Kategorie Geschlecht das Subjekt des Feminismus als hegemonial verfasst begreift, problematisiert postmoderne Kritik normative Handlungskonzepte feministischer Politik, die auf der Konstitution des kollektiven Subjektes „Frau“ basieren. Bei den „Großen Erzählungen“ der Moderne handelt es sich um normative politische Modelle, die Gesellschaft abstrahieren, um sie nach ihrem jeweiligen 62 Muster zu organisieren. Die „Große Erzählung über die Frau“ im bundesdeutschen Kontext verfährt nach einer ähnlichen Strategie, da sie das Kollektivsubjekt „Frau“ auf das Unterdrückungsmoment des Sexismus abstrahiert. In 2.1. wurde bereits deutlich, dass „der hiesige Feminismus“ Sexismus als gesellschaftlichen Hauptwiderspruch versteht. Unterdrückungsmomente wie Rassismus oder Heterosexismus, denen Frauen ausgesetzt sind, gelten innerhalb dieser Logik als Nebenwiderspruch. Die „Große Erzählung über die Frau“ im Kontext des „hiesigen Feminismus“ repräsentiert somit „den ‚wahren‘ – bzw. von anderen gesellschaftlichen Herrschaftsstrukturen befreiten und ausschließlich über die Geschlechterkategorie definierten – Feminismus“ (Gümen 1996: 80). Für die feministische Politik bedeutet dies die Fokussierung auf den antisexistischen Kampf, da die Erfahrungen weißer, heterosexueller Feministinnen des Mittelstandes als Maßstab fungieren. Der politische Ausdruck dieses Feminismus manifestiert sich in der Forderung nach der „Gleichheit der Geschlechter“, die idealtypischer Ausdruck des liberalen Feminismus ist. Nach Rosemarie Nave-Herz gibt es innerhalb der Neuen Frauenbewegung 21 „sehr viele unterschiedliche Gruppierungen, zwischen denen keine Übereinstimmung herrschte und herrscht über die Frage, wie die künftige Gesellschaftsordnung aussehen soll, wie und auf welchem Wege Veränderung zu erfolgen habe“ (Nave-Herz 1993: 124). Allerdings lassen sich vier idealtypische Grundorientierungen unterscheiden: Das humanistisch-aufklärerische Konzept, das marxistisch und radikal-sozialistische Konzept, das radikal-feministische Konzept sowie das Gleichberechtigungskonzept, dem der liberale Feminismus zu zuzählen ist (vgl. ebd.: 126). Der humanistisch-aufklärerische Ansatz, der von der Frauengruppe des SDS vertreten wurde, setzt „Freiheit und Mündigkeit als oberstes Postulat“ (ebd.: 125). Die bestehende Gesellschaftsform wird abgelehnt – es wird eine „neue gefordert (...), die freier sein und auf der Mündigkeit ihrer Bürger (sic!) beruhen soll“ (ebd.: 125). Für Vertreterinnen des marxistischen und radikal-sozialistischen Konzeptes innerhalb der Neuen Frauenbewegung ist „die Befreiung der Frau erst durch die Veränderung der Wirtschaftsordnung möglich“ (ebd.: 125). Es gilt, die 63 kapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung politisch zu überwinden, da eine „völlige Emanzipation“ (ebd.: 125) der Frauen innerhalb kapitalistischer Strukturen nicht denkbar ist. Der radikal-feministische Ansatz strebt ebenfalls eine Veränderung der Gesellschaftsordnung an. Im Gegensatz zum marxistischen und radikalsozialistischen Feminismus konzentriert sich der radikal-feministische Ansatz nicht auf die Umstrukturierung der bestehenden Wirtschaftsordnung, sondern betrachtet „das Patriarchat als primären Feind“ (ebd.: 126). Der Klassenkampf wird nicht als „vorrangiges politisches Anliegen betrachtet, sondern als männliche Strategie, die nur die wahren Tatbestände verschleiert, abgelehnt“ (ebd.: 126). Gefordert wird hingegen eine weibliche Gegenkultur, deren politischer Kampf „auf einer sehr viel früheren Ebene der Unterdrückung (...), nämlich der der Sexualität und der der patriarchalischen Verhaltensweisen, durch die alle Frauen und Männer unterdrückt werden“ (ebd.: 126), ansetzt. Während Vertreterinnen des humanistisch-aufklärerischen, des marxistisch/radikal-sozialistischen sowie des radikal-feministischen Ansatzes die bestehende Gesellschaftsordnung ablehnen und verändern wollen, fordern liberale Feministinnen im Kontext des Gleichberechtigungskonzeptes eine „Veränderung der Situation der Frau (...) ohne die Gesellschaftsordnung selbst in Frage zu stellen“ (ebd.: 126). Der liberale Feminismus als größte feministische Strömung (vgl. ebd.: 126) setzt sich demnach für die gleichen Rechte der Frauen innerhalb der bestehenden Gesellschaftsordnung ein. Gesamtgesellschaftliche Auswirkungen des Gleichberechtigungskonzeptes sind „Folge, nicht Ziel des Konzeptes“ (ebd.: 126). Nach Thürmer-Rohr fordert der liberale Feminismus „ein aufgeklärtes modernes Menschenbild (...) endlich auch für Frauen“ (Thürmer-Rohr 1995: 88) ein, indem er Ansprüche auf gleiche Rechte, gleiche Chancen, gleiche Bildung usw. formuliert. Die politische Form des liberalen Feminismus ist „eine Politik der Partizipation, Gleichstellung, Quote etc.“ (ebd.: 88). Exemplarisch für die inhaltliche Programmatik des liberalen Feminismus ist die 1977 gegründete Zeitschrift „EMMA“. Die Autorinnen vertreten z.B. politische Konzepte wie die Quotenregelung22, um innerhalb der bestehenden 21 vgl. Nave-Herz 1993; sie gibt hier einen einen ausführlichen Überblick der Geschichte der Neuen Frauenbewegung 22 vgl. hierzu die Diskussion über die Quote in EMMA 1/96 64 Gesellschaftsordnung die Gleichberechtigung von Frauen in Politik und Wirtschaft zu forcieren. Als ein Beispiel für den liberalen Ansatz der EMMA unterstützt die Zeitschrift den Aufruf „Frauen in die Bundeswehr!“ (vgl. EMMA 1/96, 1/2000). Da hier eine kritische Analyse der Strukturen und Funktionen der Bundeswehr nur marginal vorgenommen wird und sich auf die Partizipation von Frauen innerhalb dieser Organisation konzentriert wird, kann der Aufruf als Ausdruck liberaler feministischer Politik gewertet werden. EMMA als größte europäische feministische Zeitung kann „insbesondere definieren, wie eine ‚emanzipierte Frau‘ auszusehen hat, und sie hat die Macht, Prioritäten von Befreiung zu definieren“ (Kübler 1993: 3). Anhand einer Dokumentation der Heinrich-Böll-Stiftung von 1993 möchte ich aufzeigen, wie die Zeitschrift EMMA als Ausdruck des liberalen, „hiesigen“ Feminismus die „Andere Frau“ konstituiert. Die Dokumentation „Rassismus und Sexismus in der EMMA?“23 bezieht sich vornehmlich auf ein Dossier zum Thema Fundamentalismus, das im Juli/August 1993 in der EMMA erschien. Renate Kreile kommt in ihrem Aufsatz „EMMA und die ‚deutschen Frauen‘: ‚an‘s Vaterland, an‘s treue, schließt euch an ...“ zu dem Schluss, dass hier von den Autorinnen der EMMA „die Beteiligung von Frauen an unterdrückerischen und rassistischen Diskursen und Praktiken übersehen, geleugnet oder schlichtweg definitorisch ausgeklammert wird“ (Kreile 1993: 125). An mehreren Beispielen belegt sie, wie „im Namen des Kampfes gegen den Sexismus unter Verwendung rassistischer Stereotype kräftig am Feindbild Islam gepinselt und damit Anschluss an den breiten gesellschaftlichen Konsens gefunden wird“ (ebd.: 124). Eines ihrer Beispiele soll an dieser Stelle kurz vorgestellt werden: „Eine Frau ruft einen Notarzt. Der ist Moslem“, was die deutsche Frau an seinem „starken Akzent“ und seinem „gebrochenem Deutsch“ erkennt. Er spricht „ungeduldig“ und „aggressiv“, „mit spitzen Fingern zerrt er ihr das Nachthemd“ bis zu den Knien. Doch stellt die Patientin „seine Kompetenz keinen Augenblick in Frage“, da er „Ausländer ist“ und sie eine „tolerante Person“. Diese Toleranz erweist sich als ihr fast „tödliches Pech“, da der „Ausländer“ eine Fehldiagnose stellt. Erst ein „Kölner Arzt“ verhindert das Schlimmste: „Hätte ich das Beruhigungsmittel des Notarztes genommen, hätte 23 die Dokumentation wurde von Klaus Jetz im Dezember 1993 zusammengestellt 65 ich wohl endgültig Ruhe gegeben. Ich hätte meinen eigenen Tod verdämmert, weil ich einem Arzt aus einem vollkommenen anderem Kulturkreis unverständlich und widerlich war“ (EMMA Juli/August 1993). Kreile kommentiert dazu: „Frappierend und empörend an dem Artikel finde ich, wie unverhüllt hier mit der medizinischen Leidensgeschichte einer Frau, die Opfer einer falschen ärztlichen Behandlung wird, ausgrenzende und rassistische Stereotype kombiniert und transportiert werden“ (Kreile 1993: 123). Karin Hörner nimmt in diesem Zusammenhang eine Analyse des von den EMMA-Autorinnen verwendeten Vokabulars vor (vgl. Hörner 1993). Eine „dauernde Wiederholung von Wörtern (sic!) wie ‚Feind‘, ‚Hass‘, ‚Terror‘, ‚Blut‘, ‚Kreuzzug‘, ‚Krieg‘ usw.“ (Hörner 1993: 2) führt ihrer Meinung nach zu einer „Beschwörung eines Kriegszustandes“ (ebd.: 2). Dabei machen die EMMA-Autorinnen vor „nationalistischen und rassistischen Ressentiments gegen Ausländer“ (ebd.: 2) nicht halt: „Ständig wird betont, dass ‚deutsche‘ Eltern, Frauen usw. Angriffsziel der Fundamentalisten sind, ‚deutsches‘ Geld für Muslime ausgegeben wird“ (ebd.: 2f.). Rassismus ist laut EMMA männlich (vgl. EMMA Juli/August 1993) – das Fundamentalismus-Dossier überzeugt jedoch vom Gegenteil, da die Autorinnen der EMMA sich rassistischer Klischees bedienen, um „deutsche Frauen vor muslimischen Männern in Deutschland“ (Kreile 1993: 124) zu warnen. Zugleich reproduzieren die Autorinnen das gängige Bild einer muslimischen Frau: Unterdrückt, nicht emanzipiert und vormodern (vgl. 2. Kapitel). Die Kritik der Schriftstellerin Aysel Özakin an der Zeitschrift EMMA ist vor diesem Hintergrund zu verstehen. Sie problematisiert zum einen „die populistische Haltung, was die Türkei/Minderheiten betrifft“, zum anderen die fehlende „geistige intellektuelle Wahrnehmung besonders der türkischen Frauen (...) EMMA sieht nur das Leid und ist nicht fähig, Widersprüche wahrzunehmen“ (Özakin in EMMA 2/87: 47). Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass EMMA „einerseits engagiert gegen den vorherrschenden sexistischen Konsens hierzulande eintritt, aber gleichzeitig massiv dem herrschenden rassistischen Konsens Vorschub leistet“ (Kreile 1993: 129). Dieser rassistische Konsens manifestiert sich in der Übernahme rassistischer Stereotype (z.B. in der Verwendung von Begriffen 66 wie „der Islam“, „der muslimische Mann“, „islamische Horden“, „primitive Gesellschaft“ in EMMA Juli/August 1993) sowie in der Aberkennung des Subjektstatus muslimischer Frauen (Begriffe wie „geknechtet“, „verunstaltet“, „sterben an der Heimatfront“ in EMMA Juli/August 1993) 24. Die muslimische Frau ist die „Andere Frau“, die dem selbst auferlegten Bild des „hiesigen Feminismus“ als emanzipatorisch und aufgeklärt nicht entspricht. Die „Große Erzählung über die Frau“ des liberalen Feminismus scheint demnach frei zu sein von gesellschaftlichen Machtverhältnissen, die auf Ethnizität, Klassenzugehörigkeit oder sexueller Orientierung gründen. Diese Annahme wird durch die Frage, mit welchen „anderen Gruppen von Frauen der Feminismus politische Koalitionen eingehen soll“ (Wartenpfuhl 2000: 78) noch unterstrichen. In dieser Gegenüberstellung von Feminismus und den „anderen Gruppen von Frauen“ (z.B. Migrantinnen, lesbische Frauen) werden Frauen, „die sich schon immer dem Feminismus zugehörig fühlten, in die Position der Anderen verwiesen“ (Wartenpfuhl 2000: 78). Flax gibt zu bedenken, dass „die Suche nach einem alles bestimmenden Thema oder einem einzigen feministischen Standpunkt die Unterdrückung anderer wichtiger, aber unbequemer Stimmen erfordern – Stimmen von Personen, die andere Erfahrungen haben als wir (...) die Unterdrückung dieser Stimmen wäre dann eine notwendige Bedingung für die Autorität, Kohärenz und Universalität unserer eigenen“ (Flax 1992: 85). Eine ausschließliche Orientierung an politischen Konzepten, die Sexismus als Hauptunterdrückungsmoment der Gesellschaft determinieren, garantiert daher die Hegemonie des „Großen Feministischen Wirs“. Das „Verlangen nach einer einheitlichen und totalisierenden Wahrheit“ (Lyotard 1979: 47) zeigt sich in der exklusiven Bezugnahme auf den anti-sexistischen Kampf des liberalen Feminismus. In diesem Zusammenhang weist Thürmer-Rohr darauf hin, dass sich die „Frauen der westlichen Welt (...) nicht nur als Beschädigte patriarchaler Gewalt und als Benachteiligte patriarchaler Dominanz“ (Thürmer-Rohr 1995: 91) begreifen dürfen, da sie Mitglieder der westlichen „Dominanzkultur“ (ebd.: 91) sind, an ihr mitwirken und von ihr profitieren. Sie wendet sich damit gegen eine feministische Praxis, die allein das Geschlechterverhältnis bzw. die „Frau als Objekt der Diskriminierung“ (ebd.: 95) als Gegenstand politischer Kritik definiert. Wenn Feminismus als Herrschaftskritik bestimmt wird, muss „ebenso 24 die Begriffsbesipiele sind der Text-Analyse von Hörner 1993 entnommen 67 die westliche Kultur als Subjekt der Diskriminierung Anderer, das heißt derjenigen, die von dieser Kultur als Andere konstituiert werden“ (ebd.: 95) reflektiert werden. Ihr geht es somit um das „bewusste Zusammendenken von Problem-Haben und Problem-Sein“ (ebd:: 95), dass sich in der feministischen Praxis wiederfinden soll. Der weiße, westliche Feminismus muss sich seiner Täterinnen-Rolle bewusst werden, um herrschaftskritisch agieren zu können. Dazu zählt auch „der Rückzug von den großen modernen Emanzipationsansprüchen und –parolen“ (ebd.: 91), da diese durch die Entwertung von Heterogenität und dem Streben nach einer soziokulturellen Einheit Herrschaft organisieren und absichern. Die „Große Erzählung über die Frau“ im Kontext des liberalen Feminismus verfährt nach diesem Muster: Der Gehalt des Begriffs „Frau“ wird von einigen wenigen Frauen normativ bestimmt; daraus ergeben sich politische Forderungen, die repräsentativ sind für die Gruppe von Frauen, die die Definitionsmacht über das Konzept „Frau“ besitzen. Die Lyotard‘sche Forderung „Krieg dem Ganzen (...), aktivieren wir die Differenzen“ (Lyotard 1982: 48) dokumentiert den Gegenentwurf zu normativen politischen Vorstellungen des liberalen Feminismus. Die Aktivierung bzw. das Denken der Differenz steht im Widerspruch zu der „Großen Erzählung über die Frau“, da eine universalistische und essentielle Bestimmung des Begriffs „Frau“ aufgegeben werden muss. Differenz denken bedeutet demnach, den transversalen Charakter der Kategorie Geschlecht zu berücksichtigen. Die Konsequenz für die „Große Erzählung über die Frau“ liegt auf der Hand: Der Begriff „Frau“ erfährt eine analytische Öffnung und wird damit „in eine Zukunft vielfältiger Bedeutungen entlassen“ (Butler 1993: 50). Nach Butler führt „jeder Versuch, der der Kategorie ‚Frauen‘ einen universellen oder spezifischen Gehalt zuweist“, zu einer „Zersplitterung innerhalb der Wählerschaft“ (ebd.: 49). Und weiter: „Die ‚Identität‘ als Ausgangspunkt kann niemals den festigenden Grund einer politischen feministischen Bewegung abgeben. Identitätskategorien haben niemals nur einen deskriptiven, sondern immer auch einen normativen und damit ausschließenden Charakter“ (ebd.: 49). Dies bedeutet für sie nicht, den Gebrauch des Begriffs „Frau“ zu zensieren, da ihrer Meinung nach „innerhalb des Feminismus eine gewisse politische Notwendigkeit, als und für Frauen zu sprechen“ (ebd.: 48) besteht. Um jedoch ein hegemonial verfasstes, ausschließendes feministisches „Wir“ zu vermeiden, 68 muss der Begriff „Frau“ von den „maternalen und rassischen Ontologien“ befreit werden, damit „bislang unvorhergesehene Bedeutungen zum Tragen kommen können“ (ebd.: 50). Dies impliziert, dass durch das Denken der Differenz „die Risse zwischen und unter den Frauen gerade geschützt und aufgewertet werden“ (ebd.: 50). Hier wird die Affinität zwischen dem Denken Butlers und dem PostmoderneKonzept Lyotards besonders deutlich: Während Lyotard eine philosophische Strategie entwickelt, die dem Dissens verpflichtet ist (vgl. 4.1.) und so totalisierende Theorien vermeidet, will Butler die „Risse“ bzw. die Differenzen innerhalb der Genus-Gruppe Frauen betonen, um dem normativ-hegemonialen Gehalt des Begriffs Frau zu entkommen. Die Termini „Dissens“ und „Risse“ stehen den auf Einheit und Totalität basierenden Konzepten der „Großen Erzählung“ bzw. der „Großen Erzählung über die Frau“ diametral gegenüber. In der Logik dieser „Großen Erzählungen“ sollen widerstreitende Elemente durch eine alles umfassende Idee versöhnt werden. Dissens und die Aufwertung von Rissen innerhalb der Kategorie Frau hingegen streben keinen Konsens an, da dieser Heterogenität entwertet und damit „den Terror strukturell in sich trägt“ (Pries/Welsch 1995: 544). Der Abstand von abstrakten Gesamtdeutungen des feministischen Subjektes durch die Fokussierung auf die kleinste Ebene des sozialen Zusammenhangs, die der Sprachspiele, führt zu einer analytischen Öffnung der Bezugsgröße „Frau“. Innerhalb der Lyotardschen Theorie der Sprachspiele, die ein „Patchwork der Minderheiten“ impliziert, können die „Anderen Frauen“ nicht länger als Minderheit kodifiziert werden, da keine Mehrheit der „Identischen Frauen“ existiert. So kommen bislang marginalisierte Subjektpositionierungen innerhalb feministischer Theorie und Praxis zu ihrem politischen Recht. Lyotard formuliert dies so: „Die Gerechtigkeit wäre folgende: der Vielfalt und Unübersetzbarkeit der ineinander verschachtelten Sprachspiele ihre Autonomie, ihre Spezifität zuzuerkennen, sie nicht aufeinander zu reduzieren; mit einer Regel, die trotzdem eine allgemeine Regel wäre, nämlich ‚lasst spielen ... und lasst uns in Ruhe spielen‘“ (Lyotard 1982: 33). Aus dieser „allgemeinen Regel“ ergibt sich der Entwurf „Patchwork der Minderheiten“, der mit der postkolonialen Forderung nach einer perspektivistischen und kontextualisierten Sicht auf die Kategorie Geschlecht kongruiert. Das Subjekt feministischer Theorie und Praxis erschließt sich 69 demnach aus der jeweiligen Positionierung der Sprachspielerinnen und wird immer wieder neu ausgehandelt. Die Beantwortung der Frage „wer redet von wo aus für wen?“ (Gutiérrez Rodríguez 1996: 170) ist Prämisse für eine Subjektkonstitution im Sinne eines „Patchworks der Minderheiten“, da sie die unterschiedlichen Positionierungen von Frauen artikuliert. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass das feministische Subjekt durch den postmodernen Blick eine analytische sowie politische Öffnung erfährt. Die Strategie einer Subjektkonstitution jenseits einer hegemonialen Norm, die Heterogenität und Vielfalt Rechnung trägt, begreife ich als postfeministisch. Auch hier ist der Begriff „Postfeminismus“ nicht als ein epochenbildendes Davor oder Danach zu verstehen – vielmehr fungiert er als ein „radikales Korrektiv“ (Fechner 1990: 29): Postfeminismus im Kontext der Philosophie Lyotards meint die Wahrung einer kritischen Distanz gegenüber der „Großen Erzählung über die Frau“, um Ausschlüsse und Subsumtion unterschiedlicher Subjektpositionierungen von Frauen zu vermeiden. Die zweite Definition des Begriffs Postfeminismus lautet demnach : Das postfeministische Konzept distanziert sich von der hegemonial verfassten „Großen Erzählung über die Frau“, indem es Differenzen innerhalb der Kategorie „Frau“ aufwertet und so normativen Bestimmungen des feministischen Subjektes entgegenwirkt. 4.3. Schlussfolgerung Ausgehend von der postkolonialen Kritik an feministischer Theorie und Praxis der bundesdeutschen Frauenbewegung (2. Kapitel) entwickelte ich im 3. Kapitel die Perspektive des Transversalen, die die Kategorie Geschlecht als eine rhizomatische Konfiguration bestimmt und damit den Ausschluss oder die Subsumtion der „Anderen Frau“ vermeiden will. Im 4. Kapitel zeigte ich, dass der transversale Blick auf die Kategorie Geschlecht innerhalb der philosophischen Strömung der „Postmoderne“ zu verorten ist. Hierbei bezog ich mich explizit auf den Postmoderne-Begriff Lyotards. Lyotard bestimmt die Postmoderne als einen strategischen Distanzierungsbegriff, der inhaltlich an 70 den Werten der Moderne („Freiheit des Individuums“) festhält, diese jedoch durch die „Großen Erzählungen der Moderne“ nicht verwirklicht sieht. Das Konzept der Postmoderne will den heterogenen Charakter von Gesellschaft Rechnung tragen, indem es sich gegen die totalisierenden Ideen des Marxismus oder Funktionalismus wendet. Diese „Großen Erzählungen“ der Moderne denken Gesellschaft entweder als „zweigeteilt“ oder als „funktionales Ganzes“ (Lyotard 1979: 42), was die Gefahr von Terror und Vernichtung in sich birgt (vgl. 4.1.). Durch die Theorie der Sprachspiele, veranschaulicht durch das „Patchwork der Minderheiten“, gelingt Lyotard ein Abstand zu abstrakten normativen Gesellschaftskonzeptionen, die Heterogenität negieren und damit Herrschaft sichern. Die postmoderne Kritik an normativen Gesellschaftskonzeptionen und den Gegenentwurf eines „Patchwork der Minderheiten“ konzeptionalisierte ich in 4.2.2. für die feministische Theorie und Praxis. Es zeigte sich, dass der postmoderne Blick auf die „Große Erzählung über die Frau“ mit dem transversalen Blick auf die Kategorie Geschlecht (4.2.1.) kooperiert: Sowohl die transversale als auch die postmoderne Perspektive auf feministische Theorie und Praxis beinhalten eine kritische Distanz zu normativen Erklärungsmustern, die dem anti-hegemonialen Anspruch postkolonialer Kritik gerecht wird; die Konsequenz aus beiden Perspektiven ist zum einen die rhizomatische Kontextualisierung der Kategorie Geschlecht, zum anderen die analytisch-politische Öffnung des feministischen Subjektes. Einer hegemonialen Bestimmung der Kategorie Geschlecht und des feministischen Subjektes „Frau“, heterosexueller Feministinnen des welche die Mittelstandes Erfahrungen spiegelt, weißer, wird so entgegengewirkt. Als Ergebnis der transversalen und postmodernen Lesart von feministischer Theorie und Praxis formulierte ich den Begriff des „Postfeminismus“ (4.2.), der meiner Ansicht nach folgendermaßen gekennzeichnet werden kann: 1. Das postfeministische Konzept impliziert einen transversalen Blick auf die Kategorie Geschlecht, um einer essentiellen und universalistischen Bestimmung des feministischen Subjektes entgegenzuwirken (4.2.1.). 2. Das postfeministische Konzept distanziert sich von der hegemonial verfassten „Großen Erzählung über die Frau“, indem es Differenzen 71 innerhalb der Kategorie „Frau“ aufwertet und so normativen Bestimmungen des feministischen Subjektes entgegenwirkt (4.2.2.). Meine Definition des Begriffs „Postfeminismus“ verdeutlicht den herrschaftskritischen Impetus postfeministischer Lesarten. Dennoch ist die Markierung „herrschaftskritisch“ ambivalent, da nach Butler jede „Theorie (...) stets in die Macht verwickelt ist“ (Butler 1993: 35). Sie weist hier meiner Ansicht nach auf ein schwerwiegendes Dilemma postfeministischer Lesarten hin: Wenn jede Theorie, jede Philosophie in die Macht verwickelt ist, gilt dies augenscheinlich auch für die postfeministische sowie postkoloniale Perspektive. Flax umschreibt diese Problematik folgendermaßen: “Wir können nicht beides gleichzeitig behaupten: dass (erstens) Denken, Subjekt und Wissen sozial begründet sind und unser Erkennen von unseren sozialen Praktiken und Kontexten abhängt, und dass (zweitens) die feministische Theorie die Wahrheit des Ganzen ein für allemal aufdecken kann. Eine solche absolute Wahrheit (z.B.: die Erklärung für alle Geschlechterarrangements zu allen Zeiten ist X) würde einen ‚Archimedischen Punkt‘ außerhalb des Ganzen und jenseits unserer Zugehörigkeit dazu voraussetzen, von dem aus wir das Ganze sehen und wiedergeben könnten“ (Flax 1992: 85). Zwar bezieht sich Flax hier auf den „Archimedischen Punkt“ des „großen feministischen Wir‘s“ weißer, heterosexueller Feministinnen des Mittelstandes, der sich in dem Hauptwiderspruch Sexismus äußert (vgl. 4.2.2.) - allerdings kann ihr Text ebenso auf postkoloniale und postfeministische Positionierungen bezogen werden. Die Fragen lauten dann: Wo befindet sich der „Archimedische Punkt“ des Postfeminismus? Was ist die normative Grundlage, die „in jeder Theorie als das Unhinterfragte, das Unhinterfragbare“ (Butler 1993: 37) funktioniert, der postfeministischen Perspektive? Und vor allem: Wie kann die Gratwanderung von postfeministischen und postkolonialen Theoretisierungen auf der einen und herrschaftsfreiem Anspruch auf der anderen Seite bewerkstelligt werden? Ein möglicher Weg, diesem Dilemma zu begegnen, ist die unbedingte und ständige Reflexion der eigenen Positionierungen und Aussagen. Die Beantwortung der Fragen Von wo aus spreche ich? Vor welchem Hintergrund entwickle ich meine Positionen? In welchem Kontext entsteht meine Theorie? sollten handlungsleitend für postfeministische Analysen sein. Der Anspruch einer kritischen Selbstreflexion stellt eine Prämisse für anti-hegemoniale, emanzipatorische feministische Theorie 72 und Praxis dar. Flax sieht postfeministische Theoretikerinnen in diesem Zusammenhang vor vier Aufgaben gestellt: „Wir müssen 1. feministische Gesichtspunkte von und in der sozialen Welt entwickeln, in der wir leben; 2. darüber nachdenken, wie wir von dieser Welt beeinflusst werden; 3. in Betracht ziehen, dass die Art, wie wir über sie denken, in vorhandenen Macht- und Wissensbeziehungen begründet sein kann; und 4. uns Wege einfallen lassen, mit denen diese Welten verändert werden sollten/könnten“ (Flax 1992: 94). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass eine reflexive Theoretisierung für postfeministische Perspektiven unerläßlich ist. In 5.3.3. werde ich zeigen, dass diese kritische Reflexivität der eigenen Positionen gleichermaßen auf der Ebene politischer Praxis vonnöten ist. Für Thürmer-Rohr führt postmoderner Feminismus „nicht zu Partei und Programm, nicht zu Gemeinschaften, nicht zu stabilen Gruppen, nicht zu Kontinuitäten“ (Thürmer-Rohr 1995: 93), da diese politischen Konzepte normative Grundlagen erfordern. Herkömmliche Organisationsformen politischer Praxis – Parteien oder feste Gruppenzusammenhänge, wie z.B. die „identity-politics“25 der 1960er Jahre werden demnach von postfeministischer Seite aus problematisiert, da sie Gefahr laufen, durch die Formulierung allgemeiner und abstrakter Aussagen andere Subjektpositionierungen von Frauen zu übergehen oder zu subsumieren. Es stellt sich die Frage, wie postfeministische politische Praxis konzeptionalisiert werden kann. Hall gibt einen ersten Anhaltspunkt: Er fordert eine „Politik, die darin besteht, Identität in der Differenz zu leben – eine Politik, die anerkennt, dass wir alle aus vielen sozialen Identitäten, nicht aus einer einzigen, zusammengesetzt sind“ (Hall 1994: 84). Identitäten-Politik im Namen „der Frauen“ oder „der Schwarzen“ muss reflektieren, auf Kosten von welch anderen Subjektpositionierungen politische Ziele formuliert werden (vgl. ebd.: 84f.). Hier greift die Forderung nach einer kritischen Reflexion eigener Positionierungen, die ich bereits weiter oben als Prämisse für postfeministische Theorie und Praxis formulierte. Doch wie kann feministische Politik jenseits eines stabilen feministischen Subjektes, jenseits einer Identitäten-Politik im Namen „der Frauen“, jenseits normativer politischer Grundlagen, gedacht werden? Wie verhält es sich mit der politischen Handlungsfähigkeit im Zeichen des Postfeminismus? „identity-politics“ bedeutet nach Hall eine Politik, die „eine Identität pro Bewegung“ zulässt; er bezieht sich hiermit auf die strategisch-essentialistische Politik marginalisierter Gruppen. 25 73 5. Postfeministische Politik Im folgenden Kapitel werde ich am Beispiel der „riot grrrl“-Bewegung die Erweiterung und Neudefinition feministischer Politik durch postfeministische Strategien vorstellen (5.2.). Feministische Politik im Zeichen des Postfeminismus formiert sich nicht nur um feste Gruppenzusammenhänge, Organisationen, Parteien oder Programme (vgl. Nave-Herz 1993) - vielmehr will der postfeministische Gestus das Politische „in eine Zukunft vielfältiger Bedeutungen entlassen“ (Butler 1993: 50). Die „riot grrrl“-Subkultur, die 1991 aus der amerikanischen Hardcore- und Punk-Szene hervorging, kann meiner Ansicht nach als ein Beispiel für postfeministische Politikformen gewertet werden. Mädchen und junge Frauen, die sich der „riot grrrl“- Kultur zugehörig fühlen, reorganisieren kulturelle Codierungen, um ihnen neue und oppositionelle Bedeutungen zu geben. Innerhalb der männlich dominierten Subkulturen wie der Punk- oder Hardcorebewegung gelingt ihnen durch Subversion, Ironie, Überzeichnung und Spiegelung eine Politik, die durch Irritation das patriarchal konstituierte Mädchen- und Frauenbild zerstört. So werden neue Handlungs- und Darstellungsebenen für Mädchen und Frauen erkämpft (vgl. 5.3.1.). Der politische Widerstand der „riot grrrls“ findet auf der Ebene von Zeichen statt. In 3.1.1. skizzierte ich bereits die Zeichentheorie de Saussures‘: Sein strukturalistischer Ansatz geht davon aus, dass Wirklichkeit durch ein Differenzsystem von Zeichen hervorgebracht wird. Wirklichkeit kann wie ein Text gelesen werden; Sinn und Bedeutung eines Zeichens sind konstruiertes Ergebnis bestimmter Benennungsprakitken. Hier greift die politische Relevanz der Ebene der Signifikation. Wenn „die Bedeutung (...) dem Zeichen nicht auf geheimnisvolle Weise immanent“ (Eagleton 1988: 75) ist, besteht die Möglichkeit, Zeichen von hegemonial-patriarchalen Sinnzuweisungen zu befreien. „Riot grrrls“ betonen diese Arbitrarität von Zeichen, indem sie patriarchal konnotierte Signifikanten wie „Mädchen“ von sexistischen Bedeutungen lösen. Eine Politik im Namen der „Schwarzen“, „Frauen“ oder „Homosexuellen“ definiert ausschließlich eine Subjektpositionierung als politischen Ausgangspunkt 74 Bevor ich jedoch näher auf die Strategien und Taktiken der „riot grrrls“ eingehe (5.3.), werde ich diese in den Kontext der zeichentheoretischen Überlegungen Jean Baudrillards stellen (5.1.). Die Philosophie Baudrillards gibt Aufschluss über Wege und Strategien, die hegemoniale Zeichenproduktion zu subvertieren (vgl. 5.2.). 5.1. „Die Digitalität ist unter uns“ Jean Baudrillard In seiner Schrift „Der symbolische Tausch und der Tod“ von 1982 verabschiedet sich Baudrillard von der marxistischen Vorstellung einer gesellschaftlichen Umwälzung durch Revolution. Ähnlich wie Lyotard glaubt er nicht länger an die marxistische Theorie und avanciert zu einem Kritiker klassischer linker Ideologien (vgl. Blask 1995: 13). Baudrillard formuliert „die Kapitulation herkömmlicher Gesellschaftskritik“ (ebd.: 44), die nach Lyotard mit dem Scheitern der „Großen Erzählungen“ eintritt, auf der Grundlage von zeichentheoretischen Überlegungen. Während de Saussure ein strukturalistisches Zeichensystem entwirft, das ahistorisch und universal anzuwenden ist (vgl. 3.1.1.), geht Baudrillard davon aus, dass Zeichenwelten „im Laufe der Geschichte (...) ihre Erscheinungsform, Funktion und theoretische Bedeutung“ (Blask 1995: 26) verändern. Er verortet die Bedeutungskonstitution von Zeichen innerhalb von historisch- gesellschaftlichen Kontexten, die variieren. Die zentrale Annahme Baudrillards formiert sich um das Verschwinden der Realität, um das „Ende der Geschichte“26 (Baudrillard 1990: 29). Um diesem auf die Spur zu kommen, arbeitet er mit dem Begriff der Simulakra. Simulakra definiert Baudrillard als künstliche Zeichenwelten, die einer dreistufigen Evolution unterworfen sind. Diese Evolution setzt er in einen historischen Zusammenhang: Das Simulakra der ersten Ordnung ist im Zeitalter der Renaissance anzusiedeln. Um dieses Zeitalter der Imitation zu erklären, bezieht er sich auf die frühen feudalen, archaischen Gesellschaften, die von eindeutigen Zeichen geprägt waren. Diese Ordnung einer „unbarmherzigen Hierarchie“ (Baudrillard die Theorie vom „Ende der Geschichte“ kennzeichnet Baudrillard als einen Vertreter der „Posthistoire“ (vgl. Fechner 1990) 26 75 1982: 80) schließt willkürlichen Gebrauch von Zeichen aus, da jedes einem bestimmtem gesellschaftlichen Status zugeschrieben ist. Zeichen sind demnach begrenzt und „jedes hat den Wert eines Verbotes, jedes bedeutet eine wechselseitige Verpflichtung zwischen Kasten, Clans oder Personen“ (ebd.: 80). Mit der Renaissance setzt eine Wende ein. Das Ende der feudalen Ordnung bringt den Beginn des „offenen Wettbewerbs auf dem Gebiet der Distinktionszeichen“ (ebd.: 80) mit sich. Der Wettbewerb von Zeichen beginnt mit der Verarbeitung von Stuck als einem Material, das Zeichen kopieren und nachahmen kann. Zeichen, die ehemals nur privilegierten Menschen zugänglich waren, werden durch Imitation demokratisiert. Die Imitation von Zeichen, seien es vorgetäuschte Hemdbrüste oder die „Gabel als künstliche Prothese“ (ebd.: 81), ermöglichen die synthetische Nachahmung der Welt. Identische Abbildungen der Wirklichkeit befreien das Zeichen von der Bindung an hierarchische Klassen- und Schichtstrukturen. Stuck fungiert als Imitationsmaterial aller erdenklichen Formen: „Der Stuck ist die triumphale Demokratie aller künstlichen Zeichen (...)“ (ebd.: 81). Und weiter: „ (...) die Apotheose des Theaters und der Mode, die der neuen Klasse die Möglichkeit eröffnet, alles zu tun, weil es ihr gelungen ist, die Exklusivität der Zeichen aufzubrechen“ (ebd.: 81). Dieses Prinzip wird durch die industrielle Revolution und dem damit einhergehenden Simulakra der zweiten Ordnung abgelöst. Im Vordergrund steht nicht länger die Imitation der Zeichen sondern der Vorgang der Produktion von neuen Zeichen: „Zeichen ohne die Tradition einer Kaste, Zeichen, die niemals die Beschränkungen durch einen Status gekannt haben die also nicht mehr imitiert werden müssen, weil sie von vornherein in gigantischem Ausmaß produziert werden“ (ebd.: 87). Die Bilder Andy Warhols illustrieren das Prinzip der Reproduktion; seine Kunst ist eine Parodie auf den Vorgang der Verwertbarkeit und eine Groteske auf den der Serie. Kunst bricht ihr Gesetz, indem sie zur Ware wird (vgl. Blask 1995: 28). Verglichen mit der „Epoche der Imitation, des Doubles, des Spiegels, des Theaters, des Maskenspiels und des Scheins“ (Baudrillard 1982: 87) misst Baudrillard dem Zeitalter der seriellen Reproduktion von Zeichen eine geringere Bedeutung bei. 76 Zudem sei diese Epoche von kurzer Dauer und „eine ziemlich dürftige imaginäre Lösung zur Beherrschung der Welt“ (ebd.: 87). Anders verhält es sich seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Die Welt ist beherrscht vom Modell. Das Simulakra der dritten Ordnung, das der Simulation, ist omnipräsent. Wirklichkeit kann sich nicht mehr ereignen, da bereits Modelle bereitstehen, in die sich die Wirklichkeit einfügt. Was versteckt sich hinter diesem Gedanken? Das als Überschrift dieses Kapitels verwendete Zitat Baudrillards „Das Digitale ist unter uns“ (Baudrillard 1982: 97) steht exemplarisch für den binären Code, der Struktur und Steuerung in sich vereint. Er ist es, der „in allen Mitteilungen, in allen Zeichen unserer Gesellschaft herumspukt“ (ebd.: 97). Baudrillard sieht eine Entwicklung hin zu „einem Universum von binären Strukturen und Gegensätzen“ (ebd.: 90) und nimmt den genetischen Code als Ausgangspunkt für Informationsverarbeitung seine sind Überlegungen. aus Information molekularbiologischer und Perspektive Wiederholungen der vier Basen A, C, G und T, deren Sequenz allein entscheidend ist. Baudrillard überträgt die „taktische Indeterminiertheit“ (ebd.: 97) dieses Modells auf das Kommunikationssystem: „Der Zyklus der Bedeutung wird dabei unendlich verkürzt zum Zyklus der Frage/Antwort“ (ebd.: 97). Komplexe Kommunikation wird demnach durch einen Test ersetzt, der durch das Schemata Frage/Antwort gekennzeichnet ist. Hier beginnt Simulation: Antworten sind immer durch Fragen induziert und besitzen vorhersehbaren Modellcharakter, eine Frage ist das „unmittelbare Aufdrängen einer Bedeutung“ (ebd.: 97). Dem Vorgang des Tests sind stereotype Modelle immanent. Baudrillard sieht diese binäre Matrix in „der kleinsten disjunktiven Einheit (dem Frage/Antwort-Partikel) bis zur makroskopischen Ebene der großen Systeme des Alternierens, die die Ökonomie, die weltweite Koexistenz steuern“ (ebd.: 109f.). Die Matrix 0/1 „ist der Kern der uns beherrschenden Simulationsprozesse“ (ebd.: 110). Realität, Geschichte oder Ereignisse können nicht mehr stattfinden, da sie bereits existieren - codiert auf einer Matrix, einem binären System, jederzeit abrufbar und schematisch einzuordnen. Wirklichkeit ist hyperreal, sie ist die „exakte Verdopplung des Realen“ (ebd.: 113). Konnte im Simulakra der ersten Ordnung das Reale durch Imitation verortet werden, hat Realität nun 77 jeden Bezugspunkt verloren und sich in endlos kombinierbare Modelle aufgelöst, die um sich kreisen: „Das Problem der Zeichen, die Frage nach ihrer vernünftigen Bestimmung, nach dem Realen und Imaginären an ihnen, nach ihrer Verdrängung, ihrer Verkehrung, nach der Illusion, die sie darstellen, nach dem, was sie verschweigen oder nach ihren Nebenbedeutungen - das alles wird auf dieser Ebene ausgelöscht“ (ebd.: 90). Baudrillards Thematisierung der Digitalität, seine Problematisierung der binären Codierung von Wirklichkeit, weist Parallelen zu der dekonstruktivistischen Lesart der okzidentalen Philosophietradition auf, die ich im 3. Kapitel vorstellte. Wirklichkeit konstituiert sich im Kontext der metaphysischen Philosophietradition durch binäre begriffliche Schemata, denen ein Ursprungsgedanke inhärent ist (vgl. 3.1.). Baudrillard sieht diese „entweder/oder“- Struktur der Wirklichkeit in einem digitalen Code systematisiert. Diese Umschreibung kongruiert mit der dekonstruktivistischen Lesart Derridas, da beide Zugänge das hegemoniale Moment in der Binarität verwirklicht sehen. Allerdings verwendet Baudrillard eine andere Strategie, um der digitalisierten Wirklichkeit entgegenzutreten. Er bewegt sich nicht wie Derrida innerhalb der binären begrifflichen Struktur, um diese aufzubrechen (vgl. 3.1.1.) - vielmehr sucht er nach einem Außerhalb der Digitalität, um zu zeigen, dass die binäre Struktur der Beschreibung von Wirklichkeit nicht gerecht werden kann. Das Digitale stellt Wirklichkeit nur unzureichend dar, da Vielfalt und Widersprüche innerhalb der Matrix 0/1 keine Berechtigung haben. Der Verweis auf ein Außen des binären Codes ist dann zugleich ein Verweis auf das heterogene Element, dass durch die 0/1 abhanden kommt. Der Heterogenität von Wirklichkeit wird Rechnung getragen, indem die Matrix 0/1 verlassen wird. Dies soll im folgenden erläutert werden. 5.2. „SUPERBEE SPIX COLA 139“ Das Digitale ist nicht nur unter uns, da „die zentrale Stellung des Codes (...) die Definition der Macht selbst“ (Baudrillard 1982: 123) ist. Binarität beherrscht Wahrnehmung, Denken, Handeln und lässt die Realität Geschichte werden und diese damit verschwinden. Das „Ende der Geschichte“ (Baudrillard 1990: 29) ist Ergebnis der binären Codierung von Wirklichkeit, da diese Realität nicht 78 erfassen kann. So wird das Außerhalb der Matrix 0/1, das dem ordnenden Charakter der „entweder/oder“- Struktur gegenübersteht, zu einem Politikum. In ihm manifestiert sich das heterogene Element der Wirklichkeit, dass durch die hegemoniale Binarität negiert wird. Insofern ist für Baudrillard all das politisch bedeutsam, was die binäre Signifikation in Frage stellt und angreift. Als Beispiel hierfür nennt er die Graffiti, die 1972 in New York aufkamen. Diese „wilde Offensive“ (Baudrillard 1982: 120) von unbedeutenden Namen, Zahlen oder Wortkombinationen auf Wänden und U-Bahnen bricht mit dem Gesetz der Bestimmbarkeit aller Elemente. Graffiti wie „SUPERBEE SPIX COLA 139 KOOL GUY CRAZY CROSS 136“ (ebd.: 123) besitzen keinen Sinn und keine Botschaft. Ihre Unbestimmtheit, ihre Leere ist systemangreifend, da „eine Verdrehung und Verkehrung des Codes, die ihn in seiner eigenen Logik, auf seinem eigenen Terrain besiegt, (...) seine Referenzlosigkeit überbietet“ (ebd.: 123). 27 Es ist nicht möglich, diese Zeichen zu interpretieren, ihnen Bedeutungen zuzuschreiben oder sie zu vereinnahmen; darin liegt ihre politische Relevanz. Sie entgehen dem Prinzip der Bezeichnung und brechen als „leere Signifikanten in die Sphäre der städtischen, erfüllten Zeichen ein, die sie durch ihre bloße Präsenz auflösen“ (ebd.: 123). Sie sind als ein Aufschrei in die verloren gegangene Realität zu verstehen, da sie das binäre Benennungssystem ignorieren und ihm sinnentleerte Zeichen entgegenstellen. Patricia Duncker erklärt in ihrem Roman „Die Germanistin“ das Gefühl der Irritation durch ein unbestimmbares Zeichen folgendermaßen: „Da erfasste mich das seltsame Gefühl, dass mir etwas gezeigt, ja erklärt würde, dass mir aber bislang jede Möglichkeit fehlte, den Code zu entschlüsseln (...). Mir war, als sähe ich zum erstenmal eine neue Sprache in geschriebener Form. Ich stand vor einem Zeichen, das seine Bedeutung nicht preisgab. Ich weiß es noch so genau, weil es mir damals unheimlich war“ (Duncker 1999: 64). Duncker beschreibt das unbedeutende Zeichen als unheimlich, da es die ordnende „entweder/oder“- Struktur verlässt. Die Präsentation dieser „absoluten Differenz“ (Baudrillard 1982: 126) zur systematischen Binarität wirkt irritierend - die Waffe der Graffitis im Kampf gegen das Differenzsystem ist die Differenz, die ein Außerhalb der codierten Wirklichkeit vermuten lässt. Die Matrix 0/1 wird als das entlarvt, was sie ist: Unzureichend, Wirklichkeit zu beschreiben und darzustellen. Sprühdosen visualisieren das existente Außen, 27 Baudrillard bezieht sich in seiner Theorie der Irritation explizit auf die ersten Graffiti von 1972, da später eine gesellschaftliche Codierung der Graffiti als „Kunst“ oder „Vandalismus“ 79 das wiederum der Schlüssel zu einer Wirklichkeit ist, die Heterogenität und Widerspruch Rechnung trägt. Somit ist all das von politischer Relevanz, was Binarität angreift und in Frage stellt; das Aufzeigen eines „Außerhalb“ der Matrix 0/1 durch unbestimmbare Zeichen wie die Graffiti ist in diesem Kontext zu verstehen. Die digitalisierte Wirklichkeit wird durch Zeichen, die sich einer Bedeutung entziehen, irritiert. Diese Irritation ist als ein Verweis auf die Vielfalt, Heterogenität und Differenz von Wirklichkeit zu begreifen, die innerhalb der Digitalität nicht dargestellt werden können. Das Verlassen der Matrix 0/1 stellt demnach eine politische Praxis dar, die – ebenso wie die Philosophie Lyotards (vgl. 4.1.) – die Wahrung des heterogenen Elementes vor Augen hat. Der „totalitären Gefahr“, dem hegemonialen Gestus der 0/1, begegnet Baudrillard durch die Strategie der Irritation. Am Beispiel der Graffiti wurde bereits deutlich, wie der politische Kampf auf der Ebene der Signifikation konzeptionalisiert werden kann. Graffitis entgehen dem Prinzip der Bestimmbarkeit und Eindeutigkeit aller Zeichen. Ihre Unbestimmtheit, ihre Leere ist systemangreifend, da „eine Verdrehung und Verkehrung des Codes (...) ihn in seiner eigenen Logik, auf seinem eigenen Terrain besiegt“ (Baudrillard 1982: 123). Die Verdrehung und Verkehrung von binär codierten Bedeutungen findet jedoch nicht nur durch Zeichen statt, die sich jeglicher Benennbarkeit widersetzen - auch die Reorganisation von Codes bricht mit der Eindeutigkeit und Bestimmbarkeit aller Zeichen. Reorganisation verstehe ich im Sinne des Konzeptes der Bricolage. Die Strategie der Bricolage erschließt sich aus der strukturalistischen Sprachtheorie de Saussures‘ (vgl. 3.1.1. sowie 5. Kapitel). De Saussure bestimmt Zeichen als relational; sie erlangen nur durch ihre Verschiedenheit zu anderen Zeichen eine Bedeutung. Ein Zeichen kann nicht verabsolutiert oder einer autonomen Betrachtung unterzogen werden, da es erst im Zusammenspiel mit anderen Zeichen einen bestimmten Sinn erhält. Entscheidend ist somit nicht das Zeichen an sich, sondern seine Stellung oder Position innerhalb eines Differenzsystems: „Die Bedeutung ist dem Zeichen nicht auf geheimnisvolle Weise immanent, sondern sie ist funktional, das Ergebnis seiner Verschiedenheit von anderen Zeichen“ (Eagleton 1988: 75). erfolgte. 80 Wenn nun ein Zeichen aus seiner ursprünglichen Position im Differenzsystem herausgerissen und an anderer Stelle lokalisiert wird, entsteht ein neues Zeichen. Dieser Vorgang der Umdeutung, Rekombination und –organisation von Zeichen innerhalb des ursprünglichen Differenzsystems wird als Bricolage beschrieben. Die Bedeutungserweiterung Strategie von der Zeichen, Bricolage die der ermöglicht binären Struktur eine des Zeichensystems widerspricht. Dadurch zeigt das Konzept der Bricolage die Unzulänglichkeit der dichotomen Bedeutungskonstitution innerhalb des Zeichensystems auf - unzulänglich aus dem Grund, da heterogene, vielfältige oder widersprüchliche Bedeutungen und Sinnkonstitutionen innerhalb der Digitalität keinen Platz finden. Am Beispiel der „riot grrrl“- Bewegung werde ich nun die Strategie der Bricolage illustrieren (5.3.1.). Der politische Kampf um Signifikation formiert sich hierbei vor allem um normativ-patriarchal konnotierte Begriffe wie „Mädchen“ und „Frau“. Die Befreiung dieser Begriffe aus ihrem hegemonialsexistischen Bedeutungskontext entspricht einem politischen Akt im Sinne Baudrillards: Bricolage subvertiert – wie das Aufzeigen eines Außerhalbs der 0/1 - das Denken in binären Oppositionen. Zeichen werden durch Bricolage für heterogene Bedeutungen geöffnet. So werden bislang marginalisierte, ausgeschlossene oder subsumierte Bedeutungen von Zeichen sichtbar. 5.3. Die „riot grrrl“- Bewegung Die „riot grrrl“- Bewegung ging aus der amerikanischen Hardcore- und PunkSzene hervor. Als symbolischer Auftakt gilt das 1991 veröffentlichte Manifest „Revolution Girl Style Now“, in dem Mitglieder der Bands „Bikini Kill“ und „Bratmobile“ Mädchen und Frauen der Underground-Szene dazu aufrufen, „Alternativen zu schaffen zur beschissenen, christlich-kapitalistischen Art, die Dinge zu tun (...) sich gegen den Seelentod zu wehren, öffentlich zu schreien und zu heulen, Bands zu gründen, Fanzines zu betreiben, sich gegenseitig das Spielen von Instrumenten beizubringen und überhaupt zurückzuschlagen“ (zitiert in Tietjen 1996: 125) 28. 28 ein Fanzine ist eine eher minimalistische, kopierte Zeitschrift, die in der Regel kostenlos auf Konzerten verteilt wird 81 Es folgten Festivals, politische Aktionen und Gründungen von „Pro-GirlsGruppierungen“ wie Secret Girl Conspiracy, SWIM (Strong Women in Music) und WAC (Women‘s Action Coalition). Die Bezeichnung „riot grrrl“ ist als Aufforderung („riot, grrrl!!!“) zu verstehen, sich gegen patriarchale Normen innerhalb der Musik- und Kulturszenen zu wehren: „Grrrl bringt das Knurren zurück in unsere Miezekatzenkehlen. Grrrl zielt darauf, die ungezogenen, selbstsicheren und neugierigen Zehnjährigen in uns wieder aufzuwecken, die wir waren, bevor uns die Gesellschaft klar machte, dass es Zeit sei, nicht mehr laut zu sein und Jungs zu spielen, sondern sich darauf zu konzentrieren, ein ‚girl‘ zu werden, das heißt eine anständige Lady, die die Jungs später mögen würden“ (Gilbert/Kile 1997: 221). „Riot grrrls“ funktionalisieren die aggressive und laute Musik des Punk und Hardcore für ihre feministischen Ziele. Obwohl diese Szenen männliche Signifikationssysteme privilegieren (vgl. McRobbie 1981), bieten „Rock und vor allem Punk durch die Herausbildung einer kraftvollen Kombination von Sex und Wut einen geeigneten Raum (...) für eine Politisierung des Zusammenhangs von Sexualität und weiblicher Identität“ (Gottlieb/Wald 1994: 170). Frauen und Mädchen, die bislang als konstitutives Außen der Rock-Kultur fungierten (z.B. Konsumentin, Groupie, Fan) werden zu Produzentinnen, indem sie Bands gründen, Konzerte organisieren und Fanzines herausgeben. Vor allem die Fanzine-Kultur der „riot grrrls“ bietet ein Forum für Selbstdefinition und –repräsentation von Frauen und Mädchen innerhalb der Subkultur. Neben einer journalistischen Funktion (Termine, Konzertberichte, Adressen, Interviews) ermöglichen Fanzines, „private Geschichten und Geheimnisse zu erzählen, die von der dominanten Kultur unterdrückt und verboten werden“ (Gottlieb/Wald 1995: 182). 5.3.1. „I don‘t want to play girl to your boy no more“ „Noch immer werden Mädchen in ihrem alltäglichen Leben erniedrigt: auf der Straße, am Arbeitsplatz und in der Schule, in persönlichen Beziehungen, in der Familie und auf den Seiten der Mädchenmagazine. Deshalb gibt es Riot grrrl (...)“ (Sheddy 1998: 28). Die Themen, die die „riot grrrls“ in ihren Musiktexten und Publikationen aufgreifen, kongruieren mit denen des klassischen, institutionalisierten 82 Feminismus. Sexismus als strukturelle Essstörungen, Heterosexismus oder Gewalt, sexualisierte Homophobie sind von Gewalt, jeher Anknüpfungspunkte für feministische Kritik. Das eigentlich Neue an der „riot grrrl“- Subkultur sind die Strategien und Taktiken, mit denen die jungen Frauen und Mädchen ihre Themen in die Öffentlichkeit tragen. Der Begriff „grrrl“ gibt hierfür einen ersten Anhaltspunkt: „Statt unermüdlich darauf zu bestehen, ‚Frau‘ genannt zu werden, wie das im MainstramFeminismus der Fall ist, machen Riot Grrrls eine Mädchen-Identität stark: gleichzeitig kühn und linkisch und auch nicht bloß ‚Girls‘, sondern trotzige ‚Grrrls‘, die der dominanten Kultur ins Gesicht brüllen“ (Gottlieb/Wald 1995: 182). Der Begriff „grrrl“ hat demnach eine doppelte Funktion: Zum einen irritiert er im Sinne der différance (der graphische Einschub „rrr“ ist akustisch nicht wahrnehmbar, aber dennoch präsent, vgl. 3.1.1.) den patriarchal konnotierten und normativ bestimmten Terminus „girl“; zum anderen verweist er auf die vom klassischen Feminismus negierte Phase der weiblichen Adoleszenz. Mary Celeste Kearny weist darauf hin, dass „the concept of ‚feminine adolescence‘ exists as a paradox in Western society because femininity and adolescence are diametrically opposed to one another“ (Kearny 1998: 149). Sie kommt zu dem Schluss, dass feministische Konzepte weibliche Adoleszenz zumeist ignorieren, indem sie „girlhood“ lediglich als Vor-Stadium zum anerkannten „womanhood“ betrachten. Die Gleichung „Feminismus = Erwachsen“ rekurriert zudem auf dem normativen Gehalt des Begriffs Adoleszenz: Unabhängigkeit, Widerstand und Rebellion als Charakteristika von Adoleszenz sind männlich konnotiert. „Riot grrrls“ beziehen sich explizit auf die weibliche Adoleszenz-Phase, indem sie „traditionelle Elemente einer Mädchenkultur herausheben – wie die Intensität der ersten Mädchenfreundschaften, die Wichtigkeit der beginnenden Menstruation (...), die enorme Rolle von Geheimnissen und deren Weitererzählung als Widerstandsform gegen elterliche Kontrolle (...)“ (Gottlieb/Wald 1995: 183). Sie füllen den Begriff Adoleszenz mit „grrrlishness“, indem sie sich offen und laut für eine Form weiblicher Selbstdarstellung einsetzen, die die „speziellen Erfahrungen von kleinen Mädchen und ihre kulturelle Formierung weder ausschließt noch unterdrückt und entwertet“ (ebd.: 183). 83 Joanne Gottlieb und Gayle Wald sehen in dem Begriff „grrrl“ den zentralen Aspekt der „riot grrrl“- Bewegung illustriert. Es handelt sich hierbei um eine „Wiederaneignung der Sprache des Patriarchats“ (ebd.: 182). Die Begriffe „Mädchen“ oder „girl“ sind normativ-patriarchal gefüllt und werden in der Regel abwertend verwendet. Die „riot grrrls“ erobern diese Begriffe zurück, indem sie ihnen eigene, oppositionelle und widersprüchliche Bedeutungen verleihen, die durch das „rrr“ verdeutlicht werden. Dies zeigt sich ebenso in der Wahl der Band-Namen wie z.B. Hole, Nymphs, Dickless, Babes in Toyland, Cunts with Attitude oder 7-year-bitches: „Riot grrrls“ bedienen sich sexistischer Klischees, um diese mittels Überbetonung und Ironisierung „verkehrt an diejenigen zurückzugeben, die sie verliehen haben“ (Tietjen 1996: 125). Die Annahme und Re-Inszenierung bestehender Stigmata wie „Schlampe“ oder „Hure“ ist „eine subversive Politikform, weil die etablierten Bedeutungen nicht rundweg abgelehnt werden (...), sondern indem die Bedeutungen im Gegenteil überbetont und so, wenn nicht zerstört, so doch zumindest lächerlich gemacht werden“ (ebd.: 125). Die Bühnenshows der „riot grrrls“ visualisieren diese Politik, indem laute, aggressive Punkrock-Musik mit einer sexualisierten Inszenierung einhergeht. Spitzenkleider und Baby-Dolls, „zu kurze“ Röcke und das Spielen von Instrumenten ohne Oberbekleidung der Musikerinnen zeugen von einer parodistischen Selbstdarstellung, da die gesungenen oder gebrüllten Songtexte Vergewaltigung, Missbrauch und Sexismus thematisieren. „Riot grrrls“ inszenieren sich durch ihr Outfit eigenmächtig als sexualisierte Objekte. So wird das Bild, aus dem „sexistische und misogyne Träume sind“ (Gottlieb/Wald 1995: 185), ins Scheinwerferlicht gezerrt. Gottlieb und Wald beschreiben diese Darstellungsformen als „eine Art Gegengift gegen die vorausgegangenen Vergewaltigungen (...) “ (ebd.: 185). Aus diesem Grund stellen die Bühnenshows der „riot grrrls“ eine feministische Praxis dar. Ihre überzeichneten, sexualisierten Inszenierungen greifen den patriarchalen, sexistischen Blick auf, um ihn dem Publikum ironisiert entgegenzuschleudern. Diese „zynische Verbeugung vor der Porno- und Kulturindustire“ (Tietjen 1996: 125) beschreibt Sabine Tietjen als den „kynischen Trick“ (ebd.: 126), der auf den Philosophen Diogenes von Sinope zurückgeht. Dieser wurde von den Bürgern „ho kyon“, der Hund, genannt, da er in einer Tonne auf dem 84 Marktplatz wohnte. Er reagierte auf diese Beleidigung nicht mit Ablehnung, sondern nahm den Titel an, indem er den Bürgern ans Bein pinkelte. Der kynische Trick wirkt irritierend, da die Annahme von (fremd)auferlegten Stigmata überraschend und unerwartet erfolgt: Anstatt sich gegen die Termini „Schlampe“ oder „Hure“ zu wehren, zelebrieren „riot grrrls“ diese Begriffe, indem sie sich z.B. mit Lippenstift „Schlampe“ auf den Bauch schreiben. An diesem Beispiel wird deutlich, dass es sich bei dem kynischen Trick um eine Spielart des „semiotischen Guerillakriegs“ (vgl. Eco 1967) handelt. Stigmatisierende Zeichen werden nicht einfach angenommen, sondern überbetont. Die sexualisierten Inszenierungen der „riot grrrls“ erlangen ihren zynischen Charakter, indem direkt und explizit auf die Verobjektivierung hingewiesen wird - nämlich durch den Wortlaut „Schlampe“, der auf dem nackten Oberkörper steht. Diese überzeichnete Verwendung sexualisierter Symboliken gleicht einer parodistischen Selbstinszenierung im Sinne Butlers (vgl. Butler 1991: 209ff.). Indem sich „riot grrrls“ eigenmächtig als sexualisierte Objekte in Szene setzen, folgen sie dem patriarchalen Blick. Hier greift Butlers Gedanke der subversiven Wiederholung. Butler geht davon aus, dass die binäre Codierung der Matrix kein starres Gebilde ist, sondern durch Wiederholung operiert und gefestigt wird: „In bestimmter Hinsicht steht jede Bezeichnung im Horizont des Wiederholungszwanges; daher ist die ‚Handlungsmöglichkeit‘ in der Möglichkeit anzusiedeln, diese Wiederholungen zu variieren“ (Butler 1991: 213). „Riot grrrls“ handeln in diesem Sinne: Sie wiederholen den patriarchalen Blick durch die Annahme der Stigmata „Hure“ oder „Schlampe“, indem sie die dafür vorgesehenen Symboliken (z.B. körperbetonte oder gar keine Kleidung) verwenden; gleichzeitig variieren sie den patriarchalen Blick, da sie ihn in einem anti-sexistischen Kontext äußern – ihre Musiktexte und Publikationen sind feministisch. „Riot grrrls“ verschieben den hegemonial-sexistischen Blick, indem sie ihn annehmen, überbetonen und ihn damit ad absurdum führen. Sie greifen zu dem Mittel der Ironie, dessen Zweck die Irritation der patriarchalen Matrix ist. Sexistische und misogyne Zeichen funktionieren im feministischen Kontext als zynischer Aufruf, die patriarchale Matrix zu zerstören. Der politische Kampf auf der Ebene der Zeichen, der „semiotische Guerillakrieg“, manifestiert sich demnach in der Überbetonung von Zeichen, 85 die durch den kynischen Trick und der subversiven Wiederholung im Sinne Butlers erfolgen; eine weitere Waffe im Kampf um die Signifikation stellt die Strategie der Bricolage dar. Das Konzept der Bricolage recodiert und relokalisiert Zeichen innerhalb des hegemonialen Zeichensystems. Zeichen werden aus ihrem ursprünglichen Bedeutungszusammenhang gerissen und an anderer Stelle lokalisiert (vgl. 5.2.). Das als Überschrift verwendete Zitat eines Flugblattes der „riot grrrls“ - „I don‘t want to play girl to your boy no more“ ist aus diesem Grund nicht nur inhaltlich im Sinne einer anti-sexistischen Parole zu begreifen, sondern steht für die Politik der Bricolage: Die Gegenüberstellung der normativ gefüllten Zeichen Mädchen/Junge oder männlich/weiblich wird abgelehnt. Die ursprüngliche Bedeutung des Zeichens „Mädchen“ - z.B. passiv, leise, zurückhaltend - wird mit neuen Bedeutungen gefüllt, die an anderer Stelle des Zeichensystems lokalisiert waren. Laut, aggressiv oder aktiv sind männlich konnotierte Attribute, die die „riot grrrls“ für sich beanspruchen und damit der patriarchalen Zeichenproduktion zuwiderhandeln. Sie werden zu politischen Akteurinnen im Sinne Baudrillards, da durch ihre Strategie der Bricolage die patriarchal codierte Matrix 0/1 subvertiert wird. Zudem ist die Strategie der subversiven Wiederholung und die der Bricolage vor dem Hintergrund der Philosophie Lyotards als ein Sprachspiel zu verstehen; in ihr kommt die „Legitimität radikaler Pluralität der Sprachspiele, Lebensweisen, Handlungsformen“ (Fechner 1990: 29) zum Ausdruck: Patriarchale Begriffe gelangen unzensiert in den Diskurs einer feministischen Bewegung – und werden durch Sprachspiele, die ihnen neue, anti-sexistische Konnotationen verleihen, zurückerobert. Allerdings führen die Sprachspiele der „riot grrrls“ oftmals zu Missverständnissen und Fehlinterpretationen ihrer Subkultur, wie sich im folgenden zeigen wird. 5.3.2. Von den „riot grrrls“ zu den „Girlies“ Zu Beginn dieses Kapitels erwähnte ich bereits, dass die politischen Taktiken der „riot grrrls“ als eine neue Form feministischer Praxis gewertet werden können. Die ironisierte Selbstzuschreibung von Stigmatisierungen im Kontext 86 des kynischen Tricks sowie die subversive Wiederholung des patriarchalen Blicks sind politische Strategien, die bislang kaum innerhalb feministischer Politik-Konzeptionen zu finden waren (vgl. Nave-Herz 1993). Der Grund hierfür ist die Gratwanderung, die dieser Politik der Überbetonung und Bricolage innewohnt. Normative feministische Politikentwürfe codieren „sexualisiert“ als sexistisch (so z.B. der liberale Feminismus der EMMA), während „riot grrrls“ die „zynische Sexualisierung“ als feministisch begreifen. Die Grenzen zwischen den beiden Polen „Sexualisierung = Sexismus/Objektstatus“ und „zynische Sexualisierung = Feminismus“ sind hybrid, da sie individuell empfunden werden. Die Unterscheidung von Zynismus auf der einen und Sexismus auf der anderen Seite, die die Strategie der ironischen Inszenierung verlangt, ist vorraussetzungsvoll und kann demzufolge zu Missinterpretationen führen. Tietjen zeigt dies in ihrem Aufsatz „Girlies – eine lachende Revolte“ (1996). Sie untersucht über 150 Artikel, Berichte und Reportagen, um zu verdeutlichen, wie die „riot grrrl“- Bewegung von den Medien vereinnahmt, bagatellisiert und umgedeutet wurde. Ihrer Analyse zufolge begann 1994 die Erschaffung von „weiblichen Wunderwesen in Blümchenrock und Kampfstiefeln‘“(Tietjen 1996: 120) seitens Allegra, BZ, Bravo Girl, EMMA, FAZ, Spiegel, Stern, taz oder Zeit. Allen gemeinsam ist die Entpolitisierung und Domestizierung der „riot grrrl“Subkultur durch das Verschweigen des feministischen Kontextes dieser Bewegung. Aus den „riot grrrls“ wird das „Girlie - Phänomen“ (vgl. Tietjen 1996: 124), das reibungslos in einen sexistischen Diskurs mündet. Es ist die Rede von „frechen Lolly-Lolitas“ und „nur scheinbar unschuldigen Schulmädchen“, die lieber „eine 69er- Nummer schieben (...) als die 68erBewegung endlos fortzusetzen“. Die „neuen Mädchen“ sind „meistens klein (oder groß), frech, sexy und so hübsch, als gebe es für das Hübschsein Bargeld auf dem Postamt“. Zudem haben „Girlies knallenge, irre Klamotten, super-sexy Outfits, straffe Haut und leuchtende Augen, mit Karriereweibern (...) nichts im Sinn“ und überlassen „das Denken (...) gern den Männern“ (vgl. Tietjen 1996: 120-124). Tietjen kommt zu dem Ergebnis, dass die „riot grrrl“- Bewegung „durch die Presse vereinnahmt und durchaus patriarchal um- bzw. neukonstruiert“ (ebd.: 133) wurde. Außerdem ließ sich der „feministische Medien-Mainstream (...) 87 überwiegend auf den konstruierten Männer-Mythos“ ein und verschenkte die „Definitionsmacht“ (ebd.: 133) über die feministische Subkultur der „riot grrrls“. Die Gründe hierfür liegen meiner Ansicht nach in dem Unverständnis gegenüber den Taktiken der „riot grrrls“. Die normativ-feministische Codierung „sexualisiert = sexistisch“ weist der „riot grrrl“- Subkultur einen anti-emanzipatorischen Impetus zu. Dies geschieht durch eine isolierte Betrachung der Strategie der „subversiven Wiederholung“: Wenn nur die Wiederholung des patriarchalen Blicks wahrgenommen wird, führt dies gezwungenermaßen zu einer Interpretation, die „sexualisiert“ mit „sexistisch“ gleichsetzt. Ausschlaggebend ist demnach die Betrachtung der Variation des patriarchalen Blicks, die Äußerung desselben innerhalb eines feministischen Kontextes. Fließt diese Subversion der patriarchalen Matrix nicht in die Analyse der „riot grrrl“- Subkultur mit ein, bleibt der anti-sexistische, emanzipatorische Anspruch der Bewegung verborgen. Eine einseitige Perspektive auf die Strategien und Taktiken der „riot grrrls“, die ausschließlich das Moment der Wiederholung und nicht das der Subversion erkennt, führt demnach zu einer Missinterpretation dieser Subkultur. Vor diesem Hintergrund ist die Umdeutung der „riot grrrls“ seitens des „feministischen Medien-Mainstreams“ (Tietjen 1996: 133) zu verstehen. Aus „riot grrrls“ werden „Girlies“, da der ironische und zynische Charakter der „riot grrrl“- Politik unberücksichtigt bleibt. Die Sprachspiele der „riot grrrls“ werden als eine Spielart des patriarchalen Zeichensystems bagatellisiert. 5.3.3. „Grrrls only“ Kearny kennzeichnet in ihrem Aufsatz „‘Don‘t Need You‘: Rethinking Identity Politics And Separatism From A Grrrl Perspective“ (1998) die politische Praxis der „riot grrrl“- Bewegung als eine Praxis der Abgrenzung: „Riot grrrls have adopted the radical political philosophy and practice of separatism in order to liberate themselves from the misogyny, ageism, and, for some, homophobia and racism they experience in their everyday lives“ (Kearny 1998: 149). Sie thematisiert hiermit den problematischen Aspekt einer essentialistischen 88 Politik, die eine Subjektpositionierung aufgreift – in diesem Fall die Subjektpositionierung „grrrl“ – und diese zum Ausgangspunkt politischer Handlungen stilisiert (vgl. 4.3.). Am Ende des 4. Kapitels argumentierte ich mit Hall, dass eine „Politik, die darin besteht, Identität in der Differenz zu leben – eine Politik, die anerkennt, dass wir alle aus vielen sozialen Identitäten, nicht aus einer einzigen, zusammengesetzt sind“ (Hall 1994: 84) handlungsleitend für postfeministische Politikformen sei. Eine Identitäten-Politik im Namen der „Frauen“, „Schwarzen“ oder „grrrls“ birgt die Gefahr einer Essentialisierung und Universalisierung dieser Identifizierungen; weitere Subjektpositionierungen werden durch diese Abstraktion ausgeschlossen oder subsumiert (vgl. 2.2. und 3.2.). Kearny umschreibt die Problematik einer feministischen Politik, die auf dem Unterdrückungsmoment Sexismus rekurriert, folgendermaßen: „The homogenizing effect of a separatist women‘s culture might be compared to the colonizing effect of patriachal fantasies, wherein the diffrences among women are ignored so as to totalize all members into one containable category, ‚women‘“ (Kearny separatististischen 1998: Ansätzen 165). Trotz dieser hält Kearny eine expliziten Kritik an Identitäten-Politik für unerlässlich: „Considering the subordination of adolescent girls in our society, it seems only natural that riot grrrls are separating from males and older women as well as mainstream culture (...) to establish and assert their own sociopolitical identity via a culture that remains distinctly girloriented and unadulterated. Seperatism works for riot grrrls because it is temporary tactic enacted for safety and empowerment“ (ebd.: 149). Dieses Dilemmata feministischer Theorie und Praxis skizzierte ich bereits im 3. Kapitel (3.3.): Die gleichzeitige Unverzichtbarkeit sowie Unmöglichkeit einer Bezugnahme auf ein feministisches „Wir“. Unmöglich, da postkoloniale feministische Kritik zeigt, dass ein feministisches „Wir“ Hegemonie sichert und Ausschlüsse produziert; unverzichtbar, da politische Schlagkraft und Handlungsfähigkeit sich im Namen der „Frauen“, „grrrls“, „Schwarzen“, „Lesben“ etc. äussert: „Separatism has functioned for such groups first as a survival tactic, a temporary means of acquiring social, political, and cultural space and time by separating from hegemonically defined and controlled institutions, relationships, and roles“ (Kearny 1998: 151). Der Ambivalenz von Unmöglichkeit und Unverzichtbarkeit einer IdentitätenPolitik stellt Spivak den Entwurf des strategischen Essentialismus entgegen. 89 Indem sie eine Unterscheidung zwischen essentialistischer und strategischessentialistischer Politik vornimmt, formuliert sie einen Ausweg aus dem Dilemmata feministischer Theorie und Praxis. Spivak argumentiert, dass „political agency is impossible without the creation of a common group identity formed through a ‚strategic essentialism‘ (...) which allows the disempowerment to own a place, to own their voices, and, thus, to assert themselves within hegemonic structures and relationships“ (zitiert in Kearny 1998: 152). Das Konzept des „strategischen Essentialismus“ wird in dem Ansatz des Combahee River Collectives (vgl. 2. Kapitel) deutlich: „The women involved in the Combahee River Collecive during the 1970s formulated a theory of ‚identity politics‘ which allowed them to ground and motivate their political oppositional practices in their own experience as African-American women (...) the Combahee theory does not require its practitioners to essentialize into one category (e.g. woman). Instead, it allows them to assert their multiple subject positions and identifications (...) in order to resist the simultaneous oppressions which result from that heterogenous identity“ (Kearny 1998: 168). Kearny weist darauf hin, dass „many non-white and non-Western feminists have argued that a group‘s self-definition as marginal should never be confused with the strategies of homogenization and marginalization involved in forms of cultural hegemony such as colonialism“ (ebd.: 166). Die Feministischen Migrantinnen Frankfurt (FeMigra) sprechen in ihrem Aufsatz „Wir, die Seiltänzerinnen. Politische Strategien von Migrantinnen gegen Ethnisierung und Assimilation“ (1994) von einer „Gratwanderung“ (FeMigra 1994: 49), auf die sie sich begeben, wenn sie die Bezeichnung „Migrantinnen“ als politische Identität formulieren. Die Konstruktion einer strategisch gedachten Identität ist „möglicherweise für einige ausschließend und für andere wiederum einengend“ (ebd.: 49). Die Reflexion dieser Problematik markiert den Unterschied zwischen einer essentialistischen und einer strategisch-essentialistischen Politik. Erstere führt zu einer ahistorischen, kontextlosen Bezugnahme auf die Kategorie „Frau“. Die Politik des strategischen Essentialismus will jedoch die Differenzen innerhalb der Kategorie „Frau“ betonen und aufwerten. In diesem Zusammenhang ist die temporäre Ausrichtung des strategischen Essentialismus von großer Bedeutung, da diese den strategischen Gestus des Konzeptes unterstreicht. Eine temporäre Strategie impliziert die ständige Reflexion von politischen Konzeptionalisierungen; die Inblicknahme von möglichen Modifikationen – 90 seien es gesellschaftliche oder gruppeninterne – wirken kontextlosen und ahistorischen Bestimmungen von politischen Taktiken und Zielen entgegen. Eine strategisch-essentialistische Politik beinhaltet somit die in 4.3. formulierte Forderung nach einer unbedingten und ständigen Reflexion der eigenen Positionierungen und Aussagen: Von wo aus spreche ich? Vor welchem Hintergrund entwickle ich meine Positionen? In welchem Kontext entsteht meine Theorie und meine politische Praxis? Die Beantwortung dieser Fragen führt zu einer kritischen Selbstreflexion, die Prämisse für eine strategischessentialistische Politik ist. Kearny sieht in der „riot grrrl“- Bewegung diese Politik verwirklicht: „For riot grrrls, identity politics means making a claim for and taking back what is theirs – adolescent girlhood – and reconstructing it as a position of social identification and political agency“ (Kearny 1998: 156). Und weiter: „It might be helpful to look to groups such as riot grrrl to understand how a common group identity can be created, maintained, and powerfully asserted in a way that does not require ist members to abstract themselves from their specific subject positions and individual interests in history and society“ (ebd.: 150). Wie bewerkstelligen „riot grrrls“ die Herausforderung einer Nicht-Abstraktion von individuellen Subjektpositionierungen bei gleichzeitiger Formulierung der gemeinsamen politischen Identität „grrrl“? Das anschaulichste Beispiel hierfür ist das „Riot Grrrl– Manifest“. Die Bezeichnung „Manifest“ ist irreführend, da es sich nicht um die Formulierung allgemeingültiger, feststehender politischer Programme oder Forderungen handelt. Das Gegenteil ist der Fall: Seit Veröffentlichung des „Manifestes“ (1991) wird es ständig korrigiert, erweitert oder revidiert. Der Entwurf kursiert von grrrl zu grrrl, von Gruppe zu Gruppe und wird immer wieder neu gestaltet und erarbeitet. Diese prinzipielle Offenheit der „riot grrrl“- Medien wird außerdem durch die Fanzine-Kultur verdeutlicht, da jedes „grrrl“ die Möglichkeit hat, selbst ein Fanzine herauszugeben und/oder unzensiert ihre Meinung oder ihre persönlichen Erlebnisse in einem Fanzine wiederzugeben. Das Ergebnis der offenen Medienpolitik zeigt sich in der komplexen inhaltlichen Ausgestaltung der „riot grrrl“- Fanzines. Die Bandbreite erstreckt sich von dem Erzählen einer individuellen Geschichte über Gedichte und Kurzgeschichten bis hin zu Konzertberichten, politischen Aufrufen oder 91 theoretisch-feministischen Artikeln. Dieser patchworkartige Charakter der „riot grrrl“- Medien führt zu einer Selbstpräsentation der „grrrls“, die Vielfalt und Offenheit signalisiert. Einer vereinheitlichenden und abstrahierenden Definition wird so entgegengewirkt. Der Begriff „riot grrrl“ ist daher kein Begriff, der sich normativ füllen lässt; seine Bedeutung erschließt sich kontextuell, da die Subjektpositionierungen der jeweiligen Fanzine- Autorin/Sängerin/Künstlerin etc. ausschlaggebend für den Gehalt des Begriffes sind. Meiner Ansicht nach illustriert das Fanzine-Konzept der „riot grrrls“ die Lyotard‘sche Forderung nach einem „Patchwork der Minderheiten“. Die inhaltliche Vielfalt der Veröffentlichungen gleichen heterogenen Sprachspielen im Sinne Lyotards: „Die Gerechtigkeit wäre folgende: der Vielfalt und Unübersetzbarkeit der ineinander verschachtelten Sprachspiele ihre Autonomie, ihre Spezifität zuzuerkennen, sie nicht aufeinander zu reduzieren; mit einer Regel, die trotzdem eine allgemeine Regel wäre, nämlich ‚laßt spielen ... und laßt uns in Ruhe spielen‘“ (Lyotard 1982: 33). Diese „allgemeine Regel“ korrespondiert mit der undogmatischen Medienhandhabung der „riot grrrls“. Da jedem „grrrl“ die Möglichkeit gegeben ist, ihre eigene Geschichte oder politischen Interessen darzustellen, spricht jede für sich – „autonom“ und „spezifisch“, um es mit Lyotard auszudrücken. Es ergibt sich ein „Patchwork der Minderheiten“, ein „Patchwork der Subjektpositionierung ‚grrrl‘“, da der Begriff „grrrl“ sich kontextuell und perspektivistisch aus Autorin/Künstlerin/Musikerin der erschließt. Position Der jeder Abstand zu einzelnen normativen Entwürfen des Begriffs „grrrl“ wird gewährleistet, indem die unterschiedlichen Subjektpositionierungen artikuliert und so abstrakte Gesamtdeutungen des Begriffs „grrrl“ verhindert werden. Hieraus schließe ich, dass das politische Konzept des „Patchwork der Minderheiten“ einen strategisch-essentialistischen Charakter aufweist. Dies wird vor allem durch die Nähe zu den Überlegungen Butlers deutlich: Butler proklamiert die Notwendigkeit der Kategorie „Frau“ für den Feminismus, meint aber, dass der Feminismus nicht wissen muss, wer diese „Frauen“ sind (vgl. Butler 1993). Ähnlich verhält es sich mit der Subjektpositionierung „grrrl“. Zwar bezieht sich die „riot grrrl“- Bewegung immer wieder auf diesen Entwurf, verhindert jedoch durch 92 die offene und heterogene Medienpräsentation eine inhaltlich-normative Bestimmung des Begriffes, der Ausschlüsse produziert. Eine strategisch-essentialistische Politik im Kontext des „Patchwork der Minderheiten“ behauptet somit ihre politische Handlungsfähigkeit durch einen expliziten Bezug auf den Kampfbegriff „grrrl“, ohne diesen jedoch normativ zu füllen. Das Konzept des strategischen Essentialismus erlaubt die Formulierung einer gemeinsamen politischen Identität „grrrl“, ohne dabei festzulegen, was ein „grrrl“ ist. Politische Handlungsfähigkeit und Schlagkraft, die sich im Kontext eines ausdrücklichen Bezuges auf den Entwurf „grrrl“ ereignet, wird so aufrechterhalten. 5.4. Schlussfolgerung Der im 4. Kapitel entwickelte Begriff des Postfeminismus impliziert politische Handlungsmuster, die von einer essentiellen und universalistischen Bestimmung des feministischen Subjektes absehen. Dies wird durch den transversalen Blick auf politische Konfigurationen gewährleistet (4.2.1.). Zudem wahrt die postfeministische Perspektive eine kritische Distanz gegenüber der „Großen Erzählung über die Frau“, indem sie die Differenzen innerhalb der Kategorie „Frau“ sichtbar werden lässt und aufwertet (4.2.2.). Die Lyotard‘sche Forderung „Krieg dem Ganzen (...), aktivieren wir die Differenzen“ (Lyotard 1982: 48) ist Prämisse für postfeministische Politik. Diese steht herkömmlichen Organisationsformen politischer Praxis – wie z.B. Parteien oder festen Gruppenzusammenhängen im Sinne einer IdentitätenPolitik - gegenüber, da ihre Grundlage für politische Handlungsfähigkeit auf der Formulierung allgemeiner und abstrakter Aussagen rekurriert. So bezieht sich eine Politik im Namen „der Frauen“ ausschließlich auf die Kategorie Geschlecht und lässt weitere Subjektpositionierungen von Frauen (z.B. sexuelle Orientierung, Herkunft, Alter, Klassenzugehörigkeit) unberücksichtigt. Die postfeministische Perspektive stellt in diesem Zusammenhang eine Herausforderung an herkömmliche feministische Entwürfe dar: Durch eine kritische Distanz gegenüber normativen Deutungs- und Handlungsmustern 93 feministischer Theorie und Praxis öffnet sie den Begriff des Feminismus für vielfältige Bedeutungen und Handlungsmöglichkeiten. Einer hegemonialen Bestimmung des feministischen Subjektes sowie normativen politischen Konzeptionen, die einen abstrakten und universalisierenden Charakter aufweisen, wird so entgegengewirkt. Am Beispiel der „riot grrrl“- Subkultur (5.3.) werden diese Herausforderungen an normative Politik-Konzeptionen deutlich: 1. Die politische Praxis der „riot grrrls“ zeichnet sich durch innovative Strategien und Taktiken aus, was zu einer Bedeutungsvielfalt innerhalb feministischer Politik-Konfigurationen führt (5.3.1). 2. Der strategische Essentialismus der „riot grrrls“ vermeidet eine normative Bestimmung des feministischen Subjektes „grrrl“, ohne politische Handlungsfähigkeit einzubüssen (5.3.3.). zu 1. Die zeichentheoretischen Überlegungen Baudrillards bieten Ansatzpunkte für eine feministische Politik, die auf der Ebene der Signifikation zu verorten ist. Baudrillard sieht das totalitäre Element in der binär codierten Wirklichkeit des Simulakra der 3. Ordnung verwirklicht (vgl. 5.1.). Das Denken in binären Oppositionen, das ordnende Prinzip der „entweder/oder Struktur“ ereignet sich innerhalb der digital codierten Matrix 0/1. Digitalität negiert Vielfalt, Heterogenität und Differenz, indem Bedeutungen auf die Codierung 0/1 reduziert und abstrahiert werden. Als Konsequenz daraus ist all das von politischer Relevanz, was Binarität angreift und in Frage stellt. Baudrillard sieht eine Irritation der binär codierten Matrix durch das Aufzeigen eines „Außerhalbs“ derselben: Die ersten Graffitis als Beispiel für unbestimmbare, sinnentleerte Zeichen subvertieren die digitalisierte Wirklichkeit, indem sie die binär codierte Matrix 0/1 verlassen und so auf ein „Außerhalb“ hindeuten (5.2.). Diese Irritation durch unbestimmbare Zeichen ist als ein Verweis auf die Vielfalt, Heterogenität und Differenz von Wirklichkeit zu begreifen, dem die Digitalität nicht gerecht werden kann. Das Aufzeigen eines „Außerhalbs“ binärer Codierungen kongruiert mit dem Konzept der Bricolage, welches durch die Reorganisation von dichotomen Bedeutungsschemata mit der Eindeutigkeit und Bestimmbarkeit aller Zeichen bricht. Beide Strategien sind politisch relevant, da sie die hegemonial verfasste Zeichenstruktur subvertieren. 94 Die politische Praxis der „riot grrrls“ ist vor diesem Hintergrund zu verstehen. Ihr Widerstand gegen patriarchale Normen und Denkweisen begreife ich als ein Sprachspiel (vgl. 4.1.), das sexistische und misogyne Bedeutungszuschreibungen zum einen durch das Konzept der Bricolage, zum anderen durch die Strategie der subversiven Wiederholung irritiert (vgl. 5.3.1.). Durch die Taktik der Bricolage erfährt die ursprüngliche Bestimmung des Zeichens „Mädchen“ eine Bedeutungserweiterung: Während die patriarchale Matrix das Zeichen „Mädchen“ als leise, passiv und zurückhaltend codiert, erweitern „riot grrrls“ das Zeichen „Mädchen“, indem sie es mit widersprüchlichen Bedeutungen wie laut, aggressiv oder aktiv füllen. So wird der patriarchalen Zeichenproduktion zuwidergehandelt. Die Annahme von stigmatisierenden Zeichen im Sinne des kynischen Tricks korrespondiert mit der Strategie der subversiven Wiederholung nach Butler. Indem „riot grrrls“ sich eigenmächtig als sexualisierte Objekte inszenieren, folgen sie dem patriarchalen Blick; gleichzeitig variieren sie ihn, da ihre Selbstdarstellung in einem anti-sexistischen, feministischen Kontext erfolgt. In der Taktik der subversiven Wiederholung manifestiert sich die weiter oben erwähnte Herausforderung an normative feministische Politikkonzepte. Die meiner Ansicht nach innovative Strategie einer parodistischen Selbstinszenierung führt zu Missverständnissen und Fehldeutungen der „riot grrrl“- Bewegung (vgl. 5.3.2.). Grund hierfür ist die Gratwanderung zwischen der Unterscheidung „sexualisiert = sexistisch“ und „zynische Sexualisierung = feministisch“. Die Umdeutung der „riot grrrls“ zu „Girlies“, die auch innnerhalb des hiesigen feministischen Diskurses stattfand (vgl. Tietjen 1996), zeugt von einer Sperre seitens Vertreterinnen normativer Politik-Konzeptionen gegenüber den feministischen Strategien und Taktiken der „riot grrrls“. zu 2. Der strategische Essentialismus der „riot grrrl“- Subkultur findet seinen Ausdruck in der prinzipiellen Offenheit der „riot grrrl“- Medien. Durch eine undogmatische Selbstdarstellung Medienhandhabung der „riot wird grrrl“- eine vielfältige, Subkultur heterogene durchgesetzt, die vereinheitlichenden Subjektbestimmungen entgegenwirkt (vgl. 5.3.3.). Der patchworkartige Charakter der „riot grrrl“- Fanzines verhindert eine normative Festlegung des Begriffes „grrrl“ und signalisiert Vielfalt. Hier zeigt sich die 95 Verwirklichung des politischen Entwurfes „Patchwork der Minderheiten“, der sich durch heterogene Sprachspiele auszeichnet. Eine Abstraktion von individuellen Subjektpositionierungen wird durch die Selbstdefinition als „grrrl“ nicht abverlangt. Nichtsdestotrotz ist der Begriff „grrrl“ als ein politischer Kampfbegriff zu verstehen, der für die „riot grrrl“- Bewegung von zentraler Bedeutung ist. Das Konzept des strategischen Essentialismus im Kontext eines „Patchwork der Minderheiten“ erlaubt die Formulierung einer gemeinsamen politischen Identität „grrrl“, ohne dabei festzulegen, was ein „grrrl“ ist. Der Inhalt des Begriffes „grrrl“ scheint demnach beliebig, da er sich aus den jeweiligen Kontexten, den jeweiligen Subjektpositionierungen der Leserinnen/Künstlerinnen/Autorinnen etc. erschließt. Allerdings ist diese Beliebigkeit erwünscht: Sie verhindert eine autoritäre Bestimmung dessen, was und wie ein „grrrl“ ist. Die Unbestimmtheit des Begriffes „grrrl“ ist nicht mit einem Verlust an politischer Handlungsfähigkeit gleichzusetzen. Im Gegenteil: Die politische Stärke der „riot grrrl“- Bewegung formiert sich um das offene Konzept „grrrl“. „Grrrl“ signalisiert Vielfalt und Heterogenität - und wirkt so dem „colonizing effect of patriachal fantasies“ (Kearny 1998: 165) entgegen. Der strategische Essentialismus der „riot grrrls“ manifestiert sich in dem unzensierten und unzensierbaren Gebrauch eines politischen Kampfbegriffes, der perspektivistisch und kontextuell hergestellt wird. Aufgrund subversiver politischer Taktiken (1.) sowie einer strategischessentialistischen Politik (2.) kennzeichne ich die „riot grrrl“- Subkultur als postfeministisch. Die postfeministische Perspektive will durch den transversalen und postmodernen Blick auf feministische Konzeptionen dem normativ-hegemonialen Gehalt feministischer Theorie und Praxis auf die Spur kommen. Die Strategie der Bricolage und die der subversiven Wiederholung des patriarchalen Blicks zeugen von einer neuen Perspektive auf feministische Politik, die hierdurch eine Erweiterung um die Mittel Ironie und Zynismus erfährt. Gleichzeitig bieten der transversale und der postmoderne Ansatz Lösungsvorschläge, wie politische Handlungsfähigkeit jenseits eines stabilen feministischen Subjektes und jenseits normativer politischer Grundlagen zu denken ist. Das Beispiel der „riot grrrl“- Bewegung illustriert dies: Die im 4. 96 Kapitel vorgenommene Definition des postfeministischen Konzeptes – transversal, um einer essentiellen und universalistischen Bestimmung des feministischen Subjektes entgegenzuwirken sowie postmodern, um eine kritische Distanz gegenüber der „Großen Erzählung über die Frau“ zu wahren – findet sich in der strategisch-essentialistischen Politik der „riot grrrls“ wieder. Die kritische Distanz gegenüber einer normativen Bestimmung des Begriffes „grrrl“ durch den Entwurf „Patchwork der Minderheiten“ wird im Kontext des strategischen Essentialismus durch eine heterogene, offene Medienpolitik gewährleistet; der Abstand zu normativen politischen Handlungsformen, der gleichzeitig zu einer Öffnung und Bedeutungsvielfalt innerhalb feministischer Politik-Konzeptionen führt, wird durch den Bezug auf die Ebene der Signifikation erreicht. Die postfeministische Perspektive öffnet das Zeichen „Frau“ für vielfältige, unvorhersehbare Bedeutungen. Bricolage und subversive Wiederholung als politische Handlungsmuster, die auf der Ebene der Signifikation anzusiedeln sind, lassen postfeministische Zeichen entstehen, die dem patriarchalen Bedeutungssystem zuwiderhandeln. Postfeministische Zeichen subvertieren die patriarchale Matrix durch Ironie und Zynismus. Ihre politische Relevanz gründet auf der Irritation der hegemonialen Zeichenproduktion. So werden „riot grrrls“ zu politischen Akteurinnen im Sinne Baudrillards, da ihr „semiotischer Guerillakrieg“ (vgl. Eco 1967) die Totalität und Eindeutigkeit des binären Signifikationssystems angreift. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass eine Politik im Zeichen des Postfeminismus innovativ und undogmatisch neue Formen des politischen Widerstandes erschließt. Irritation und Subversion durch Ironie und Zynismus sind ein Beispiel für politische Handlungsmöglichkeiten, die auf der Ebene von kulturellen Codierungen greifen. Postfeministische Zeichen müssen jedoch in einem strategisch-essentialistischen Kontext situiert werden, um der Gefahr einer Abstraktion und Universalisierung zu entkommen. Nur so kann das Zeichen „Frau“ als politische Bezugsgröße vor einer hegemonialen Verfassung bewahrt werden, die Ausschluss und Subsumtion mit sich bringt. 97 6. Fazit – Postfeminismus als Herausforderung Um die Ergebnisse meiner Arbeit zu bündeln, greife ich auf die in der Einleitung formulierten Fragestellungen zurück: Auf welchen normativen Grundlagen, auf welchen Ausschlüssen basiert das feministische Subjekt der bundesdeutschen Frauenbewegung und forschung? Postkoloniale feministische Kritik zeigt, dass die hiesige Frauenbewegung ein feministisches „Wir“ konstituiert, das die Erfahrungen weißer, heterosexueller Feministinnen des Mittelstandes universalisiert und diese als politischen Maßstab setzt. Migrantinnen werden als die ethnisch „Anderen“ markiert und ausgegrenzt, wodurch die hiesige Frauenbewegung ihr aufgekärtes, emanzipiertes Selbstbild erlangt (vgl. 2. Kapitel). Wenn feministische Wissenschaft und Politik herrschaftsfrei arbeiten will, benötigt sie ein Instrumentarium, das Abstand nimmt von abstrahierenden Deutungsmustern. Postkoloniale Positionierungen fordern in diesem Zusammenhang eine Kontextualisierung und Perspektivierung der Kategorie Geschlecht, da diese nicht isoliert von anderen Kategorien sozialer Schließung wie Ethnizität, sexuelle Orientierung, Alter oder Klassenzugehörigkeit betrachtet werden kann; die Kategorie Geschlecht ist im Sozialen situiert und daher mit weiteren Subjektpositionierungen verwoben. Folgende Fragestellung schließt sich an: Wie kann die Kategorie Geschlecht als Gegenstand feministischer Wissenschaft und Politik unter Berücksichtigung von postkolonialer Kritik konzeptionalisiert werden? Um dem Anspruch postkolonialer Positionierungen gerecht zu werden, schlage ich die Perspektive des Postfeminismus vor. Der postfeministische Bilck impliziert die dekonstruktivistische Lesart Derridas, die das Ausgegrenzte und Verschwiegene des hegemonialen feministischen „Wirs“ durch den Kunstgriff der différance ans Licht bringt. Die différance verdeutlicht, dass die Kategorie Geschlecht einer azentrierten, rhizomatischen Konfiguration im Sinne von Deleuze und Guattari gleicht: Geschlecht vermittelt sich differential und 98 relational zu weiteren Subjektpositionierungen und kann aus diesem Grund keine identische und absolute Größe sein. Aus der dekonstruktivistischen und rhizomatischen Konzeptionalisierung von Geschlecht ergibt sich die transversale Perspektive, die ein Merkmal des postfeministischen Gestus ist. Der transversale Blick auf die Kategorie Geschlecht wirkt einer essentiellen und universalistischen Bestimmung des feministischen Subjektes entgegen, da er das feministische „Wir“ durch Azentrierung für vielfältige Bedeutungen öffnet (vgl. 3. Kapitel). Im Kontext des transversalen Denkens erweist sich die philosophische Strömung der "Postmoderne" als eine vielversprechende Allianz für die feministische Theorie. Anhand des Postmoderne-Konzept Lyotards wird deutlich, wie die „Große Erzählung über die Frau“ durch die Entwertung von Heterogenität normativen Bestimmungen des feministischen Subjektes Vorschub leistet. Der Lyotard‘sche Entwurf „Patchwork der Minderheiten“, welcher die „Legitimität radikaler Pluralität der Sprachspiele, Lebensweisen, Handlungsformen“ (Fechner 1990: 29) fordert, nimmt Abstand von einer normativen Denkweise. Vor diesem Hintergrund kennzeichne ich den Begriff Postfeminismus als postmodern, da er eine kritische Distanz gegenüber der hegemonial verfassten „Großen Erzählung über die Frau“ wahrt, indem er Differenzen innerhalb der Kategorie „Frau“ aufwertet und benennt (vgl. 4. Kapitel). Es ist augenscheinlich, dass die postfeministische Perspektive auf die feministische Theorie sowie auf feministische Praxis gleichermaßen anzuwenden ist; der transversale und der postmoderne Entwurf berühren erkenntnistheoretische wie auch politische Aspekte des Feminismus. Beide Sphären erfahren Herausforderung: durch Zum die postfeministische einen durch die Perspektive Problematisierung eine des Kollektivsubjektes „Frau“, zum anderen durch die Öffnung von politischen Konzepten für vielfältige feministische Handlungsoptionen. Die scheinbare Unverzichtbarkeit auf ein großes feministisches „Wir“, das durch Abstraktion auf das Unterdrückungsmoment Sexismus reduziert wird und weitere Formen gesellschaftlicher Diskriminierung (z.B. Rassismus, Heterosexismus) ausschließt oder subsumiert, fungiert als Prämisse innerhalb feministischer Wissenschaft. Das 99 Kollektivsubjekt „Frau“ garantiert verallgemeinbare Forschungsergebnisse, die universal die Situation der „hiesigen Frauen“ aufgreifen und wiedergeben. Vor diesem Hintergrund ist die Sperre gegenüber postfeministischen Forderungen zu verstehen. Ihr subjektkritischer Zugriff problematisiert die Konstitution einer universalen „Frau“ als einen hegemonialen Akt. Die Prämisse feministischer Forschung ist ein stabiles, identifizierbares Subjekt, das durch Ausschluss und Subsumtion konstruiert wird. Das Forschen im Namen der „Frauen“ scheint nur möglich, wenn weitere Subjektpositionierungen von Frauen wie sexuelle Orientierung, Klassenzugehörigkeit, körperliche Verfassung, Herkunft oder Alter als zweitrangig in die Analyse eingehen. Die postfeministische Perspektive wehrt sich entschieden gegen diese Vorgehensweise, die die Erfahrungen einiger privilegierter Frauen als Maßstab setzt. An dieser Stelle sei auch auf die vergleichbare Problematik der Rezension poststrukturalistischer Theorien innerhalb der gesamten soziologischen Disziplin verwiesen (3.3.); die „parasitäre“ Anwesenheit poststrukturalistischer Zugänge unterminiert klassische Analysekategorien wie „Klasse“, „Gesellschaft“ oder „Geschlecht“ und zeigt so die Grenzen der Soziologie auf (vgl. Stäheli 2000). Herausfordernd wirkt zudem der postfeministische Blick auf politische Konzepte der Frauenbewegung. Die Frage, die sich stellt, lautet: Wie verhält es sich mit der politischen Handlungsfähigkeit im Zeichen des Postfeminismus? Postfeministische Politik-Konzeptionen handeln sich den Vorwurf des Unpolitischen ein, da normative politische Grundlagen im Zuge der Subjektkritik ebenfalls als Projektionsfläche einiger weniger Frauen der „hiesigen Frauenbewegung“ entlarvt werden. Der Begriff des Politischen erfährt demzufolge eine Erweiterung durch postfeministische Zeichen, die selten auf Verständnis treffen. Postfeministische Politik-Entwürfe erschließen neue feministische Widerstandsformen wie die der subversiven Wiederholung des patriarchalen Blicks oder die der parodistischen Selbstdarstellung im Sinne des „kynischen Tricks“. Ironie, Zynismus und Subversion als politisch relevante Strategien und Taktiken werden oftmals im Kontext normativer feministischer Politik missverstanden, da sie patriarchale Klischees visualisieren und aufgreifen: Wenn ausschließlich die Darstellung patriarchaler 100 Bilder wahrgenommen und der anti-sexistische, feministische Kontext dieses Konzeptes verschwiegen und übersehen wird, führt dies zu einer Umdeutung und Missinterpretation postfeministischer Taktiken als anti-emanzipatorisch (vgl. 5. Kapitel). Die Herausforderungen, vor denen der normative Feminismus steht – Problematisierung des feministischen „Wirs“ sowie Infragestellung politischer Grundlagen - illustrieren zugleich die Herausforderungen an postfeministische Zeichen. Es gilt, den Vorwurf des Unpolitischen zu widerlegen und aufzuzeigen, dass gerade der Verlust normativer Konzeptionen als Gewinn für die feministische Wissenschaft und Politik zu werten ist. Ich begreife eine Politik im Zeichen des Postfeminismus als notwendigen Schritt in Richtung eines herrschaftskritischen, emanzipatorischen Feminismus. Das Zeichen „Frau“ wird durch die postfeministische Perspektive von seinem normativen Gehalt befreit und so in eine Zukunft vielfältiger, heterogener Bedeutungen entlassen – die Kodifizierung einer „Anderen Frau“ durch autoritäre Benennungspraktiken ist in diesem Zusammenhang nicht länger möglich. Das postfeministisch konnotierte Zeichen „Frau“ lässt sich nicht universalistisch, abstrakt oder essentiell fassen. Es ist ein „Patchwork der Minderheiten“, dem keine Mehrheit gegenübergestellt werden kann. So werden Ausschluss und Subsumtion der „Anderen Frauen“ vermieden. Um dem eigenen Anspruch eines herrschaftsfreien Impetus gerecht zu werden, situiere ich Politik im Zeichen des Postfeminismus im Kontext eines strategischen Essentialismus. Dieser garantiert politische Handlungsfähigkeit jenseits eines kollektiven Subjektes „Frau“, da er reflexiv und undogmatisch die Offenheit und Heterogenität des Zeichens „Frau“ als oberstes Postulat bewahrt, ohne jedoch den Gebrauch des Zeichens zu zensieren. Es gibt sie also noch, diese „Frauen“ - nur weiß niemand mehr, wer sie eigentlich sind (vgl. Butler 1993). Postfeministische Zeichen produzieren daher Uneindeutigkeiten, die jedoch nicht mit Unsicherheiten zu verwechseln sind: Es ist sicher, dass die Uneindeutigkeit des postfeministischen Zeichens „Frau“ jenseits der Macht anzusiedeln ist – und daher eine Politk impliziert, die pointiert und schlagkräftig die patriarchale Matrix subvertiert. 101 7. Literatur Adorno, Theodor W. (1982): Negative Dialektik. Frankfurt/Main Baldauf, Anette/Weingartner, Katharina (Hg.) (1998): Lips. Tits. Hits. Power? Popkultur und Feminismus. Wien/Bozen Baudrillard, Jean (1982): Der symbolische Tausch und der Tod. 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