Rituale. Spielregeln des Lebens VON PA U L A VÄT H Am 10. Dezember blickt die Welt wieder einmal auf Oslo. Dann wird die weltweit wichtigste Auszeichnung für Menschen oder Organisationen, die sich im verflossenen Jahr für eine friedliche Welt einsetzten, verliehen. Sie folgt einem strengen Ritual: Nach der Verleihung der goldenen Medaille mit dem Konterfei Alfred Nobels plus Urkunde und Scheck geht es in einem Fackelumzug vom Rathaus ins Grand Hotel, wo sich die Preisträger vom Balkon der Nobel-Suite der Öffentlichkeit zeigen. Etwa um die Zeit, als Alfred Nobel sein Vermächtnis diktierte, begann sich die Wissenschaft für Rituale zu interessieren. Es waren an der Wende zum 20. Jahrhundert zunächst die Ethnologen, die unter diesem neuen Begriff vor allem religiöse Praktiken und Bräuche fremder Völker untersuchten. Gut 100 Jahre später sind Rituale Gegenstand von großen interdisziplinären Sonderforschungsbereichen, die mittels Grundlagenforschung, Feldstudien, Befragungen, Experimenten, Ausgrabungen, Datenbankanalysen zu dem Ergebnis kommen: Rituale sind unter anderem der Stoff, aus dem die Zivilisation gemacht ist. Von Anfang an und überall. Kein Wunder, dass uns Rituale bei dieser Historie als zeitlos erscheinen und in Stein gemeißelt. Aber genau »The same procedure as last year, Miss Sophie?«, fragt Butler James alle Jahre wieder an Silvester im Sketch »Dinner for One«. Mit Wiederholungen nach festgelegten Regeln stillt der Mensch sein Bedürfnis nach Ordnung und Sicherheit. Rituale, definiert als geregelte Kommunikationsabläufe, sind 2016 Thema vieler Kulturveranstaltungen im Augustinum. das sind sie gerade nicht. Vielmehr verbinden Rituale Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, indem sie mit der Zeit gehen, sich anpassen und sich in einem fort weiterentwickeln. Es gibt Rituale des Übergangs, die Liturgie des Gottesdienstes, Rituale der Heilung, Alltagsgewohnheiten, das Protokoll der Politik. Rituale sind überall zu finden, begleiten uns in unserem Lebenslauf und bieten Heimat und Geborgenheit im Jahreskreis. Auch im Augustinum, das mit seinen Festen seit jeher dafür sorgt, » Feste sind in der Zeit, was die Wohnung im Raum ist. « antoine de saint-exupery dass sich im Lauf eines Jahres Zeiten des unbeschwerten Feierns und Angebote des Sammelns und Innehaltens abwechseln. Besonderer Schalttag Im nächsten Jahr gibt es nun zwei Anlässe, für die wir ein neues Ritual ins Auge gefasst haben: Da wäre zunächst der Schalttag am 29. Februar. Dieser zusätzliche Tag soll ausnahmsweise ganz anders werden als alle anderen 365 Tage. Damit das gelingt, laufen die Vorbereitungen in den Häusern bereits auf Hochtouren. Mehr sei an dieser Stelle aber nicht verraten. Und dann wird 2016 das Reinheitsgebot des Bieres 500 Jahre alt. Wir finden, dass das Bier es nicht verdient hat, immer nur als Prosa im Schatten des Weines zu stehen, und versprechen Ihnen eine unterhaltsame und schmackhafte Wiedergutmachung. Es gehört zur Charakteristik der Rituale, dass manche Handlungen sinnlos erscheinen, wir aber dennoch daran festhalten. Der Friedensnobelpreis mag keinen Krieg verhindert haben, aber es ist dennoch gut, dass uns jedes Jahr bewusst wird, wie wichtig es ist, sich für den Frieden einzusetzen. Am 10. Dezember 2015 wird das tunesische Dialogquartett für seine Verdienste um eine pluralistische Demokratie in Tunesien ausgezeichnet. forum 4 | 2015 35
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