Klaus Liebers Otto von Guericke und das Abenteuer Vakuum Otto von Guericke Klaus Liebers und das Abenteuer Vakuum Erzählung Mit 30 historischen Stichen epubli ! & " & " ! # " $ " 1. Auflage 2015 Copyright: © 2015 Klaus Liebers published by: epubli GmbH, Berlin www.epubli.de Cover/Gestaltung: Printlayout & webdesign Potsdam nach einem Stich aus Kaspar Schott „Technica Curiosa“ ISBN 978/3/7375/3662/2 % $ % 6 Der Urknall von Magdeburg 13 ' ( ) * ) , -' 78 9: 88 *+ Das Magdeburger Wunder 39 % ( 8; <= ' In der Wunderkammer :7 % . / "0 1 & - . 2 1 Von Würzburg in die Welt + . 3 * " Neue Magdeburger Wunder 4 3 . " & ' % ' Auf dem Gipfel des Ruhms 5 1 # 7>; 77; 78> 136 78: 7<< 7=; 167 7:6 76= 76? . % 2 2 109 . 2 :7 6> ?7 ;8 ;6 . 7?9 7?8 1 Rat des ehrwürdigsten und mächtigsten Kurfürsten von Brandenburg und der Stadt Magdeburg Bürgermeister % Dichtgedrängt säumten die Menschen den Haidplatz in Regensburg. In mehreren Reihen standen Tausende von Schaulustigen. Die Fens/ ter der Häuser hatten sich zu Logenplätzen gewandelt, proppenvoll – einige Pfiffige hatten Dachluken erobert. Mit Neugier und Vorfreude warteten Männer, Frauen und Kinder auf den Bürgermeister aus Magdeburg. Nach 350 Jahren kehrte er in die Stadt seines Erfolges zurück. Damals hatte ihn Kaiser Ferdinand III. zu sich bestellt. Der Kaiser wünschte, Otto von Guerickes Experimente zu sehen. In jener Zeit experimentierte der Bürgermeister von Magdeburg noch mit Bierfässern, Kupferkesseln und Glaskugeln. Die Gesandten des Reichstages in Regensburg staunten über die Versuche, sprachen vom „Magdeburger Wunder“. Diesmal – im Jahre 2004 – zog Otto von Guericke unter großem Geleit mit 16 Pferden in Regensburg ein. Plakate verhießen ein Spek/ takel, das die Stadt noch nie gesehen hatte: OTTO VON GUERICKE – ZU GAST IN REGENSBURG 16 PFERDE WERDEN VERSUCHEN, DIE MAGDEBURGER HALBKUGELN AUSEINANDERZUREISSEN Das Schau/Experiment bildete den Höhepunkt des Festes, mit dem die Stadt an den Reichstag von 1654 erinnerte. Zu einem Fanfa/ rensignal öffnete sich die Rathaustür. Ein stattlicher Schauspieler schritt auf den Platz – gekleidet in der spanischen Mode jener Zeit: Dunkles Wams mit Armschlitzen, einreihig geknöpft, weißes Seiden/ hemd, samtene schwarze Kniehosen, Seidenstrümpfe und Schnallen/ 7 schuhe. Der weiße Spitzenkragen, die Spitzenmanschetten an den Ärmeln und die breite Amtskette strahlten Würde aus – Lippenbart und Kinnbart unterstrichen seine Persönlichkeit. Das Barett als Zei/ chen für einen Advokaten rundete das Bild ab. Wahrlich – der Schau/ spieler hätte Otto von Guericke sein können, der Bürgermeister von Magdeburg. Otto von Guericke verneigte sich tief vor dem Publikum. Zu sei/ nen Füßen ruhte eine Kupferkugel. Ihr Durchmesser erreichte be/ achtliche 54 Zentimeter. Die Kugel war aus zwei Halbkugeln zusam/ mengefügt und luftleer gepumpt. Der Luftdruck presste die Halbku/ geln zusammen. An beiden Kugelschalen befanden sich mächtige Ösen. Daran hatten Gesellen zu jeder Seite eine lange Eisenkette montiert. Otto von Guericke zeigte auf die im Sonnenschein glänzende Ku/ gel und verkündete: „16 Pferde – acht auf jeder Seite – werden versuchen, die zwei Halbkugeln auseinanderzureißen.“ Der Bürgermeister ließ seinen Blick durch das Publikum gleiten und fragte in die Runde: „Ob sie es schaffen werden?“ Rasch fügte er hinzu: „Sollte es den Pferden nicht gelingen, möge ein Kind zu mir kommen und mit seinen schwachen Kräften die Kugelhälften ausei/ nanderfallen lassen.“ Otto von Guericke beendete das Vorgeplänkel, winkte den Pfer/ deführern und das Schauspiel begann. Acht Männer, wie Landsknechte gekleidet, führten je zwei ge/ schmückte Kaltblüter auf den Platz: dunkelbraune Shires, schwarze rheinische Kaltblüter, rotbraune bis goldene Haflinger. Die Vorfah/ ren dieser Pferde hatten im Mittelalter als gepanzerte Streitrösser gedient. Augenblicklich eroberten sich diese Kraftpakete die Herzen der Zuschauer. Auf Kommando des Stallmeisters spannten die 8 Landsknechte zu jeder Seite die ersten zwei Pferde an die Ketten. Es folgten die nächsten Paare, bis auf jeder Seite schließlich acht schwere Zugpferde angespannt waren. Einige Zuschauer nannten sie liebevoll „Titanen der Rennbahn“ und schwelgten in Erinnerungen an den Höhepunkt einer jeden Hengstparade, wenn vier dieser beleibten Kaltblüter vor römische Streitwagen gespannt werden. Stürmen sie mit ungeahnter Geschwindigkeit über den Platz, dröhnt die Erde unter ihren Hufen und den Wagenlenkern werden die Knie weich. In diesem Augenblick tobt das Publikum vor Begeisterung. Das Anspannen der Kaltblüter erforderte großes Geschick. Auf jeder Seite mussten die Pferdeführer acht Rösser mit deren Kumme/ ten, Gurten, Spurriemen, Ortscheiden und Strängen zu einer „Mann/ schaft“ zusammenschließen. Langsam ergriff die zuerst angeschirrten Pferde eine wachsende Unruhe, schnell übertrug sich die Erregung auf die anderen. Ein ums andere Mal mussten die flinken Pferdefüh/ rer um die stämmigen Tiere herumwuseln und zwischen den über/ reizt hin und her stampfenden Pferden das Geschirr von Neuem ordnen. Für einen kurzen Moment stimmte alles. Sogleich gab Otto von Guericke das Kommando. Augenblicklich schlug die angespannte Ruhe in tosenden Lärm um. Die Landsknechte schrien auf die Pferde ein, steigerten ihre Kommandos mit hektischem Peitschenknall, schienen ihre eigenen Kräfte miteinbringen zu wollen. Die Pferdelei/ ber bebten vor Anstrengung. Laut aufschlagend holperten hier und da Stränge, Ketten und Ortscheide über den Platz. Mit leidenschaftli/ chen Zurufen feuerten die Zuschauer das Geschehen an. Mitten im Beifallssturm rief ein Junge: „Das ist wie beim Tauziehen in der Schule.“ Und wirklich: Mal zogen die acht Pferde auf der einen Seite die Kugel samt den gegnerischen Pferden rückwärts, mal war es umge/ kehrt. Der Kampf der sechszehn Pferde wogte einige Minuten unent/ 9 schieden hin und her – begleitet von dem ohrenbetäubenden Ge/ schrei der Landsknechte und dem Knallen ihrer Peitschen. Immer, wenn die Pferde auf einer Seite stärker zogen und sie ihre Widersacher auf der anderen Seite rückwärtszerrten, polterte die Ku/ gel über den Platz. Setzten sich die gegnerischen Pferde ausreichend zur Wehr, kamen alle sechszehn Kraftprotze kurzzeitig zum Stehen. Die Geschirre aller Pferde spannten sich und schleuderten die 250 Kilogramm schwere Kugel etwa einen halben Meter hoch in die Luft. In diesen Sekunden rissen die Titanen mit brachialen Kräften an beiden Halbkugeln. Diese Momente entschieden über Sieg oder Nie/ derlage – jeden Augenblick erwarteten die Zuschauer das Auseinan/ derreißen der zwei Halbkugeln. Kaltblüter können bis zum Dreifa/ chen ihres Körpergewichts wegziehen, wobei jedes Tier bis zu 1 000 Kilogramm auf die Waage bringen kann – einige sogar noch mehr. Von all dem Schinden stand den Pferden der Schaum vor den Mäu/ lern – und trotzdem: Den Siegerkranz errang an diesem Tag der Luftdruck, der die Halbkugeln zusammenpresste – den Pferden blieb der Lorbeer versagt. Otto von Guericke ließ die Pferde ausspannen und bat ein Kind zu sich. Ein Junge eilte herbei. Auf den Fingerzeig des Bürgermeisters drehte das Kind den Hahn an der Kugel auf. Zischend strömte Luft hinein und augenblicklich fielen die zwei Kugelschalen auseinander. Auf dem Heimweg hatten sich die Zuschauer vieles zu erzählen. Einige schwärmten von der Schönheit und der Kraft der Pferde, andere bewunderten die Größe und den Glanz der Kugel, wieder andere bestaunten den Bürgermeister und dessen Kostüm. Nach einiger Zeit mündeten schließlich alle Gespräche in dieselben Fragen: Was ist ein Vakuum? Wo existiert ein Vakuum? Auf der Erde? Im Himmel? Wie kann ein Vakuum hergestellt werden? Wozu dient es? Fragen über Fragen, die sich die Menschen seit alters her stellen. Könnte das Vakuum reden, würde es uns schier Unglaubliches zu erzählen haben. Beginnen würde es vielleicht so: 10 „Fast zweitausend Jahre lang lebten die Menschen im festen Glauben, dass es mich nicht gibt – noch schlimmer, gar nicht geben könne. Manche behaupteten: Die Natur habe eine Scheu vor der Leere. Einige argwöhnten: Welchen Sinn sollte eine Leere haben? Gottesfürchtige behaupteten: Alle Schöpfungen Gottes enden bei etwas Körperlichem – nicht bei einer Leere. Als Begründung führten sie ins Feld: Gottes Schöpfung sei vollkommen und in dieser Voll/ kommenheit habe eine Leere keinen Platz. Wieder andere unterstell/ ten mir: Eine Leere widerspräche der göttlichen Vorsehung. Einer behauptete gar: Ich sei ein Feind Gottes!“ Unter den Gelehrten war seit langem ein Streit zwischen Anhä/ ngern und Gegnern eines Vakuums entbrannt – anfangs fast unmerk/ lich, bald jedoch umso erbitterter. Auf der einen Seite standen For/ scher, wie Galileo Galilei, Gasparo Berti, Evangelista Torricelli und Blaise Pascal. Sie argumentierten mit den Ergebnissen ihrer Experi/ mente. Auf der anderen Seite hatten sich Patres in Stellung gebracht, wie Pater Athanasius Kircher vom Collegium Romanum in Rom. Unumstößlich galt für die Patres vom Jesuiten/Orden: Die Natur besitzt eine Scheu vor der Leere. Die Patres verschanzten sich hinter Aristoteles – auch hinter Gott, obgleich ein Vakuum keinem einzigen Bibelwort widerspricht. Die Begeisterung für Experimente zur Leere war in Rom aufge/ flammt, erreichte rasch Florenz und sprang geschwind nach Paris über. Sogar bis Warschau und Stockholm drangen die Neuigkeiten vor. Nur um die deutschen Lande schlug die Kunde einen Bogen – dort wüteten die letzten Schlachten des Dreißigjährigen Krieges. Kein Sterbenswörtchen war von den Forschungen aus Italien und Frank/ reich bis zu Otto von Guericke im kriegszerstörten Magdeburg vor/ gedrungen – nichts von Gasparo Berti und dessen Versuch mit einer Wassersäule in Rom, keine Silbe von Evangelista Torricelli und dem Experiment mit einer Quecksilbersäule in Florenz, nicht das Mindes/ te von Blaise Pascal und dessen Versuch auf dem Puy de Dôme in 11 der Auvergne. Doch mit dem Verstummen der Kanonen stieg Mag/ deburg auf zur Hochburg der Forschungen zum leeren Raum. Am Anfang seiner Forschungen zum Vakuum stand für Otto von Guericke das Erstaunen über das riesige Himmelsgewölbe – unbe/ greiflich die Anzahl der Sterne, unfassbar die Entfernungen der Himmelskörper. Wer vermag die Himmelskörper zu zählen? Was mag sich in dem bis ins Grenzenlose erstreckenden Raum befinden? Luft? Äther? Oder ist der Himmelsraum am Ende doch der stets geleugnete leere Raum? Und allmählich entbrannte in Otto von Guericke die Begierde, Licht in die Geheimnisse des Weltenbaus zu bringen. Mit raffiniert ersonnenen und technisch perfekt ausgeführten Ex/ perimenten begab sich Otto von Guericke in das Abenteuer Vakuum. Er wollte das Geheimnis der Leere entschleiern. Otto von Guericke wurde am 30. November 1602 in der Alten Stadt Magdeburg geboren. Er entstammte einer alteingesessenen und wohlhabenden Patrizierfamilie. Otto Gericke – unter diesem Namen tauften die Eltern ihren Sohn und das war der Name, unter dem Otto von Guericke bis zum 64. Lebensjahr gerufen wurde. Erst im hohen Alter erhob ihn Kaiser Leopold I. in den Adelsstand. 12 4 ' ( ) Ein Knall hallte durch alle Winkel des Anwesens von Otto Gericke, zerschnitt die Stille. Bleich vor Entsetzen starrten die zwei Gesellen auf die zusammengeknüllte Kupferkugel. Urplötzlich hatte eine un/ sichtbare Gewalt die Kugel ganz und gar zerdrückt. Der Schreck war den Männern bis ins Mark gefahren. Bevor sie sich recht besinnen konnten, eilte Otto Gericke herbei. Enttäuscht schaute er auf das, was von seiner Kugel geblieben war. Ein kleines Vermögen hatte sie gekostet. Es war bereits der dritte Versuch – und wieder ein Fehl/ schlag! Sollte es wirklich nicht möglich sein, eine Leere zu erzeugen? Spätestens mit diesem Misserfolg hätten die meisten Forscher aufgegeben. Sie hätten sich zu Aristoteles bekannt und wären davon überzeugt gewesen: Die Natur besitzt eine Scheu vor der Leere. Sie hätten auch René Descartes zugestimmt: In einem Vakuum würden die Wände sofort aneinanderschlagen, denn Gott habe in seinem Bauplan für die Welt kein Vakuum vorgesehen. Nicht so Gericke! Er stellte Aristoteles und Descartes in Frage. Als Otto Gericke mit seinen Forschungen begann, schrieb man das Jahr 1648 – oder war es 1649 oder gar bereits 1650? In seinen Schriften hinterließ Gericke keine Andeutung eines Datums und Historiker konnten sich noch nicht auf ein sicheres Datum verständi/ gen. Das ist auch nicht wichtig. Feststeht: Als Otto Gericke mit sei/ nen Forschungen begann, war er kein Jüngling mehr. Mit etwa 45 13 Jahren stand er bereits in der Mitte seines Lebens. Die Idee des leeren Raumes ließ ihn nicht mehr los. Der Ingenieur und Bürgermeister wollte ein Vakuum erzeugen. Wie? Indem er ein Gefäß auspumpe – er müsste lediglich verhindern, dass etwas anderes eindringe. Ohne Umschweife behandelte Gericke sein Anliegen wie ein technisches Problem, bei dem es drei Fragen zu lösen gebe: Welches Gefäß könnte er auspumpen? Welche Pumpe wäre geeignet? Wie könne er den leeren Raum in dem ausgepumpten Gefäß nachweisen? Bei seinem ersten Versuch kam Gericke auf die Idee, alle Ritzen zwischen den Dauben eines Bierfasses dicht zu verstopfen, das Fass mit Wasser zu füllen und anschließend auszupumpen. Auf diese Wei/ se müsste im Inneren des Fasses eine Leere zurückbleiben. Woher ein Fass nehmen? Kein Problem für Otto Gericke. Wie viele Magdeburger Patrizier/ familien besaßen die Gerickes die Braugerechtigkeit. Sie durften Bier für den eigenen Gebrauch brauen. Dazu bestellte Gericke ein oder zweimal im Jahr Brauknechte, die in Gerickes Braupfanne Bier brau/ ten und in Fässer abfüllten. Eines der leerstehenden Fässer wollte Gericke für das Experiment nutzen. Damit konnte sich Gericke der zweiten Frage zuwenden: Welche Pumpe ist zum Auspumpen des Wassers geeignet? Eine Pumpe wie für Brunnen hätte nicht funktioniert, denn das Fass war allseits abgedichtet. Eine für sein Vorhaben geeignete Pum/ pe gab es nicht, Gericke musste sie erst erfinden. Nur – wie müsste er die Pumpe konstruieren? Gericke kam auf die Idee, eine Handfeuer/ spritze zu einer Wasserpumpe umzubauen. Gewöhnlich diente ein solches „Wasser speiendes Rohr“ zum Löschen von Bränden. Aus ledernen Eimern, in denen Männer und Frauen das Wasser herbei/ schleppten, saugten Brandhelfer Wasser in die Spritze. Danach richte/ 14 ten sie diese auf den Brandherd. Stießen sie den Stößel kräftig in die Spritze hinein, ergoss sich ein gezielter Wasserstrahl auf die Flammen. Woher eine Feuerspritze nehmen? In seinem Anwesen war zwar eine Spritze vorhanden, doch sie genügte nicht Gerickes Ansprüchen. Er ließ sich Feuerspritzen aus Nürnberg kommen. Die dortigen Rotgießer besaßen die größten Erfahrungen im Gießen von Messing und im Herstellen von Feuer/ spritzen. Das Entscheidende war: In den Nürnberger Spritzen füllte der Kolben des Stößels die Höhlung nahezu exakt aus, ließ nur wenig Wasser vorbeistreichen. Zusammen mit einem Magdeburger Handwerker wollte Gericke eine Spritze zu einer Saugpumpe umbauen. Beim Herausziehen des Stößels sollte die Pumpe Wasser aus dem Fass heraussaugen, beim Zurückstoßen sollte sie das Wasser ins Freie herausdrücken. Als Bau/ herr der Stadt kannte er die Rotschmiede in Magdeburg. Er wählte den Geschicktesten aus. Diese Saugpumpe schraubte Gericke am Unterteil des Fasses mittels eines Flansches an ( 7 76). Für das Auspumpen des Wassers bezahlte er zwei kräftige Män/ ner. Als sie mit der Arbeit begannen, stockte Gericke der Atem. Gleich beim ersten Ziehen hatten die Männer so viel Kraft aufwen/ den müssen, dass die Schrauben brachen, mit denen die Pumpe am Fass befestigt war. Sollte er aufgeben? Nein! Solch einen Gedanken gab es für Gericke nicht. An einem der folgenden Tage rollte Gericke ein neues Fass aus dem Keller, ließ wiederum alle Ritzen zwischen den Dauben abdich/ ten und befestigte daran die Pumpe mit stärkeren Schrauben. Darauf füllte er das Fass erneut mit Wasser. Eigenhändig verstopfte Gericke das Spundloch mit einem Holzstopfen und dichtete alles so sorgfältig ab, wie es nur möglich war. Die Männer begannen ihr Werk aufs Neue. Bald vernahmen die Umstehenden überall am Fass ein Geräusch wie beim lebhaften Sie/ 15 den von Wasser – die Töne währten so lange, bis das Fass an Stelle des herausgepumpten Wassers mit Luft gefüllt war. Rasch überwand Gericke die Enttäuschung. Er fragte sich: Wie könnte ich den leeren Raum im Fass über eine längere Zeit erhalten? Eines war klar: Um das Fass herum durfte sich keine Luft befinden. Nur wie sollte das gehen? Gericke beriet sich mit Bekannten – dem Hausarzt, dem Stadtapo/ theker, einem Lehrer, auch mit dem Geistlichen seiner Gemeinde. Die studierten Leute interessierten sich für Gerickes Forschungen. Die Weltanschauungen, die sie vertraten, waren ein Spiegelbild ihrer Zeit: Der Lehrer und der Geistliche waren Anhänger von Aristoteles, der Arzt liebäugelte mit der Lehre von der unlösbaren Kette zwi/ schen Makrokosmos und Mikrokosmos, der Apotheker war der Al/ chimie zugewandt. Was sie vereinte, waren die Neugier an der Wis/ senschaft und ihr Glaube an Gott. Manche Stunde verbrachten die Männer und Gericke bei anre/ genden Diskussionen. Vielleicht entstand in dieser Runde die rettende Idee: Wie wäre es, wenn Gericke das mit Wasser gefüllte Fass in Was/ ser eintauchte? Dann könnte keine Luft von außen in das leer ge/ pumpte Fass eindringen. Nur wie sollte er vorgehen? Otto Gericke wählte zwei Fässer: ein kleines und ein größeres! Aus dem größeren entfernte Gericke den Deckel. In das geöffnete Fass wollte er das kleinere hineinstellen und alles mit Wasser aufzu/ füllen – sowohl das innere Fass und als auch alle Zwischenräume im äußeren Fass. So mit Wasser abgedichtet, könnte beim Auspumpen keine Luft von außen in das innere Fass eindringen. Für das Aus/ pumpen brauchte Gericke eine Pumpe mit einem längeren Mund/ stück – ein Mundstück, das durch die Dauben beider Fässer reichte. Gericke beauftragte den Rotschmied, ein längeres Rohr an die Pumpe anzulöten. 16 ) ) . + 1 % # . ( )) ! " ! , ) ) ) & ( )) ! # ) . & () , , . # ) + , ! , ! ! *& 5 + , ! ! + & & * & @ *& ! 17 # ) & ! " # )! # ) / + & 4' * , + & ( / Wenige Tage später erhielt Gericke die Pumpe zurück. Nunmehr bohrte er durch beide Fässer Löcher und führte das Mundstück bis ins Innere vom kleinen Fass. Danach ließ er es mit Wasser füllen. Eigenhändig verschloss er wiederum das Spundloch. Als Nächstes füllten die Männer das äußere Fass. Für Gericke blieben keine Zwei/ fel: Die Männer brauchten nur mit dem Auspumpen zu beginnen und im inneren Fass müsste diesmal ein leerer Raum zurückbleiben. Mit Leibeskräften begannen die Männer am Stößel der Pumpe zu ziehen. In den ersten ein bis zwei Stunden forderte es sie noch nicht allzu sehr, doch je mehr Wasser sie aus dem inneren Fass herausge/ pumpt hatten, umso schwerer fiel ihnen das wiederholte Herauszie/ hen des Stößels. Damit Gericke wusste, wie viel Wasser die Männer im Verlaufe ihrer Arbeit schon herausgepumpt hatten, fing er das Wasser in einem Bottich auf. Mit dem Sinken des Tages fand das Auspumpen ein Ende. Nach der Menge des herausgepumpten Was/ ser musste das Fass leer sein. Als sich der Tageslärm legte, nahmen alle einen Klang war, der bisweilen aussetzte und leisem Vogelgezwit/ scher glich. Die einbrechende Dämmerung verhinderte, dass Gericke diesem Zirpen sogleich nachgehen konnte. Der „Vogelsang“ hielt zwei Tage an. Am dritten Tag fand Gericke Zeit, sich darum zu kümmern. Er ließ das Wasser aus dem großen Fass so weit ausschöpfen, bis das kleinere zum Vorschein kam. Als er dessen Zapfloch öffnete, verschlug es ihm die Sprache: Das Innere des Fasses war mit Wasser gefüllt. Welche Enttäuschung! Ein schwa/ cher Trost blieb: Wenigstens ein Teil des Fasses musste leer geblieben sein – alle Umstehenden hatten beim Öffnen gehört, wie durch das Zapfloch etwas Luft eingeströmt war. Die Männer, die das Fass aus/ gepumpt hatten, wiesen alle Schuld von sich: „Herr Gericke! Wie ist das möglich? Hatten Sie sich nicht persön/ lich überzeugt, dass wir alle Ritzen zwischen den Dauben sorgsam abgedichtet hatten? Hatten Sie das Spundloch nicht selbst verschlos/ sen?“ 18 Otto Gericke schwieg. Er stand vor einem Rätsel: Auf welchem Weg konnte das Wasser in das Fass gelangt sein? Tagelang grübelte Gericke. Er stellte Versuche an, führte Gesprä/ che mit einem Schiffbauer und einem Böttcher, auch mit einem Weinhändler – ein jeder der Männer kannte sich mit Holz und Was/ ser aus. Schließlich kam Gericke zu dem Schluss: Gefäße aus Holz sind für das Erzeugen einer Leere nicht geeignet – durch die Poren des Holzes können Luft und Wasser hindurchdringen. Als Konse/ quenz entschied er sich für eine Metallkugel. Deren Wand wäre dicht – sowohl gegen Wasser als auch gegen Luft. So wäre es möglich, in der Kugel eine Leere zu erzeugen – nur diesmal müsste er Luft her/ auspumpen, nicht Wasser. Das war die Geburtsstunde von Gerickes Luftpumpe. Noch nie zuvor war ein Mensch auf den Gedanken ge/ kommen, aus einem Gefäß Luft herauszupumpen. Im Gegensatz zur damaligen Zeit verstehen wir heute unter einer „Luftpumpe“ ein Pumpe, die Luft in etwas hineinpumpt, zum Bei/ spiel in einen Fahrradschlauch. Eine Luftpumpe, wie sie Gericke ersann, bezeichnen wir heute als „Vakuumpumpe“. Wie anfangs geschildert missglückte auch dieses Experiment im ersten Anlauf. Gericke ließ sich nicht entmutigen. Die Schuld für das Fehlschlagen schrieb er dem Rotschmied zu. Gericke unterstellte dem Schmied, der Kugel keine ausreichende Rundung gegeben zu haben. Der Schmied hingegen war von seiner Arbeit überzeugt – er sah ei/ nen anderen Grund: Gericke hätte die Halbschalen zu dünn bestellt. Eigenmächtig wählte deshalb der Schmied für die zweiten Halbku/ geln dickeres Kupferblech. Das Kupfer glich schon einer Platte, etwa einen Zentimeter dick. Damit wurde das Treiben der zwei Halbku/ geln ein langwieriges und schweißtreibendes Unterfangen. Der Schmied musste das Kupfer lange Zeit erhitzen, damit er es mit dem Hammer in Kugelform schlagen konnte. Auch das Schlagen war mühselig, erforderte mehr Zeit als bei den ersten Halbkugeln aus dem 19 dünneren Blech. Dieser Aufwand ließ die Kosten für die Kugel be/ trächtlich anwachsen. Schließlich hatte der Schmied sein Werk vollbracht. Gericke konn/ te alle Gäste einladen, die schon dem misslungenem Experiment beigewohnt hatten – den Arzt, den Apotheker, den Lehrer und den Geistlichen. Auch dem Rotschmied bot Gericke an, dabei zu sein. Alle kamen. Als sie das Anwesen von Otto Gericke betraten und die Kupferkugel entdeckten, scherzte einer: „Hören wir heute wieder einen Knall? Oder hat es gar schon ge/ knallt?“ Gericke war sich seiner Sache ziemlich sicher und konterte: „Heute werden Sie Zeuge eines historischen Experiments! Stolz werden Sie allen verkünden können: ‚Wir waren dabei, als Otto Geri/ cke erstmals eine Leere erzeugt hat!‘ “ Bereits drei vier Stunden vor dem Eintreffen der Gäste hatten zwei vierschrötige Männer begonnen, die Kupferkugel auszupumpen ( 9). Wie bei der ersten Kugel ließ sich die Luft anfänglich leicht herauspumpen. Mühevoller wurde es, je mehr Luft bereits her/ ausgepumpt war. Zuletzt fiel es den Männern so schwer, dass sie sich bis zum Schweißausbruch anstrengen mussten – und dennoch konn/ ten sie nicht verhindern, dass der Stößel von allein zurückrutschte und mit Getöse an die Pumpe stieß. Damit war der Zeitpunkt erreicht, zu dem sich Gericke an den Lehrer wandte: „Herr Lehrer! Prüfen Sie bitte, ob beim Zurückstoßen des Stößels noch Luft aus der Pumpe austritt!“ Der Lehrer hielt seine Hand über das Ventil und verneinte. Die Antwort galt Gericke als Beleg, dass die Kugel leer gepumpt war. Dies musste er nunmehr beweisen. Gericke bat die Gäste, an die Kugel heranzutreten. Forsch öffnete er den Hahn. Mit kurzem, lautem Zischen drang Luft in die Kupfer/ kugel hinein. Alle staunten, wie heftig die Luft in die Kugel hinein 20 ) ) 2 ( ) 2 ( A:> ( " + 55 , 6> 4 4 ,B C & " * " " , & => / 4 , => 2 , :> 2 ! & ! ( * " 2 ) ) , @ * ! # + C / ) + *& 2 ) * ( + ! 21 ' C& ) ! % & " geströmt war. Nachdem sich die Gäste recht besonnen hatten, brach/ ten sie ihre Enttäuschung zum Ausdruck, dass alles so schnell abge/ laufen sei und sie das Ganze mit den Augen nicht recht verfolgen konnten. Gericke versprach, das Experiment so bald wie möglich zu wiederholen, damit sie alles noch einmal beobachten könnten. Ein sofortiges Wiederholen war ausgeschlossen – ein nochmaliges Aus/ pumpen der Kugel hätte erneut Stunden erfordert. Otto Gericke war stolz: Die Luftpumpe hatte geleistet, was er sich versprochen hatte – mit ihrer Hilfe konnte er ein Gefäß leer pumpen. Noch eines erfüllte ihn mit Freude: Die Kugel hatte standgehalten. Damit war ihm als Erstem – wie Gericke seinerzeit dachte – das Er/ zeugen einer Leere gelungen. Noch einer in der Runde war stolz, der Rotschmied. Otto Gericke hatte ihn und seine Arbeit mit einem an/ erkennenden Blick gewürdigt. Bald fand Gericke Zeit, das Experiment zu wiederholen. Aber/ mals lud er die Gäste ein. Alles lief ab wie beim ersten Mal. Dennoch glaubten die Gäste nicht an eine Leere in der Kupferkugel, zumal das Innere der Kugel ihren Blicken verborgen blieb. Der Lehrer berief sich auf Aristoteles und wies eine Leere grundsätzlich zurück, nicht nur in der Kugel, nein nirgendwo in der Natur könnte eine Leere erzeugt werden. Der Apotheker brachte seine Erfahrungen mit Stechhebern ins Spiel. Mit diesen könne er aus einem Rezipienten Essenzen ansaugen und sie würden erst wieder herausfließen, wenn er die obere Öffnung freigebe und Luft von oben nachströmen könn/ te. Das sei der Beweis: Die Natur habe eine Scheu vor der Leere. Auch der Arzt stimmte der Unmöglichkeit einer Leere zu. Insgeheim dachte er an seine Vorstellungen von der Kette, die den Makrokos/ mos und den Mikrokosmos verbindet und ein Vakuum ausschließt. In einer Leere wäre die Kette von Stoff zu Stoff und von Körper zu Körper unterbrochen. Die Gäste waren längst gegangen, da grübelte Otto Gericke noch immer über die Einwände der Gäste. Ein ums andere Mal fragte sich 22 Gericke: Wie könnte er die Zweifel über die Leere in der Kupferkugel ausräumen? Diese Einsprüche ließen Otto Gericke keine Ruhe – bis ihm eines Tags eine Idee kam. Ob Gericke selbst darauf gekommen war? Ob er sich an die Besuche beim Apotheker erinnerte, in dessen Labor viele Destilliergefäße standen? Oder ob der Apotheker den Tipp gegeben hatte, es doch einmal mit einer Glaskugel zu versuchen? Darüber schweigen Gerickes Aufzeichnungen. Gewiss hatte Gericke dem Apotheker früher schon einmal beim Destillieren zugeschaut. Dabei hatte er beobachten können, wie der Apotheker die Flüssigkeit in einem Kolben so lange erhitzte, bis sie siedete und verdampfte. In einem nach unten abgewinkelten Rohr verdichtete sich der Dampf wieder und tropfte als Destillat in eine Glaskugel. Eine solche Glas/ kugel nannten Apotheker eine Vorlage oder einen Rezipienten. Mit solch einem Rezipienten wollte Gericke die Versuche wiederholen. Umgehend bestellte Gericke in einer Glashütte eine dickwandige Glaskugel mit langem Hals. Glasbläser fertigten diese Rezipienten oder Glaskugeln aus Waldglas. Vom Schmied ließ Gericke aus Mes/ sing ein Mundstück herstellen, das in einem drehbaren Verschluss endete. Dieses Mundstück klebte er an den Hals der Kugel. Hierfür wählte er eine Pechmischung wie sie Goldschmiede benutzten. Damit stand der Plan für das nächstes Experiment fest: Er würde das Mundstück der Glaskugel auf die Luftpumpe aufsetzen und mit dieser die Luft aus dem Rezipienten herauspumpen. Danach müsste er den Hahn vom Mundstück schließen und die Luftpumpe abneh/ men. Als Ergebnis hätte er eine Glaskugel, in der eine Leere besteht. Gericke wusste auch schon, wie er dieses Vakuum eindrucksvoll de/ monstrieren könnte. Sobald Gericke die Glaskugel erhalten hatte, setzte er den Plan in die Tat umzusetzen. An einem Vormittag pumpten die Gesellen die Luft aus der Glaskugel und für den Nachmittag hatte er die Gäste eingeladen. 23 „Heute beweise ich Ihnen, dass in diesem Rezipienten ein Vaku/ um besteht.“ Gericke gab den Gesellen ein Zeichen, worauf der eine einen Dreifuß holte und der zweite einen Bottich darunter stellte. Nunmehr füllten beide den Bottich randvoll mit Wasser. Verwundert verfolgten die Gäste das Geschehen. Die Gesellen legten die Glaskugel so auf den Dreifuß, dass das Mündungsstück in das Wasser eintauchte. In diesem Moment steigerte sich die Neugier der Gäste. Sie tuschelten miteinander und stellten insgeheim Vermu/ tungen an, was Gericke wohl als Nächstes plane. Doch keiner ahnte wirklich, was Gericke im Schilde führte – auch dann noch nicht, als Gericke seine Hand in das Wasser tauchte und nach dem Hahn am Mundstück griff. Auf ein „Achtung!“ drehte er den Hahn ein wenig auf. Sogleich drang aus dem Bottich kraftvoll Wasser in die Glaskugel ein. Der Wasserstrahl schoss bis an die Innenwand der Kugel empor. Allmählich nahm die Wucht des Wassers ab, doch unaufhörlich drang immer mehr Wasser aus dem Bottich nach. Das Wasser kam erst zur Ruhe, als es die Glaskugel fast bis obenhin füllte. Stolz blickte Geri/ cke in die Runde. „Das ist mein Beweis: Die Natur hat keinerlei Scheu vor der Lee/ re! Nur weil sich in der Kugel ein leerer Raum befand, konnte das Wasser eindringen.“ Alle staunten. Sie waren des Lobes voll. Eine Beobachtung löste allerdings ihren Widerspruch heraus: In der Kugel war ein kleiner Raum zurückgeblieben, frei von Wasser. „Was befindet sich in diesem kleinen Raum?“ „Warum bleibt dieser frei, wenn die Kugel wirklich leer gewesen war?“ Für die Gäste stand fest, die Kugel war nur weitgehend leer gewe/ sen. Keinesfalls war die Kugel vollkommen leer gewesen, zumal ein Vakuum nach Aristoteles auch nicht sein könnte. 24 „Ich räume ein, dass die Kugel nicht vollständig leer war. Doch der Grund ist keine Scheu der Natur vor einer Leere, wie Aristoteles und Sie, meine Herren, behaupten – der Grund dafür ist ein völlig anderer: Meine Luftpumpe ist nicht perfekt. Sie reicht nicht aus, die Kugel völlig leer zu pumpen.“ Dennoch betrachtete Gericke das Experiment als einen bedeuten/ den Erfolg: Es bestärkte ihn in der Überzeugung, dass er mit einer Pumpe ein Gefäß luftleer pumpen könnte – er müsse nur die Pumpe verbessern. In den nächsten Wochen erdachte Gericke weitere Experimente mit seinen zwei Kugeln – die eine aus Glas, die andere aus Kupfer. Welche Experimente Gericke ersann? Das hat er nicht zweifelsfrei hinterlassen, zumal ihm auch nicht viel Zeit geblieben wäre, sie aus/ zuführen – die Alte Stadt Magdeburg drängte Gericke bereits zu einer neuen diplomatischen Mission, nachdem er bereits zuvor mehrere Reisen für seine Heimatstadt unternommen hatte. Denn Otto Geri/ cke wirkte nicht nur als Forscher – Otto Gericke begleitete zuerst das Amt eines der vier Bürgermeister der Alten Stadt Magdeburg und reiste als diplomatischer Gesandter der Stadt an Brennpunkte der europäischen Geschichte jener Zeit. Auf Gerickes Reisezielen standen: die Friedensverhandlungen in Osnabrück und Münster, die Residenz des Kaiser in Wien, das Hof/ lager des Kaisers in Prag, der Reichstag in Regensburg, die Residenz des Sächsischen Kurfürsten in Dresden, das Hauptquartier der schwedischen Truppen in Taucha bei Leipzig, die Residenz des Ad/ ministrators von Magdeburg auf der Moritzburg in Halle sowie die Residenz des Brandenburgischen Kurfürsten in Cölln an der Spree. Neben seiner Tätigkeit als Bürgermeister und Gesandter der Alten Stadt Magdeburg kümmerte sich Otto Gericke um ein beträchtliches häusliches Anwesen. Als Forscher verfügte Gericke nur über eine „Teilzeitstelle“. 25 * ) *+ Otto Gericke wuchs in einer wohlhabenden Stadt auf. Die Alte Stadt Magdeburg genoss die Rechte einer Freien Reichsstadt und konnte sich mit Städten wie Frankfurt am Main, Hamburg, Leipzig oder Nürnberg messen. Die Ausbildung erhielt Otto Gericke im Eltern/ haus von Privatlehrern, ab dem 16. Lebensjahr von Professoren an den Universitäten in Leipzig, Helmstedt und Jena. Die Ausbildung zum Juristen vervollkommnete Gericke an der Universität in Leiden. Dort besuchte er auch Vorlesungen über Festungen und Wasserbau. Damals konnte Gericke nicht ahnen, dass er bald für viele Jahre sein Brot beim Festungsbau erwerben würde – Festungen planen, Festun/ gen erweitern, Festungen instand setzen. Die Kavalierstour führte Otto Gericke weiter bis Paris. Sie war bis Rom geplant, doch eine Erkrankung zwang Gericke, die Bildungsreise in Paris abzubrechen. Nach der Rückkehr heiratete er Margaretha Alemann. Ihre Familie gehörte zu den reichsten Familien der Alten Stadt Magdeburg. Mar/ garetha und Otto Gericke träumten von einer glücklichen Zukunft, von Kindern, von der Vermehrung ihres Vermögens und vom schnellen Aufstieg des Mannes im Rat der Stadt. Die Träume endeten abrupt – beängstigend rasch mehrten sich die Zeichen für einen Krieg, der die Alte Stadt Magdeburg und ihre Menschen in den Ab/ grund stürzen sollte. Der große „Teutsche Krieg“, der später der Dreißigjährige Krieg genannt wurde, näherte sich über mehrere Jahre immer dichter und gefährlicher der Alten Stadt Magdeburg. Zu dieser Zeit bekleidete Otto Gericke in der Stadt das Amt des Bauherrn. Er bemühte sich, 26 die Stadtmauern und die Stadttore zu verstärken und zusätzliche Schanzen und Hornwerke weit vor den Stadtmauern anzulegen. Am 10. Mai 1631 drangen die Truppen Tillys in die Alte Stadt Magdeburg ein. Rasch brannte es überall lichterloh. In diesem Infer/ no fiel die Stadt in Schutt und Asche. Die ehemals blühende Alte Stadt Magdeburg war zu einer wüsten Stadt geschändet ( 8 9;). Otto Gericke befand sich zur Zeit des Einfalls im Rathaus. Er hetzte zu seiner Familie nach Hause. Das Wohnhaus war stark be/ schädigt. Das Gesinde, das sich im Stroh versteckt hatte, fand Geri/ cke ermordet vor – die Frauen waren zuvor vergewaltigt worden. Der einjährige Jakob, der dreijährige Otto und seine Frau Margaretha lebten – die Kinderfrau hatte sie alle und sich selbst im Kamin ver/ steckt. In einem günstigen Augenblick gelang es Otto Gericke, mit den Seinen aus dem Haus zu fliehen. Auf der Flucht wurde der ein/ jährige Jakob verletzt. Gericke schlug sich mit der Familie zum Haus des kaisertreuen Schwiegervaters durch. Es befand sich in der Dom/ freiheit. Die Häuser rund um den Dom standen unter dem Schutz des Generalkommissars der kaiserlichen Truppen. Der Offizier ver/ sprach sich von den geflüchteten, reichen Patrizierfamilien ein hohes Lösegeld und führte sie aus der Stadt. Otto Gericke stand vor dem Ruin. In dieser Situation gab es für ihn eine glückliche Wendung: Er erhielt das Angebot, in schwedische Dienste einzutreten und als Ingenieur im Festungsbau zu dienen. Ein Jahr lang arbeitete Otto Gericke in Erfurt beim Ausbau der Cyriaks/ burg zu einer modernen Festung. Schon 1632 konnte Gericke nach Magdeburg zurückkehren. Er leitete wieder die Bautätigkeiten in sei/ ner Heimatstadt. Zu jener Zeit war Magdeburg eine schwedische Garnisonstadt. Im Zuge des Prager Sonderfriedens von 1635 wurde Magdeburg im Jahre 1636 zu einer sächsischen Garnisonstadt. Dabei wechselte Gericke als Ingenieur in die Dienste des Sächsischen Kurfürsten. Bald ver/ 27 schlechterten sich die Lebensbedingungen der Einwohner derart, dass die Ratsherren mehrmals einen Abgeordneten zum Kurfürsten Jo/ hann Georg I in Dresden sandten, um sich über die sächsischen Be/ satzungstruppen zu beschweren. Diese diplomatischen Missionen übertrugen die Ratsherren ihrem Kämmerer und Bauherrn Otto Ge/ ricke. Schlaflose Nächte plagten Margaretha Gericke in jenen Jahren, sie sorgte sich um ihren Mann: Werde ihr Otto von der Reise zum Kurfürsten in Dresden gesund zurückkehren, zu ihr und dem Sohn? Oder werden ihn marodierende Soldaten ausrauben, gefangen neh/ men, gar töten? Alles war möglich, wenn während des Krieges ein Bote allein durch die Lande ritt. Auch Otto Gericke musste auf seinen Reisen vieles durchleben. Einmal konnte er aus Dresden nur in einem Kahn auf der Elbe fliehen. Ein anderes Mal wurde Gericke in Meißen ge/ fangen genommen und ausgeraubt. Nur dank eines schwedischen Offiziers kam er frei. Im tiefsten Winter musste Gericke einmal durch eine verschneite Landschaft vom Hauptquartier der Schweden bei Leipzig zur Moritzburg in Halle reiten. Dort befand sich der Sitz des Administrators von Magdeburg. Später bekannte Gericke, dass er sich vor streunenden Wölfen geängstigt habe. Bei allen diesen Reisen für seine Heimatstadt war Otto Gericke in den Verhandlungen mit dem Sächsischen Kurfürsten erfolgreich gewesen. Aus Verärgerung hierauf drangsalierte der sächsische Stadt/ kommandant die Familie Gericke. Gerickes Frau war den Schikanen nicht gewachsen und starb. Otto Gericke lebte fortan allein mit seiner 65/jährigen Mutter und dem 17/jährigen Sohn Otto jun. Der jüngste Sohn Jakob war bereits vorher an seinen Verletzungen gestorben. Allmählich wuchs Gericke in das Amt eines „Außenministers der Alten Stadt Magdeburg“. Es folgten Reisen zum Kurfürsten nach Dresden, zum Administrator des Erzstiftes Magdeburg in Halle und zum Hauptquartier der Schweden in Taucha bei Leipzig. Als größten Erfolg erreichte Gerickes den Abzug der sächsischen Truppen aus 28 4 8 4 7:87 % & D E 7> >>> + !5 F 7>! 4 7:87 % 4 *# 4 H 9> >>> 4 8;<! F – & % $ )' % & 4 !/ ' D E D )) ! ! *# # , ! , G' D ! , ! 98; 4' ! 29 9> >>> * 776 . & % ( 9 >>> "' Magdeburg. Am 14. April 1646 war die Alte Stadt Magdeburg erst/ mals wieder ohne fremde Besatzung und weitgehend selbständig. Das war Otto Gerickes Meisterstück in Diplomatie. Nur einen Monat später begab sich der inzwischen 45/jährige Ge/ ricke auf die nächste Abschickung. Auf dieser Reise fiel vielleicht auch der Startschuss für Gerickes Forschungen zur Leere. In einem Gespräch erfuhr Otto Gericke Kunde von René Descar/ tes und dessen Buch DIE PRINZIPIEN DER PHILOSOPHIE. Gericke missfielen die Vorstellungen von Descartes über die Entste/ hung der Welt. Descartes war der Meinung, ein Vakuum wäre nir/ gendwo möglich. Wenn es in einem Raum ein Vakuum gäbe, würden die Wände des Raumes sofort aneinanderschlagen – und das beweise: Ein Vakuum sei nicht möglich. Für Descartes gab es keine Zweifel – ein Vakuum habe in Gottes Schöpfung keinen Platz. Descartes‘ Behauptungen ließen Otto Gericke nicht mehr los, weckten Zweifel, Neugierde und Widerspruch: Eine Leere wäre nicht möglich? Ein Vakuum ließe sich nicht herstellen? In einem leeren Raum würden die Wände aneinanderschlagen? Diese Behauptungen entzogen sich Gerickes Denken als Ingenieur – weckten Misstrauen, forderten ihn heraus. Otto Gericke beschloss: „Das möchte ich doch einmal auf einen Versuch ankommen las/ sen, ob ein Vakuum wirklich nicht hergestellt werden kann!“ Diesen Versuch musste Otto Gericke noch eine Zeit lang auf/ schieben. Die Stadt schickte ihren Bürgermeister zu den Verhandlun/ gen über den Abschluss eines Friedensvertrages nach Osnabrück und Münster ( <). Das Ziel der Verhandlungen war „ein immer/ währender Frieden“ und die „wahre aufrichtige Freundschaft“ zwi/ schen den Staaten. In den Verhandlungen kämpfte Otto Gericke um die Bestätigung der Rechte der Alten Stadt Magdeburg als Freie Reichsstadt. Im Oktober 1646 reiste Gericke nach Osnabrück, im August des folgenden Jahres kehrte er zurück. Die „Magdeburger Frage“ einer Freien Reichsstadt war auf den künftigen Reichstag 30 4 4 . )) + 5 * ( . ) # ' !F 4 ! & , 2& 3 D ! H A2 *2 + 31 + & , 2 . )) & , - ! & #0 J! ) B I+ vertagt. Auf diesem Exekutionstag sollten alle offen gebliebenen Fragen entschieden werden. Während all dieser Reisen sorgte sich Gerickes Mutter umsichtig um das häusliche Anwesen. 45 Wochen hatte Otto Gericke unermüdlich für das Wohl der Stadt gekämpft – Zeit, die ihm für den Beginn der Forschungen zum leeren Raum verloren gegangen war. Doch allmählich fand er Tage, an denen er sich in Ruhe seiner Forschung zuwenden konnte und eines Tages lud er die ersten Gäste ein. Über diese Versuche mit aus/ gepumpten Bierfässern, Kupferkugeln und Glaskugeln haben Sie – liebe Leser – auf den vorangegangenen Seiten lesen können. Bevor Gericke Zeit fand, die Luftpumpe zu verbessern, schickten ihn die Ratsherren von Magdeburg erneut zu einer diplomatischen Reise, diesmal nach Nürnberg. Für Mai 1649 hatte Kaiser Ferdi/ nand III. Abgesandte aus Schweden und Frankreich sowie Vertreter der Kurfürsten zum Exekutionstag nach Nürnberg geladen. Der Kai/ ser wollte mit den Abgesandten Fragen beraten, die auf dem Frie/ denskongress in Münster und Osnabrück ungeklärt geblieben waren: Es mussten besetzte Gebiete geräumt und finanzielle Entschädigun/ gen gezahlt werden. Weiterhin mussten Heeresverbände aufgelöst und Söldner aus aller Herren Länder zum Abzug bewegt werden. Ohne eine Einladungen erhalten zu haben, hielten es die Ratsher/ ren der Alten Stadt Magdeburg für notwendig, in Nürnberg vertreten zu sein. Otto Gericke sollte erneut darum ringen, für Magdeburg die früheren Rechte einer Freien Reichsstadt wiederzuerlangen. Im Juli 1649 verließ Gericke Magdeburg und kehrte erst im März 1651 zurück, denn Gericke musste von Nürnberg nach Wien weiter/ reisen, um das Anliegen der Stadt dem Kaiser persönlich vortragen zu können. Der Kaiser versprach, Gutachten über die „Magdeburger Angelegenheit“ einzuholen. Für die Alte Stadt Magdeburg erbrachte die Reise nach Nürnberg und Wien nur ein karges Ergebnis – für neue Experimente zum Er/ zeugen einer Leere waren es eineinhalb verlorene Jahre. 32 , -' „Herr Gericke, welche neuen Experimente haben Sie für uns mitge/ bracht? Wann lassen Sie es wieder knallen?“ Freunde und Bekannte scherzten. Sie freuten sich, Otto Gericke nach mehr als einem Jahr wohlbehalten in der Alten Stadt Magdeburg zurückzusehen. Für neue Experimente fehlte Gericke die Zeit, viele Pflichten war/ teten auf ihn. Er musste sich um das häusliche Anwesen kümmern. Ebenso drängten ihn Pflichten als Bürgermeister. Auf seinem Schreibtisch türmten sich Schreiben und Akten. Auch privat suchte Otto Gericke sein Leben zu ändern. Er befand sich im 50. Lebensjahr. Sechs Jahre lebte Gericke schon als Witwer. Die Mutter hatte seit langem gespürt, dass ihr Sohn des Alleinseins müde war. Während der langen Abwesenheit hatte sie sich bemüht, für ihren Sohn eine neue Ehe zu arrangieren. Ihre Wahl fiel auf die 23/jährige Dorothea Lentke. Sie war die Tochter von Otto Gerickes Amtskollegen, dem Bürgermeister Stephan Lentke. Diese Wahl erfüllte alle Wünsche einer Eheschließung zwischen Patrizierfamilien. Die Ehe würde nicht allein das Vermögen, sondern zudem den Einfluss beider Familien im Rat der Stadt erhöhen. Noch eines war wichtig: Die reiche Familie Lentke konnte auf einen Erben hoffen, schließlich hatte Otto Gericke mit seiner ersten Frau drei Kinder gezeugt. Für die Familie Gericke war die Frage nach einem Erben zweitrangig, Otto Gericke hatte bereits Sohn Otto jun. Die Hochzeit von Otto Gericke und Dorothea Lentke war für das kom/ mende Jahr vereinbart. 33 Allmählich fand Otto Gericke auch wieder Mußestunden zum Forschen. Als seine Pläne für neue Experimente feststanden, lud er den Hausarzt, den Geistlichen, den Apotheker und den Lehrer in den Stadtkrug ein. Die Männer hatten Gerickes erste Experimente mit den Bierfässern und der Kupferkugel miterlebt. Bei einem Humpen Bier wollte er ihnen die neuen Ideen vorstellen. Kaum hatten die Männer Platz genommen, gesellte sich Bürger/ meister Lentke hinzu. Gerickes baldiger Schwiegervater lenkte das Gespräch unvermittelt auf die Sorgen der Stadt: Wird die Alte Stadt Magdeburg endlich ihre Privilegien wiedererlangen? Wovon könnten die Magdeburger ihre Kirchen wieder aufbauen? Wie könnten die Ratsherren Menschen aus anderen Städten und Ländern in die ent/ völkerte Stadt locken, um Handwerk und Handel zu beleben? Alle diese Probleme belasteten auch Gericke, nur wollte er nicht darüber sprechen – nicht schon wieder und vor allem nicht an diesem Abend. Otto Gericke dachte vielmehr an die Unterhaltungen, die er in den vergangenen Jahren mit gebildeten Männern in Osnabrück, Nürnberg und Wien über den Aufbau der Welt und über das Vaku/ um geführt hatte. Als Stephan Lentke eine Pause einlegte, ergriff Gericke das Wort. Doch schon bald unterbrach ihn der künftige Schwiegervater erneut. „Otto, weshalb verschwendest du Geld und Zeit für derartige Ex/ perimente? In einer vom Krieg verwüsteten und verarmten Stadt, in der unsere Kirchen noch immer als Steinhaufen darnieder liegen, die meisten Häuser nicht aufgebaut sind, Handwerk und Handel am Boden liegen, die Stadt entvölkert ist – in dieser Stadt gibt es für dich nichts Wichtigeres als Luft aus Gefäßen zu pumpen?“ Gericke ignorierte den Vorwurf. „Stephan, ich bemühe mich, den Bauplan Gottes für die Welt zu erkennen.“ „Können wir Menschen das überhaupt? Gottes Werk können wir bewundern – aber verstehen?“, pflichtete der Geistliche Lentke bei. 34 „Haben nicht schon andere ergebnislos versucht, dieses Rätsel zu lösen?“, setzte Lentke nach. „Stephan, versteh doch: Viele Astronomen bemühen sich, die Rätsel über den Riesenbau Gottes zu lösen. Einige interessieren sich für die Bewegung und die Entfernung der Himmelskörper, andere für die Anzahl der Sterne, wieder andere für die Gestalt des Mondes und der Planeten und noch andere interessieren sich für die Masse der Sterne. Johannes Hevelius in Danzig sucht mit Fernrohren sogar nach Menschen auf dem Mond.“ „Weiß man denn überhaupt schon sicher, ob die Erde im Mittel/ punkt der Welt ruht – wie die Bibel lehrt – oder die Sonne – wie Ko/ pernikus behauptet?“ Die Frage des Apothekers veranlasste den Geistlichen, aus der Bi/ bel zu zitieren: „Im 104. Psalm steht: ‚Er gründete die Erde über ihrer Feste, und sie wird nicht wanken in Ewigkeit.‘ Und im ersten Kapitel des Predi/ gers steht: ‚Die Sonne geht auf und geht unter.‘ “ „Sehr verehrter Herr Prediger“, entgegnete Gericke, „die Bibel will nicht den Weltenbau erörtern und die Frage, ob die Erde oder die Sonne den Mittelpunkt einnimmt und welche von beiden darin un/ beweglich verharrt, sondern sie will zur Ehre Gottes die Vollendung, Dauer und Unzerstörbarkeit seines Werkes den Menschen kundtun.“ Diese Entgegnung Gerickes hielt den streitbaren Geistlichen nicht davor zurück, auch noch aus dem 19. Psalm zu zitieren: „Er hat der Sonne an den Himmeln ihr Zelt bereitet, und sie selbst geht heraus, tritt wie eine Braut aus ihrer Kammer und freut sich wie ein Held, zu laufen ihren Weg.“ Gericke protestierte energisch: „Die Heilige Schrift ist uns nicht darum von Gott gegeben, dass wir aus ihr philosophieren lernen, oder um uns zu Mathematikern oder Physikern zu machen, sondern dass sie uns zur ewigen Seligkeit bereite. Daher verkennen alle ihren Zweck, die geometrische und 35 astronomische Fragen nach ihrer Richtschnur prüfen. Denn die Schrift redet von den Dingen immer nach dem offensichtlichen Au/ genschein und kümmert sich wenig um ihr wahres Wesen.“ Das untermauerte Gericke mit einem Beispiel. „Sind denn die lichtschwächsten Sterne am Himmelsgewölbe nicht größer als der Mond? Trotzdem sagt die Heilige Schrift vom Monde, er sei ein großes Himmelslicht, weil er wegen seiner Nähe größer als alle Sterne erscheint, obgleich selbst der allerkleinste Fix/ stern in Wirklichkeit viel größer ist als der Mond.“ „Und welches Geheimnis möchtest du dem Himmel entreißen, Otto?“ Stephan Lentke ließ nicht locker. Mit diesem Einwand führte er das Gespräch auf die Frage zurück, ob nicht schon andere ergebnis/ los versucht hätten, die Geheimnisse des Himmels zu enträtseln. „Seit ich in Büchern vieler Astronomen über die Masse und die Entfernungen der Körper am Himmel gelesen habe, lässt mich der Gedanke an die Riesenmassen dieser Gestirne und an ihre jedem menschlichen Verstande völlig unzugänglichen Entfernungen er/ schauern.“ Alle stimmten Gericke zu, keiner unterbrach ihn. „Unbegreiflich ist die Entfernung der Himmelskörper, der Sonne, des Mondes und der übrigen Planeten, und es steht fest, dass einige von ihnen so ungeheuer groß sind, dass sie nicht nur unsere Erde überhaupt an Größe übertreffen, sondern dies sogar um das Zehn/, Hundert/ und noch viel Mehrfache tun. Welcher Sterbliche vermöch/ te die Abmessungen unseres Erdballs sich vorzustellen oder zu be/ greifen.“ Otto Gericke fragte die Runde: „Wie groß mag erst die gesamte Welt bis zu den Fixsternen sein? Und womit ist dieser Raum ausgefüllt? Gott schafft doch nichts um/ sonst!“ Damit kam Otto Gericke zum Kernpunkt seiner Forschung: 36 „Was mag das für ein Etwas sein, dass jegliches Ding umfasst und ihm die Stätte seines Seins und Bleibens darbietet? Ist es wohl irgend/ ein feuriger Himmelsstoff, fest, wie Anhänger des Aristoteles wollen, oder flüssig, wie Kopernikus und Tycho Brahe lehren? Oder ist es eine zarte Quintessenz – der Äther? Oder am Ende doch der stets geleugnete leere Raum, bar jeden Stoffes? Oder was sonst?“ Gericke schaute in die Runde, die Männer hörten aufmerksam zu. Das ermunterte ihn fortzufahren. „Meine Reisen nach Nürnberg und Wien haben mich für fast zwei Jahre am Experimentieren gehindert, jetzt kann ich mit neuen Versu/ chen beginnen. Und eines sollen Sie wissen: Den Beweis dafür, dass die Natur keine Scheu vor der Leere hat, werde ich mit Experimenten führen. Und damit meine Experimente von anderen als Beweise an/ erkannt werden, bitte ich jeden von Ihnen, bei meinen Versuchen als Zeuge anwesend zu sein.“ Nach einigen Fragen der Gäste stellte Gericke seine Pläne für die Zukunft vor: Zuerst wolle er die Luftpumpe verbessern, damit er die gesamte Luft aus Gefäßen herauspumpen könne, ohne dass in der Glaskugel letzte Reste von Luft zurückblieben. Gericke erläuterte den entschei/ denden Mangel der bisherigen Pumpe: Der große Abstand zwischen dem Einlassventil und dem Auslassventil wäre schuld. Bei jedem Pumpenstoß bliebe Luft in der Pumpe zurück. Er müsse das Auslass/ ventil dichter zum Einlassventil im Kopf der Pumpe versetzen. Ein zweites Vorhaben betraf die Kupferkugel. Seit er mit einer Glaskugel experimentierte, war die Kupferkugel unnütz geworden. Da er sie einmal besaß, dachte sich Gericke für sie eine neue Ver/ wendung aus: Er wollte sie zu einem Saugkessel umbauen und als Vorratsbehälter für ein „Vakuum auf Vorrat“ einsetzen. Danach kam er auf seine Pläne für neue Experimente mit der Glaskugel zu sprechen. Er habe vor, Gegenstände in die Glaskugel hineinzugeben und zu beobachten, was mit diesen Sachen geschehe, 37 wenn er die Luft herauspumpte und danach wieder hineinließe. Auf die ungläubigen Blicke aus der Runde ergänzte Gericke: „Anfangen könnte ich mit Sand, kleinen Steinchen oder Erbsen.“ Die Männer redeten noch lange. Beim Abschied wünschten sie Gericke Glück und Gelingen. Alle baten um eine Einladung zu künf/ tigen Experimenten – anders Stephan Lentke. Das Weltall würde immer ein Mysterium bleiben. Und daher erschien ihm das Vorhaben als reine Geldverschwendung – auch als Größenwahn. Im Stillen dachte er: Allein der Gedanke, dass wir Menschen etwas verstehen können, das so groß ist wie das Weltall, ist Anmaßung, Dünkel, Großmannssucht. Wortlos verließ er die Runde. An der Art und Wei/ se, wie er den Kopf schüttelte, konnten alle sein Befremden über die Ideen des künftigen Schwiegersohns erkennen. In den nächsten Tagen begann Otto Gericke mit dem Bau des Saugkessels. Er ließ die zwei Halbschalen aus Kupfer zusammenlöten und mit einem Hahn versehen. Um zu prüfen, ob der Kessel dicht war, blies Gericke mehrmals kräftig Luft durch den offenen Hahn hinein und schloss ihn rasch. Danach drückte er den Kessel unter Wasser und beobachtete, ob Luftbläschen austraten. Erst dank zahl/ reicher Nachbesserungen war der Kessel dicht. Nunmehr ließ Geri/ cke den Kessel auspumpen und verfügte darin über einen „Vorrat an Vakuum“, der bis zu drei Wochen erhalten blieb. Schloss er eine Glaskugel an den Kessel, saugte der Kessel den größten Teil der Luft aus der Kugel heraus, weshalb er ihn „Saugkessel“ nannte. Auf dieses Weise konnte Gericke zu beliebiger Zeit in anderen Gefäßen ein Vakuum erzeugen. Dieses Vakuum war zwar nicht besonders hoch/ gradig, für etliche Versuche reichte es dennoch völlig aus. Doch ob Gericke in jenen Wochen tatsächlich Zeit fand, mit dem Saugkessel zu experimentieren? Vermutlich blieb ihm nur wenig Zeit, vielleicht auch gar keine – denn die rastlosen Jahre im Zwiespalt zwi/ schen Diplomatie und Forschung hielten an: Eine neue Reise wartete auf Gericke – diesmal zum Reichstag nach Regensburg. 38 4 . % „Nein! Nicht schon wieder!“ Das waren die ersten Worte von Otto Gericke, als ihn die Magdeburger Ratsherren im Sommer 1652 dräng/ ten, zum Reichstag nach Regensburg zu reisen. Auf diesem Reichstag sollten alle liegengebliebenen Streitfragen zum Westfälischen Frieden abschließend beraten und entschieden werden. Eine der bisher ungelösten Fragen betraf die Zukunft der Alten Stadt Magdeburg. Die Alternativen hießen: „Freie Reichsstadt“ im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation oder „Provinzstadt“ in Kursachsen oder Kurbrandenburg. Die Alte Stadt Magdeburg musste auf dem Reichstag ihre Interessen wahrnehmen. Die Ratsherren brachten überzeugende Argumente vor, dass keiner die Interessen der Stadt besser vertreten könne als Otto Gericke. Er war Kaiser Ferdi/ nand III. und Gesandten der Schweden und der Kurfürsten bekannt und er wusste um die Bosheiten von Dr. Krull, dem Abgesandten des Administrators aus Halle. Mit anderen Worten: Aus dem Kreis der Ratsherren verfügte nur Otto Gericke über ausreichende Erfahrun/ gen auf diplomatischem Parkett. Zur Abstimmung des Programms für den Reichstag hatte der Kai/ ser Abgesandte der Kurfürsten zum Hoflager in Prag eigeladen. Die Magdeburger Ratsherren hatten keine Einladung erhalten – dennoch schickten die Ratsherren Otto Gericke nach Prag. Sie wollten sicher/ stellen, dass die Frage nach der Zukunft ihrer Stadt in das Programm des Reichstags aufgenommen würde. 39 Bei den Verhandlungen im Hoflager des Kaisers war Otto Geri/ cke erfolgreich, die Frage nach der Zukunft der Alten Stadt Magde/ burg wurde in das Programm des Reichstags aufgenommen. Der Beginn des Reichstags in Regensburg war bis Anfang März 1653 ausgesetzt. Dieser Aufschub erlaubte es Gericke, am 21. Okto/ ber 1652 nach Magdeburg zurückzukehren. So konnte Otto Gericke das erste Weihnachtsfest mit seiner Frau Dorothea in der Gemeinde von St.–Ulrich–und–Levin verleben, in der er das Amt des Kirchenäl/ testen versah. Nach dem Fest, im tiefsten Winter, reisten Otto Gericke, sein Sohn und Dr. Bertram Selle nach Regensburg. Die auf März 1653 verschobene Eröffnung des Reichstages verzögerte sich erneut. Erst nach zwei weiteren Monaten des Wartens eröffnete der Kaiser schließlich am 30. Juni 1653 den Reichstag. Die vier Monate von März bis Ende Juni nutzte Gericke für die Interessen der Stadt. Er führte Gespräche mit Gesandten über die Privilegien der Alten Stadt Magdeburg. Zusätzlich verblieb ihm erst/ mals viel freie Zeit zum Forschen – Zeit, die ihm in diesem Umfang noch nie zur Verfügung gestanden hatte. Wie in Osnabrück, Münster und Prag stöberte Gericke in den Angeboten der Buchhändler, die wieder in großer Zahl zum Reichstag gekommen waren. Noch inten/ siver als auf früheren Reisen suchte er Gespräche mit gebildeten Männern, die sich im Gefolge des Kaisers, der Kurfürsten und deren Gesandten in Regensburg aufhielten. Der August 1653 hielt für Otto Gericke eine Begegnung bereit, die eine Wende in Gerickes Leben und Forschen einleitete: Otto Gericke traf mit dem Kapuziner–Pater Valerian Magni zusammen, einem „Spitzendiplomaten“ von Kaiser und Papst. Die Sensation war perfekt! Otto Gericke erfuhr: Er war nicht allein auf der Suche nach der Leere! Schon wenige Jahre zuvor hatten sich Gleichgesinnte in Italien, Frankreich und Polen auf das Abenteuer Vakuum eingelassen. 40 Ende der Leseprobe von: Otto von Guericke und das Abenteuer Vakuum - Erzählung mit 30 historischen Stichen Klaus Liebers Hat Ihnen die Leseprobe gefallen? Das komplette Buch können Sie bestellen unter: http://epub.li/1OuLsnI
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