Hassliebe zum Wasser

DIE DRITTE SEITE
STUTTGARTER ZEITUNG
Donnerstag, 1. Oktober 2015 | Nr. 227
H
armlos schwappen die Wel­
len ans Ufer, eine Dreckbrü­
he hier am Markt des 20. Au­
gusts in Beira am Indischen
Ozean. Doch ein frisches
Loch im Boden der Veranda des Steinhau­
ses von Fischhändler José lässt nahendes
Unheil ahnen. Plötzlich tut es einen Schlag,
das Dach sackt ein, fast der gesamte Beton­
boden rutscht ins Meer. In letzter Sekunde
springt ein Mann in Sicherheit. Die Pfosten
der Veranda baumeln in der Luft. Die Men­
ge guckt und johlt, aber tief betroffen ist
keiner. Man rechnet mit dem Risiko.
Die Menschen von Beira fürchten das
Meer und seine Zyklone, aber sie leben in
der 500 000­Einwohner­Stadt auch von
ihm. Am Hafen liegen Wracks im Wasser,
aber gut zwei Dutzend Fischtrawler fahren
von dort hinaus bis zu 200 Meilen auf offe­
ne See und werfen ihre Netze aus. Die Stadt
ist Umschlagplatz fürs Binnenland und für
Simbabwe. Doch Beira kommt von zwei
Seiten unter Druck: durch den steigenden
Meeresspiegel und in der Regenzeit durch
die nasse Fracht von oben. Die Überflutun­
gen von 2000 und 2001 sind vielen noch in
Erinnerung. Helikopter holten damals
Mütter mit Kindern aus den Bäumen.
„Weite Teile der Stadt liegen unter dem
Meeresspiegel, nur durch niedrige Dünen
geschützt“, sagt Bürgermeister Daviz Si­
mango (50). „Beira ist in Mosambik am
stärksten vom Klimawandel betroffen.“
Ein paar Hundert Meter vom Markt ent­
fernt liegt eines der besseren Viertel. Der
Bürgermeister hat hier früher in einem
zweistöckigen Haus zur Miete gewohnt.
Doch das Meer hat es zur Ruine gemacht,
die Fassade weggeschlagen. Mit provisori­
schen Betonverschalungen und Holzpflö­
cken versuchen die Nachbarn provisorisch
Küstenschutz zu betreiben, manche gar mit
prall gefüllten Müllsäcken. „Vor 30 Jahren
hatten wir noch Gärten. Die sind im Meer
verschwunden“, sagt eine ältere Frau.
Mosambik hat eine 2800 Kilometer lan­
ge Küste, sie ist eine Erwerbsquelle. Mu­
schelsucher füllen am Strand von Beira
ihre Eimer, Märkte und Lokale bieten
Hummer und frischen Fisch an. Aber wie
ein gekippter Tisch neigt sich die Hochebe­
ne der Nachbarländer Sambia, Simbabwe
und Südafrika nach Mosambik hinab, ent­
wässert sich über Ströme wie den Sambesi,
den Limpopo, den Rovuma. Meist reicht die
Kapazität der Flüsse nicht aus. Es kommt
zu Überflutungen in der Regenzeit von Ok­
tober bis April, bei Flut – der Tidenhub ist
mit sieben Metern extrem – wird es dann
kritisch. Die Stadt Beira ist davon beson­
ders betroffen, sie hat ihren natürlichen
Entwässerungsfluss – den Rio Chiveve –
versanden lassen. Schon in den 70er Jahren
stürzte eine Brücke ein, deren Reste wie ein
Staudamm wirkten. Dann kippten Anwoh­
ner Müll in den Chiveve, Mangroven wu­
cherten im Flussbett, Landflüchtige bau­
ten Hütten ans Ufer und in der Trockenzeit
sogar ins Flussbett. Die Folge war ein mo­
natelanger Nässestau in der Regenzeit,
Überschwemmungen.
Der 18­jährige Chaimel Calido aus dem
nahe gelegenen Slum Goto – Mitglied einer
Müllsammelkampagne – kann erzählen,
wie seine Siedlung dann leidet: „Wir waten
knietief durchs Wasser zur Arbeit oder zur
Schule. Alles ist voller Matsch. Gummistie­
fel haben wir nicht.“ Calidos Hütte liegt er­
höht, so dass das Nass nicht in die Stube
dringt. Aber das stehende Wasser ist eine
Brutstätte für Malariamücken, es besteht
die Gefahr von Cholera. Rund 1000 Tote im
Jahr – so schätzt die Stadt Beira – gehen auf
das Konto von Malaria.
Die Aufwertung
ist gelungen
Hassliebe
zum Wasser
Erziehungsdienst Der Tarifabschluss
ohne weitere Kitastreiks zeugt von
Weitsicht. Von Matthias Schiermeyer
Die Stadt Beira in Mosambik leidet unter
dem steigenden Meeresspiegel und unter Regenfluten.
Jetzt hilft Deutschland. Von Christoph Link
V
Klimawandel
Die Idylle trügt: Der Indische Ozean ist tückisch, Zyklone werfen Schiffe auf den Strand, das Meer nagt am Küstensaum.
Westliche Diplomaten sagen, dass Beira
von der Hauptstadt Maputo stets etwas
vernachlässigt worden sei, da die Zentral­
regierung von der Befreiungsfront Frelimo
gestellt wird, die im Unabhängigkeitsjahr
1974 rund 200 000 Portugiesen aus dem
Land geworfen hat. Beira aber war stets
eine Hochburg der Oppositionspartei Re­
namo, an der es wie ein Makel klebt, dass sie
einst von den weißen Rhodesiern unter­
stützt worden ist. Aber weiße Experten aus
Simbabwe, wie Rhodesien früher hieß, gibt
es auch heute noch in Beira. David Row ist
einer, ein Ingenieur aus Harare, um die 60,
ein kerniger Typ, der im Auftrag des Bun­
desministeriums für wirtschaftliche Zu­
sammenarbeit und unter Federführung der
KfW­Bank an einem 13 Millionen teuren
Klimaschutzprojekt in Beira mitwirkt: der
Renaturierung des Chiveve in der Stadt.
Die weißen Simbawer, so sagen es deut­
sche Entwicklungsexperten, wüssten oft
besser mit den Mosambikanern umzuge­
hen als Entsandte aus Deutschland. Das gilt
vielleicht auch für David Row. Er scherzt
mit den schwarzen Mitarbeitern und den
Leuten von der chinesischen Firma Chico,
die die Bauarbeiten durchführt, legt ihnen
die Hand auf die Schulter, aber sagt im
Prinzip schon, wo es langgeht.
Jetzt steht Row gemeinsam mit Bürger­
meister Simango auf der durch eine Well­
blechwand und bewaffnete Wachen ge­
schützten Baustelle im sauber ausgebag­
gerten Tal des Chiveve und zeigt auf Bau­
pläne. „Wir werden die natürliche Spül­
funktion des Flusses wiederherstellen.“
Der Bürgermeister ergänzt: Man müsse das
mal offen sagen: „Wo wir stehen, das war
früher ein Scheißhaus unter freiem Him­
mel.“ Simango träumt schon von einer Pro­
menade, Restaurants, Theater und Kinder­
vergnügen am Chiveve­Ufer. Dem Sied­
lungsdruck werde man standhalten, sagt
der Bürgermeister. Es werde keine illegale
Bebauung mehr geben, denn „die Flächen
werden genutzt, liegen nicht brach“.
Christof Griebenow ist der KfW­Pro­
jektmanager für Beira, und er sagt, dass die
Prognosen für Mosambik einen Anstieg
des Starkregens um 30 Prozent bis 2050
vorhersagen. „Die Niederschläge bleiben
LAND MIT ZWEI WASSERFRONTEN
TANSANIA
MALAWI
MOSAMBIK
SAMBIA
Sa
SIMBABWE
m
be
si
Beira
MADAGASKAR
SWASILAND
Maputo
SÜDAFRIKA
Bürgermeister Simango hat hier einmal ge­
wohnt. Wellen zerstörten das Haus.
Indischer Ozean
StZ-Grafik: zap
500 km
Fotos: Christoph Link
gleich, aber sie verändern sich im Jahresab­
lauf. Es wird weniger in der Trockenzeit ge­
ben, aber mehr in der Regenzeit.“ Den wirt­
schaftlichen Verlust des Doppeleffekts –
Küstenerosion und Überflutung – schätzt
Griebenow auf 3300 Euro pro Haushalt. In
Mosambik muss das mit Totalschaden
übersetzt werden, das Bruttoinlandspro­
dukt pro Kopf und Jahr beträgt 600 Euro.
Griebenow weist darauf hin, dass neben
dem Fluss ja auch der Hafen ausgebaggert
wird, ein Gezeitenbauwerk wird errichtet –
eine Art Schleuse für den Fluss – und es
werden neue Rückstauflächen angelegt.
Fast so streng wie das deutsche Umwelt­
recht ist das mosambikanische, weshalb
das Fällen der im Fluss wuchernden Mang­
roven ausgeglichen werden muss durch die
Aufforstung von 2200 Bäumen an anderer
Stelle. Damit betraut ist die mosambikani­
sche Umweltorganisation Ardel, dessen Di­
rektor Hamid Tayob davon überzeugt ist,
dass viele Bürger Beiras wegen des niedri­
gen Bildungsniveaus gar nicht wissen, was
Klimawandel sei. „Die holzen auch Bäume
zum Verfeuern ab und denken, der liebe
Gott wird sie wieder pflanzen.“ Da sei noch
Bewusstseinsbildung nötig. Am meisten är­
gert Tayob das Wegwerfen von Abfall im öf­
fentlichen Raum, das sei in Südafrika bes­
ser. Wer über die Grenze gehe und nach
Nelspruit komme, finde saubere Straßen.
Zu den Ahnungslosen gehört wohl auch
Helena Albert (37), eine Mutter von sieben
Kindern, die selbst nie eine Schule besuch­
te. Sie hatte eine Hütte im Flussbett und als
eines Tages die Anordnung zur Umsiedlung
kam, da habe sie gedacht, „die wollen mich
vergackeiern“. Doch Helena Albert hat eine
neue Wohnung erhalten, ja sogar einen Job
bei der chinesischen Baufirma, die das Pro­
jekt durchführt. Früher hat sie Bananen
verkauft, jetzt erhält sie rund 80 Euro im
Monat und strahlt: „Ich bin sehr glücklich.“
Nicht der ökologische, aber der ökonomi­
schen Segen des Projekts ist bereits da.
erdi­Chef Frank Bsirske hatte zu­
letzt noch mal kräftig die Streikglo­
cke geschlagen – am Ende hat er
einer pragmatischen Lösung den Vorrang
gegeben vor einer Fortsetzung des Arbeits­
kampfes. Die Vernunft hat gesiegt. Dass die
Mitgliederbasis Bsirske ein weiteres Mal
zurückpfeift, ist praktisch undenkbar. Der
Ausweg besteht in einer Umverteilung der
im Schlichtungsabkommen festgelegten
Zuwächse. Nun geht es gerechter zu. Dieser
Schritt war notwendig, da die Gewerk­
schaftsführer den Solidaritätsgedanken
unterschätzt hatten. Sie hatten ignoriert,
dass alle diejenigen vom Abschluss profi­
tieren wollen, die den Arbeitskampf tat­
kräftig unterstützt haben. Das größte Man­
ko des Schlichterspruchs ist nun beseitigt.
Nie zuvor wurde so offen über den Stel­
lenwert von Erziehung und Sozialarbeit
diskutiert – schon dies ist ein Erfolg der Ge­
werkschaft. Der Flüchtlingszuzug lässt die
Debatte noch dringlicher erscheinen. Die
Ausbildung der vielen ausländischen
Kleinkinder ist für das Gelingen der Integ­
ration von hoher Bedeutung. Dafür braucht
es gut vorbereitetes und motiviertes Perso­
nal. Die Aufwertungskampagne hat dazu
beigetragen, die Attraktivität des Berufsfel­
des zu steigern. Dass die Resultate mehr
Geld kosten, ist klar. Am Ende finanzieren
alle Bürger einen Tarifabschluss, der für die
ganze Gesellschaft einen Sinn ergibt.
Sieger Putin
Bürgerkrieg Russland fliegt Angriffe
in Syrien. Der Westen reagiert verhalten,
ihm fehlt ein Konzept. Von Knut Krohn
K
ann der Kampf gegen den IS­Terror
etwas Schlechtes sein? Sicher
nicht. Deshalb fällt es dem Westen
schwer, die Angriffe der russischen Kampf­
jets auf Ziele in Syrien zu kritisieren. Über
Wochen hat Wladimir Putin diesen Schritt
mit einer fast virtuos zu nennenden Perfek­
tion vorbereitet. Der russische Präsident
hat die Nachbarstaaten in der Region ho­
fiert und auf den Kampf gegen den IS einge­
schworen. Auch bei den UN hat Putin für
den Anti­Terror­Einsatz geworben, und als
guter Demokrat hat er sich den Auslands­
einsatz vom eigenen Parlament absegnen
lassen. Damit völkerrechtlich alles wasser­
dicht ist, hat sich die syrische Führung nach
den Angriffen bedankt, dass Russland auf
den Hilferuf aus Damaskus reagiert habe.
Der Westen muss eingestehen, dass er
von Putin wie ein Tanzbär am Nasenring
durch die Manege gezogen wird. Weder die
USA noch die EU haben ein Konzept zur
Lösung des Syrienkonflikts. Sie müssen
auch hinnehmen, dass der ersten Angriffs­
welle russischer Jets nicht Kämpfer des IS,
sondern Stellungen der Anti­Assad­Rebel­
len zum Opfer fielen. Putin weiß, dass er
schnelle, symbolträchtige Erfolge braucht.
Ein Ziel wird sein, die vom IS bedrohten
antiken Stätten zurückzuerobern. Der
Kremlherrscher kann sich dann als Retter
des Abendlandes feiern lassen – und die
letzten Kritiker werden verstummen.
Sparsamer als die Troika
Die Portugiesen wählen am Sonntag. Sie haben harte Jahre
hinter sich. Doch der Sparkurs weckt wenig Wut. Von Martin Dahms
Krise
U
nd wie sind Sie durch die Krise ge­
kommen? „Ich habe die Hälfte
meines Vermögens verloren“, ant­
wortet Karl Heinz Stock wie einer, dem das
nichts ausmacht. Er überlegt einen Mo­
ment. „Sagen wir es anders: Ich habe die
Hälfte meines Vermögens in die Unterneh­
men investieren müssen, um sie am Laufen
zu halten und weiterzuentwickeln.“
Karl Heinz Stock ist ein deutscher
Unternehmer, 63 Jahre alt, gebürtig aus
Aschaffenburg, der sich vor knapp zwanzig
Jahren an der portugiesischen Algarve nie­
dergelassen hat. Er selbst stellt sich als „De­
veloper“ vor. „Ich entwickele Dinge. Und
Wein ist eines der Dinge, die ich entwickelt
habe.“ Im Jahr 2007 übernahm er das
Weingut Quinta dos Vales in Estômbar im
Südwesten Portugals. Er verkaufte die vor­
handenen Lagerbestände an einen Essig­
produzenten, erneuerte 80 Prozent der
Weinstöcke, entließ das alte Management
und fing ganz von vorne an. Es war ein er­
folgreicher Neustart. Sein „Marquês dos
Vales wurde in den vergangenen drei Jah­
ren zum besten Wein der Algarve gekürt.
In jüngeren Jahren hat Stock sein Geld
erst als Banker, dann als Ölmanager und
immer als einer gemacht, der Geschäfts­
ideen anschiebt. Er hatte Büros in Berlin, in
Moskau und in New York. Dann entdeckte
er die Algarve für sich. Er gebe jetzt das
Geld aus, das er früher verdient habe, sagt
er. Aber er gibt es so aus, dass auch wieder
was reinkommt. Er ist an einer Maschinen­
fabrik im Norden Portugals beteiligt und an
einem Zeitschriftenverlag der Algarve.
Eine seiner Firmen kümmert sich um Pool­
reinigung, eine andere um Klimaanlagen.
Stocks größte Herausforderung ist es,
ausgerechnet in Portugal Geschäfte zu ma­
chen. Das Land hat gerade die schlimmste
Wirtschaftskrise seit den Jahren nach der
Revolution von 1974 hinter sich, als es fast
50 Jahre Diktatur abschüttelte. Vor vier
Jahren, im Frühjahr 2011, stand Portugal so
schlecht da, dass es bei der EU und beim
Internationalen Währungsfonds um Hilfe
anklopfen musste. Nach drei Jahren unter
dem Rettungsschirm und unter Troika­
Aufsicht konnte sich das 10,5­Millionen­
Einwohner­Land wieder selbst finanzie­
ren. Seitdem kommt es langsam zurück auf
die Beine. Den Erfolg schreibt sich die kon­
servative Regierung von Ministerpräsident
Pedro Passos Coelho zu.
An diesem Sonntag, bei den Wahlen zum
portugiesischen Parlament, wollen die bür­
gerlichen Koalitionsparteien PSD und CDS
den Lohn dafür einfahren. Doch die Portu­
Unten rechts
giesen sind noch unentschieden, ob sie cários Inflexíveis, der „Unnachgiebigen
über deren Politik so glücklich sind wie die Prekären“, die sich seit 2007 für die Rechte
Koalition selbst. Dass es wieder aufwärts­ der Hunderttausenden einsetzen, die in
geht, merkt Karl Heinz Stock. Während der Portugal nur mit Zeitarbeitsverträgen oder
Krise brachen die Verkäufe ein, jetzt als Scheinselbstständige über die Runden
brummt, beflügelt vom schwachen Euro, kommen. „Hier in Portugal hat die Troika
auf einmal der Export. „Noch so ein Jahr auch als Entschuldigung hergehalten für
wie dieses, und wir haben die Verluste der Entscheidungen, die die Parteien sowieso
letzten Jahre weitgehend kompensiert.“
in ihren Programmen stehen hatten.“
Es sind etliche äußere Faktoren, die Por­ Simões unterscheidet nicht zwischen der
tugals Wirtschaft wieder in Schwung ge­ regierenden konservativen Koalition und
bracht haben, neben dem
den Sozialisten, die bis 2011
Wechselkurs auch der niedri­
an der Macht waren. Bei aller
ge Ölpreis und die Rückkehr
Wut bleiben die Portugiesen
der Touristen. Wenn es so
erstaunlich still. „Es gibt in
weitergeht wie in den ersten
Portugal unglücklicherweise
Monaten, kommen dieses
keine Kultur der politischen
Jahr so viele Gäste an die Al­
Teilnahme“, sagt Simões.
garve wie noch nie.
Und es fehlt an Eigenini­
Das Land sei wirklich ein
tiative. „Die Portugiesen sind
europäischer „Musterschü­ Premier Pedro Passos unglaublich stur“, sagt Karl
ler“ gewesen, findet Karl Coelho will wieder ge­ Heinz Stock. Er hat versucht,
Heinz Stock. Nur sei das leider wählt werden. Foto: AFP die Weinbauern der Region zu
die falsche Politik. Er als
einer gemeinsamen Marke­
Unternehmer bekomme die Folgen zu spü­ tingstrategie zu überreden. Vergeblich.
ren: die „extremen Belastungen“ durch hö­ „Jeder will seinen eigenen Weg gehen.“ Vor
here Steuern, die sinkende Kaufkraft. Doch zwei Jahren startete er eine Kampagne
während Stock ein Vermögen im Rücken gegen die „erdrückende“ und „sehr ver­
hatte, um die schwierigen Jahre zu überste­ krustete“ portugiesische Bürokratie, deren
hen, haben die portugiesischen Rentner Reform er für eine „Überlebensfrage“ hält.
und Arbeiter in dieser Zeit in den Abgrund Er erinnert sich an ein Essen mit einem
geblickt. Viele von ihnen sind wütend.
ehemaligen Wirtschaftsminister, der ihm
„Unsere Regierenden sind troikisti­ zustimmte. „Als wir rausgingen, sagte er
scher als die Troika“, sagt die 27­jährige Sa­ mir: Weißt du, Karl, wir warten seit der Re­
ra Simões aus Lissabon, Aktivistin der Pre­ volution auf Veränderungen.“
Emesis
E
s muss hier über einen Vorgang ge­
sprochen werden, der im Griechi­
schen als Emesis, im Lateinischen
als Vomitus bezeichnet wird. Wir sprechen
von der schwallartigen Entleerung des Ma­
geninhalts entgegen der natürlichen Rich­
tung durch die Speiseröhre und den Mund.
Auf den großen Volksfesten hat dieser Vor­
gang eine uralte therapeutische Tradition.
Schon Hippokrates beschrieb das Brech­
verfahren als eines der wichtigsten Heil­
mittel für Geisteskrankheiten. Es folgt
einem strengen Ritual: Wenn im Bierzelt
gegen 23 Uhr ein letzter Seufzer von Tuba
und Posaune ertönt – die sogenannte Eme­
sie –, wenn die Welt ins Wanken gerät, der
Boden ins Nichts sackt und der Magen
leicht wie eine Feder wird, dann rufen sich
alle Speisen und Getränke in Erinnerung,
die man im Rausch der Sinne achtlos in sich
hineingefüllt hat.
Ein Knurren und Würgen erhebt sich,
Schwein und Bier, Radi und Ochse erbli­
cken in kleinstteiligem Aggregatzustand
erneut das Licht der Welt, und der Mensch
blickt ihnen nachdenklich hinterher. Wer
diese Verschwendung von Proteinen be­
dauert, möge sich am Tierreich ein Beispiel
nehmen. Dort erbricht man sich, um Nah­
rung an Artgenossen weiterzugeben (Trop­
hallaxis). Auf den Volksfesten wurde der­
gleichen nicht beobachtet. Martin Gerstner