Udo Baer, Gabriele Frick-Baer Über Ängste und Pseudoängste, Maßlosigkeit und Parteilichkeit Als Zukunftswerkstatt therapie kreativ und als Institut für soziale Innovationen sind wir keine politischen Institutionen. Doch wir treten für die Würde der Menschen daran und das hat gesellschaftliche und politische Bedeutung. Wir begegnen Ängsten und Pseudo-Ängsten im Zusammenhang mit den Diskussionen über Flüchtlinge und Gewalt. Dies fordert, genauer hinzuschauen und Position zu beziehen. 1. Co-Traumatisierungen und der Schutz vor Gewalt Wir beobachten, dass eine große Anzahl von Menschen durch die SilvesterEreignisse in Köln und anderen Städten co-traumatisiert wurden, also Hocherregung, Erstarrtsein, Ohnmachtsgefühle und Ängste spüren. Das bedeutet, dass sie sich in die Opfer, die in Köln gewalttätigen Übergriffen ausgesetzt waren, hineinversetzten und hineinversetzen und mit ihnen mitfühlen und mitleiden. Die meisten sind Frauen, bei denen diese Erfahrungen eigene, sie in ihrer sexuellen Identität traumatisierende Gewalterfahrungen aufgewühlt haben. Männer identifizieren sich unserer Erfahrung nach vor allem mit der Hilflosigkeit und Ohnmacht der männlichen Begleiter in Köln, die ihre Frauen und Freundinnen nicht schützen konnten. Wir wissen aus der psychotraumatologischen Forschung, dass CoTraumatisierungen genauso wirken können, als hätten die Betreffenden die Gewalterfahrung selbst durchleben müssen. Das heißt, wir müssen solche und künftige Co-Traumatisierungen ernst nehmen. Auch in ihrer subjektiven Maßlosigkeit erklärbare Reaktionen wie „Ich wandere aus, weil ich mich in Deutschland nicht mehr sicher fühle!“ müssen wir so als mögliche Traumafolge einordnen. Einen Maßstab zu verlieren, kann eine Traumafolge sein. Was brauchen traumatisierte wie co-traumatisierte Menschen? Verständnis für ihre Unsicherheit und Angst und Sicherheit und Schutz. Wir beklagen die Hilflosigkeit und Zurückhaltung von Polizei, Justiz und anderen Behörden gegen Täter. Wir beklagen, dass viel zu wenig dagegen getan wurde und wird, dass Flüchtlingsunterkünfte angezündet und Migrant/innen angegriffen werden. Und wir beklagen, wenn Menschen aus dem Flüchtlingsmilieu zu Tätern werden. Wir beklagen, dass Kapitaldelikte immer noch mehr geahndet werden als Gewaltdelikte, insbesondere als Gewaltdelikte gegen Frauen. Der Schutz der Unverletzlichkeit der Menschen ist unverzichtbar. Wilhelm von Humboldt sagte zu Recht: „Ohne Sicherheit ist keine Freiheit.“ 2. Die Ängste Zur Zeit beobachten wir, dass manche Ängste gegenüber Flüchtlingen maßlos werden und dies politisch ausgenutzt wird. Um so wichtiger ist es, sich die Ängste und das, was sich dahinter verbirgt, genauer anzuschauen. Eine Angst, die es immer gab und die es immer geben wird, ist die Angst vor dem Fremden und vor den Fremden. Was neu ist und unbekannt, ruft bei vielen Menschen Neugier hervor, bei anderen Angst, bei manchen beides. Diese Angst ist unkonkret, bezeichnet eher negative Erwartungen und vor allem Scheu. Gegen die Ängste vor dem, was fremd ist, helfen nur konkrete Begegnungen, konkrete Erfahrungen. Heute weiß von den jungen Menschen kaum noch jemand, welche Ängste es in den 50er Jahren vor Franzosen und anderen „fremden“ Europäern gab. Man kannte sie nicht, nur als Kriegsgegner. Der Jugendaustausch, der Tourismus, die vielen konkreten Begegnungen haben diese Ängste zum Verschwinden gebracht. Eine weitere Angst wurzelt in der Befürchtung, durch Fremde, durch Flüchtlinge im ökonomischen Status bedroht zu werden. Einen realen Boden haben solche Sorgen für die Migrant/innen der letzten Einwanderungsbewegungen, für die Paketausfahrer und die Sicherheitsleute am Flughafen, für alle, die ungelernte und schlecht bezahlte Hilfstätigkeiten ausüben und die um billige Wohnungen konkurrieren. Hier braucht es Hilfsprogramme für alle, die in diesen Bereichen um ihre Existenz kämpfen, egal ob sie Flüchtlinge sind oder nicht. Diese Ängste sind allerdings unsinnig für die meisten Beschäftigten in Deutschland. Die Lehrerin wird ebenso wenig vom Arbeitsplatz durch Flüchtlinge verdrängt wie der Facharbeiter im Autowerk oder der Elektriker. Und selbstverständlich gibt es Ängste vor Gewalt und Kriminalität. Auch, ohne dass wir von Co-Traumatisierungen reden müssen. Wer Opfer von kriminellen Taten geworden ist oder solche Opfer unter Freund/innen oder Familienangehörigen kennt, weiß, wie sehr sich das Sicherheitsbedürfnis dadurch erhöht. Wir haben in Deutschland eine der geringsten Kriminalitätsraten auf der Welt – und jede kriminelle Bedrohung ist eine zu viel. Kriminalität entsteht bei Menschen, die verroht sind, die zumindest Werte der Solidarität und des Mitgefühls verloren haben oder nie kennengelernt haben. Kriminalität ist nicht an Nationalität oder Religion gebunden, sondern daran, ob Menschen die Werte humanen Zusammenlebens verloren gegangen sind oder ob sie eine Chance haben, sie zu leben. Hier wird oft mit einem Maß gemessen, das eher durch öffentliche Meinungsmache als durch persönliche Erfahrungen beeinflusst wird. Persönlich haben laut Politbarometer des ZDF vom 29.1. nur 30 % der Befragten Angst vor Kriminalität, die von Flüchtlingen ausgeht – 66% aber erwarten eine Zunahme der Kriminalität in Deutschland, die durch Flüchtlinge verursacht wird. 3. Die Täuschung, die Abwertung und die Pseudoangst Wir sind der Auffassung, dass darüber diskutiert und auch gestritten werden darf und soll, wie die Aufnahme von Flüchtlingen und die Zuwanderung geregelt werden muss, welche Integrationsmöglichkeiten geschaffen werden können bzw. sollten und vieles mehr. Auch darüber, wer unter das Asylrecht fallen kann und wo es dafür Grenzen gibt und wie diese menschenrechtskonform geregelt werden können. Doch an zwei Stellen werden wir, gelinde gesagt, misstrauisch. Die erste ist, wenn etwas gefordert wird, was gar nicht umgesetzt werden kann. Zum Beispiel die Forderung, die Grenzen gegenüber Flüchtlingen zu schließen. Wie sollen 2000 km Grenze kontrolliert werden? Soll es an allen Grenzübergängen wieder kilometerlange Staus geben? Soll das die Polizei machen statt Verbrechen aufzuklären? Oder die Bundeswehr? Die DDR ist gescheitert, 600 km Grenze abzusperren und hat eine Mauer gebaut ... Ist das die Perspektive? Wenn uns in der Therapie oder im Privatleben Menschen begegnen, die fordern, was gar nicht umzusetzen ist, dann werden wir misstrauisch. Unsere Erfahrung ist, dass sie sich dann selbst und andere täuschen und dass eigentlich ein ganz anderes Thema dahinter steckt. Das gilt auch für den zweiten Bereich, an dem unser Misstrauen erwacht: Wenn Menschen „Ängste“ vor Flüchtlingen ertönen lassen, die gar keinen Kontakt mit Flüchtlingen haben. Da betont ein Mann in einer ostdeutschen Kleinstadt, in der sich keine Flüchtlinge aufhalten, dass diese die Arbeit wegnehmen oder die Frau bedrohen. Darauf angesprochen, ob er damit Erfahrungen hat, sagt er: Hier nicht, aber in Kreuzberg ...! Wir sind vorhin auf Ängste eingegangen, die wir ernst nehmen müssen. Aber nicht alles, was als Angst daher kommt, ist auch Angst. Vieles ist eine Pseudoangst, eine Täuschung, hinter der sich etwas anderes verbirgt. Wir vermuten, dass sich hinter den Täuschungen und Selbsttäuschungen die Abwertung anderer Menschen verbirgt: Eine Person muss sich erhöhen oder die Höhe seines Selbstbewusstseins halten, indem sie andere erniedrigt. Diese vom Kern her narzisstische Struktur hat in offenen und versteckten Formen in vielen Familien zu großem Leid geführt. Gesellschaftlich und politisch bedeutet sie, dass andere Menschengruppen abgewertet und gleichzeitig als Bedrohung erhöht werden, um seine eigene Identität zu erhöhen. Diese Abwertung und Erniedrigung kann jede Bevölkerungsgruppe treffen. Früher waren das Protestanten oder Katholiken, im Nationalsozialismus die Juden und die Slawen, dann die Kommunisten oder im Osten die Kapitalisten, heute die Moslems und die Flüchtlinge. Wir teilen die Auffassung, dass wir Ängste ernst nehmen müssen. Wir teilen nicht die Auffassung, dass wir solche Pseudoängste ernst nehmen müssen. In der Therapie beschäftigen wir uns sicherlich bei Menschen mit solchen Strukturen mit dem individuellen Leid, das zu solchen Haltungen geführt hat. Doch auch hier sind wir parteilich für die Würde und treten allen Erniedrigungen und Abwertungen entgegen. Für Pseudoängste, in denen sich Abwertungen und Erniedrigungen verbergen, haben wir allenfalls Erklärungen, aber kein Verständnis und sind parteilich für diejenigen, deren Würde mit Füßen getreten wird. 4. Das Asylrecht und die deutsche Geschichte Obergrenzen für Einwanderer kann jeder Staat festlegen. Obergrenzen für Asylsuchende zu fordern, bedeutet, das Recht auf ein individuelles Asyl abschaffen zu wollen. Das sollte Anlass sein, auf den historischen Kontext zu schauen, warum es im Grundgesetz in Deutschland als einzigem Land Europas ein individuelles Recht auf Asyl gibt, das deutlich über die europäischen und UNMenschenrechtsvereinbarungen hinaus geht. Das Asylrecht wurde 1948/1949 in das Grundgesetz aufgenommen, weil über 500 000 Verfolgte des Nazi-Regimes im Ausland Asyl gefunden hatten und dadurch überleben konnten. Die prominenten Namen reichen von Bertold Brecht bis Thomas Mann, von Marlene Dietrich bis Billy Wilder, von Paul Hindemith bis Fritz Mahler, von Paul Klee bis Oskar Kokoschka, von Willy Brandt bis Bruno Kreisky, von Albert Einstein bis Sigmund Freud ... und unzählige andere Menschen. All diese Flüchtlinge überlebten, weil sie in anderen Ländern Asyl fanden. Aus dieser historischen Erfahrung leiteten die Väter und Mütter des Grundgesetzes die Verpflichtung ab, auch anderen Verfolgten das Recht auf Asyl zu garantieren. Wer dieses Recht in Frage stellt, spielt mit der Würdigung der über 500 000 Flüchtlinge aus dem nationalsozialistischen Deutschland. Für uns als für die Würde der Menschen engagierte Therapeut/innen ist das unerträglich. Hinzu kommt, dass es in Deutschland nur wenige Familien gibt, in denen keine Fluchterfahrungen existieren. Millionen Menschen sind während des nationalsozialistischen Regimes „umgesiedelt“ oder verschleppt worden bzw. geflohen. 14 Millionen Menschen sind es dem Osten Deutschlands geflohen oder vertreiben worden. 3,5 Millionen flohen aus der ehemaligen DDR. 4,5 Millionen kamen aus der Sowjetunion und deren Nachfolgestaaten ... Kein Jahrzehnt ohne große Fluchtbewegungen. Viele Hunderttausende oder Millionen Menschen in Deutschland haben das mitgemacht, was jetzt die Flüchtlinge aus Syrien, Irak, Afghanistan und anderen Ländern erleben müssen. 5. Wer ist Opfer? Wer ist Täter? In der therapeutischen und vor allem in der traumatherapeutischen Arbeit ist immer die Frage wichtig: Wer ist Opfer, wer ist Täter. In vielen Diskussionen v.a. in einigen Medien klingt an, dass „die Flüchtlinge“ Täter sind. Abgesehen davon, dass es „die“ Flüchtlinge nicht gibt, ist unsere Meinung und unsere Erfahrung eindeutig: Die meisten Flüchtlinge sind Opfer und nicht Täter. Sie fliehen vor den Tätern in Syrien und im Irak, in Eritrea und in Afghanistan und anderswo. Auch viele der Flüchtlinge z. B. aus Marokko, die nach Köln so in Verruf geraten sind, sind Opfer, sie fliehen vor Gewalt und vor allem dem Hunger in den ländlichen Gebieten Marokkos. Und es gibt Täter und Täter/innen. Auch unter den Flüchtlingen. Schon Mitte letzten Jahres haben wir betont, dass es auch Vergewaltigungen in Flüchtlingslagern gibt, dass es auch Täter und Täterinnen gibt. Und diese müssen als solche behandelt werden. Und dann gibt es, immer und überall, auch Menschen die Opfer und Täter zugleich sind. Das kennen wir mit Blick auf die Kriegsgeneration in Deutschland zu genüge. Manche haben z.B. unter den Gräueln in Syrien und anderswo gelitten und geben das Täterverhalten weiter. Da müssen wir genau hinschauen und eine entsprechende Doppelhaltung einnehmen: STOP zu jedem Täterverhalten, Mitgefühl für die Opfererfahrungen. 6. Die Polarisierung und die Parteilichkeit für die Würde Zur Zeit polarisiert sich die Diskussion in der Gesellschaft. Viele treten in irgendeiner Form „gegen die Flüchtlinge“ auf, andere vertreten eine Willkommenskultur. Die Schere geht auseinander. Wie bei einem zur Seite gedrehten V teilt sich die Gesellschaft in zwei Richtungen. Wir beobachten, dass bei denen, die die Abwehr der Fremden, der Flüchtlinge vertreten, keine oder kaum Auseinandersetzung mit den Flüchtlingsbewegungen und den Traumatisierungen in der deutschen Geschichte der letzten 80 Jahre vorhanden ist. Wenn die eigenen traumatischen Erfahrungen und auch die Leiden unter den transgenerativen Traumaweitergaben verdrängt und abgewehrt werden, dann wird auch das Leiden der Flüchtlinge abgewehrt. Und umgekehrt: Wer sich mit den gesellschaftlichen und den familiär-biografischen Traumatisierungserfahrungen auseinandersetzt, kann sich auch dem Leid und den Traumata der Flüchtlinge stellen. Die Essenz aller Überlegungen, der Kern unserer Haltung besteht in der Parteilichkeit für die Würde. Wir sind nicht „für Flüchtlinge“ oder „gegen Flüchtlinge“. Wir sind gegen Gewalt und Entwürdigung – ganz gleich ob die Täter in Deutschland geboren sind oder in Afghanistan. Wir sind für die Unterstützung der Notleidenden, der Opfer, der Erniedrigten und Entrechteten – ganz gleich, ob diese Menschen arabisch sprechen oder deutsch. Wir sind parteilich gegen das Leiden an den Traumatisierungen, selbst erlebten und transgenerativ weitergegebenen, in Aleppo oder Dresden, im Mittelmeer oder in Sachsenhausen. Wir sind parteilich für die Würde.
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