Prof. Dr. Friedrich Hubert Esser Präsident des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB) Berlin, 4. Juni 2015 Thesen zu den Auswirkungen von Wirtschaft 4.0 auf die Qualifizierung im Berufsbildungssystem Wirtschaft 4.0 fordert die Anpassungsfähigkeit des Berufsbildungssystems heraus! Die Berufe im Berufsbildungssystem werden in unterschiedlicher Weise von Tempo und Ausmaß 4.0-getriebener Veränderungen betroffen sein. Diese Veränderungen beziehen sich auf die tägliche Arbeit genauso wie auf Qualifikationsprozesse. Grundlegende IT-Kompetenzen, einschließlich Prozess-, System- und Problemlösungswissen, werden für Berufsbilder zur Standardqualifikation. Durchlässige Berufslaufbahnkonzepte und Berufsfamilien werden geeignete Strukturkonzepte dafür sein, 4.0-relevante Qualifikationen entsprechend allen Niveaus des Deutschen und Europäischen Qualifikationsrahmens aufnehmen zu können. Neue Arbeitsanforderungen entlang der Wertschöpfungsketten führen nicht nur zu veränderten Kompetenzanforderungen in den Berufsbildern. Sie werden auch Kristallisationspunkte für neue, hybride Qualifikationsvarianten sein. Die Qualifizierung für die Wirtschaft 4.0 erfordert starke Lernumgebungen! Digitale Lehr-Lernformen sind elementar für die Förderung von 4.0-Kompetenzen. Daher müssen Ausbildungsbetriebe, Berufsschulen, überbetriebliche Bildungszentren und Hochschulen über eine entsprechende Ausstattung verfügen. Ein anforderungsgerechtes Ausund Fortbildungsangebot vor Ort ist dann gesichert, wenn die Lernortkooperation über digitale Plattformen weiter entwickelt wird. Schulabgänger/-innen müssen eine für die Berufsausbildung anschlussfähige IT-Kompetenz als Bildungsstandard besitzen. Laut der international vergleichenden Schulleistungsstudie ICLS ist Deutschland im Bereich der computer- und informationsbezogenen Kompetenzen jedoch erst Mittelmaß. Um die erforderlichen Veränderungsprozesse in den regionalen Bildungsnetzwerken schnell und in der gewünschten Qualität einleiten zu können, werden vor allem entsprechend kompetente Ausbilder/-innen sowie Berufsschullehrer/-innen benötigt. Darum müssen die Qualifizierung und die Weiterbildung des Ausbildungspersonals oberste Priorität haben. Gerade kleine und mittlere Unternehmen drohen auf Grund der steigenden Anforderungen als Ausbildungsbetriebe verloren zu gehen. Deshalb sind mit moderner Technik ausgestattete, überbetriebliche Ausbildungszentren mit ihrer innovationsstiftenden-, ergänzenden- und qualitätssichernden Funktion im Ausbildungsgeschehen unabdinglich. Zudem sind sie ideal für die rasche Vor-Ort-Versorgung mit bedarfsspezifischer beruflicher Weiterbildung zum Thema 4.0. 1 Prof. Dr. Friedrich Hubert Esser Präsident des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB) Berlin, 4. Juni 2015 Aktuelle Studien und Projekte des BIBB zu Wirtschaft 4.0 unterstützen bereits den berufssystemischen Entwicklungsprozess! Zur Ermittlung des Veränderungsbedarfs im Berufespektrum untersucht das BIBB gemeinsam mit der Volkswagen AG exemplarisch Arbeitsaufgaben und Tätigkeitsprofile in den Bereichen Wartung und Instandhaltung von Produktionssystemen und vergleicht diese mit vorhandenen Berufsprofilen. Die Ergebnisse werden gemeinsam mit den Sozialpartnern und Kammerorganisationen analysiert und hinsichtlich ihrer Transferrelevanz diskutiert. Im Rahmen der Vorbereitung der Neuordnung der IT-Berufe analysiert das BIBB den zukünftigen Qualifikationsbedarf in der IT-Branche. Für andere Branchen und Berufe können diese Erkenntnisse ebenso genutzt werden, um Qualifikationsbedarfe zu spezifizieren. Die Diffusion von 4.0-Qualifikationen in das Berufesystem wird tendenziell dazu führen, dass sich viele existierende Berufsbilder und Berufsstrukturen verändern werden. Es wird nicht mit der Entstehung einer größeren Zahl völlig neuer Berufe gerechnet, da der derzeitige Berufemix von über 300 Berufen eine hinreichende Basis bietet, um das Berufesystem weiter zu entwickeln. Wirtschaft 4.0 ist die Chance, die berufliche Bildung in Deutschland wieder attraktiver zu machen! Wirtschaft 4.0 führt zur stärkeren Verflechtung der Berufe mit moderner Technik – die Möglichkeiten sozialer wie auch sozio-technischer Interaktionen in den Berufen wachsen – Durchlässigkeit zwischen ehemals getrennten Bildungsbereichen wird Normalität. Dadurch wird Berufsbildung wieder prestigeträchtiger und gewinnt an Attraktivität, vor allem bei jungen Menschen. Das veränderte Qualifikationsangebot für die Wirtschaft 4.0 wird das Gesicht des Berufsbildungssystems verändern: mehr Querschnittsangebote, duale Studiengänge, Zusatzqualifikationen und Berufsfamilien – systemische Verzahnung von Aus- und Aufstiegsfortbildung – größere internationale Verwertbarkeit des Berufswissens, verbunden mit attraktiveren Beschäftigungsperspektiven führen zu mehr Wertschätzung für die berufliche Bildung in der Gesellschaft. Aus berufsbildungspolitischer Sicht sind daher jetzt und in naher Zukunft Aktivitäten erforderlich, die den bereits eingesetzten systemübergreifenden Prozess zur Weiterentwicklung und Umsetzung 4.0-tauglicher Berufsbilder forcieren. 2
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