Psycholo gie Bei manchen Kindern wissen selbst die Eltern nicht mehr weiter. Wie können wir gewaltbereite Jungen und Mädchen auf den »rechten« Weg bringen? Intensivtäter Jung, perspektivlos, gefährlich? V o n M e n n o B auma n n A m 24. April 2015 begann vor dem Landgericht Darmstadt der Prozess gegen den 18-jährigen Sanel M. Fünf Monate zuvor hatte er der Studentin Tugce Albayrak nachts auf einem Parkplatz so heftig ins Gesicht geschlagen, dass sie zu Boden ging und ein paar Tage später an den Folgen des Sturzes starb. Besonders tragisch: Zu der Auseinandersetzung kam es, weil die 24-Jährige zwei minderjährige Mädchen gegen Sanel M. und seine Begleiter verteidigen wollte. Der Junge war dem Jugendamt und der Justiz wegen Diebstahl, Raub und Körperverletzung bereits bekannt; er stand auch schon unter Jugendarrest. Mehr oder weniger ähnliche Karrieren hatten jene jungen Männer hinter sich, die 2009 den Geschäftsmann Dominik Brunner so brutal zusammenschlugen, dass er einem Herzanfall erlag. Aber wenn das gewaltbe reite Verhalten schon vorher aktenkundig war: Hätten diese Vorfälle dann nicht verhindert werden können? Die oft geforderte »Null-Toleranz-Strategie«, gemäß der schwierige Jugendliche nach dem Vorbild der amerikanischen »boot camps« – einer Art Umerziehungs lager – gnadenlos gedrillt oder jahrelang weggesperrt werden sollen, führt nicht weiter. Denn trotz konsequenter Strafverfolgung und empfindlicher Haftstrafen für Jugendliche sanken in den USA weder die Jugend gewalt noch die Rückfallquoten. 2013 vorgelegte Zahlen aus Deutschland weisen in dieselbe Richtung: Nach dem Verbüßen der Haftstrafe im Jugendstrafvollzug (mit einer durchschnittlichen Dauer von knapp einem Jahr) wird binnen sechs Jahren etwa die Hälfte der Betroffenen rückfällig. Die meisten Fachleute sind sich darin einig, dass ein verschärftes Strafrecht oder das Herabsetzen der Strafmündigkeit langfristig weder die öffentliche Sicherheit noch die Zukunftschancen der jungen Menschen verbessern würde. Aber wie gut funktioniert der hier zu Lande bevorzugt eingeschlagene Weg von »Erziehung statt Strafe«? In Deutschland sind für Kinder und Jugendliche mit erheblichen Verhaltensproblemen die Jugendämter der Kommunen zuständig. Sie kooperieren mit freien Trägern der Jugendhilfe und bieten gemäß dem Sozialgesetzbuch (VIII) »Hilfen zur Erziehung« an. Können die Eltern oder andere Verwandte die Betroffenen nicht sinnvoll unterstützen, werden diese in Pflegefamilien, Unser Experte Menno Baumann ist Professor für Intensivpädagogik an der Fliedner Fachhochschule Düsseldorf, Bereichsleiter beim Jugendhilfeträger Leinerstift e. V. sowie Gutachter für Beratungs- und Perspektivgutachten in schwierigsten Fallverläufen und Unterbringungsverfahren nach BGB § 1631b (mit Freiheitsentzug verbundene Unterbringung). Gehirn&Geist 32 0 1 _ 2 0 1 6 iStock / Linda Kloosterhof Aufmüpfig, provozierend und auch schon mal ein kleinerer Diebstahl – das trifft auf viele Jugendliche zu. Nur ein Teil von ihnen wird so auffällig, dass die Jugendämter einschreiten. Gehirn&Geist 33 0 1 _ 2 0 1 6 Auf einen Blick: Unterstützen statt strafen kompetenzen erweitern und Freiheitsrechte schrittweise trainieren. Voraussetzung hierfür ist jedoch, dass er den Aufenthalt als Chance und nicht nur als Strafe betrachtet. Erhält er den Widerstand aufrecht, kommt es Bei besonders schwierigen, strafrechtlich auffälligen zu keinerlei Verbesserung. Konsequenterweise wird die Kindern und Jugendlichen scheitern »Hilfen zur Hilfe von Seiten des Trägers dann vorzeitig beendet. Erziehung« oft, weil diese nicht sorgfältig genug auf Von jenen Kindern und Jugendlichen, die mindes den individuellen Fall abgestimmt werden. tens ein halbes Jahr in der geschlossenen Einrichtung bleiben, entwickeln sich zunächst immerhin rund Langfristig besonders wirksam sind stark indivi dualisierte Hilfen, gut realisierbar etwa in therapeu- 63 Prozent positiv, wie Mathias Schwabe, Professor für soziale Arbeit an der Evangelischen Hochschule Berlin, tischen Wohngruppen oder in Maßnahmen im 2013 resümierte. Sie können Regeln besser einhalten, Ausland, bei denen die Betroffenen ein oder zwei Jahre agieren weniger aufsässig oder aggressiv, zeigen seltener lang eine Eins-zu-eins-Betreuung durch eine feste Anzeichen der Selbst- und Fremdgefährdung und nehBezugsperson erfahren. men öfter wieder an einem Schulunterricht teil. Das ist kein schlechtes Ergebnis angesichts der Tatsache, dass Die Qualität der Maßnahme und ihr Erfolg stehen in direktem Zusammenhang. Bisher fehlen jedoch klar die Kinder und Jugendlichen sich nicht freiwillig für die Maßnahme entschieden haben. Die Langzeitwirkung formulierte Mindestanforderungen, die Hilfen mit dem Prädikat »intensivpädagogisch« erfüllen müssen. überzeugt leider weniger: Laut einer Analyse des Deutschen Jugendinstituts von 2010 nahm die Hälfte der aus geschlossenen Einrichtungen Entlassenen ein Jahr später nicht mehr an offenen Formen der Jugendhilfe teil. Wohngruppen oder Heimen untergebracht, um sie au- Vielmehr lebten die Jugendlichen wieder ohne feste Allßerhalb der Herkunftsfamilie auf ein Leben in der Ge- tagstrukturen, konsumierten Alkohol oder Drogen und sellschaft vorzubereiten. bewegten sich in kriminellen Kreisen. Nur einige dieser jungen Menschen begehen trotz verschiedener Hilfen immer wieder Delikte wie Kör- Zur Not mit Zwang perverletzung, Raub, Erpressung oder Drogenhandel. Auch in so genannten Intensivgruppen mit fakultativ Sie werden mitunter als Intensivtäter bezeichnet – wo- geschlossenen Elementen werden die Freiheitsrechte bei keine bundesweit einheitliche polizeiliche Defini eingeschränkt, allerdings nur gelegentlich. Jeweils vier tion existiert, ab welchem Zeitpunkt ein Jugendlicher bis sieben Jugendliche sollen darin wesentlich intenals solcher gilt. Für diese besonders schwierigen Fälle siver betreut werden als in normalen sozialpädagogi hat die Jugendhilfe seit den 1980er Jahren ein breites schen Wohngruppen, tagsüber also etwa mit zwei Fachund stetig wachsendes Spektrum an Hilfsmaßnahmen kräften (statt einer) pro Gruppe. Die Betroffenen sind entwickelt, das unter dem Begriff »Intensivpädagogik« zwar in der Regel nicht eingesperrt. In Situationen der zusammengefasst wird. Es reicht von stationären Ein- Selbst- oder Fremdgefährdung werden aber freiheitsrichtungen mit Freiheitsentzug über kleine, pädago- entziehende Sanktionen eingesetzt: Dazu gehören zum gisch und therapeutisch eng betreute Wohngruppen, Beispiel der »Time-out-Raum«, nächtliches AbschlieEinzelbetreuung im Ausland bis hin zu rein freiwilligen, ßen des Zimmers, Beschränken der Handy-Nutzung punktuellen Angeboten etwa für Straßenkinder. und der eigenständigen Kontaktaufnahme mit FreunWas kennzeichnet die einzelnen Maßnahmen, und den oder das Verbot, das Gelände der Einrichtung länwie erfolgreich sind sie? Geschlossene Einrichtungen ger als eine Stunde zu verlassen. der Jugendhilfe sind Wohngruppen in Heimen, welche Mathias Schwabe und sein Team fanden heraus, dass die Kinder und Jugendlichen nicht verlassen können etwa ein Drittel der 38 Kinder und Jugendlichen, die sie und in denen Alltagsstrukturen notfalls mit Zwang drei Jahre lang beobachtet hatten, von einer derartigen durchgesetzt werden. Voraussetzung ist ein richter- Maßnahme profitierte. Sie konnten prosoziales Verhallicher Beschluss nach fachpsychiatrischer Stellungnah- ten aufbauen und lernten, ihre Impulse besser zu konme – die Jungen und Mädchen werden also gegen ihren trollieren. Ein weiteres Drittel bemühte sich zwar um Willen in ein solches Heim eingewiesen. Allerdings Veränderung, es kam aber doch fast täglich zu Eskalatio handelt es sich bei ihnen eher um eine Randgruppe. So nen. Das verbleibende Drittel rebellierte bis zum Ende gibt es in Deutschland nur etwa 380 genehmigte Plätze der Maßnahme gegen jede Art von Zwang, der hier zu im Vergleich zu den bundesweit rund 70 000 vollstatio keiner Besserung führte, sondern vielmehr Zusammennären Plätzen der Jugendhilfe. stöße geradezu provozierte. Unter Pädagogen ist die geschlossene Unterbringung Statistisch gesehen deutlich erfolgreicher sind Intensehr umstritten. Ein Jugendlicher kann hier zwar gele- sivgruppen mit traumasensibler und psychotherapeugentlich belastbare Beziehungen aufbauen, seine Sozial- tischer Ausrichtung. Therapeutische und pädagogische 1 2 3 Gehirn&Geist 34 0 1 _ 2 0 1 6 psycholo gie / intensiv täter Intensivtäter, Maximum an Delikten im 16. Lebensjahr Intensivtäter (Abbrecher), starker Rückgang auf weniger als 5 Delikte pro Jahr ab 15 Jahren begehen ab dem Alter von 16 Jahren eher häufiger Delikte, wieder seltener ab 19 Jahren kein oder höchstens ein leichtes Delikt 8 % 6 % 6% 57 % 15 % bis zum 16. Lebensjahr häufiger delinquent, danach seltener 9 % Gehirn&Geist nur mit 13 Jahren etwas häufiger delinquent Wie kriminell sind unsere Kinder? In der Langzeitstudie »Kriminalität in der modernen Stadt« erfassen Forscher der Universitäten Münster und Bielefeld bei rund 3400 Teilnehmern seit dem Schul alter das delinquente Verhalten. Zu Beginn der Unter suchung im Jahr 2002 waren die Befragten ungefähr 13 Jahre alt, inzwischen sind sie 26. Obwohl die jähr liche Abfrage anonym läuft, lassen sich die Antworten einer Person einander zuordnen und somit individuelle Entwicklungen verfolgen. 2014 konstatierten die Wissenschaftler: Bei sehr vielen Jugendlichen bleibt es bei einem einmaligen Gesetzesübertritt – so ist die Gruppe, die bis zum 19. Lebensjahr keine oder höchstens eine leichtere Tat angab, mit 57 Prozent die größte (siehe Diagramm). Weitere neun Prozent verhielten sich mit 13 Jahren zwar etwas häufiger delinquent, schon ein Jahr später aber hatten sie sich gefangen. 15 Prozent verübten bis zum 16. Lebensjahr im Schnitt mehr als fünf Delikte pro Jahr, danach aber immer weniger. Auch weit gehend ohne Intervention der Justiz besserte sich also mit zunehmendem Alter das Sozialverhalten; Forscher nennen das »Spontanbewährung«. Einen Rückgang sieht man auch bei Intensivtätern: Sechs Prozent begingen lediglich mit 13 und 14 Jahren mehr als 22 Verstöße im Jahr. Acht Prozent waren ebenfalls schon früh stark delinquent. Sie verübten im 16. Lebensjahr im Schnitt 44 Delikte, danach sank die Zahl stetig, etwa im 19. Lebensjahr auf knapp über 15. Der Weg in die Normalität gelinge vor allem dann, wenn die jungen Erwachsenen eine Arbeit finden und stabile soziale Bindungen aufbauen, betonen die For scher. Es sei daher richtig, Haftstrafen auf das Nötigste zu beschränken, da sie den Kontakt zu gewaltbereiten Gruppen förderten und unterstützende Beziehungen schwächten. Boers, K. et al.: Vom Jugend- zum frühen Erwachsenenalter. Delinquenzverläufe und Erklärungszusammenhänge in der Verlaufsstudie »Kriminalität in der modernen Stadt«. In: Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 97, S. 183–202, 2014 Kurz erkl ärt Delinquenz Strafrechtlich relevantes Verhalten – geläufiger Begriff, der neben der polizeilich bekannten auch die offiziell nicht registrierte Kriminalität (Dunkelfeld) umfasst Intensivtäter Bei der Polizei existiert keine bundesweit einheitliche Definition. In Studien werden oft jene, die über die Hälfte der Eigentums- und mehr als drei Viertel aller Gewaltdelikte ihrer Altersgruppe begehen, als Intensivtäter klassifiziert. Gehirn&Geist 35 0 1 _ 2 0 1 6 Intensivpädagogik Besondere pädagogische Maßnahmen für »besonders problematische« Kinder und Jugendliche, die ein hohes Risiko für andere (und für sich selbst) darstellen Getty Images / Doug Menuez [M] Viele Jugendliche, die auf der Straße leben, lehnen jede Art von Hilfe ab. Streetworker bemühen sich um eine Annäherung. Fachkräfte sollen hier eng zusammenarbeiten, um die Jugendlichen zu unterstützen und ihnen einen psychologischen »Schutzraum« zu bieten. Der Wunsch, sich in Therapie zu begeben, ist leider bei jungen Intensivtätern im Vorfeld oft nicht vorhanden, so dass sie gar nicht erst aufgenommen werden. Oder es stellt sich später heraus, dass die Kinder und Jugendlichen dem Setting, das eine freiwillige Mitarbeit und die Einhaltung von Regeln fordert, noch nicht gewachsen sind. Insgesamt sind wie bei allen Jugendhilfemaßnahmen Abbrüche häufig. Traumasensible Herangehensweise hat Erfolg Bei jenen, die dabeibleiben, beobachtete Silke Gahleitner, Professorin für klinische Psychologie und Sozialarbeit an der Alice Salomon Hochschule Berlin, allerdings 66 Prozent nachhaltig positive Entwicklungsverläufe: Die Jugendlichen lernten, ihr Verhalten besser zu regulieren, machten große Fortschritte in ihrer Persönlichkeitsentwicklung und waren mit sich und ihren fami liären Beziehungen insgesamt zufriedener. Auch andere Untersuchungen deuten darauf hin, dass traumasensible Intensivgruppen zu den wirksamsten Interventio nen gehören. Erfolg versprechend sind außerdem so genannte individualpädagogische Auslandsmaßnahmen, obwohl gerade sie öffentlichen Unmut erregen: »Das ist doch Urlaub auf Staatskosten!« Hier werden junge Menschen in der Regel einzeln für ein oder zwei Jahre in Ein richtungen im Ausland untergebracht, von Deutschland aus meist in Skandinavien, Osteuropa oder Spa Gehirn&Geist nien. Der junge Mensch wird von mindestens einer pädago gischen Fachkraft intensiv betreut. Die komplette Veränderung des Lebensumfelds und die Distanz zur bisherigen Lebenssituation sollen einen Neuanfang ermöglichen. Zudem erschwert es die Sprachbarriere, bisherige Verhaltensroutinen – etwa öffentliches Pöbeln – aufrechtzuerhalten. Nicht zuletzt machen einige Jugendliche durch die Eins-zu-eins-Betreuung oft nach langer Zeit erstmals wieder positive Beziehungserfahrungen. Auch hier werden etwa 40 Prozent der Maßnahmen vorzeitig beendet. Einer der führenden Jugendhilfeana lysten Deutschlands, Michael Macsenaere vom Institut für Kinder- und Jugendhilfe in Mainz, erkannte aber bei fast 90 Prozent der zeitweise im Ausland untergebrachten jungen Menschen deutliche positive Effekte, sowohl was das Sozialverhalten als auch was etwa einen regelmäßigen Schulbesuch betraf. Sein Team wertete insgesamt 93 Fallverläufe über einen Zeitraum von drei Jahren aus. Nur neun Prozent der Betroffenen blieben in dieser Zeit trotz der Hilfe in ihrem bisherigen – zum Teil selbstzerstörerischen – Verhalten gefangen. Mit rund 600 Plätzen (Stand: 2015) handelt es sich um einen (noch) kleinen, aber wachsenden Bereich. Einen ganz anderen Weg verfolgen dagegen niederschwellige, akzeptierende Ansätze. Die jungen Menschen bleiben in ihrem Umfeld und entscheiden selbst, wann sie welche Unterstützung annehmen. Am bekann testen sind Streetworker, die Jugendliche auf der Straße und an sozialen Brennpunkten aufsuchen, sowie das Angebot von Notschlafstellen, wo obdachlose Jugend liche ein Bett und eine warme Mahlzeit bekommen. Mathias Schwabe und seine Mitarbeiter evaluierten über einen Zeitraum von 16 Jahren ein Berliner Projekt, das junge Menschen, die der Jugendhilfe bereits entglitten sind, wieder an eine Unterstützung heranführt. Insgesamt erhielten in diesem Zeitraum 105 Jugendliche eine (sehr kleine) Wohnung und offene Angebote zur Tagesstrukturierung. Einzige Verbindlichkeit war ein wöchentliches Gespräch im Jugendamt, wo sie auch das Geld für den Lebensunterhalt abholten. Das 2013 veröffentlichte Fazit: Bei der Hälfte der Jugendlichen kam es, oft nach einer Phase des »Austobens«, zu einer deutlichen Verbesserung. Sie wünschten sich etwa einen geregelteren Tagesablauf und mehr Unterstützung. Bei 38 Prozent wirkte dies über die Hilfe hinaus. Unter anderem entschlossen sich etliche zu Folgemaßnahmen, zum Beispiel für eine therapeutische Wohngruppe. Einige negative Fallverläufe verzeichneten die Forscher aber auch: Manchmal rutschten Jugendliche – quasi unter den Augen der Sozialarbeiter – noch tiefer in Kriminalität oder Drogensucht ab. Dennoch sind für Straßenkinder, die sonst oft gar nicht mehr erreichbar sind, solche Projekte eine Möglichkeit, sich dem System der Jugendhilfe wieder anzunähern. 36 0 1 _ 2 0 1 6 psycholo gie / intensiv täter Insgesamt zeigt die Evaluationsforschung, dass von intensivpädagogischen Hilfen sogar in vermeintlich hoffnungslosen Fällen positive Impulse ausgehen können. Sämtliche Studien zeugen dabei von einem unmittelbaren Zusammenhang zwischen der Effektivität einer Hilfe und ihrer Qualität. Leider ist der Begriff Intensivpädagogik in Deutschland nicht geschützt. Um dem Prädikat »intensiv« gerecht zu werden, gilt es, künftig klare Mindestanforderungen zu formulieren (siehe »Qualität in der Jugendhilfe«, unten). Schlechtes Angebot, schlechtes Ergebnis – das mag banal klingen. Tatsächlich stehen aber gar nicht so selten schnelle Lösungen und wirtschaftliche Interessen bei den Betreibern im Vordergrund. So wurden im Sommer 2015 in Schleswig-Holstein zwei Wohngruppen geschlossen, nachdem Jugendliche von missachtenden Erziehungspraktiken erzählt hatten und eine Prüfung ergab, dass zu wenig Personal vor Ort war. Ebenfalls im Sommer 2015 wurde öffentlich, dass in Polen und Ungarn unqualifizierte Personen deutsche Jugendliche unter unhaltbaren Bedingungen betreut hatten. Kinder, die Systeme sprengen Nur einige der Kinder und Jugendlichen mit Verhaltensstörungen werden so schwierig, dass sie »das System sprengen« und alle Hilfen versagen. Wie eine eigene Untersuchung an der Universität Oldenburg zeigt, entließen im Jahr 2006 die Jugendhilfeeinrichtungen in Niedersachsen 205 junge Menschen ohne weitere Hilfsangebote oder in offensichtlich ungeeignete Settings, weil keine andere Lösung mehr greifbar war. Das scheinen auf den ersten Blick nicht viele, verglichen mit den rund 6000 Heimplätzen, über die das Land zu der Zeit verfügte. Diese »Systemsprenger« bereiten jedoch erhebliche Schwierigkeiten. Das Problem liegt nicht darin, dass für solche schwierigen Kinder und Jugendlichen keine Erfolg verspre- Max ist kaum 14 Jahre alt, als gegen ihn bereits mehr als 30 Anzeigen laufen, wegen Körperverletzung, Erpres sung und Diebstahl chenden Hilfen existieren. 2012 veröffentlichte meine Arbeitsgruppe eine detaillierte Analyse der Lebenswege von 22 jugendlichen Systemsprengern. Es sind Kinder wie Max*: Schon als er 13 ist, nimmt ihn das Jugendamt aus der Familie und versucht, ihn in verschiedenen wohnortnahen sozialpädagogischen Wohngruppen zu integrieren. Aber er haut immer wieder ab, trifft sich mit seinen »Kumpels«, macht Ärger. Max ist kaum 14 Jahre alt, als gegen ihn bereits mehr als 30 Anzeigen laufen, wegen Körperverletzung, Erpressung und Diebstahl. Auch eine ortsferne Unterbringung ändert nichts, Max knüpft schnell wieder kriminelle Kontakte. Nach einer Schlägerei wird der 14-Jährige in die geschlossene Psychiatrie eingewiesen, die ihn nach wenigen Wochen wegen mangelnder Therapiebereitschaft entlässt. In der nächsten Wohngruppe werden deutliche Hinweise auf seinen steigenden Drogenkonsum und zunehmende Gewalttätigkeit ignoriert. Es kommt zu einem Zwischenfall mit schwerer Körperverletzung, und Max landet für einige Wochen im Jugendarrest. Daraus entlassen, kommt er das erste Mal in eine Intensivgruppe. Der Versuch eines individualpädagogischen Auslands aufenthalts scheitert, weil das Gastland Max auf Grund seiner Vorstrafen die Einreise verweigert. Schließlich entlässt ihn auch seine Intensivgruppe, da er inzwischen im Drogenmilieu verkehrt. Danach findet das Jugendamt keine Einrichtung mehr, die den nun 16-jäh* Name geändert Qualität in der Jugendhilfe Folgende Punkte können über den Erfolg einer Maß nahme entscheiden: • stringente Planung der Hilfe, präzise formulierte Ziele, Abstimmen der Übergänge mit dem jungen Menschen und seinen Sorgeberechtigten • während der Maßnahme intensiver Austausch zwi schen Jugendamt, Eltern, dem Jugendlichen, ausfüh renden Pädagogen oder psychiatrischen Fachkräften • stabile Bezugspersonen, qualifizierte Mitarbeiter, die speziell in Methoden der Deeskalation trainiert sind • ausführliche Dokumentation des Verlaufs der Hilfe • Entwicklung einer Zukunftsoption für die Zeit danach • Integration des Jugendlichen in schulische oder berufliche Bildungsprozesse Gehirn&Geist Künftige Schritte: •E s gilt eine fachlich fundierte Diagnostik zu entwi ckeln, mit der Mitarbeiter des Jugendamts abschätzen können, welche Maßnahme für den jeweiligen Jugend lichen am besten geeignet ist. • I n besonders schwierigen Verläufen sollte ein unab hängiger Fallmanager beurteilen, ob die Hilfe ange passt werden muss. • Die Jugendhilfeträger müssen ein Konzept zur emotionalen Begleitung und zum Schutz der pädago gischen Mitarbeiter ausarbeiten. Nach Menno Baumann, 2015 37 0 1 _ 2 0 1 6 Das Jugendamt findet keine Einrichtung mehr, die den 16-jährigen Jungen noch auf nehmen will rigen Jungen noch aufnehmen will. Er lebt heute bei seiner Tante, ohne die Schule zu besuchen und ohne jegliches therapeutische oder pädagogische Angebot. Unsere Analyse zeigt, dass sich für diese schwierigs ten Kinder und Jugendlichen niemand zuständig fühlen möchte. Allzu schnell werden sie von einer Einrichtung zur nächsten weitergereicht. Am Ende scheinen alle Möglichkeiten ausgereizt, und die jungen Menschen werden perspektivlos aus den Hilfen entlassen. Um Maßnahmen für Systemsprenger besser zu gestalten, gilt es zwei Fragen zu beantworten. Zum einen: Wie lässt sich die körperliche und emotionale Sicherheit der Helfenden verbessern? Dieser Aspekt, nicht selten der Hauptgrund für den Abbruch einer Maßnahme, wurde bislang vernachlässigt. Zum anderen: Wie muss die Hilfe selbst beschaffen sein, damit der jugendliche Intensivtäter sich darauf einlassen kann? Oft passen die gewählten Maßnahmen nicht optimal zum Kind und seiner individuellen Situation. Bisher entscheidet meist die zuständige Fachkraft im Jugendamt nach ihrer subjektiven Einschätzung, vor allem aber danach, wo gerade Plätze frei sind, denn zum Teil gibt es lange Wartelisten. Die Hilfen sind aber so unterschiedlich, dass etwas, was im einen Fall richtig ist, im anderen Fall genau das Gegenteil provozieren kann. Auf dieses Problem haben einzelne Jugendhilfeträger inzwischen reagiert und Modelle entwickelt, die nach individuellen Lösungen suchen und dazu eine fachlich fundierte Diagnostik einsetzen. Ein solches Modell praktizieren wir beim Verein Leinerstift in Ostfriesland. Für jeden einzelnen Jugendlichen schätzen wir ein, wie das Verhältnis von Nähe und Distanz, pädagogischer Verbindlichkeit und Freiheit, Betreuungsdichte und Freiraum im Rahmen einer Maßnahme gestaltet sein muss. Wir erwägen, ob Einzelbetreuung oder eine Gruppe besser geeignet ist, ja selbst, ob er überhaupt in eine Wohngruppe oder Einrichtung zieht oder ob wir ihn besser in seinem aktuellen Umfeld lassen und dort Hilfen anbieten. Immer jedoch bleiben die Bezugspersonen als Team während des gesamten Betreuungsprozesses dieselben, auch wenn der Betroffene nur punktuell unterstützt wird. Die ersten zwölf Teilnehmer des Projekts begleiten wir seit mindestens einem halben Jahr. Ein Junge wechselte von einer Pflegefamilie, die seine körperliche Gewalt nicht mehr tragen konnte, in eine traumasensible Intensivgruppe. Bei einem Mädchen wurde eine nächtliche Eins-zu-eins-Betreuung notwendig. Die anderen Hilfen laufen planmäßig weiter: In sechs Fällen beurteilten die Fachkräfte, das Jugendamt, Sorgeberechtigte und weitere Beteiligte wie Therapeuten oder Verwandte das Angebot als »sehr positiv«, in den anderen vier Fällen als »positiv«. Auch die jungen Menschen selbst sahen für sich Verbesserungen. Maßnahmen greifen umso eher, je stärker sich die Beteiligten einsetzen. Leider fehlt im Fall der Jugend hilfe dafür oft die gesellschaftliche Anerkennung. Vor allem die hohen Kosten intensiver individueller Maßnahmen stehen in der Kritik. Doch Investitionen in eine wirksame Kinder- und Jugendhilfe lohnen sich auch aus volkswirtschaftlicher Sicht, wie etwa Michael Macsenaere zeigen konnte. Noch teurer wird es, wenn wir nicht handeln und die Kosten von Kriminalität, Arbeitslosigkeit, Drogen- und Alkoholsucht sowie frühen Schwangerschaften tragen müssen. Es ist also nicht nur eine gute Tat, wenn wir uns den schwierigsten Kindern und Jugendlichen mit großem Engagement widmen. H L i t e r a t u r t i pp Baumann, M. (Hg.): Neue Impulse in der Intensivpädagogik. EREV – Beiträge zur Theorie und Praxis der Jugendhilfe 11. Schöneworth, Dähren 2015. Die Autoren analysieren die Probleme der stationären Jugendhilfe und zeigen Lösungsansätze auf. Quellen Baumann, M.: Kinder, die Systeme sprengen – Wenn Jugendliche und Erziehungshilfe aneinander scheitern. Schneider Hohengehren, Baltmannsweiler 2012 Macsenaere, M.: Was wirkt in der Erziehungshilfe? Wirkfaktoren in der Arbeit mit schwierigen Kindern und Jugendlichen. In: Arbeitsgruppe Fachtagungen Jugendhilfe im Deutschen Institut für Urbanistik (Hg.): Grenzgänger, Systemsprenger, Verweigerer. Berlin 2012, S. 25–34 Menk, S. et al.: »Woher kommt die Freiheit bei all dem Zwange?« Langzeituntersuchung zu (Aus-)Wirkungen geschlossener Unterbringung in der Jugendhilfe. Koblenzer Schriften zur Pädagogik. Beltz Juventua, Weinheim 2013 Schwabe, M. et al.: Freiraum mit Risiko. Niedrigschwellige Erziehungshilfen für sogenannte Systemsprenger/-innen. Klaus Münstermann, Ibbenbüren 2013 Weitere Quellen im Internet: www.spektrum.de/artikel/1376107 Gehirn&Geist 38 0 1 _ 2 0 1 6 Das neue Gehirn&Geist gibt es auch in digitaler Form! Bestellen Sie jetzt Ihr Digitalabonnement und verpassen Sie keine Ausgabe! Das Digitalabo von Gehirn&Geist kostet im Jahr € 60,– (ermäßigt € 48,–). Jahresabonnenten (Privatnutzer) können nicht nur die aktuelle Ausgabe direkt als PDF abrufen, sondern haben auch Zugriff auf das komplette E-Paper-Heftarchiv! Oder QR-Code per Smartphone scannen und Angebot sichern! [email protected] www.gehirn-und-geist.de/digitalabo Telefon: 06221 9126-743
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