Jung, perspektivlos, gefährlich?

Psycholo gie
Bei manchen Kindern wissen selbst
die Eltern nicht mehr weiter. Wie können wir gewaltbereite
Jungen und Mädchen auf den »rechten« Weg bringen?
Intensivtäter
Jung, perspektivlos,
gefährlich?
V o n M e n n o B auma n n
A
m 24. April 2015 begann vor dem
Landgericht Darmstadt der Prozess
gegen den 18-jährigen Sanel M. Fünf
Monate zuvor hatte er der Studentin
Tugce Albayrak nachts auf einem
Parkplatz so heftig ins Gesicht geschlagen, dass sie zu Boden ging und ein paar Tage später an den Folgen des Sturzes starb. Besonders tragisch:
Zu der Auseinandersetzung kam es, weil die 24-Jährige
zwei minderjährige Mädchen gegen Sanel M. und seine
Begleiter verteidigen wollte. Der Junge war dem Jugendamt und der Justiz wegen Diebstahl, Raub und
Körperverletzung bereits bekannt; er stand auch schon
unter Jugendarrest.
Mehr oder weniger ähnliche Karrieren hatten jene
jungen Männer hinter sich, die 2009 den Geschäftsmann Dominik Brunner so brutal zusammenschlugen,
dass er einem Herzanfall erlag. Aber wenn das gewaltbe­
reite Verhalten schon vorher aktenkundig war: Hätten
diese Vorfälle dann nicht verhindert werden können?
Die oft geforderte »Null-Toleranz-Strategie«, gemäß
der schwierige Jugendliche nach dem Vorbild der amerikanischen »boot camps« – einer Art Umerziehungs­
lager – gnadenlos gedrillt oder jahrelang weggesperrt
werden sollen, führt nicht weiter. Denn trotz konsequenter Strafverfolgung und empfindlicher Haftstrafen
für Jugendliche sanken in den USA weder die Jugend­
gewalt noch die Rückfallquoten. 2013 vorgelegte Zahlen
aus Deutschland weisen in dieselbe Richtung: Nach
dem Verbüßen der Haftstrafe im Jugendstrafvollzug
(mit einer durchschnittlichen Dauer von knapp einem
Jahr) wird binnen sechs Jahren etwa die Hälfte der Betroffenen rückfällig. Die meisten Fachleute sind sich
­darin einig, dass ein verschärftes Strafrecht oder das
Herabsetzen der Strafmündigkeit langfristig weder die
öffentliche Sicherheit noch die Zukunftschancen der
jungen Menschen verbessern würde. Aber wie gut funktioniert der hier zu Lande bevorzugt eingeschlagene
Weg von »Erziehung statt Strafe«?
In Deutschland sind für Kinder und Jugendliche mit
erheblichen Verhaltensproblemen die Jugendämter der
Kommunen zuständig. Sie kooperieren mit freien Trägern der Jugendhilfe und bieten gemäß dem Sozialgesetzbuch (VIII) »Hilfen zur Erziehung« an. Können die
Eltern oder andere Verwandte die Betroffenen nicht
sinnvoll unterstützen, werden diese in Pflegefamilien,
Unser Experte
Menno Baumann ist Professor für Intensivpädagogik an der Fliedner Fachhochschule
Düsseldorf, Bereichsleiter beim Jugendhilfeträger Leinerstift e. V. sowie Gutachter für
­Beratungs- und Perspektivgutachten in schwierigsten Fallverläufen und Unterbringungsverfahren nach BGB § 1631b (mit Freiheitsentzug verbundene Unterbringung).
Gehirn&Geist
32 0 1 _ 2 0 1 6
iStock / Linda Kloosterhof
Aufmüpfig, provozierend und auch schon
mal ein kleinerer Diebstahl – das trifft auf viele
Jugendliche zu. Nur ein Teil von ihnen wird
so auf­fällig, dass die Jugendämter einschreiten.
Gehirn&Geist
33 0 1 _ 2 0 1 6
Auf einen Blick:
Unterstützen statt strafen
kompetenzen erweitern und Freiheitsrechte schrittweise trainieren. Voraussetzung hierfür ist jedoch, dass er
den Aufenthalt als Chance und nicht nur als Strafe betrachtet. Erhält er den Widerstand aufrecht, kommt es
Bei besonders schwierigen, strafrechtlich auffälligen
zu keinerlei Verbesserung. Konsequenterweise wird die
Kindern und Jugendlichen scheitern »Hilfen zur
Hilfe von Seiten des Trägers dann vorzeitig beendet.
Erziehung« oft, weil diese nicht sorgfältig genug auf
Von jenen Kindern und Jugendlichen, die mindes­
den individuellen Fall abgestimmt werden.
tens ein halbes Jahr in der geschlossenen Einrichtung
bleiben, entwickeln sich zunächst immerhin rund
Langfristig besonders wirksam sind stark indivi­
dualisierte Hilfen, gut realisierbar etwa in therapeu- 63 Prozent positiv, wie Mathias Schwabe, Professor für
soziale Arbeit an der Evangelischen Hochschule Berlin,
tischen Wohngruppen oder in Maßnahmen im
2013 re­sü­mierte. Sie können Regeln besser einhalten,
Ausland, bei denen die Betroffenen ein oder zwei Jahre
agieren weniger aufsässig oder aggressiv, zeigen seltener
lang eine Eins-zu-eins-Betreuung durch eine feste
An­zeichen der Selbst- und Fremdgefährdung und neh­Bezugsperson erfahren.
men öfter wieder an einem Schulunterricht teil. Das ist
kein schlechtes Ergebnis angesichts der Tatsache, dass
Die Qualität der Maßnahme und ihr Erfolg stehen
in direktem Zusammenhang. Bisher fehlen jedoch klar die Kinder und Jugendlichen sich nicht freiwillig für die
Maßnahme entschieden haben. Die Langzeitwirkung
formulierte Mindestanforderungen, die Hilfen
mit dem Prädikat »intensivpädagogisch« erfüllen müssen. überzeugt leider weniger: Laut einer Analyse des Deutschen Jugendinstituts von 2010 nahm die Hälfte der aus
geschlossenen Einrichtungen Entlassenen ein Jahr später nicht mehr an offenen Formen der Jugendhilfe teil.
Wohngruppen oder Heimen untergebracht, um sie au- Vielmehr lebten die Jugendlichen wieder ohne feste Allßerhalb der Herkunftsfamilie auf ein Leben in der Ge- tagstrukturen, konsumierten Alkohol oder Drogen und
sellschaft vorzubereiten.
bewegten sich in kriminellen Kreisen.
Nur einige dieser jungen Menschen begehen trotz
verschiedener Hilfen immer wieder Delikte wie Kör- Zur Not mit Zwang
perverletzung, Raub, Erpressung oder Drogenhandel. Auch in so genannten Intensivgruppen mit fakultativ
Sie werden mitunter als Intensivtäter bezeichnet – wo- geschlossenen Elementen werden die Freiheitsrechte
bei keine bundesweit einheitliche polizeiliche Defini­ eingeschränkt, allerdings nur gelegentlich. Jeweils vier
tion existiert, ab welchem Zeitpunkt ein Jugendlicher bis sieben Jugendliche sollen darin wesentlich intenals solcher gilt. Für diese besonders schwierigen Fälle siver betreut werden als in normalen sozialpädagogi­
hat die Jugend­hilfe seit den 1980er Jahren ein breites schen Wohngruppen, tagsüber also etwa mit zwei Fachund stetig wachsendes Spektrum an Hilfsmaßnahmen kräften (statt einer) pro Gruppe. Die Betroffenen sind
entwickelt, das unter dem Begriff »Intensivpädagogik« zwar in der Regel nicht eingesperrt. In Situationen der
zusammengefasst wird. Es reicht von stationären Ein- Selbst- oder Fremdgefährdung werden aber freiheitsrichtungen mit Freiheitsentzug über kleine, pädago- entziehende Sanktionen eingesetzt: Dazu gehören zum
gisch und therapeutisch eng betreute Wohngruppen, Beispiel der »Time-out-Raum«, nächtliches AbschlieEinzelbetreuung im Ausland bis hin zu rein freiwilligen, ßen des Zimmers, Beschränken der Handy-Nutzung
punktuellen Angeboten etwa für Straßenkinder.
und der eigenständigen Kontaktaufnahme mit FreunWas kennzeichnet die einzelnen Maßnahmen, und den oder das Verbot, das Gelände der Einrichtung länwie erfolgreich sind sie? Geschlossene Einrichtungen ger als eine Stunde zu verlassen.
der Jugendhilfe sind Wohngruppen in Heimen, welche
Mathias Schwabe und sein Team fanden heraus, dass
die Kinder und Jugendlichen nicht verlassen können etwa ein Drittel der 38 Kinder und Jugendlichen, die sie
und in denen Alltagsstrukturen notfalls mit Zwang drei Jahre lang beobachtet hatten, von einer derartigen
durchgesetzt werden. Voraussetzung ist ein richter- Maßnahme profitierte. Sie konnten prosoziales Verhallicher Beschluss nach fachpsychiatrischer Stellungnah- ten aufbauen und lernten, ihre Impulse besser zu konme – die Jungen und Mädchen werden also gegen ihren trollieren. Ein weiteres Drittel bemühte sich zwar um
Willen in ein solches Heim eingewiesen. Allerdings Veränderung, es kam aber doch fast täglich zu Eskalatio­
handelt es sich bei ihnen eher um eine Randgruppe. So nen. Das verbleibende Drittel rebellierte bis zum Ende
gibt es in Deutschland nur etwa 380 genehmigte Plätze der Maßnahme gegen jede Art von Zwang, der hier zu
im Vergleich zu den bundesweit rund 70 000 voll­sta­tio­ keiner Besserung führte, sondern vielmehr Zusammennä­ren Plätzen der Jugendhilfe.
stöße geradezu provozierte.
Unter Pädagogen ist die geschlossene Unterbringung
Statistisch gesehen deutlich erfolgreicher sind Intensehr umstritten. Ein Jugendlicher kann hier zwar gele- sivgruppen mit traumasensibler und psychotherapeugentlich belastbare Beziehungen aufbauen, seine Sozial- tischer Ausrichtung. Therapeutische und pädagogische
1
2
3
Gehirn&Geist
34 0 1 _ 2 0 1 6
psycholo gie / intensiv täter
Intensivtäter,
Maximum an Delikten
im 16. Lebensjahr
Intensivtäter (Abbrecher),
starker Rückgang auf
­weniger als 5 Delikte pro
Jahr ab 15 Jahren
begehen ab dem Alter
von 16 Jahren eher
häufiger Delikte, wieder
seltener ab 19 Jahren
kein oder
höchstens
ein leichtes
Delikt
8 %
6 %
6%
57 %
15 %
bis zum 16. Lebensjahr
häufiger delinquent,
danach seltener
9 %
Gehirn&Geist
nur mit 13
Jahren etwas
häufiger
delinquent
Wie kriminell sind unsere Kinder?
In der Langzeitstudie »Kriminalität in der modernen
Stadt« erfassen Forscher der Universitäten Münster und
Bielefeld bei rund 3400 Teilnehmern seit dem Schul­
alter das delinquente Verhalten. Zu Beginn der Unter­
suchung im Jahr 2002 waren die Befragten ungefähr
13 Jahre alt, inzwischen sind sie 26. Obwohl die jähr­
liche Abfrage anonym läuft, lassen sich die Antworten
einer Person einander zuordnen und somit individuelle
Entwicklungen verfolgen.
2014 konstatierten die Wissenschaftler: Bei sehr
vielen Jugendlichen bleibt es bei einem einmaligen
Gesetzesübertritt – so ist die Gruppe, die bis zum
19. Lebensjahr keine oder höchstens eine leichtere Tat
angab, mit 57 Prozent die größte (siehe Diagramm).
Weitere neun Prozent verhielten sich mit 13 Jahren
zwar etwas häufiger delinquent, schon ein Jahr später
aber hatten sie sich gefangen. 15 Prozent verübten bis
zum 16. Lebensjahr im Schnitt mehr als fünf Delikte
pro Jahr, danach aber immer weniger. Auch weit gehend
ohne Intervention der Justiz besserte sich also mit
zunehmendem Alter das Sozialverhalten; Forscher
nennen das »Spontanbewährung«.
Einen Rückgang sieht man auch bei Intensivtätern:
Sechs Prozent begingen lediglich mit 13 und 14 Jahren
mehr als 22 Verstöße im Jahr. Acht Prozent waren
ebenfalls schon früh stark delinquent. Sie verübten im
16. Lebensjahr im Schnitt 44 Delikte, danach sank die
Zahl stetig, etwa im 19. Lebensjahr auf knapp über 15.
Der Weg in die Normalität gelinge vor allem dann,
wenn die jungen Erwachsenen eine Arbeit finden und
stabile soziale Bindungen aufbauen, betonen die For­
scher. Es sei daher richtig, Haftstrafen auf das Nötigste
zu beschränken, da sie den Kontakt zu gewaltbereiten
Gruppen förderten und unterstützende Beziehungen
schwächten.
Boers, K. et al.: Vom Jugend- zum frühen Erwachsenenalter. Delinquenzverläufe und Erklärungszusammenhänge
in der Verlaufsstudie »Kriminalität in der modernen
Stadt«. In: Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 97, S. 183–202, 2014
Kurz erkl ärt
Delinquenz
Strafrechtlich relevantes Verhalten –
geläufiger Begriff, der neben der
polizeilich bekannten auch die
offiziell nicht registrierte Kriminalität (Dunkelfeld) umfasst
Intensivtäter
Bei der Polizei existiert keine
bundesweit einheitliche Definition.
In Studien werden oft jene, die
über die Hälfte der Eigentums- und
mehr als drei Viertel aller Gewaltdelikte ihrer Altersgruppe begehen,
als Intensivtäter klassifiziert.
Gehirn&Geist
35 0 1 _ 2 0 1 6
Intensivpädagogik
Besondere pädagogische
Maßnahmen für »besonders
­problematische« Kinder
und Jugendliche, die ein hohes
Risiko für andere (und für
sich selbst) darstellen
Getty Images / Doug Menuez [M]
Viele Jugendliche, die auf der Straße leben, lehnen
jede Art von Hilfe ab. Streetworker bemühen sich um
eine Annäherung.
Fachkräfte sollen hier eng zusammenarbeiten, um die
Jugendlichen zu unterstützen und ihnen einen psychologischen »Schutzraum« zu bieten. Der Wunsch, sich in
Therapie zu begeben, ist leider bei jungen Intensivtätern
im Vorfeld oft nicht vorhanden, so dass sie gar nicht erst
aufgenommen werden. Oder es stellt sich später heraus,
dass die Kinder und Jugendlichen dem Setting, das eine
freiwillige Mitarbeit und die Einhaltung von Regeln fordert, noch nicht gewachsen sind. Insgesamt sind wie bei
allen Jugendhilfemaßnahmen Abbrüche häufig.
Traumasensible Herangehensweise hat Erfolg
Bei jenen, die dabeibleiben, beobachtete Silke Gahleitner, Professorin für klinische Psychologie und Sozialarbeit an der Alice Salomon Hochschule Berlin, allerdings
66 Prozent nachhaltig positive Entwicklungsverläufe:
Die Jugendlichen lernten, ihr Verhalten besser zu regulieren, machten große Fortschritte in ihrer Persönlichkeitsentwicklung und waren mit sich und ihren fami­
liären Beziehungen insgesamt zufriedener. Auch andere
Untersuchungen deuten darauf hin, dass traumasensible Intensivgruppen zu den wirksamsten Interventio­
nen gehören.
Erfolg versprechend sind außerdem so genannte
indi­vidualpädagogische Auslandsmaßnahmen, obwohl
gerade sie öffentlichen Unmut erregen: »Das ist doch
Urlaub auf Staatskosten!« Hier werden junge Menschen
in der Regel einzeln für ein oder zwei Jahre in Ein­
richtungen im Ausland untergebracht, von Deutschland aus meist in Skandinavien, Osteuropa oder Spa­
Gehirn&Geist
nien. Der junge Mensch wird von mindestens einer
pädago­
gischen Fachkraft intensiv betreut. Die komplette Veränderung des Lebensumfelds und die Distanz
zur ­bisherigen Lebenssituation sollen einen Neuanfang
ermöglichen. Zudem erschwert es die Sprachbarriere, bisherige Verhaltensroutinen – etwa öffentliches Pöbeln –
aufrechtzuerhalten. Nicht zuletzt machen einige Jugendliche durch die Eins-zu-eins-Betreuung oft nach
langer Zeit erstmals wieder positive Beziehungserfahrungen.
Auch hier werden etwa 40 Prozent der Maßnahmen
vorzeitig beendet. Einer der führenden Ju­gend­hilfe­ana­
lys­ten Deutschlands, Michael Macsenaere vom Institut
für Kinder- und Jugendhilfe in Mainz, erkannte aber bei
fast 90 Prozent der zeitweise im Ausland untergebrachten jungen Menschen deutliche positive Effekte, sowohl
was das Sozialverhalten als auch was etwa einen regelmäßigen Schulbesuch betraf. Sein Team wertete insgesamt 93 Fallverläufe über einen Zeitraum von drei Jahren aus. Nur neun Prozent der Betroffenen blieben in
dieser Zeit trotz der Hilfe in ihrem bisherigen – zum
Teil selbstzerstörerischen – Verhalten gefangen. Mit
rund 600 Plätzen (Stand: 2015) handelt es sich um einen
(noch) kleinen, aber wachsenden Bereich.
Einen ganz anderen Weg verfolgen dagegen niederschwellige, akzeptierende Ansätze. Die jungen Menschen bleiben in ihrem Umfeld und entscheiden selbst,
wann sie welche Unterstützung annehmen. Am bekann­
testen sind Streetworker, die Jugendliche auf der Straße
und an sozialen Brennpunkten aufsuchen, sowie das
Angebot von Notschlafstellen, wo obdachlose Jugend­
liche ein Bett und eine warme Mahlzeit bekommen.
Mathias Schwabe und seine Mitarbeiter evaluierten
über einen Zeitraum von 16 Jahren ein Berliner Projekt,
das junge Menschen, die der Jugendhilfe bereits entglitten sind, wieder an eine Unterstützung heranführt. Insgesamt erhielten in diesem Zeitraum 105 Jugendliche
eine (sehr kleine) Wohnung und offene Angebote zur
Tagesstrukturierung. Einzige Verbindlichkeit war ein
wöchentliches Gespräch im Jugendamt, wo sie auch das
Geld für den Lebensunterhalt abholten.
Das 2013 veröffentlichte Fazit: Bei der Hälfte der Jugendlichen kam es, oft nach einer Phase des »Austobens«, zu einer deutlichen Verbesserung. Sie wünschten
sich etwa einen geregelteren Tagesablauf und mehr Unterstützung. Bei 38 Prozent wirkte dies über die Hilfe hinaus. Unter anderem entschlossen sich etliche zu Folgemaßnahmen, zum Beispiel für eine therapeutische
Wohngruppe.
Einige negative Fallverläufe verzeichneten die Forscher aber auch: Manchmal rutschten Jugendliche –
quasi unter den Augen der Sozialarbeiter – noch tiefer
in Kriminalität oder Drogensucht ab. Dennoch sind für
Straßenkinder, die sonst oft gar nicht mehr erreichbar
sind, solche Projekte eine Möglichkeit, sich dem System
der Jugendhilfe wieder anzunähern.
36 0 1 _ 2 0 1 6
psycholo gie / intensiv täter
Insgesamt zeigt die Evaluationsforschung, dass von
intensivpädagogischen Hilfen sogar in vermeintlich
hoffnungslosen Fällen positive Impulse ausgehen können. Sämtliche Studien zeugen dabei von einem unmittelbaren Zusammenhang zwischen der Effektivität einer
Hilfe und ihrer Qualität. Leider ist der Begriff Intensivpädagogik in Deutschland nicht geschützt. Um dem
Prädikat »intensiv« gerecht zu werden, gilt es, künftig
klare Mindestanforderungen zu formulieren (siehe
»Qualität in der Jugendhilfe«, unten).
Schlechtes Angebot, schlechtes Ergebnis – das mag
banal klingen. Tatsächlich stehen aber gar nicht so selten schnelle Lösungen und wirtschaftliche Interessen
bei den Betreibern im Vordergrund. So wurden im
Sommer 2015 in Schleswig-Holstein zwei Wohngruppen geschlossen, nachdem Jugendliche von missachtenden Erziehungspraktiken erzählt hatten und eine Prüfung ergab, dass zu wenig Personal vor Ort war. Ebenfalls im Sommer 2015 wurde öffentlich, dass in Polen
und Ungarn unqualifizierte Personen deutsche Jugendliche unter unhaltbaren Bedingungen betreut hatten.
Kinder, die Systeme sprengen
Nur einige der Kinder und Jugendlichen mit Verhaltensstörungen werden so schwierig, dass sie »das System sprengen« und alle Hilfen versagen. Wie eine eigene Untersuchung an der Universität Oldenburg zeigt,
entließen im Jahr 2006 die Jugendhilfeeinrichtungen in
Niedersachsen 205 junge Menschen ohne weitere Hilfsangebote oder in offensichtlich ungeeignete Settings,
weil keine andere Lösung mehr greifbar war. Das scheinen auf den ersten Blick nicht viele, ver­glichen mit den
rund 6000 Heimplätzen, über die das Land zu der Zeit
verfügte. Diese »Systemsprenger« bereiten jedoch erhebliche Schwierigkeiten.
Das Problem liegt nicht darin, dass für solche schwierigen Kinder und Jugendlichen keine Erfolg verspre-
Max ist kaum 14 Jahre alt,
als gegen ihn bereits mehr als
30 Anzeigen laufen, wegen
Körperverletzung, Erpres­
sung und Diebstahl
chenden Hilfen existieren. 2012 veröffentlichte meine
Arbeitsgruppe eine detaillierte Analyse der Lebenswege
von 22 jugendlichen Systemsprengern. Es sind Kinder
wie Max*: Schon als er 13 ist, nimmt ihn das Jugendamt
aus der Familie und versucht, ihn in verschiedenen
wohnortnahen sozialpädagogischen Wohngruppen zu
integrieren. Aber er haut immer wieder ab, trifft sich
mit seinen »Kumpels«, macht Ärger. Max ist kaum
14 Jahre alt, als gegen ihn bereits mehr als 30 Anzeigen
laufen, wegen Körperverletzung, Erpressung und Diebstahl. Auch eine ortsferne Unterbringung ändert nichts,
Max knüpft schnell wieder kriminelle Kontakte. Nach
einer Schlägerei wird der 14-Jährige in die geschlossene
Psychiatrie eingewiesen, die ihn nach wenigen Wochen
wegen mangelnder Therapiebereitschaft entlässt.
In der nächsten Wohngruppe werden deutliche Hinweise auf seinen steigenden Drogenkonsum und zunehmende Gewalttätigkeit ignoriert. Es kommt zu einem
Zwischenfall mit schwerer Körperverletzung, und Max
landet für einige Wochen im Jugendarrest. Daraus entlassen, kommt er das erste Mal in eine Intensivgruppe.
Der Versuch eines individualpädagogischen Auslands­
aufenthalts scheitert, weil das Gastland Max auf Grund
seiner Vorstrafen die Einreise verweigert. Schließlich
entlässt ihn auch seine Intensivgruppe, da er inzwischen im Drogenmilieu verkehrt. Danach findet das Jugendamt keine Einrichtung mehr, die den nun 16-jäh* Name geändert
Qualität in der Jugendhilfe
Folgende Punkte können über den Erfolg einer Maß­
nahme entscheiden:
• stringente Planung der Hilfe, präzise formulierte
Ziele, Abstimmen der Übergänge mit dem jungen
Menschen und seinen Sorgeberechtigten
• während der Maßnahme intensiver Austausch zwi­
schen Jugendamt, Eltern, dem Jugendlichen, ausfüh­
renden Pädagogen oder psychiatrischen Fachkräften
• stabile Bezugspersonen, qualifizierte Mitarbeiter, die
speziell in Methoden der Deeskalation trainiert sind
• ausführliche Dokumentation des Verlaufs der Hilfe
• Entwicklung einer Zukunftsoption für die Zeit danach
• Integration des Jugendlichen in schulische oder
berufliche Bildungsprozesse
Gehirn&Geist
Künftige Schritte:
•E
s gilt eine fachlich fundierte Diagnostik zu entwi­
ckeln, mit der Mitarbeiter des Jugendamts abschätzen
können, welche Maßnahme für den jeweiligen Jugend­
lichen am besten geeignet ist.
• I n besonders schwierigen Verläufen sollte ein unab­
hängiger Fallmanager beurteilen, ob die Hilfe ange­
passt werden muss.
• Die Jugendhilfeträger müssen ein Konzept zur
emo­tio­nalen Begleitung und zum Schutz der pä­da­go­
gi­schen Mitarbeiter ausarbeiten.
Nach Menno Baumann, 2015
37 0 1 _ 2 0 1 6
Das Jugendamt findet keine
Einrichtung mehr, die den
16-jährigen Jungen noch auf­
nehmen will
rigen Jungen noch aufnehmen will. Er lebt heute bei seiner Tante, ohne die Schule zu besuchen und ohne
jegliches therapeutische oder pädagogische Angebot.
Unsere Analyse zeigt, dass sich für diese schwierigs­
ten Kinder und Jugendlichen niemand zuständig fühlen
möchte. Allzu schnell werden sie von einer Einrichtung
zur nächsten weitergereicht. Am Ende scheinen alle
Möglichkeiten ausgereizt, und die jungen Menschen
werden perspektivlos aus den Hilfen entlassen. Um
Maßnahmen für Systemsprenger besser zu gestalten,
gilt es zwei Fragen zu beantworten. Zum einen: Wie
lässt sich die körperliche und emotionale Sicherheit der
Helfenden verbessern? Dieser Aspekt, nicht selten der
Hauptgrund für den Abbruch einer Maßnahme, wurde
bislang vernachlässigt. Zum anderen: Wie muss die Hilfe selbst beschaffen sein, damit der jugendliche Intensivtäter sich darauf einlassen kann?
Oft passen die gewählten Maßnahmen nicht optimal
zum Kind und seiner individuellen Situation. Bisher
entscheidet meist die zuständige Fachkraft im Jugendamt nach ihrer subjektiven Einschätzung, vor allem
aber danach, wo gerade Plätze frei sind, denn zum Teil
gibt es lange Wartelisten. Die Hilfen sind aber so unterschiedlich, dass etwas, was im einen Fall richtig ist, im
anderen Fall genau das Gegenteil provozieren kann.
Auf dieses Problem haben einzelne Jugendhilfeträger
inzwischen reagiert und Modelle entwickelt, die nach
individuellen Lösungen suchen und dazu eine fachlich
fundierte Diagnostik einsetzen. Ein solches Modell
praktizieren wir beim Verein Leinerstift in Ostfriesland.
Für jeden einzelnen Jugendlichen schätzen wir ein, wie
das Verhältnis von Nähe und Distanz, pädagogischer
Verbindlichkeit und Freiheit, Betreuungsdichte und
Freiraum im Rahmen einer Maßnahme gestaltet sein
muss. Wir erwägen, ob Einzelbetreuung oder eine
Gruppe besser geeignet ist, ja selbst, ob er überhaupt in
eine Wohngruppe oder Einrichtung zieht oder ob wir
ihn besser in seinem aktuellen Umfeld lassen und dort
Hilfen anbieten. Immer jedoch bleiben die Bezugspersonen als Team während des gesamten Betreuungsprozesses dieselben, auch wenn der Betroffene nur punktuell unterstützt wird.
Die ersten zwölf Teilnehmer des Projekts begleiten
wir seit mindestens einem halben Jahr. Ein Junge wechselte von einer Pflegefamilie, die seine körperliche Gewalt nicht mehr tragen konnte, in eine traumasensible
Intensivgruppe. Bei einem Mädchen wurde eine nächtliche Eins-zu-eins-Betreuung notwendig. Die anderen
Hilfen laufen planmäßig weiter: In sechs Fällen beurteilten die Fachkräfte, das Jugendamt, Sorgeberechtigte
und weitere Beteiligte wie Therapeuten oder Verwandte
das Angebot als »sehr positiv«, in den anderen vier Fällen als »positiv«. Auch die jungen Menschen selbst sahen für sich Verbesserungen.
Maßnahmen greifen umso eher, je stärker sich die
Beteiligten einsetzen. Leider fehlt im Fall der Jugend­
hilfe dafür oft die gesellschaftliche Anerkennung. Vor
allem die hohen Kosten intensiver individueller Maßnahmen stehen in der Kritik. Doch Investitionen in
eine wirksame Kinder- und Jugendhilfe lohnen sich
auch aus volkswirtschaftlicher Sicht, wie etwa Michael
Macsenaere zeigen konnte. Noch teurer wird es, wenn
wir nicht handeln und die Kosten von Kriminalität, Arbeitslosigkeit, Drogen- und Alkoholsucht sowie frühen
Schwangerschaften tragen müssen. Es ist also nicht nur
eine gute Tat, wenn wir uns den schwierigsten Kindern
und Jugendlichen mit großem Engagement widmen. H
L i t e r a t u r t i pp
Baumann, M. (Hg.): Neue Impulse in der Intensivpädagogik. EREV – Beiträge zur Theorie und Praxis der Jugendhilfe 11.
­Schöneworth, Dähren 2015. Die Autoren analysieren die Probleme der stationären Jugendhilfe und zeigen Lösungsansätze auf.
Quellen
Baumann, M.: Kinder, die Systeme sprengen – Wenn Jugendliche und Erziehungshilfe aneinander scheitern.
Schneider Hohengehren, Baltmannsweiler 2012
Macsenaere, M.: Was wirkt in der Erziehungshilfe? Wirkfaktoren in der Arbeit mit schwierigen Kindern und Jugendlichen.
In: Arbeitsgruppe Fachtagungen Jugendhilfe im Deutschen Institut für Urbanistik (Hg.):
Grenzgänger, Systemsprenger, Verweigerer. Berlin 2012, S. 25–34
Menk, S. et al.: »Woher kommt die Freiheit bei all dem Zwange?« Langzeituntersuchung zu (Aus-)Wirkungen geschlossener
Unterbringung in der Jugendhilfe. Koblenzer Schriften zur Pädagogik. Beltz Juventua, Weinheim 2013
Schwabe, M. et al.: Freiraum mit Risiko. Niedrigschwellige Erziehungshilfen für sogenannte Systemsprenger/-innen.
Klaus Münstermann, Ibbenbüren 2013
Weitere Quellen im Internet: www.spektrum.de/artikel/1376107
Gehirn&Geist
38 0 1 _ 2 0 1 6
Das neue Gehirn&Geist gibt es
auch in digitaler Form!
Bestellen Sie jetzt Ihr Digitalabonnement
und verpassen Sie keine Ausgabe!
Das Digitalabo von Gehirn&Geist kostet im Jahr € 60,– (ermäßigt € 48,–).
Jahresabonnenten (Privatnutzer) können nicht nur die aktuelle Ausgabe direkt als PDF
abrufen, sondern haben auch Zugriff auf das komplette E-Paper-Heftarchiv!
Oder QR-Code
per Smartphone
scannen und
Angebot sichern!
[email protected]
www.gehirn-und-geist.de/digitalabo
Telefon: 06221 9126-743