Druckvorlage_Pädagogischer Takt

Burghardt, Krinninger, Seichter (Hg.)
PÄDAGOGISCHER TAKT
Daniel Burghardt, Dominik Krinninger,
Sabine Seichter (Hg.)
PÄDAGOGISCHER TAKT
Theorie – Empirie – Kultur
Ferdinand Schöningh
Umschlagabbildung:
Oskar Schlemmer, Konzentrische Gruppe (Figurenplan K 1), 1922
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© 2015 Ferdinand Schöningh, Paderborn
(Verlag Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn)
Internet: www.schoeningh.de
Einbandgestaltung: Anna Braungart, Tübingen
Printed in Germany
Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn
ISBN 978-3-506-78076-8
INHALTSVERZEICHNIS
Daniel Burghardt, Dominik Krinninger, Sabine Seichter
Einleitung .................................................................................................. 7
THEORIE
Hans-Rüdiger Müller
Zur Theorie des Pädagogischen Takts .................................................... 13
Jörg Zirfas
Zur Ethnographie des pädagogischen Takts ............................................ 25
Sabine Seichter
Pädagogischer Takt – aus geisteswissenschaftlicher Perspektive
betrachtet. Oder: Über die Interpersonalität pädagogischen Handelns .... 43
Micha Brumlik
Pädagogische Taktlosigkeit ..................................................................... 53
EMPIRIE
Birgit Althans
Sozialpädagogischer Takt in familiären Kontexten:
Von Leer- bzw. Lehrstellen und dem Umgang mit Zeichen und
Dingen .................................................................................................... 61
Dominik Krinninger
Pädagogischer Takt in der Familie .......................................................... 77
Elmar Drieschner, Roswitha Staege
Zur Relevanz des pädagogischen Takts in der Spannung von Nähe
und Distanz sowie Theorie und Praxis im frühpädagogischen
Handeln .................................................................................................... 89
Bina Elisabeth Mohn
Präsenz und Absenz von Takt in Schule, Kita, Theater für Kinder
und beim Forschen................................................................................. 105
Sigrid Nolda
‚Taktʻ, und ‚Taktlosigkeitʻ in Kursen der Erwachsenenbildung............ 119
KULTUR
Daniel Burghardt
Zwischen der Differenz: Zum Pädagogischen Takt
in der Ethnographie am Beispiel Japan.................................................. 131
Volker Schubert
Maßnahmen gegen erzieherische Aggressivität: Vergleichende
Perspektiven zum Pädagogischen Takt am Beispiel Japan.................... 145
Peter Ackermann
Pädagogischer Takt in Japan ................................................................ 161
Zwei Texte aus der japanischen Praxis
Übersetzung und Zusammenfassung von Peter Ackermann.................. 171
AUTORINNEN UND AUTOREN .......................................................... 181
DANIEL BURGHARDT, DOMINIK KRINNINGER, SABINE SEICHTER
Einleitung
Ein Buch zum pädagogischen Takt erscheint heute vielleicht anachronistisch.
Maßgebliche Strömungen der zeitgenössischen Erziehungswissenschaft sind
sehr viel stärker an operationalisierbaren Fragestellungen und an der Erzeugung von Evidenz interessiert als an Kategorien mit ideengeschichtlichem
Kontext und idealistischem Anklang. Und als professionelle Praxis sieht sich
die moderne Erziehungswissenschaft doch eher für die effektive Bearbeitung
ihrer Aufgaben und die Steuerung der dabei auftretenden Prozesse zuständig,
als dass sie sich vorrangig um soziale Sensibilität beim Erreichen ihrer Ziele
bemüht. Dem gegenüber passen Belange des zwischenmenschlich angemessenen, korrekten, schonenden oder diskreten, kurz taktvollen Verhaltens auf den
ersten Blick nicht so ganz in die Zeit. Indes: das Gegenteil ist der Fall. Wie Interaktionen auf personaler Ebene und in Bezug auf pädagogische Aspekte gestaltet werden können, ist nicht nur eine grundlegende und damit immer bedeutsame Frage, sondern auch und gerade von aktueller Bedeutung. So steht
die begonnene und zu vertiefende Auseinandersetzung mit der Problematik
psychischer und physischer Verletzungen von Menschen in pädagogischen
Kontexten im Zusammenhang mit der Entwicklung eines breiten Bewusstseins
für die Verletzlichkeit von Kindern in Institutionen und Familien. Ebenso ist
die Überlagerung pädagogischer Verantwortung in den Verschiebungen zwischen öffentlicher und privater Erziehung ein Bereich, in dem Fragen pädagogischer Zuständigkeit und persönlicher Spielräume zu bearbeiten sind. Und
nicht zuletzt ist es im Zusammenleben in der globalen Gesellschaft auch pädagogisch relevant, die Kulturalität eines angemessenen interpersonalen Umgangs zu reflektieren. In diesen Perspektiven zeigt sich der ‚Takt‘ als eine
Denkfigur von höchstem heuristischem Wert.
Seit Herbart wird der Frage des Taktes in der Pädagogik eine intensive Behandlung zuteil. Pädagogischer Takt wird hierbei oftmals als ein pädagogisches Vermittlungsprinzip verstanden, das eine Fülle von pädagogischen Problematiken und Paradoxien zu bearbeiten vorgibt, etwa dass man mit ihm dem
Einzelnen und der Gruppe gerecht werden kann oder dass der Takt die (taktlosen) Instrumentalisierungen des Schülers durch die (taktvolle) Achtung des
anderen zu kompensieren in der Lage ist. Der pädagogische Takt gilt so oftmals als ein pädagogisches Allheilmittel, das die Kluft zwischen erziehungswissenschaftlicher Theorie und pädagogischer Praxis zu schließen imstande
ist, das den Forderungen nach Nähe und Distanz des Erziehers gleichermaßen
Genüge tut und das schließlich auch die Grundparadoxie moderner Pädagogik,
die „Kultivierung bei dem Zwange“ (Kant) zu lösen imstande ist.
Auf empirischer Ebene kann festgehalten werden, dass Takt nicht einfach
vorliegt, dieser jedoch umgekehrt, oftmals nur in der bestimmten Negation ei-
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DANIEL BURGHARDT, DOMINIK KRINNINGER, SABINE SEICHTER
ner vorhandenen Taktlosigkeit zu fassen ist. Alltäglich gibt das Verhalten oder
die Reaktion der Beteiligten ex negativo Aufschluss darüber, was taktvoll gewesen wäre. Dabei bietet sich eine ethnographische Taktforschung im Besondern an, da es hier um eine möglichst intensive und umfassende Teilnahme an
der Alltagskultur in einem natürlichen (pädagogischen) Setting geht, in denen
mit verschiedenen Erhebungsmethoden – von der Teilnehmenden Beobachtung und den Audio- und Videoaufzeichnungen über Fotoanalysen und Interviews bis hin zu Gruppendiskussionen und Artefaktenhermeneutik – gearbeitet werden kann.
Neben Theorie und Praxis bildet Takt zuletzt ein kulturästhetisches Phänomen. In diesem Zusammenhang lässt sich das gewählte Coverbild von Oskar
Schlemmer interpretieren:
Schlemmers typischer Stil geometrisierend vereinfachender Figurenkunst
umkreist das Verhältnis der Menschen zueinander. Zentraler Bezugspunkt ist
dabei das Maß der Mitte, welches nicht Formen oder Dinge, sondern der
Mensch bildet. Auf dieses anthropologische Motiv habe sich nach Schlemmer
letztlich alle Kunst zu beziehen. Schlemmer geht es weder in seinem malerischen Werk noch in der Bühnenarbeit oder seiner Lehre um eine naturalistische oder subjektivistische Darstellung der Menschen, vielmehr handelt es
sich um eine Art abstrakt figürlicher Typenbildung: „Das Element im Figürlichen ist der Typus […]. Die Figuren als Abstraktion sind in den Maßen übersteigert, sehr viel größer und sehr viel kleiner gegeben als der leibhaftige
Mensch; dieser sollte Maß und Mitte bleiben.“ (Schlemmer 1923, S. 340)
Die Lithographie Figurenplan K 1 (Konzentrische Gruppe) stammt aus dem
Jahr 1921. Das konzentrische Motiv gehört in die Reihe einer Lithographienfolge, die Schlemmer zu jener Zeit verfasste. Thema sind proportionale
Grundformen des Menschen mit einem axialen Schwerpunkt ohne jedes Beiwerk. Im Figurenplan K 1 ordnet Schlemmer acht Halb- und Vollfiguren um
eine vertikale Achse an. Sieben von ihnen stehen durch ihre in sich verschachtelten und überschneidenden Körperlinien in einer dynamischen Beziehung
zueinander. Verstärkt wird dieser Eindruck durch das zugewandte Profil der
beiden rechtsseitigen Figuren. Auf der zweidimensionalen Fläche eines vertikal überstreckten Ovals erscheinen sie durch eine stabile Mitte an- und ineinander gebunden. Das symmetrische Bild wird durch den horizontalen Ausbruch einer Figur irritiert. Diese ist die zierlichste und befindet sich außerhalb
des in sich verschobenen Gruppenkörpers. Durch die relative Offenlegung der
Scham bei den Figuren im unteren Bildbereich kann die Anordnung als erotisch aufgeladen gesehen werden, ohne jedoch provokant zu wirken.
Schlemmer, der selber als „Mann des Ausgleichs zwischen den konzeptionellen und ästhetischen Extremen am Bauhaus“ (Kirchmann 1999, S. 280)
galt, balanciert hier Spannungen und Widersprüche aus. Der unaufhebbare
Konflikt zwischen abstrakt-geometrischer Grundform und menschlicher Erscheinung kommt in diesem Werk „taktvoll“ zum Tragen. Die Figuren gehören der mathematischen und der organischen Welt an.
EINLEITUNG
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Schlemmers Motiv ist die anthropologische Vermittlung gegensätzlicher Entitäten. Ein Motiv, das auch der Taktforschung zu Eigen ist. Mit dem Oszillieren zwischen Nähe und Distanz, Passivität und Aktivität, Symmetrie und
Asymmetrie oder zwischen Sinnlichkeit und Abstraktheit sind in der Lithographie indirekt Themenschwerpunkte der Taktforschung angesprochen. Die
Dialektik des Taktes besteht mithin darin, dass dieser weder in rein individueller Ausgestaltung noch bloß konventioneller Unterordnung aufgeht. Schlemmers Ästhetik bildet selbst ein Mittelglied, welches seit Herbart als Grundform
und Grundfunktion des pädagogischen Taktes gilt. Denn Takt kommt in der
Kunst nicht als Einheit von Begriff und Sache zur Geltung, er lässt sich nicht
klassifizieren, vielmehr muss die Bedeutung in ihrer Vieldimensionalität erst
erschlossen werden. Takt wie Ästhetik zielen auf die spezifische Beschaffenheit von Verhältnissen.
Nach dieser kurzen Skizzierung theoretischer, praktischer und ästhetischer
Zugänge zur Taktforschung, kann es kaum verwundern, dass in den letzten
Jahren eine verstärkte (interkulturelle) Diskussion über den Pädagogischen
Takt begonnen hat. (vgl. Gödde/Zirfas 2012; Suzuki 2010; Suzuki 2014)
In dieser Reihe steht auch der vorliegende Band, der im Aufbau drei
Schwerpunkte verfolgt: Erstens ist der theoretische Zusammenhang in Bezug
auf den Takt und die Taktlosigkeit als pädagogische Denk- und Praxisfigur zu
klären. Dabei werden klassische Themen, Fragestellungen und Perspektiven
des Pädagogischen Takts aufgegriffen und hinterfragt. In einem zweiten Bereich werden unterschiedliche pädagogische Felder im Hinblick auf die Spezifika des pädagogischen Takts diskutiert, nämlich die Familie und die Schule,
aber auch sozial- und erwachsenenpädagogische Settings. Hierbei werden insbesondere Übereinstimmungen und Divergenzen im pädagogischen Takt erforscht. Drittens wird die Frage nach dem pädagogischen Takt in einer interkulturellen Perspektive – nämlich mit dem vergleichenden Blick auf Japan
und Deutschland – diskutiert. Diese Perspektive ermöglicht es, fremde Formen
des pädagogischen Takts zur Reflektion der eigenen Tradition zu hinterfragen.
Zuletzt möchten wir uns an dieser Stelle bei allen beteiligten Autorinnen
und Autoren, sowie insbesondere bei Lisa Engel für kunsthistorische Hinweise
zu Oskar Schlemmer, Sarah Neumeier für die achtsame Redaktion der Texte
und Lea Becker für die sorgfältige Erstellung der Druckvorlage bedanken.
Literaturverzeichnis
Gödde, Günter/Zirfas, Jörg (Hg.), Takt und Taktlosigkeit. Über Ordnungen und Unordnungen in Kunst, Kultur und Therapie, Bielefeld, 2012.
Kirchmann, Kay, Oskar Schlemmer, in: Bauhaus, hg. v. Jeannine Fiedler/Peter Feierabend, Köln, 1999, S. 280-287.
10
DANIEL BURGHARDT, DOMINIK KRINNINGER, SABINE SEICHTER
Schlemmer, Oskar, Gestaltungsprinzipien bei der malerisch-plastischen Ausgestaltung
des Werkstattgebäudes des Staatlichen Bauhauses, in: Das Kunstblatt, 7 (1923), S.
340-343.
Suzuki, Shoko, Takt in Modern Education, Münster, 2010.
– Takt, in: Handbuch Pädagogische Anthropologie, hg. v. Christoph Wulf/Jörg Zirfas,
Wiesbaden, 2014, S. 295-301.
THEORIE
HANS-RÜDIGER MÜLLER
Zur Theorie des pädagogischen Takts
1. Einleitung
Wenn auch die Diskussion um den pädagogischen Takt sich seit 200 Jahren in
ungebrochener Kontinuität auf Johann Friedrich Herbart bezieht, so ist doch
nicht zu übersehen, dass dieser Begriff eine gewisse Sperrigkeit gegenüber einer theoretischen Systematisierung aufweist.
Versuche hierzu, wie sie etwa Dietrich Benner (1993) in seiner HerbartStudie, Heinz-Jürgen Ipfling (1966) in seinem Aufsatz zum pädagogischen
Bezug oder Jakob Muth (1962) in seiner vielbeachteten Monographie zum pädagogischen Takt vorgelegt haben, können bei aller Expertise in dieser Hinsicht insofern nicht ganz befriedigen, als auch sie immer nur einen speziellen
Aspekt in den Vordergrund stellen. Es geht dann beispielsweise um den Hiatus zwischen pädagogischer Theorie und pädagogischer Praxis oder den Respekt vor der Person des Edukandus oder das Verhältnis von Autonomie und
Heteronomie in der Erziehung, wobei eben jeweils andere Aspekte vernachlässigt werden. Das legt die Vermutung nahe, dass es sich beim pädagogischen
Takt womöglich gar nicht um einen theoretisch fassbaren Zusammenhang
handelt, sondern vielmehr um einen schillernden und im Grunde uneindeutigen Begriff, der immer dort in Anschlag gebracht wird, wo die Theorie auf
Unbestimmtheiten in der pädagogischen Praxis selbst trifft, auf Unbestimmtheiten, die sich nicht im theoretischen Handstreich so eben mal vereindeutigen
lassen. Zumindest ist auffallend, dass vom Takt im pädagogischen Sprachgebrauch vor allem dann die Rede ist, wenn theoretische Bestimmungen ins Leere laufen oder wenn die Rationalität praktischer Entscheidungen bzw. eines
angemessenen pädagogisch-praktischen Handelns nicht nur kasuell sondern
prinzipiell in Frage steht. Hieraus ließe sich auch ein skeptischer Einwand
formulieren. Gerade weil der Begriff des pädagogischen Takts sich der eindeutigen Bestimmung und damit auch in gewisser Hinsicht der Kritik offenbar
entzieht, scheint er geeignet, manch eine Problemfigur des Pädagogischen eher verschwimmen zu lassen als aufzuklären. Pädagogischer Takt wird dann
zur etikettierenden Formel, die Professionalität vorgibt, ohne sie auch zu begründen. Insofern führt der Begriff des pädagogischen Takts durchaus auch
das Potential zu einer Mystifizierung pädagogisch-professionellen Handelns
mit sich, das zur Selbstimmunisierung und Selbstlegitimierung einer theoretisch unaufgeklärten, dem pädagogischen Genius des Einzelnen überantworteten Erziehungspraxis beitragen kann. Andererseits fragt sich hingegen, mit
welchen Folgen sich die Aufmerksamkeit auf den Gegenstand und damit die
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HANS-RÜDIGER MÜLLER
Konstruktion des Gegenstandes selbst verschiebt, wenn man zur Vermeidung
der oft diffusen Rede vom pädagogischen Takt (und damit auch vielleicht zur
Vermeidung der Wahrnehmung jener Unbestimmtheiten, auf die er zielt) das
Vokabular einfach nur wechselt, und beispielsweise von Empathie oder von
professionell-moralischer Urteilskraft, von Anerkennungs- und Adressierungsprozessen, von individualisiertem Unterricht und situationsoffener Unterrichtsmethode spricht, oder wenn man, mit Prange (2007) und „im Lichte
des Technologieproblems“ pädagogischen Handelns, den pädagogischen Takt
in ein Prinzip des „trial and error“ transformiert, um sich so einer Reihe von
theoretischen und praktischen Problemen zu entledigen: „Try again. Fail
again. Fail better.“ (ebd. S. 131) Ich sehe nicht, inwiefern wir auf diese Weise
der Problemstruktur pädagogischen Handelns tatsächlich theoretisch oder
praktisch näher kämen.
Doch interessant scheint gerade, dass die seit Herbart mit wechselnder Akzentuierung unter dem Begriff des pädagogischen Takts reflektierten Grenzen
der Bestimmbarkeit, der rationalen Planbarkeit und der technologischen Steuerungsfähigkeit, letztlich also der Verfügbarkeit des pädagogischen Prozesses
in Theorie und Praxis, Anschlussmöglichkeiten zu aktuellen Diskussionen und
Kontroversen eröffnen. Auch wenn die bisherigen Antworten hier nicht recht
befriedigen mögen, so zeigt die Diskussion doch immerhin, dass sich die alten
Fragen stets wieder aufs Neue oder auf eine neue Weise stellen und zum
Nachdenken auffordern. So gesehen könnte es sich doch lohnen, die Diskussion um den Begriff des pädagogischen Takts noch einmal aufzugreifen. Um
trotz der angesprochenen Unübersichtlichkeit wenigstens eine grobe Strukturierung des Gegenstandsbereichs vornehmen zu können, scheint es mir heute
allerdings ergiebiger, nicht von einem systematischen Kern auszugehen, sondern – wenigsten erst einmal – nach den unterschiedlichen Thematisierungsrichtungen zu fragen, in denen der Begriff Verwendung findet, um dann im
nächsten oder übernächsten Schritt unterscheiden zu können, was davon auf
welche Weise in konsistente theoretische Zusammenhänge zu überführen ist.
2. Drei Hauptstränge der Rede vom pädagogischen Takt
Auch hierzu liegen bereits unterschiedliche Entwürfe vor, zuletzt, wenn ich
recht sehe, von Jörg Zirfas (2012) und von Shoko Suzuki (2014). Im Unterschied zu diesen selbst wieder recht differenzierten Übersichten bin ich bei
meinem Versuch, eine möglichst schlichte Skizze zu erstellen, auf folgende
drei Hauptstränge der Thematisierung gestoßen:
ZUR THEORIE DES PÄDAGOGISCHEN TAKTS
15
2.1 „Pädagogischer Takt“ als didaktisch-methodisches Prinzip bzw. als
Instrument zur Vermittlung von Theoretisch-Allgemeinem und dem je
Besonderen der pädagogischen Praxis
In dieser Thematisierungsrichtung fungiert der Takt als Vermittlung zwischen
pädagogischem Wissen und pädagogischem Handeln, zwischen Fachsystematik und Lehrpraxis, zwischen moralischen Grundsätzen und moralischem
Handeln, oder in den Worten Herbarts: als „Mittelglied“ – einerseits „unmittelbarer Regent der Praxis“, andererseits „gehorsamer Diener der Theorie“.
(Herbart 1984 I/1802, S. 126) Hier fungiert der Takt im Sinne einer Transformation theoretischer oder moralischer Erkenntnis in praktisches Handeln,
nicht nur im Unterricht, sondern als strukturelle Komponente jeder pädagogisch-reflexiven Praxis. Schon bei Herbart führt die Problemgestalt des pädagogischen Takts (das „gebildete Gewissen pädagogischer Verantwortlichkeit“;
so übersetzt es Benner 1993, S. 39) in ein methodisches Unterrichtskonzept,
das im Sinne eines „erziehenden“ Unterrichts nicht nur auf Wissensvermittlung, sondern auf die Förderung der subjektiven Urteilskraft des Edukandus
zielt. Es ist zudem mit dem spezifischen Prinzip einer pädagogischen Moralisierung verknüpft, das am Anspruch moralischer Autonomie orientiert ist. Das
heißt nicht, dass der Gehorsam keine Rolle spielt, aber es schreibt nicht den
Gehorsam gegenüber den sittlichen Grundsätzen der Kultur vor, sondern den
Gehorsam gegenüber der eigenen moralischen Einsicht. Der pädagogische
Takt besteht hier darin, das pädagogische Handeln so einzurichten, dass das zu
Lehrende situations- und adressatenbezogen stets mit den Selbstbildungsbemühungen des lernenden Subjekts vermittelt wird.
Hier schließen eine Reihe von Überlegungen weiterer Autoren an. So diskutiert Anton Hügli (2007) das Verhältnis von praktischer Urteilskraft (im
Sinne Kants) und pädagogischem Takt ähnlich wie Herbart im Kontext einer
Erziehung zu einer autonomen (eben auf Einsicht und nicht auf blindem Gehorsam beruhenden) Urteilsfähigkeit, die es in der konkreten pädagogischen
Situation zu ermöglichen gelte, auch wenn der Edukandus noch gar nicht über
die moralische Kompetenz eines Erwachsenen verfügt. Dazu aber sei eine
taktvolle Transformation moralischer Ansprüche erforderlich, die den Edukandus unter Berücksichtigung der situativen Umstände wie auch seiner ihm
möglichen Reflexionskompetenz auf eine angemessene Weise herausfordert
(und ihn somit als moralisches Subjekt anerkennt). Eine ähnliche Grundfigur
findet man auch schon bei Heinz-Jürgen Ipfling (1966), der entgegen dem
bloßen Erfahrungswissen oder einem intuitiven Vermögen den pädagogischen
Takt einerseits einem kritisch-rational begründetem Urteil des Erwachsenen
unterordnet, ihn andererseits aber in einen intersubjektiven Verständigungszusammenhang zwischen Erziehendem und Edukandus stellt: „Takt […] fordert
die bewusste Anerkennung einer verbindlichen Ordnung, die er [der Erzieher]
situationsgerecht im dialogischen Bezug zu verwirklichen sucht“ (Ipfling
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HANS-RÜDIGER MÜLLER
1966, S. 557), wobei Ipfling durchaus einräumt, dass immer auch bedacht
werden müsse, dass es in diesem wechselseitigen Austausch den Rest eines
„Nichtverstehen[s] des anderen“ (ebd., S. 558) geben könne. Aus diesem
Grunde sei eine „Vorsicht im Urteil“ geboten, „damit dem anderen nicht Unrecht geschehe“ (ebd.). Ähnlich erhebt Jakob Muth (1962) die Forderung nach
„Feingefühl“, „Zurückhaltung“ (S. 20f.) und einer kindgemäß respektierenden
Ansprache in der pädagogischen Interaktion (S. 27ff.), die der Verletzbarkeit
des Kindes Rechnung trägt und es zur Selbsttätigkeit auffordert, ohne indessen
den allgemeinen Anspruch der Sache selbst, die es zu vermitteln gilt, zu relativieren. So sei mitunter nicht nur die Zurückhaltung des Erziehers gegenüber
dem Kind, sondern ebenso auch ein „Zurücktreten des Kindes“ vor einem äußeren Anspruch vonnöten, wenn die Sachhaltigkeit einer Situation dies erfordere. (ebd., S. 38)
Die dialogischen und kommunikativ ausgerichteten Modelle einer taktvollen Überbrückung der pädagogischen Differenz zwischen allgemeinen kulturellen bzw. theoretisch formulierten Ansprüchen und dem je Besonderen der
Situation und ihrer Akteure finden ihre Fortsetzung, den jeweiligen disziplingeschichtlichen Diskurslagen der Pädagogik entsprechend, mit unterschiedlichen Rahmungen bis in die Gegenwart. So versucht Michael Parmentier
(1991) die „Modernität geisteswissenschaftlicher Pädagogik“ zu begründen, in
dem er die Tradition des pädagogisch-taktvollen Umgangs im Prozess der
Kulturvermittlung mit der Forderung nach einer „relativen Autonomie“ des
pädagogischen Feldes verschränkt, um so für den Zögling wie für den Erzieher ein „Experimentierfeld“ zu schaffen, auf dem, wie er sagt, „der eine ohne
Gefahr das Potential seiner Autonomie erproben und der andere in aufmerksamer Selbstreflexion die Richtigkeit seiner Handlungen und die Gültigkeit
seiner Wissensbestände testen und überprüfen kann.“ (ebd., S. 130) In eine
ähnliche Richtung zielt Bernhard Korings Fassung des pädagogischen Takts
als Anspruch, im professionell-pädagogischen Handeln, das die Einführung
der nachwachsenden Generation in das Bedeutungsgeflecht einer kulturellen
Lebensform zum Ziel habe, „Lernkontexte“ als Möglichkeitsräume für bildende Erfahrungen zu strukturieren und dabei „stellvertretende Deutungsangebote“ ins Spiel zu bringen, die den kommunikativen Austausch von objektiven
und subjektiven Bedeutungen offen halten. (Koring 1993, S. 230) Gegenwärtig scheint in unserer Disziplin anstelle derartiger Entwürfe zum Umgang mit
der pädagogischen Theorie-Praxis-Differenz ein eher analytischer Blick auf
das pädagogische Geschehen zu dominieren, der – in seiner empirischanalytischen Variante – nach messbaren Faktoren und Effekten fragt oder – in
einer rekonstruktiv-sinnverstehenden Variante – den Versuch macht, die hinter
den Handlungsabsichten sich verbergenden und gleichwohl im praktischen
Tun der Akteure hervorgebrachten sozialen Strukturierungen, Machtformen
und wechselseitigen Adressierungen „praxistheoretisch“ zu interpretieren.
Von pädagogischem Takt ist dabei bisher kaum die Rede, obwohl die in diesem Kontext häufig hervorgehobene Bedeutung einer „praktischen Reflexivi-
ZUR THEORIE DES PÄDAGOGISCHEN TAKTS
17
tät“ für die pädagogische (als einer sozialen) Interaktion einen Rückgriff auf
diese Theorielinie eigentlich nahelegen würde und dies vielleicht dazu verhelfen könnte, die pädagogische Spezifität der damit verknüpften Fragen thematisch deutlicher zu konturieren, als es der aus anderen Disziplinen importierte
Begriff einer „praktischen Reflexivität“ allein schon zulässt. (Es geht ja in der
Erziehung nicht nur darum, praktische Reflexivität abstrakt zu ermöglichen,
sondern auch darum, konkret dazu aufzufordern.)
2.2 „Pädagogischer Takt“ als Orientierung des Handelns in einem
Spannungsfeld widersprüchlicher Anforderungen an die pädagogische
Praxis
Die Theoretisierung, Schematisierung und professionelle Methodisierung pädagogischen Handelns stellen seit der Aufklärung unverzichtbare Ansprüche
an eine planmäßig verfahrende, in Institutionen gesellschaftlich organisierte
und methodisch lehrbare Pädagogik dar. (Tenorth 2000) Von Beginn der modernen Pädagogik an zeigt allerdings die Konkretisierung und Umsetzung dieses pädagogischen Programms eine grundlegend antinomische Struktur, eine
Konfrontation mit unaufhebbaren und dennoch irgendwie zu bearbeitenden
Widersprüchen. Mit Humboldt, Hegel, Schiller und Schleiermacher mündete
das Gewahrwerden der pädagogischen Antinomien in dialektische Theoriekonstruktionen, die von der Grundfigur her bis heute den pädagogischen Theoriediskurs bestimmen. Korrespondierend zu diesen bildungsphilosophischen
Entwürfen entwickelte sich ein praktischer Diskurs, in dem immer wieder neu
auf die uneinholbare Komplexität dieses Spannungsreichtums mit pädagogischen Programmen und Methoden zu antworten versucht wurde, sowie ein
professioneller pädagogischer Alltag, in dem gegenüber den theoretischphilosophischen wie auch gegenüber den konzeptionell erhobenen Ansprüchen und Legitimationserfordernissen (und damit gegenüber den praxisimmanenten Widersprüchen selbst) die Handlungsfähigkeit des „Praktikers“ aufrecht zu erhalten war. In dieser Richtung der Thematisierung eines pädagogischen Takts geht es nicht primär um die Differenz von Theorie und Praxis,
sondern, gleichsam quer dazu, um die in allen drei Ebenen (denen der Theorie,
der Praxisentwürfe und des praktischen Handelns – und man müsste eigentlich
die politische und die administrative Ebene noch hinzunehmen) sich zeigende
aporetische Struktur des neuzeitlichen Bildungsgedankens und Erziehungsprojekts. Das will ich im Folgenden noch etwas ausführen.
(a) Eines der Grundanliegen der Aufklärung war bekanntlich die Fähigkeit
und der entschlossene Wille des Bürgers, sein Leben nach Maßgabe des subjektiven Vernunftgebrauchs und mit dem Anspruch auf Mündigkeit zu führen.
Diese Forderung hat in pädagogischer Hinsicht das Problem der Vermittlung
von Freiheit und Zwang in der Erziehung aufgeworfen. Nicht erst die Frage
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HANS-RÜDIGER MÜLLER
Immanuel Kants, wie denn in der Erziehung „die Freiheit bei dem Zwange“ zu
kultivieren sei (Kant 1991) sondern auch schon Rousseaus utopische Idee einer natürlichen Erziehung, die zu einem von der Erfahrung mit den natürlichen Gegebenheiten geschulten autonomen und von den gesellschaftlichen
Konventionen unbeeindruckten Vernunftgebrauch führen sollte (Rousseau
1986), brachten die Antinomie von Freiheit und Zwang in der Pädagogik auf
den Punkt. Und Friedrich Schiller, der beeindruckt von der unter den Jakobinern barbarisch entgleisten französischen Revolution die Zwangsherrschaft einer leider immer irgendwie unvollkommenen menschlichen Vernunft nicht
weniger fürchtete als das blinde Agieren der wilden menschlichen Natur, sah
in der „ästhetischen Erziehung des Menschen“, in der die antagonistischen
Kräfte des Verstandes und der Sinne sich wechselseitig so zueinander verhalten, dass keine Kraft die andere „zwingt“, wohl eher ein Ideal der Freiheit
aufblitzen, als eine empirisch zuverlässige Aufhebung des Zwangs.
(b) Auch die Idee, pädagogisch-intentional auf den Einzelnen einzuwirken,
wo Bildung eigentlich nur als Selbstbildung denkbar ist und sich deshalb im
Kern der pädagogischen Verfügbarkeit stets zu entziehen droht, begleitet die
moderne Pädagogik seit ihren Anfängen. Sie findet prominent in Herbarts
Theorie der Bildsamkeit eine anspruchsvolle begriffliche Fassung. Das von
der Erziehung zu moderierende „Übergehen [des Kindes] von der Unbestimmtheit zur [moralischen, sittlichen, charakterlichen] Festigkeit“ (Herbart
1984 III/1835/1841, S. 165) ist eben ohne eine Mitwirkung des zu erziehenden
Subjekts an diesem Formungsprozess nicht denkbar und erfordert daher eine
spezifische pädagogische Konzeption von Wirksamkeit, deren Kausalitätsannahmen sich stets an der Unverfügbarkeit (wenn auch keineswegs Unbeeinflussbarkeit) der kindlichen Willensbildung brechen.
Eben darum lassen sich pädagogische Situationen auch nicht vollständig
planen und vorstrukturieren. Zwar bedarf die pädagogische Interaktion einer
Form, die sie als Erziehung ausweist und ihr erstrebtes Ergebnis eher wahrscheinlich werden lässt, als wenn man diese Formung unterließe. (Tenorth
2003) Aber um den unumgehbaren Unwägbarkeiten angemessen entsprechen
zu können, bedarf es ebenso einer Offenheit der pädagogischen Situation, die
eine Formung und Umformung des pädagogischen Feldes im interaktiven
Austausch ermöglicht. Johann Heinrich Pestalozzis Bericht über sein Erziehungsexperiment in Stans (Pestalozzi 1954/1799) kann als ein frühes Dokument des reflexiven Umgangs mit diesem widerstreitenden Anspruch zwischen Strukturierung und Offenheit pädagogischer Interaktion gelesen werden.
(c) Die Absicht, den Menschen gemäß den Anforderungen bzw. Möglichkeiten der modernen Gesellschaft zu formen hat im ausgehenden 18. Jahrhundert eine Debatte um das Verhältnis von Individualität der Person und dem
Erziehungsanspruch der Gesellschaft ausgelöst. Ob nun das persönliche Glück
gerade darin liegen müsse, dass jeder Mensch auf seinem ihm zugewiesenen
Platze und nach seinen Kräften am Aufbau dieser neuen Gesellschaft teilhat
(wie die Philanthropen meinten; vgl. Herrmann 1991, S. 140), oder ob vor al-