Wer nur den lieben Gott

Lebenskunst im Kirchenlied
Zu Georg Neumarks Lied „Wer nur den lieben Gott lässt walten“ (GOTTESLOB Nr. 295)
Nur selten wohl erklingt ein Kirchenlied in einem Kinofilm, schon gar nicht
exponiert bei einer wichtigen Szene und sogar mit einer eigenen „Rolle“ für den
Liedanzeiger! Die große Ausnahme ist der bekannte Film „Vaya con Dios“ (Regie: Zoltan
Spirandelli; 2002) über den fiktiven Orden der „Cantorianer“, deren drei Mitglieder sich
bei diesem Lied „Wer nur den lieben Gott lässt walten“ wieder zusammen finden und
überhaupt ganz herrlich singen. Die filmische Bearbeitung des Chorals stammt von dem
Lüneburger Kirchenmusiker Tobias Gravenhorst, der zugleich der Filmdarsteller des
Organisten ist.
Nicht nur dem Filmtitel, sondern dem gesamten Inhalt entspricht dieses Lied mit
seinem Fazit „Sing, bet und geh auf Gottes Wegen“ recht genau. Es stammt übrigens nicht
von einem in Ehren ergrauten Theologen, sondern von einem jungen Mann. Georg
Neumark (1621–1681) war kaum 20 Jahre alt, als er im Winter 1640/41 dieses
siebenstrophige Lied in Wort und Melodie schuf, inspiriert durch bittere Erfahrungen der
vorausgegangenen Monate. Heute finden wir „Wer nur den lieben Gott lässt walten“
weltweit in unzähligen Gesangbüchern.
Werfen wir einen Blick auf die Entstehung. Inmitten der Wirren des
Dreißigjährigen Krieges hatte ein begabter junger Mann das Fürstliche Gymnasium Gotha
verlassen, um in Königsberg das Studium der Rechtswissenschaft aufzunehmen. Seine Art
des Reisens würden wir heute wohl „Trampen“ nennen. Zur Michaelismesse trifft er in
Leipzig ein. Doch auf der nächsten Etappe in Richtung Norden wird die „starke
Kaufmannsfuhre“ überfallen. Geld und Bücher sind weg. Was Georg Neumark bleibt, ist
nur die Kleidung, die er trägt, sowie zwei für die Plünderer wertlose Bücher: sein
Gebetbuch und sein Stammbuch.
Neumark versucht sich durchzuschlagen, wobei ihm seine Lateinkenntnisse und
das Stammbuch als angehenden Gelehrten ausweisen. Über Magdeburg und Lüneburg
erreicht er Hamburg. Immer wieder nehmen ihn wildfremde Menschen auf, weil sie seine
Lehrer kennen, deren Einträge im Stammbuch er vorweisen kann. Eine dauerhafte Bleibe
findet er nicht, auch keine Arbeit. Und zum äußeren Unglück kommt das innere in
Gestalt der Melancholie.
Erst nach Monaten wendet sich sein Geschick: auf die „Drangsalshitze“ folgen
„Freudenstunden“. Neumark kann eine gerade frei gewordene Lehrerstelle antreten und
nun auch seine musikalischen Talente als Cembalist und Gambist entfalten. Dieses
„gleichsam vom Himmel gefallene Glück“ besingt der Zwanzigjährige in seinem Lied, das
sich rasch von Mund zu Mund verbreitet. Die eindringliche Aufmunterung zum
Gottvertrauen ist die Quintessenz seiner Lebenskunst, wobei in der letzten Strophe das
Singen an erster Stelle steht: „Sing, bet und geh auf Gottes Wegen“. Als Motto ist dem
Trostlied ein Bibelspruch aus Psalm 55 vorangestellt, den wir aus Mendelssohns „Elias“
kennen: „Wirf dein Anliegen auf den Herrn …“. In der ersten Strophe zitiert Neumark
einen Bibelvers aus Matthäus 7: sein Haus nicht auf Sand, sondern auf Felsen bauen, als
Sinnbild eines zuversichtlichen und starken Glaubens. Die sechste Strophe umspielt
poetisch das Magnificat.
Musikalisch klingen in Neumarks Lied sowohl Angst als auch Vertrauen an. Der
6/4-Takt (Gotteslob 296) wirkt kraftvoll, die Moll-Tonart jedoch keineswegs auftrumpfend.
Eine Gewissheit ausstrahlende Aufwärtsbewegung markiert den Einsatz der SchlussSentenz in jeder Strophe, am deutlichsten in der ersten, wenn zum Wort „Allerhöchsten“
der höchste Ton erklingt. Wie eine Unterstreichung wirken die sechs letzten Töne der
Melodie mit ihrer doppelten Schlusswendung, die den Grundton im Wechselspiel mit
dem schmerzlich-dissonierenden Leitton bekräftigt.
Neumarks Lied hat viele Komponisten inspiriert. Sehr passend im Paul-GerhardtJahr 2007 ist eine wenig bekannter Chorsatz des um 1730 bei Gotha gestorbenen
Komponisten Liebhold (als pdf im Internet zugänglich: www.kantoreiarchiv.de), von dem
nicht einmal der Vorname überliefert ist. Er kombiniert Neumarks Lied zitatartig mit
einem motettischen Satz über das Akrostichon des Paul-Gerhardt-Liedes „Befiehl du
deine Wege“. Die Anfangsworte jeder Strophe bilden zusammen den Sinnspruch:
„Befiehl dem Herren deine Wege und hoffe auf ihn, er wird’s wohl machen“.
Im 20. Jahrhundert wurde das Lied bisweilen als allzu schicksalsergeben kritisiert.
Die Gegenposition nimmt ausgerechnet der Liedermacher Wolf Biermann ein. Er bekennt
sich zu seiner „lebenslänglichen Seelenschiefheit“ ebenso wie Neumark sich zu seiner
Melancholie. „Es gibt Zeiten, da habe nicht etwa ich die Traurigkeit, sondern die
Traurigkeit hat mich“ (Biermann). Seine „Seelenkrücke“ fand der Liedermacher in J. S.
Bachs Kantate „Ich hatte viel Bekümmernis“ mit einer Vertonung der zweiten Strophe
unseres Liedes. „Diese zwei Zeilen – ‚wir machen unser Kreuz und Leid nur größer durch
die Traurigkeit’ – trafen mich wie ein Blitz, sie erschütterten mein Herz wie eine
Erleuchtung.“ Für Biermann sind diese Verse, in denen Worte wie „Gott“ oder
„Gottvertrauen“ gar nicht vorkommen, der Mittelpunkt des Liedes. Für Neumark waren
sie wohl eher dessen humane Seite, die mit der religiösen eine untrennbare Einheit bildet.
Können Lieder trösten? Selbst Wolf Biermann bejaht das, wobei er Traurigkeit von
Leid unterscheidet. „Meine Traurigkeit will ich mir gerne von einem Menschen ausreden
lassen – aber nur von einem, der mir mein Leid nicht streitig macht.“ Dem hätte wohl
auch Georg Neumark zugestimmt, der übrigens später in Weimar wirkte, als Dichter,
Bibliothekar und Sekretär einer Literarischen Gesellschaft. Nach vielen „Freudenstunden“
war seine Erblindung im Alter die letzte „Drangsalshitze“, die er zu bestehen hatte.
Vielleicht mit seinem bis heute berühmten Lied auf den Lippen.
Dr. Meinrad Walter