20150705 Predigt 5. Sonntag nach Trinitatis

EVANGELISCH-LUTHERISCHE DOM-GEMEINDE
PASTORIN MARGRIT WEGNER
Predigt über 1. Kor. 1, 18-25 am 5. Sonntag nach Trinitatis
5. Juli 2015
Der stärkste Mann der Welt lässt die Muskeln spielen. Was für ein Kerl, ein richtiger Brocken.
„Sehen Sie, was für Muskeln!“, wird er begrüßt. Das Angebot ist erschreckend und verlockend zugleich: Wer gegen den ihn antritt, dem winkt eine hohe Belohnung. Der Zirkusdirektor
wedelt mit dem Geld. Hundert Kronen für den, der den starken Adolf besiegt. Niemand meldet sich. Kein Wunder, der starke Adolf ist der stärkste Mann der Welt. Bislang hat es keiner
geschafft, diesen Mann zu Boden zu ringen. „Hundert Kronen, bedenken Sie, meine Damen
und Herren!“, lockt der Zirkusdirektor. Da meldet sich ein kleines Mädchen. Ihre Haare haben
die Farbe einer Möhre und stehen in zwei Zöpfen ab vom Kopf. Ihre Nase sieht aus wie eine
ganz kleine Kartoffel und ist übersäht mit Sommersprossen. Ihr Mund ist groß und breit, und
damit fragt dieses Mädchen nun den starken Adolf, der vor Langeweile dicke Eisenstangen
verbiegt: „Na, wollen wir beide mal ringen, du und ich?“ Ehe der starke Adolf weiß, wie ihm
geschieht, liegt er am Boden. „Heja Pippi“, rufen Thomas und Annika am Manegenrand, und
„Heja, Pippi!“ jubelt das ganze Publikum. Der starke Adolf geht mit Gebrüll auf das Mädchen
los, wird von ihm aber einfach in die Luft gehoben. Und dann trägt das stärkste Mädchen der
Welt die unbesiegbare Zirkusattraktion mit ausgestreckten Armen singend im Kreis herum.
Seit 70 Jahren lieben Kinder und Erwachsene das Mädchen mit den roten Zöpfen. Sie lachen darüber, wie Pippi in der Schule Rechenaufgaben verdreht oder energischen Polizisten
erklärt, dass sie bereits einen Platz im Kinderheim hat: Sie sei ein Kind, die Villa Kunterbunt
sei ihr Heim, und Platz gebe es da genug. Pippi hält Autoritäten zum Narren, indem sie ihnen
den Spiegel vorhält. Dabei ist sie nie boshaft. Keiner kann ihr böse sein. Jedes Kind spürt:
Lehrerin und Arzt, Polizei und Zirkusdirektor, sie haben zwar Macht – doch darf man diese
Macht in Frage stellen. Selbst der unbesiegbar starke Adolf wird lachend entmachtet. Kein
Kinderspiel! Die Bücher erschienen 1944 in Schweden, bald nach dem Krieg dann in
Deutschland. Jeder wusste, für wen dieser Name stand, und welch grauenvolle Macht er repräsentierte. Pippi zeigte Kindern wie Erwachsenen: Der starke Adolf mit dem verräterisch
deutschen Akzent wird verlacht. Seine Macht hat Grenzen. Ein Kind entlarvt die Autoritäten
und Mächte und nimmt die Angst. Die Kleine holt die Großen auf den Boden der Tatsachen
und rückt die Verhältnisse zurecht. Das Große wird klein und das Kleine ganz groß. Alles
Quatsch, alles Torheit? Oder kindliche Weisheit?
Das Wort vom Kreuz ist eine Torheit denen, die verloren werden, schreibt der Apostel
Paulus im 1. Korintherbrief, uns aber, die wir selig werden, ist's eine Gotteskraft. Denn
es steht geschrieben (Jes. 29,14): »Ich will zunichte machen die Weisheit der Weisen,
und den Verstand der Verständigen will ich verwerfen.« Paulus macht sich zum Narren.
Nicht im Kinderbuch, sondern im Brief an die erwachsen werdende Gemeinde: Wo sind die
Klugen? Wo sind die Schriftgelehrten? Wo sind die Weisen dieser Welt? Hat nicht Gott
die Weisheit der Welt zur Torheit gemacht? Denn weil die Welt, umgeben von der
Weisheit Gottes, Gott durch ihre Weisheit nicht erkannte, gefiel es Gott wohl, durch
die Torheit der Predigt selig zu machen, die daran glauben.
Paulus punktet nicht mit körperlicher Stärke und übermäßigem Selbstbewusstsein, sondern
ringt mit Worten. Aber wie ein Narr schafft er einen Freiraum, hilft er den Menschen, einen
Schritt zurückzutreten und die Dinge aus einer anderen Perspektive zu betrachten: Denn die
Juden fordern Zeichen und die Griechen fragen nach Weisheit, wir aber predigen den
gekreuzigten Christus, den Juden ein Ärgernis und den Griechen eine Torheit; denen
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aber, die berufen sind, Juden und Griechen, predigen wir Christus als Gottes Kraft
und Gottes Weisheit. Denn die Torheit Gottes ist weiser, als die Menschen sind, und
die Schwachheit Gottes ist stärker, als die Menschen sind.
Das Kreuz. Der größte Witz, die größte Torheit überhaupt. Die absolute Ohnmacht des geschundenen, gequälten Menschensohnes, die soll der Beweis der Allmacht Gottes sein? So
lächerlich ist das – und gerade darin so wahr, zeigt der Apostel. Das Evangelium, die gute
Botschaft, das ist so viel verrückter, so anders, so ganz und gar und noch viel mehr zum Lachen als wir denken. Diese Botschaft nämlich verführt zu einem befreienden Lachen sogar
im Angesicht des Todes: Der Tod behält nicht das letzte Wort. Der Tod selbst wird lächerlich
gemacht und vom Kreuz durchkreuzt. Das Kreuz ist die Befreiung, nicht das Ende. „Die Welt
ist mir ein Lachen / mit ihrem großen Zorn, / sie zürnt und kann nichts machen, / all Arbeit ist
verlorn… Das Unglück ist mein Glück“, singen wir Ostern (EG 112,5) und verlachen mit dem
Auferstandenen den Tod.
Und doch geht manchem in der Osternacht dieses Lied kaum über die Lippen. Und doch
mag manche nicht so schnell einstimmen in dieses Lachen und bringt nicht einmal ein Lächeln zustande. Wer dem Tod gegenübersteht, hat das Gefühl: Die stärkste Macht der Welt
lässt ihre Muskeln spielen. So hilflos stehen wir im Krankenhaus vor den Apparaten und sehen, wie der Atem flacher wird. So verzweifelt sind wir, wenn Ärzte mit ihrer Weisheit am Ende sind. Kein Wissen der Welt rettet das Leben des geliebten Menschen, an dem wir so hängen. Am Ende, vor dem Tod und vor den vielen Toten all der Krisen und Konflikte um uns
her, stehen wir ratlos da. Ja, der Tod lässt seine Muskeln spielen. Ja, es hat noch keiner diese stärkste Kraft der Welt besiegt. Auch wenn der Preis stets so verlockend war. Also doch
alles vergebens, nur billige Vertröstung, all das, was Paulus schreibt?
In Lübeck hatte man den Tod stets vor Augen, und ausnahmsweise einmal meine ich nicht
unser schönes Triumphkreuz hier im Dom. Jeder konnte sie sehen, diese Macht des Todes,
der niemand widerstehen kann. Jeden holt er, mit jedem ringt er, jeden zieht oder zerrt er
zum Tanz, vom alten greisen Papst und Kaiser bis hin zum kleinen unschuldigen Wickelkind.
Der berühmte Totentanz von Bernd Notke ist in der Bombennacht Palmsonntag 1942 verbrannt. Die Erinnerung daran ist präsent, auch heute. In der Totentanzkapelle der Marienkirche hängen nicht nur die alten schwarz-weißen Bilder des zerstörten Totentanzes. Da gibt es
auch die neue Fassung. Die hohen bunten Glasfenster zeigen die brennenden Türme der
Hansestadt, auch unsere schönen Domtürme kurz vor dem Sturz der Turmhelme. Darüber
führt der Tod alle zum Tanz, wie man es seit dem Mittelalter kennt: Den Papst, den Kaiser,
all die klugen Damen und die vornehmen Herren. Doch das Kind auf dem letzten Bild durchbricht den Reigen. Es ist das Kind in der Krippe. Das tanzt nicht mit. Und damit tanzt der Tod
aus der Reihe und fällt aus der Rolle. Vor diesem Kind muss selbst der Tod die Knie beugen.
Das Kind zwingt den Tod in die Knie. Auch der Tod ist nicht unüberwindlich. Auch seine
Macht hat Grenzen. Das Kind in der Krippe, Gott selbst entlarvt die Autoritäten und Mächte
und nimmt die Angst. Der Ohnmächtige, Kleine, Geringste und Schwächste holt die Großen
auf den Boden der Tatsachen und rückt die Verhältnisse zurecht.
Das Große wird klein und das Kleine ganz groß. Ein Skandal? Oder Grund zum befreienden
Lachen? Zumindest die Grundlage für ein Leben, das viel mehr Möglichkeiten bereithält, als
wir ahnen, finde ich. Kinder, die das große Totentanzfenster mit ihren Eltern betrachten, spüren oft unmittelbar etwas von der Offenheit für das Neue. Sie spüren, dass nichts bleiben
muss, wie es ist. Dass es mehr gibt als das, was wir vorfinden. Bei unserem Malwettbewerb
zum Domfest hat eine Elfjährige gewonnen, die das Im-Fluss-Sein auf ganz eigene Weise
umgesetzt hat. Ein Flüchtlingsbild hat sie gemalt, mit vielen Menschen in winzigen Boten und
viel Wasser. Das Fest-Machen ist auf diesem Bild ganz konkret: Lachend stehen Menschen
in zerrissener Kleidung aus den Booten zwischen Häusern und Bewohnern einer Stadt, die
unserer gleicht. Ganz offensichtlich haben sie sich viel zu erzählen und können sich gemeinsam freuen. Gegen die Macht des Todes auf dem Meer, gegen die Macht der Vorurteile im
und am Land malt die Elfjährige lachende Gesichter. Schaut doch, sagt dieses Bild: Alle
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Macht hat Grenzen. Nur die Macht der Liebe und des Mitgefühls nicht. Die Liebe durchkreuzt
alle Vorurteile.
So wie auch Pippi Langstrumpf, die alle Vorstellungen ihrer Zeit durchbricht und ihren eigenen Weg einschlägt. Als der Zirkusdirektor ihr zähneknirschend nach dem so misslungenen
Ringkampf den Hundertkronenschein hinhält, lacht Pippi „Was soll ich mit dem Papierlappen? Den kannst du behalten und Heringe darin einwickeln, wenn du willst.“ Dann geht sie
mit ihren Freunden spielen. „Ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt“, singt sie, und das singen immer noch ganz viele Kinder mit. Nicht das schlechteste Lied auch für uns Große, finde
ich. Machen wir die Welt – wie sie Gott gefällt.
Amen
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