Volltext - Regionalmuseum Neubrandenburg

Blickpunkte
Nordkurier /4.Neubrandenburger
Zeitung (2015-06-04) = Nr. 127, S. 3
Donnerstag,
Juni 2015
Seite 3
Kleine Leuchttürme
in einem Land großer Sorgen
Armut und Abwanderung, niedrige Einkommen und Überalterung –
es gibt viel Negatives zu berichten über die kleinen Dörfer der Region.
Wissenschaftler der Hochschule Neubrandenburg haben jetzt
den Spieß umgedreht und Mutmacher-Geschichten gefunden.
Von Frank Wilhelm
NEUBRANDENBURG. Zufälle kön-
nen auch Schätze bewahren.
Während Maureen Grimm
und Jens A. Forkel von der
Hochschule
Neubrandenburger einen Bewohner von
Letzin, einem Dorf zwischen
Demmin und Neubrandenburg, interviewten, wurden
sie auf eine Stahlglocke aufmerksam. Sie hing in einem alten Rahmen aus Kanthölzern.
„Natürlich fragten wir nach“,
erinnert sich Forkel.
Die Glocke stand einst vor
dem Gutshaus in Verchen
am Kummerower See. „Damit wurden die Landarbeiter
zum Dienst gerufen“, sagt
Forkel. Als das Geläut ausgedient hatte, landete es bei
einem Mann aus dem nahe
gelegenen Verchen auf dem
Kompost. Dort wiederum entdeckte es dessen Kollege aus
Letzin, dem die Glocke vermacht wurde. „Der Mann hat
dann sogar den verschwundenen Klöppel nach- und eingebaut“, sagt Forkel.
Die Glocke ist auf dem Dachboden des Neubrandenburger
Franziskanerklosters zu bewundern, wo heute die dazu
passende Ausstellung „Gut
und Boden“ eröffnet wird.
Der Titel ist keine Verbal-Entgleisung, versichert Forkel. Es
werde bewusst auf die „Blutund-Boden“-Ideologie der NaziZeit angespielt. Die dahinter
stehende Idealisierung einer
„germanisch-nordischen Rasse
als Bauerntum“ habe auch die
hiesigen Dörfer geprägt, wie
die Ausstellung zeigt.
Die Macher von Hochschule und Museum spannen den
Bogen aber viel weiter. Erzählt wird die Entwicklung
Unverzichtbares aus DDR-Zeiten: Sammelsurium aus dem Dorfkonsum.
des dörf lichen Lebens in der
heutigen Mecklenburgischen
Seenplatte angefangen von
der Gründung der Ortschaften, die bis in das 13./14. Jahrhundert zurückgeht.
Beispiel Voigtsdorf: Das
Dorf wurde 1383 das erste Mal
erwähnt. Es liegt zwischen
Friedland und Strasburg neben
der A 20. Doch die Autoströme
gen Usedom f ließen an Voigtsdorf vorbei. 2010 zählte das
Dorf gut 200 Bewohner. 1945 –
nach Flucht und Vertreibung –
waren es fast 450. Die Abwanderung setzte bereits zu DDRZeiten ein – 1990 wurden 190
Seelen gezählt. Heute wohnen
gerade noch rund 100 Menschen in Voigtsdorf, das zu
den kleinsten eigenständigen
Orten in MV zählt.
Deshalb will Bürgermeisterin Isolde Deutschmann
aber trotzdem nichts vom
„sterbenden Dorf“ wissen –
ein Begriff, den ein Berliner
Wissenschaftler den vom
Bevölkerungsschwund betroffenen Kleinst-Dörfern im
Norden verpasste. Neben der
Feuerwehr seien es gerade die
Senioren, die das Leben im
Dorf in Schwung halten, sagt
Isolde Deutschmann: „Sie packen an, wo Hilfe gebraucht
wird, geben ihr Bestes, ohne
nach Gegenleistungen zu fragen, fördern den Zusammenhalt im Dorf und fehlen auf
keiner Feier!“
FOTOS (2): FRANK WILHELM
Solcherart Optimismus sind
auch die Wissenschaftler auf
der Spur. Neben Voigtsdorf
haben sie in acht weiteren
Dörfern unter 500 Bewohnern
Treffen mit den Einwohnern
organisiert und sich Interviewpartner gesucht, die über die
Zeitenläufe in ihrer Heimat
ausgefragt wurden – angefangen von der Weimarer Republik über das Nazi-Regime und
die DDR-Zeit bis ins Heute.
Entstanden sind spannende
Interviews, die in der Ausstellung nachzulesen sind. Der
alte Sessel aus dem LPG-Büro
lädt Besucher zum Sitzen ein –
ebenso wie der Antik-Stuhl
aus dem Museumsmagazin.
Erzählt werden Geschichten
Eine Glocke mit einer besonderen Geschichte:
Jens A. Forkel (links), Maureen Grimm und
Thomas Elkeles von der Hochschule
Neubrandenburg an der Glocke aus Verchen.
aus Zettemin und Beseritz, aus
Helpt und Gnevkow. Nebenbei stießen die Wissenschaftler auf Fotos aus Privatalben
und historische Dokumente.
Beispielsweise eine originale
Bodenreform-Urkunde, mit
der der Landrat des Kreises
Demmin, Ludwig Menzer aus
Zachariae, 1945 „rechtskräftig
zum persönlichen, vererbbaren Eigentum“ acht Hektar
Land übergibt.
Neben wertvollen Erinnerungen fanden die Wissenschaftler aber auch Hoffnungen und Projekte, die gegen
Depression und Schrumpfung
angehen. Wie der Verein aus
Zirzow, der die Dorfkirche
retten will, oder aber enga-
gierte Bürger in Priborn, die
nach der Jubiläumsfeier des
Ortes einen Geschichtsverein anpeilt. „Natürlich“, sagt
Forkel, „geht es uns bei der
Ausstellung auch um die Anerkennung fürs Dorf und die
Menschen im Dorf“.
Die Ausstellung „Gut und Boden.
Erinnern und Vergessen in dörflichen
Gemeinschaften“ wird heute
um 19 Uhr im Regionalmuseum
Neubrandenburg eröffnet.
Die Schau im Dachgeschoss des
Franziskanerklosters läuft bis
zum 16. August täglich von 10
bis 17 Uhr (außer montags).
Kontakt zum Autor
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