Können Landwirtschaft und Landtechnik Industrie 4.0?

Können Landwirtschaft und Landtechnik
Industrie 4.0?
Dr. Eberhard Nacke
Leiter Produktstrategie CLAAS KGaA
Statement zum VDI-Pressegespräch „Future Farming – unterwegs auf dem digitalen
Feld“ im Rahmen der 73. Internationalen Tagung LAND.TECHNIK-AgEng
Industrie 4.0 und das „Internet der Dinge“ versprechen durch Digitalisierung und
Vernetzung aller Prozessglieder in eine neue Dimension der Optimierung von
Produktionsprozessen und der damit zusammenhängenden Wertschöpfungsketten
vorzustoßen.
Digitalisierung und Vernetzung kann man somit letztlich als die moderne Ausprägung
von Idealen wie „Ganzheitliches Denken“ oder „Denken in Prozessketten“ begreifen. Der
Garant für nachhaltig erfolgreiche Landwirtschaft war immer eher das „Denken in
Prozessketten“ als die Optimierung eines einzelnen knappen Produktionsfaktors. Es liegt
im Wesen der Landwirtschaft, sich am gesamten Produktionssystem über das Jahr und
sogar mehrjährigen Fruchtfolgen auszurichten.
Ganzheitliches Denken ist eine uralte Tugend unserer Großväter, doch sie dürfte durch die
Digitalisierung der Landwirtschaft völlig neu umgesetzt werden können. Bereits vor 20
Jahren haben Wissenschaft und Industrie begonnen, dem Landwirt in einer Karte die
Unterschiede im Weizen- oder Kartoffelertrag in verschiedenen Bereichen desselben
Feldes zu visualisieren. Mit dieser Information konnte er besser entscheiden, an welcher
Stelle die Pflanzen mehr oder weniger Dünger brauchten, an welcher Stelle Wasser fehlte
oder sich Problemunkräuter besonders stark ausbreiteten. Die Idee des „Precision
Farming“ war geboren.
Heute ist für viele Landwirte Präzision eine Selbstverständlichkeit. Selbst die größten
Landmaschinen können mit einer Genauigkeit von zwei bis drei Zentimetern präzise und
automatisch über den Acker gelenkt werden. Zudem können die Maschinen ihre
Arbeitsgeschwindigkeit ebenso automatisch den wechselnden Bedingungen anpassen.
Und hierin liegt eine besondere Herausforderung der Landwirtschaft, die sie von der
Industrie unterscheidet und die das „Farming 4.0“ noch spannender erscheinen lässt:
Landwirtschaft findet in der Natur statt und die lässt sich nicht standardisieren. Regen,
Wärme, zu nasse oder zu trockene Böden, plötzlich massenhaft auftretende Schadinsekten
oder Problemunkräuter – nichts ist standardisierbar und ein Landwirt muss sich jeden Tag
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aufs Neue den Veränderungen anpassen.
Farming 4.0, die Digitalisierung aller Prozesselemente und ihrer Einflussfaktoren, wird es
ermöglichen, Daten und Informationen aus unterschiedlichsten Quellen zu vernetzen und
daraus Wirkungszusammenhänge zu identifizieren. Diese werden uns mitunter zu völlig
neuen Problemlösungsansätzen führen. Neue Sensoren und direkte Kommunikation
zwischen Prozessgliedern bieten die Chance, Prozesse neu und anders zu gestalten. Oder
auch sehr bewährte und manchmal in Vergessenheit geratene Tugenden wiederzubeleben,
die wir nun besser verstehen und damit knappe Ressourcen zielgerichtet unter Beachtung
der vielfältigen Wirkungszusammenhänge managen können.
Farming 4.0 bietet zudem die Chance, sich besser an häufig konkurrierende Ziele
anzupassen: Einer Erzeugung preiswerter Nahrungsmittel einerseits und sich wandelnden
Präferenzen und Erwartungen der Gesellschaft an Produktionsmethoden oder Tierwohl
andererseits.
Bereits heute ist eine Kuh nicht mehr mit einer Kette an einem festen Platz angebunden
und wird zweimal am Tag zu festen Zeiten gemolken, wie in der „Guten alten Zeit“. Sie
läuft frei im Stall herum, sucht sich ihren präferierten Liegeplatz und entscheidet selbst,
wann sie zum Melkroboter oder zur Fütterung geht. Jede einzelne Kuh identifiziert sich
überall mit einem Sensor am Halsband und das komplett vernetzte Stallsystem erkennt,
wenn eine Kuh zu lange in der Box liegt, auffällig viel herumläuft, zu wenig Appetit oder
zu viel Durst hat. Ebenso analysiert und vergleicht der Melkroboter sofort wesentliche
Milchparameter jedes einzelnen tierischen Besuchers. In der Konsequenz wird der
Landwirt aber nicht mit einer Datenflut überhäuft, sondern er bekommt nur dann eine
Warnmeldung auf sein Smartphone oder seinen Betriebs-PC, wenn die Systeme eine
kritische Abweichung erkennen. Farming 4.0 bringt somit nicht nur wirtschaftliche
Vorteile, sondern hilft uns auch bei Tiergesundheit und Tierwohl.
Wie in der Industrie werden auch in der Landwirtschaft immer größere Datenmengen
anfallen, die erst durch Vernetzung und neue Auswertungsalgorithmen ihren Mehrwert
erhalten. In der Landwirtschaft entstehen diese Daten häufig Kilometer voneinander
entfernt. Entscheidend für die Realisierung der Potenziale von Farming 4.0 ist somit die
Geschwindigkeit der Datenübermittlung und der damit verbundene flächendeckende
Breitbandausbau der Kommunikationsnetze im ländlichen Raum.
Landwirtschaft und Landtechnik sind nicht nur Mitläufer der Industrie 4.0, sondern
können durchaus zu den Vorreitern gezählt werden. Farming 4.0 ist in Teilen bereits
Realität und wird weiterhelfen, neue, verbesserte und gesellschaftlich akzeptable Prozesse
zu entwickeln.