KINDER INMITTEN VON KRIEG UND FLUCHT

Kinder auf der Flucht
Symposium Pädagogische Hochschule Tirol
16.10.2015
KINDER INMITTEN VON KRIEG UND FLUCHT:
TRAUMATISIERUNG UND RESILIENZ
Pia Andreatta, assoz. Prof. Dr.
Universität Innsbruck; Institut für Psychosoziale Intervention und
Kommunikationsforschung
Quelle: Lebenon Crisis Response Plan 2015-2016; Ministry of Social Affairs
WAS BEDEUTET TRAUMA
Was bedeutet Traumatisierung?
(Fischer/ Riedesser 2009, S. 84)
Ein Trauma ist ein
vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den
individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit
Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine
dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis bewirkt.
Tod im Krieg ist (fast) immer traumatisch
Im Kontrast zu Friedenszeiten ist der Tod gewaltsamer und häufiger
Schwierigkeiten über einen Verlust in Kombination mit Krieg zu trauern (Reflexion über Gerechtigkeit)
Oft keine Rituale wie Beerdigungen
Trauerprozesse sind unterbrochen durch Verfolgung und Flucht
Kein gestalten positiver Erinnerungen: Erinnerung an Schreckensbild überlagert den Trauerprozess
Typ I Trauma (Terr, 1991)
einmaliges Ereignis z.B. Tod, Unfall, Naturkatastrophe
Kinder schreiben sich oft selbst Schuld zu (kognitive Entwicklung)
Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTSD)
Typ II Trauma
komplexes, längerfristiges Geschehen, multiple oder chronische Traumatisierung z. B. wiederholter
Missbrauch, Vernachlässigung, schwere Krankheiten, familiäre Gewalt, Krieg oder politische Gewalt wie
Verfolgung oder Folter
Abwehrsuche und Bewältigungsstrategien führen zu Persönlichkeitsveränderungen der Kinder
Sonderform: Sequentielle Traumatisierung (Keilson, 1979; Becker, 2006)
Prozess bestehend aus spezifischen Belastungsfaktoren als Teile eines Gesamtgeschehens: Sequenzen von
Eskalierung eines politischen Konfliktes, akute Verfolgung und direkter Terror (existentielle Erfahrung),
Wartephasen und Entscheidungsdruck, Flucht oder Verbleib; nach Kriegsende kein Ende der Sequenzen
Sequenzielle Traumatisierung durch Flucht (Keilson, 1979;
Becker, 2006, S.190)
1.
Belastungsfaktoren vor und während der Flucht: widersprechende Emotionen
z.B. Verzweiflung, Aufgeben, Alternativlosigkeit, Hoffnung, Angst
2.
Belastungsfaktoren im Aufnahmeland: Ungewissheit, Akkulterationsstress,
Stigmatisierung (pos und neg)
3.
Chronifizierung der Vorläufigkeit: Verstärkung von Ohnmacht und Hilflosigkeit
„Hier werden wir alle zu Steinen“ (UMF, zit. n. Kusturica, 2009)
FOLGEN VON TRAUMA:
KINDER UND JUGENDLICHE
PTSD – drei Symptomgruppen
I.
Wiederkehrende eindringliche Erinnerungen, wiederkehrende Träume, plötzliches
Handeln als ob Ereignis wiederkehrt (Intrusion)
II.
Vermeiden von Gedanken oder Gefühlen die Ereignis assoziiert sind (Vermeidung)
III.
sowie Reizbarkeit, Wutausbrüche, Übererregung und übermäßige Stressreaktionen
(Hyperarousal)
Klinische Studien zu PTSD
In Konflikt/ Krieg
41% PTSD von 234 Kindern 6-11 J. Gaza Strip, ein Jahr später noch 10% an (Thabet & Vortanis, 2000)
24% PTSD Lebanese War Studies 6-19 J. in 25 Schulen 3 Wochen n. Waffenstillstand (Fayyad et al., 2004)
41 % PTSD Bosnien 7-15 J. in 10 Schulen (Allwood, 2002)
19 % PTSD nach Israel Missile Attack 5-10 J.
75% mittlere bis schwere posttraumatische Symptome - sudanesische Kinder (Duncan, 2000)
In Aufnahmeland: UMF
61, 5 % in engl. Studie (Hodes et al., 2008)
Bis zu 84 % bei Huemer et al. (2013)
37-47 % PTSD von 166 UMF in Belgien (Derluyn & Broekaert, 2007)
17 % in einer in Österreich/Wien durchgeführten Studie (Völkl-Kernstock et al., 2011)
50 % Stress: gravierend und chronisch über ein Jahr hinweg (Bean et al., 2007)
40 % in niederl. Studie ein Jahr nach der Ankunft im Aufnahmeland, n. 2 Jahren 41 % (Smid et al., 2011)
Folgen im Erleben und Verhalten betreffen…
Konzentration, Abwesenheitszustände (Dissoziation), Aggressivität, Isolation, Übermüdung durch
Schlafstörung und Alpträume
Depressivität, Suizidgedanken, Selbstwertprobleme, Appetitlosigkeit, Schuldgefühle und psychotische
Symptome ein (Metzner et al., 2015)
Identität
negative Zukunfterwartung
Schreckhaftigkeit z.B. Objekte in der Luft, sensorische Fragmente
Verlust für Selbst- und Fremdempathie
Regulation der Gefühle; Stimmungsschwankungen
„Verstummen“, Rückzug
Panikattacken
Aggressivität gegen sich selbst oder andere
Kriegsspiele mit hohem Gewaltanteil
Kaum Alltagsinteressen „Begeisterungsfähigkeit“; Inhibition der Vitalität
„Peer“-Schwierigkeiten; Anpassungsschwierigkeit
Regressives Verhalten: Enuresis, Klammern, …
Psychosomatische Beschwerden (Möhlen, 2005)
Umgang mit den Verbrechen […] oft bedeutsamer für die Verarbeitung
und Gesundheitsperspektive des Opfers ist, als Schweregrad der
Traumatisierung
(Becker, 2009; Fischer & Riedesser, 2009; Stamm & Friedman, 2000)
Nachdenken über Prädiktoren und günstige Beeinflussung… Beispiele
Situation im Aufnahmeland: Erfahrung von Ohnmacht
Erlebte Empathie ohne Stigmatisierung als Opfer (Fayyad, 2004)
Bewertung der „Normalität von Krieg“ (Brähler et al., 2003)
Infrastrukturen und Alltragsroutinen: Schule
Re-exposure: Chronifizierung des Vorläufigen
Förderung der Resilienz
RESILIENZ
… die Fähigkeit den Herausforderungen des Lebens zu begegnen und gegen alle
Wahrscheinlichkeit daran sogar zu gedeihen.
(Welter-Enderlin & Hildenbrand, 2006, S. 9)
Bedeutend sind
„Maßnahmen der Stabilisierung, der Wiedergewinnung von Selbstvertrauen, ein
individuelles Herausarbeiten von Entwicklungsaufgaben, Unterstützung bei der
Alltags- und Lebensbewältigung, die Förderung von Ressourcen und Potenzialen,
sowie die Abklärung des Therapiebedarfs“ (Zito & Brandmaier, 2010, S. 165)
Beispiele für Resilienz Modelle
Modelle zur Förderung von Resilienz in der Schule
adaptieren aus Resilienzförderung von Flüchtlingskindern und ihren Familien z.B. TZFO-Köln, Irmler, 2009
Säulenmodell mit den 4 B‘s der Resilienzförderung: Bindung, Bildung, Bewusstsein für
Selbstwirksamkeit, Bausteine guter Erinnerung: nicht altersgebunden!
Salutogenetische Konzepte: Fokus auf günstige Prozessverläufe
Drei Quellen der Resilienz um schädigende Ereignisse zu überwinden (Grotberg, 2001)
Unterstützung der Resilienz bei Kindern und Jugendlichen
Schule: Auch wer nie in einer war…
Schule = geteilte soziale Erfahrung
vermittelt: Stabilität, Orientierung und Integration
vermindert Entfremdung und wirkt dem erschütterten Identitätsgefühl entgegen
Rollenmodelle
Fokus auf: re-establish a sense of normality, daily routine and enjoyable activities, play (Dyregrov, 1990)
Studie an Gruppe von UMF‘s in Tirol (Klein, 2015)
Fokus auf Resilienz
Bedürfnisorientierung anstelle von Traumafokus: Bedeutung der Sicherheit („Sprechen über Krieg und
Flucht ist nicht per se kathartisch“)
Ermutigung zum Ausdruck von Gefühlen über Medium anbieten (Bilder, Malen, Roleplay, Gruppen,
Theater, Musik, etc. und nicht: konfrontierende Fragen
Ver-Bindungen: Selbstwert und soziale Beziehungen
Stabilisierung über Alltagsroutinen, Beteiligung und Struktur z.B. Transparenz, Regelmäßigkeit, Überblick,
Einbeziehung in Planungsprozesse, Ermöglichen von Handlung und Handlungsentscheidung