Zum Passiv im Nordgermanischen: Drei unterschiedliche Ansätze

KURT BRAUNMÜLLER
Zum Passiv im Nordgermanischen: Drei unterschiedliche Ansätze
zur Wiedereinführung einer verloren gegangenen grammatischen Kategorie
Das älteste Germanische weist typische Züge einer Kontaktsprache auf, bei der bestimmte
grammatischen Kategorien durch unvollständigen Zweitsprachenerwerb Erwachsener (wohl mit
nicht-indoeuropäischer Muttersprache) verloren gegangen sind (mehr dazu in Braunmüller 2008b).
Die am häufigsten genannten vermeintlichen Neuerungen, die Herausbildung einer regelmäßigen
Konjugation mittels eines Dentalsuffixes sowie die sog. schwache Adjektivflexion, stellen das Ergebnis
grammatischer Vereinfachung bzw. falscher grammatischer Analyse durch L2-Lerner dar (Braunmüller
2008a).
Das Passiv wurde in einem ersten Anlauf (Spätantike, Völkerwanderungszeit) replikativ dem
lateinischen synthetischen Passiv nachgebildet, wobei das mediopassive haita ‚heißen‘ die
grammatisch-semantische Schnittstelle bildete (s. Braunmüller 2004: 43-46). In einem zweiten Anlauf
(Frühmittelalter/späte Wikingerzeit) wurde aus dem Reflexivpronomen der 1. und 3. Person enklitisch
ein neues Passiv auf -mk/-sk < mik/sik ,mich/sich‘ gebildet, was ebenfalls auf der Ambivalenz des
Mediopassivs beruht, sich aber bald dominant auf das Passiv beschränkte (die herrschende Lehre).
Dennoch gibt es weiterhin reflexive und reziproke Verwendungen, einschließlich einiger vereinzelter
Deponentien. Der dritte Anlauf bringt analytische Formen ins Spiel, wobei zunächst wie im Deutschen
das Hilfsverb varþa/varda ‚werden‘ und das Partizip Perfekt verwendet wurden (vgl. Markey 1969).
Nach sehr intensiven Sprachkontakten im Spätmittelalter tritt in Festlandskandinavien anstelle von
varþa/varda das aus dem Niederdeutschen abgeleitete Hilfsverb bliva/blive ‚[wörtl.] bleiben, [hier]
werden‘, obwohl es in der Kontaktsprache Niederdeutsch keine solche solche Funktion hatte. Die
einzige Brücke mit vergleichbar grammatisierter Funktion hätte dôt blîven ‚sterben‘ sein können. Wie
es zu dieser an sich völlig unnötigen Ersetzung eines voll funktionierenden germanischen/skandinavischen Hilfsverbs (schwed. varþa-varda; vgl. isl. verða) durch ndt. blîven (> skand. bli(va)/blive) ist
noch weitgehend ungeklärt (ein völlig neuer Erklärungsversuch, der im Lichte der neueren
exaptation-Forschung hier noch weiter ausgebaut werden soll, findet sich ansatzweise in Braunmüller
2013). Abweichend davon gibt es im westskandinavischen Isländischen mehr oder weniger nur eine
unspezifische Passivform, die dem deutschen sog. Zustandspassiv strukturell entspricht, jedoch auch
und vor allem das Vorgangspassiv ausdrückt. Im Färöischen als einer seit dem Spätmittelalter nur
bilingual auftretenden Varietät gibt es sowohl west- wie ostskandinavische Konstruktionen, um das
Passiv auszudrücken.
In meinem Vortrag möchte ich diese Entwicklungen nachzeichnen, wobei es mir typologisch besonders interessant erscheint, dass einerseits synthetische Replikationen auftreten sowie dass sich die
ursprüngliche Polyfunktionalität des Mediopassivs/Reflexivs bis heute erhalten hat und sogar noch
ausgebaut wurde. Überraschend ist die strukturelle Einfachheit und Unterspezifizierung der
Passivbildung im Isländischen (vgl. Faarlund 2004: 132) in deutlichem Gegensatz zum Färöischen.
Braunmüller, Kurt (2004): “Zum Einfluss des Lateinischen auf die ältesten Runeninschriften”. Verschränkung der
Kulturen. Der Sprach- und Literaturaustausch zwischen Skandinavien und den deutschsprachigen Ländern.
Zum 65. Geburtstag von Hans-Peter Naumann (Oskar Bandle / Jürg Glauser / Stefanie Würth, eds.). Tübingen, Basel: Francke, 23 - 50.
Braunmüller, Kurt (2008a): “Observations on the origins of definiteness in ancient Germanic”.
Sprachwissenschaft 33: 351 - 371.
Braunmüller, Kurt (2008b): „Das älteste Germanische: Offene Fragen und mögliche Antworten“.
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Braunmüller, Kurt (2013): „Morphologische Komplexität des Deutschen im Vergleich mit den skandinavischen
Sprachen.“ Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 135 (3): 317 - 341.
Faarlund, Jan Terje (2004): The syntax of Old Norse. With a survey of the inflectional morphology and a complete bibliography. Oxford etc.: Oxford University Press.
Markey, Thomas L. (1969): The verbs varda and bliva in Scandinavian. With special emphasis on Swedish. Uppsala: Almqvist & Wiksell.