8 | MM18, 27.4.2015 | MENSCHEN Möchten Sie sich ein Tattoo stechen lassen? Migrosmagazin.ch Diese Woche Tattoos ohne Grenzen – jeder darf mal Tätowierungen werden immer beliebter. Nicht alle, die sich damit schmücken, lassen sie in einem offiziellen Studio machen. Vor allem die Tattoo-Partys, die derzeit vielerorts stattfinden, sind laut Experten bedenklich. Texte: Monica Müller und Anne-Sophie Keller Tattoos in Zahlen 10% der Schweizerinnen und Schweizer haben ein Tattoo. 25% der 25- bis 34-Jährigen sind tätowiert. 16 Quelle: Die Zahlen für die Schweiz sind Schätzungen, die auf der deutschen RUB-Studie zu Tätowierungen und Piercings (2014) basieren. Letzte Woche fragten wir: Brauchen wir eine Frauenquote? 56% Nein, Qualität geht vor Geschlecht. 19% Ja, das brauchen wir unbedingt. 16% Nein, das würde die Frauen bloss schwächen. 8% Ja, aber nur in staatlichen Unternehmen. E s wird wärmer, die Leute zeigen mehr Haut – und die Tattoos kommen wieder zum Vorschein. Zum Saisonstart haben viele Tattoo-Studios besonders viel zu tun. Andere sind immer voll ausgelastet. Je nach Studio betragen die Wartezeiten für einen Termin einige Tage, Wochen, Monate bis hin zu einem Jahr. Luc Grossenbacher («Lacky»), der Präsident des Verbands Schweizer Berufstätowierer, schätzt, dass es in der Schweiz etwa 600 offizielle Tattoo-Studios gibt und rund 1200, die im Graubereich walten. Bloss 37 Studios führen das Hygiene-Quality-Label, das auf Ersuchen des Bundesamts für Gesundheit (BAG) zusammen mit den Fachverbänden geschaffen wurde. Es belegt, dass der Inhaber die vom BAG empfohlenen Richtlinien erfüllt, einen ErsteHilfe- und Hygienekurs absolviert hat und mindestens seit fünf Jahren den Beruf ausübt. Grossenbacher findet die geringe Anzahl sehr bedenklich. Er hofft, dass die Richtlinien mit der laufenden Revision des Heilmittelgesetzes zwingend werden. Denn: «Heute dürfen Hinz und Kunz tätowieren.» Mit grosser Skepsis beobachtet Grossenbacher die Tattoo-Partys, die derzeit in sind. Jemand bestellt online ein Tattoo-Set, und man bemalt sich munter gegenseitig. «Die Pfuscharbeiten, die dabei entstehen, sind zum Teil irreparabel und bergen gesundheitliche Risiken.» Tätowierer arbeiten mit einem Stundenansatz von rund 200 Franken. Ein grossflächiges Tattoo kann bis zu 20 000 Franken kosten. Eine Laserbehandlung zur Entfernung beträgt zirka 500 Franken pro Sitzung, in der Regel braucht es vier bis acht davon. MM Bild: Getty Images Jahre beträgt das Mindestalter für ein Tattoo, wenn ein Erziehungsberechtigter sein Einverständnis abgibt. MENSCHEN | MM18, 27.4.2015 | 9 Strassenumfrage Experteninterview «Die älteste Person, die ich je tätowiert habe, war ein Herr um die 80» Guido Varesi, Tattoos sind ein Trend, der nicht abflacht. Warum? Tattoos sind keine Mode, sie haben sich zu einer Tradition entwickelt. Wir erleben häufig, dass Eltern mit ihren erwachsenen Kindern zu uns kommen, damit sie sich im selben Studio tätowieren lassen können wie sie damals. Das klingt nicht mehr sonderlich rebellisch. Wie hat sich Ihre Klientel in den letzten Jahren verändert? Am Anfang waren es die harten Jungs mit zweirädrigem Gefährt, die Outlaws, Leute am Rande der Gesellschaft. Heute sind Tattoos Mainstream: Banker, Anwältinnen, Ärzte lassen sich ebenso stechen wie Lehrer, Kassiererinnen, Bäckerinnen. Vor Jahren war die Kundschaft vor allem männlich, jetzt haben die Frauen aufgeholt. Ihre Wünsche sind ähnlich – übrigens auch ihr Schmerzempfinden. Welches sind die aktuellen Trends? Im Moment sind Maori-Tattoos in. Ebenso Pusteblumen mit stäubenden Sämchen. Oder Bäume, von denen Vögel davonflattern. Auch Schriften, Kindernamen und seltsame Sprüche, hinter denen ich schlecht stehen kann. Wie zum Beispiel «Only God can judge me». Parkieren diese Leute falsch, merken sie rasch, dass nicht nur Gott, sondern auch die Polizei über sie richten kann – und schon verliert der Spruch seinen Pfupf. Trends sind nicht so Ihr Ding? Ich versuche, die verdammten Trends zu vermeiden. Ich bin auf Biomechanik spezialisiert, düstere surrealistische Sujets, in denen Mensch und Maschine sich vermischen, wie sie der Schweizer Künstler H. R. Giger entwickelt hat. Raten Sie den Leuten von gewissen Sprüchen oder Motiven auch ab? Ja, ständig. Wir machen lieber individuelle Sachen, und nicht ein Abklatsch von einem Abklatsch. Oft lehnen wir Sujets auch ab – alles, wofür man sich in zehn Jahren schämen muss. Wenn sich heute einer beispielsweise Teufelskerl auf die Stirne tätowieren Was halten Sie von Tattoos? lassen will oder rechts- und linksextremes Gedankengut. Gibt es auch Trends bei den Körperteilen, die tätowiert werden? Eigentlich nicht. Frauen betonen vor allem die weiblichen Attribute: die Hüften, die Oberschenkel, das Dekolleté. Die Männern den Oberkörper, die Unterschenkel. Tattoos formen auch den Körper, da kann man ohne Training einiges herausholen. Mit einem richtig platzierten Tattoo sieht der Bizeps eines Mannes kräftiger aus und die Fesseln einer Frau wirken schlanker. Allgemein möchten die Kunden heute grössere Tattoos, auch solche, die sich über mehrere Körperstellen ziehen. Die Hemmschwelle dafür ist kleiner, weil man nicht mehr schräg angeschaut wird. Wer zählt zu den neuen Kunden? In letzter Zeit kommt es vermehrt vor, dass sich auch ältere Leute ab 60, 70 Jahren tätowieren lassen. Meist sagen sie: Ich musste mein Leben lang aufpassen wegen des Jobs. Heute redet mir niemand mehr rein. Jetzt mache ich es! Die älteste Person, die ich je tätowiert habe, war ein Herr um die 80. Er war Reptilienhalter und liess sich eine Kobra auf den Arm stechen. Wie sind Sie zu Ihrem ersten Tattoo gekommen? Ich war als Bub ein Fan von Piraten. Da diese allesamt tätowiert waren, wollte ich das auch. Bereits als Siebenjähriger liess ich mir ein Kreuz in den Arm ritzen. Die Schwester eines Freundes, eine Missionarin, wusste, wie das geht. Gibt es Tattoos, die Sie bereuen? Nein. Ich habe Dutzende Tattoos, auch das alte Zeugs gehört zu mir. Das ist wie das Fell einer Katze oder das Muster einer Schlange – es ist einfach so. Wo liegt die Faszination für Tattoos? Ich denke, es geht um die Aussage: «Das ist mein Körper, damit mache ich, was ich will.» Tattoos drücken Individualität und Selbstbestimmung aus. Guido Varesi (51) ist Vizepräsident des Verbands Schweizerischer Berufstätowierer und hat ein eigenes Studio in Sissach BL. Jennie Tichter (27), Spendensamm lerin, Siebnen SZ: «Ich habe zehn Tattoos, drei Viertel selber gestochen. Sie widerspiegeln meine Erlebnisse und sind sehr persönlich. Ob andere das verstehen, ist mir egal.» Patrick Bernhart (43), Betriebs ökonom, Laufenburg AG: «Ich finde es nicht schön, den Körper zu täto wieren. Es ist eine Verunstaltung. Gerade wenn man älter wird, sehen Tattoos nicht mehr attraktiv aus.» Maria Fariello (20), Model, Ober kulm AG: «Tattoos und diese Szene sind nicht mein Ding. Mir gefällt der natürliche Körper am besten. Für Models sind Tätowierungen ohnehin nicht empfehlenswert.»
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