María do Mar CASTRO VARELA

Wie Mädchen zu Migrantinnen werden: Gendersensible Pädagogik im Kontext von
Migration
Prof. Dr. María do Mar Castro Varela, Professorin für Allgemeine Pädagogik und Soziale Arbeit mit Schwerpunkt Diversity, Alice Salomon Hochschule Berlin
Wie sah die gesellschaftliche Situation im Kontext Ihres Themas im Jahr 2005 aus? Wie war der Stand
der Forschung/der Praxis, was waren die besonderen Herausforderungen?
Nun ja, in 2005 haben die feministischen Debatten der 1990er Jahre schon einige Früchte getragen.
So war es durchaus selbstverständlich, dass Genderthemen thematisiert wurden. Was allerdings immer noch schwierig war, war tatsächlich die Verbindung von migrations- und genderspezifischen
Dimensionen. Die zwei Felder wurden in unterschiedlichen Kontexten diskutiert, so dass der Eindruck
entstand, es handele sich um komplett verschiedene Problemfelder. Wenn es Untersuchungen gab,
die sich mit beiden Bereichen beschäftigten, dann ging es zumeist um "muslimische Mädchen". Es
entstand dabei der Eindruck, dass Migration nur dann zu einem "Problem" wird, wenn die Migrant_innen muslimisch sind. Was natürlich in doppelter Hinsicht nicht stimmt. Erstens, ist Migration
nicht ein Problem, sondern wird problematisiert. Und zweitens würde eine rassismuskritische Perspektive rasch zeigen können, dass die Fokussierung auf Menschen von denen angenommen wird,
sie seien muslimisch eher als anti-muslimischer Rassismus zu beschreiben ist. Und darüber hinaus ist,
wie ich damals auch im Vortrag schon sagte, "Gender" nicht das Fremdwort für "Frau". Die Auseinandersetzung um "Migration" und "Gender" wurde aber 2005 noch sehr stark vereinfacht. Sie war
aber dringend notwendig und wurde auch geführt. Anfang des 21. Jahrhunderts habe ich etliche Vorträge zu diesem Thema gehalten. Zumeist waren es aber sozialpädagogische Institutionen, die sich
dafür interessierten.
Wo stehen wir heute 2015 bzgl. Ihres Themas? Welche Entwicklungen: Fortschritte/Rückschritte
nehmen Sie wahr?
Danke für die Frage! Es gibt ja nicht nur Fortschritte, sondern leider auch immer wieder Rückschritte.
Die Migrationspädagogik hat sich zumindest begrifflich etabliert. Die Leute in der Praxis aber auch in
der Pädagogik kennen den Ansatz und verbinden damit durchaus auch rassismuskritische Praxen.
Auch aufgrund dessen, dass "Flucht" wieder zu einem brisanten gesellschafts-politischen Thema geworden ist. Was in 2005, anders als in den 1990er Jahren, nicht mehr der Fall war, wird wieder intensiver über Migration debattiert. Leider verengt sich die Reflexion häufig auf das Stichwort "Willkommenskultur". Was meiner Ansicht nach insoweit bedauerlich ist, als dass einerseits die notwendige
strukturelle Diskussion nicht geführt wird - Wie grenzt Schule aus? Wer hat eine Chance in dem System? - und wichtige Fragen von "Klasse" nur selten aufgebracht werden, während anderseits die
brutalen Grenzpolitiken oft unthematisiert bleiben. Nichtsdestotrotz muss anerkannt werden, dass
Migrationspädagogik aus der deutschsprachigen Pädagogik nicht mehr wegzudenken ist.
Bei "Gender" sieht es etwas anders aus. Nach den Kämpfen in den 1990er Jahren haben sich genderspezifische Ansätze erstmal in der Wissenschaft und der sozialpädagogischen Praxis etabliert. Es
wurden viele genderspezifische Projekte gefördert und Professuren mit diesem Schwerpunkt eingerichtet. Jetzt sehen wir uns aber seit einigen Jahren, insbesondere in der Wissenschaft, einer dauernden Diffamierung und Disqualifizierung ausgesetzt. Feministische Ansätze werden dafür verantwortlich gemacht, dass angeblich Jungen in den Kitas und Schulen zu kurz kommen. In vielen Universitäten muss um die genderspezifischen Lehrstühle gekämpft werden. Sie gelten Vielen als sinnlos und
auch bedenklich. Auch in der Projektlandschaft wird es zunehmend schwieriger genderspezifische
Themen zu etablieren.
Gleichzeitig scheint, „Diversity“ ist in aller Munde. Doch Diversity-Ansätze haben leider in vieler Hinsicht die früheren Diskussionen um soziale Gerechtigkeit verflacht und eine Symbolpolitik etabliert,
die mir sehr bedenklich erscheint. Was hat sich, so müssten wir fragen, tatsächlich geändert? Das
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heißt, an der Oberfläche sieht es so aus, als würde viel für soziale Gerechtigkeit getan, aber de facto
ändert sich kaum etwas. Das ist zugegebenermaßen eine scharf formulierte These, aber ich bin der
Überzeugung, dass die Zeit reif ist, für radikalere Gesellschaftsanalysen und -praxen. Insbesondere in
Anbetracht der massiv zunehmenden Angriffe auf die Gender und Queer Studies und der rassistischen Rhetorik, die sich zunehmend auch wieder im Alltag etabliert, können wir uns nicht mehr damit zufrieden geben, Vielfalt zu feiern.
Schauen wir uns beispielsweise das Thema "Kopftuch" an: Auf das positive Zeichen des Bundesverfassungsgerichts folgten Diskussionen, die nicht viel anders sind, als wir sie schon vor 10 oder auch
20 Jahren geführt haben. Es scheint hier zu einem diskursiven Stillstand gekommen zu sein.
Das sind jetzt nur einige wenige Gedanken zu Fort- und Rückschritten. Wir müssten sicher noch über
die Etablierung intersektioneller Perspektiven sprechen, die Vieles einfacher gemacht hat, aber in
den letzten Jahren sehr oberflächlich geworden ist. Heute muss nur noch das Mantra „race“, „class“,
„gender“ aufgesagt werden und viele glauben, es handele sich schon um eine progressive Praxis.
Dem ist bedauerlicherweise aber nicht so.
Beschreiben Sie konkret Ihre Vision in Bezug auf Ihr Thema für das Jahr 2025. Wie sehen Ihre Wünsche für unsere Gesellschaft aus?
2025 ist für meine Vision etwas knapp berechnet. Das braucht wohl etwas länger! Gehen wir von der
Bloch'schen Utopiekonzeption aus, so geht es weniger darum, dass sich unsere Utopien erfüllen,
sondern darum, dass wir kritisch in das Soziale und Politische intervenieren. Das „So-wie-es-ist“ ist
immer nur für einige Wenige attraktiv. Immer mehr Menschen werden aus den Städten vertrieben,
weil sie sich die Mieten nicht mehr leisten können. Geflüchtete leben oft am Rande derselben und
sind permanenter Gewalt ausgesetzt. Viele migrantische Schüler_innen werden nie eine wirkliche
Zukunft haben, weil die Bildung, die sie erhalten, wie Ulrich Beck mal sagte, eine "Non-Bildung" ist.
Deswegen hoffe ich auf eine neue Bildungsbewegung, die auch postkoloniale Perspektiven integriert.
Für Gayatri Spivak muss es darum gehen, „zwangsfrei die Begehren neu zu ordnen“. Und wenn sie
auch zugegebenermaßen über die Bildung von Subalternen spricht, so könnten wir dies auch allgemeiner verstehen. Wir benötigen mehr denn je Menschen, die denken können; deren Horizonte
nicht durch Alltagsdiskurse begrenzt werden. Gender und Queer Studies und die kritische Migrationspädagogik haben neue wichtige Debatten ermöglicht. Ich hoffe, dass sie ihre Schärfe nicht einbüßen und ich hoffe, dass es in 2025 mehr mutige Projekte gibt, die es wagen den Alltagsdiskursen etwas entgegenzusetzen.
Castro Varela, María do Mar
Alice Salomon Hochschule Berlin
Alice-Salomon-Platz 5
12627 Berlin
Tel.: 030 99245401
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