Nachtgedanken Heinrich Debus Ein paar Liedzeilen waren ihm noch geläufig. Sie drängten sich unvermittelt in seinen Halbschlaf, eine Melodie klang auf, verließ ihn dann wieder, ohne dass er sie verscheucht hätte. Nach einigen Momenten tauchten sie wieder auf, ohne dass er sie rief. „Einmal möchte ich morgens liegen bleiben, einmal nur im Bett die Zeit verträumen.“ Wenn sie auf langen, strapazierenden Nachtmärschen dem kommenden Morgen entgegenmarschierten, sich die Marschordnung lockerte und der Gleichschritt aus dem Takt geriet, hatte immer wieder einer der Marschierenden, begleitet von dem Mitgesumme seiner Nebenleute, halblaut vor sich hin gesungen: „Einmal möchte ich leben, wie ich leben möchte“, bis sich eine stille Wehmut einnistete und die Marschierenden verstummen ließ. War das der Ort, wo man sich von dem Geschehen der letzten Jahre entfernen konnte? Hatte er die Zeit überstanden? Wie würde er ihn vorfinden, den Ort, der sich Heimat nannte? Doch wie grau und trostlos stellte er sich dar. Hatte sich der Herbst schon eingestellt, obwohl es erst Juli war? Noch immer schienen sich die Häuser zu ducken unter dem an- und abschwellenden Röhren der Bomberströme, die noch vor kurzem den Ort überflogen hatten, lohnenderen Zielen entgegen. Eine Bombe war am Ortsrand gefallen, die Explosion hatte mehrere Dächer abgedeckt, eine Hauswand eingedrückt, wohl ein Verlegenheitsabwurf, eine Bombe, die in einer der großen Städte ihre Aufgabe nicht erfüllt hatte, es war nicht vorgesehen, sie unbenutzt zurückzubringen. Wie seit eh und je gurrte ein Täuberich auf dem Dachfirst des Rathauses, genoss dabei den Blick über die Dächer des Ortes, als ignoriere er das jüngst Vergangene. Wie überall hatte auch dieser Ort seine Männer und Söhne ihrem Land zur Verfügung stellen müssen. Mehr oder weniger bereitwillig ging man fort. „Viel lieber gestritten und ehrlich gestorben, als Freiheit verloren und Seele verdorben.“ Es war nicht sicher, ob sich das alle auf die Fahne geschrieben hatten. Allmählich waren die Ersten zurückgekommen. Heilgebliebene, ernüchtert 23 und illusionslos trudelten sie nach und nach ein. Aus jungen Männern, Jünglingen noch, waren alte Soldaten geworden, denen nichts mehr geblieben war. Das gängige Wort „Glück gehabt“ reichte nicht aus, um ihre Rückkehr begreiflich zu machen. Noch jahrelang wartete man vergebens auf jene, die nie zurückkommen würden. „Der Dank des Vaterlandes ist euch gewiss“, so war ihnen einmal versprochen worden. Aber gab es noch ein Vaterland? Wo war es geblieben? Wie ein hilfloser Käfer lag es strampelnd auf dem Rücken und versuchte vergeblich, wieder auf die Beine zu kommen. Nie würde es ihm gelingen. Niemand glaubte daran. Ein ausgeblutetes Volk, das sich nicht mehr erheben würde. Fast mitleidig sah man es in seinen Ruinen hausen. Unterwegs hatte er sich den Ort, den er nicht mehr kannte, neu erfinden müssen. Voll Erwartung auf das Kommende war er Augenblicke lang glücklich. Ein Ort, der Geborgenheit und Zukunft verhieß. Wie würde er seinen Heimkehrer empfangen? Doch der Ort, den er antraf, brütete hilflos vor sich hin, verharrte wie in Stockstarre, nahm keine Notiz von ihm, so schien es ihm, und hielt keine Antwort auf seine vielfältigen Fragen bereit. Aufgewachsen im alten System, nicht dass er ihm nachtrauerte, dafür hatte es zu viel Unheil angerichtet, es war hinweggefegt worden – und nun saß er hilflos auf dem Trockenen, und der Ort bot keine Wegweisung, keinen Fingerzeig zu einem Brunnen mit reinem Wasser, wo man sich säubern, in den man eintauchen konnte. Mit niemandem konnte er darüber sprechen. Wer würde ihn verstehen? Er verstand sich ja selbst nicht. Nicht, woher das kam, diese Scheu, sich abzufinden mit der Situation, die so war, wie sie war. Diese Heimat war nicht vorgesehen. Die Bilder der jüngsten Vergangenheit drängten sich in seinen Halbschlaf, sobald er die Augen schloss, begannen, vor seinem inneren Auge zu flattern, machten, was sie wollten. Wort-, Satz- und Liedfetzen beteiligten sich, Parolen, Schlagwörter der jüngsten Zeit, Helga, ein Mädchenname, mischte sich unvermittelt ein, Wojna kaputt, Lili Marleen, ein dreifaches ‚Sieg Heil‘, scheinbar vergangene Worte, die ihn immer wieder heimsuchten. Tote, Lebende, Erinnerungen, chaotisch wie die Zeit, die 24 jüngst vergangene und die gegenwärtige, und die kommende würde nicht anders sein. War das der Ort, an dem man lebt, wie man leben möchte? Wenn die Schwärme der Gedanken anfingen zu gaukeln, sich miteinander vernetzten, lautlose Melodien sich einnisteten und ihn nächtelang im Griff hielten. Wie aus dem Nichts tauchten Dinge auf, die sich einmischten in seine Nachtgedanken. Vergeblich seine Versuche, sie auszugrenzen, ihnen keinen Einlass zu gewähren. Früher hatte er sich dem Ort gefügt, der unerbittlich seine Maßstäbe gesetzt hatte. Seit eh und je hatten sie Bestand gehabt, schienen den Krieg unbeschadet überstanden zu haben, forderten wieder uneingeschränkte Beachtung. Angesichts der Ereignisse in jüngster Vergangenheit war er nicht gewillt, sich wie früher unterzuordnen. Waren seine Erwartungen zu hoch gewesen, als er dem Ort entgegenging? Dieser versuchte sich im vorhandenen Mangel einzurichten, Abstand zu gewinnen von den Ereignissen, die geschehen waren. Abends saß man vor den Volksempfängern, hörte Rudi Schuricke zu mit seinen Caprifischern, auch Zarah Leander und Lale Andersen ließen sich wieder hören, und was sonst noch an Überbleibseln von früher aus dem Kasten kam. Sie redeten, wenn sie sich trafen oder zusammensaßen, über die wertlos gewordene Reichsmark, über die Schwarzmarktpreise – für eine Packung Amizigaretten musste man schon fünfzig Reichsmark hinblättern -, erboste sich über die kümmerlichen Lebensmittelzuteilungen auf den Lebensmittelkarten, über die Bauern auf dem Lande, die es sich leisten konnten, wie die Made im Speck zu leben, die ihre Schweine schwarz schlachteten und von keinem Hunger gequält wurden. Man schimpfte über das Hühnerfutter, das die hochnäsigen Amis über den großen Teich geschickt hatten, um dem besiegten Land unter die Arme zu greifen, die Dreistigkeit der alliierten Sieger, die in unserem Land schalten und walten konnten, wie sie wollten, das Land noch weiter ruinierten, indem sie unsere Fabriken als Kriegsbeute demontierten und in ihren Ländern wieder aufbauten. Konnte er teilnehmen an diesen Gesprächen? Als er unterwegs gewesen war, hätte er es sich nicht vorstellen können. Es wäre ihm zu wenig gewe- 25 sen. Er wünschte sich, wieder unterwegs zu sein, voll Erwartung auf das Kommende, das Ziel vor Augen aber noch nicht erreicht. Augenblicke, die das Unterwegssein beflügelten und nur im Unterwegssein wahrgenommen werden konnten. „Das ist das Wesen von Glück“, hatte er irgendwo gelesen, „dass wir erst wissen, wie glücklich wir waren, wenn es schon vorüber ist“. Wie konnte er sich der anrückenden Kolonnen der Worte und Bilder erwehren? Vergebens seine Versuche, Ordnung zu schaffen, sie ließen sich nicht sortieren. Doch der Ort hielt ein Angebot bereit, ein Hilfsmittel, das Beistand versprach gegen die lähmende Tatenlosigkeit und alles zu glätten schien. Er kam nicht umhin, es auszuprobieren. Er konnte mithalten mit seinen Kumpanen, wenn das Gläschen mit dem selbst gebrannten Kornschnaps die Runde machte. Was konnte man sonst tun, als sich dem Getränk zu unterwerfen? Der Fusel war sogar trinkbar. Einige hatten sich Fertigkeiten im Schnapsbrennen angeeignet. Not macht erfinderisch. Korn zum Brennen besorgten sie sich bei den Landwirten der Umgebung, auch wenn diese ihrem Ablieferungssoll an Getreide nachkommen mussten. Es ließ sich immer noch etwas abzweigen. Er wollte seinen Kumpanen in nichts nachstehen. Näherte sich ihm nach den ersten Gläschen, Freundschaft heuchelnd, die Trunkenheit, fürchtete er auch schon das kommende Emporsteigen aus der Dumpfheit des Rausches, die sich unerbittlich nähernde Nüchternheit, die Erkenntnis, dass sich nichts ändern würde an seinen Nöten und die mit Galgenhumor dem zusieht, der längst die Vergeblichkeit dieser Flucht nach vorne durchschaut hat. Was half es ihm, weiter zu trinken, bis ihm das Gläschen entglitt, er es umstieß, und die kleine Lache Kornfusel sich über die Tischplatte ergoss. Der gute Freund Alkohol würde sich hohnlachend davonmachen, während er schnarchend und nach Luft schnappend in seinem Sessel hing, würde ihn allein lassen mit seiner Übelkeit und seinen Kopfschmerzen und der Erkenntnis, dass alles beim Alten geblieben war. Für ihn und seine Kumpane war der Aufenthalt im Lokal wie das Warten in einem Wartesaal, mit dem Unterschied, dass man in einem Wartesaal 26 noch auf einen Zug warten konnte, aber hier war nichts zu erwarten, es gab nur noch für sie die träge dahinfließende Zeit, die nichts mehr zu bringen schien. Sollte man Hoffnung schöpfen aus dem angekündigten neuen Geld? Würde es die Zeit aufmuntern, oder war ihm gegenüber Skepsis angesagt? Die Gesprächsthemen über die neue Währung verdrängten die schon abgegriffenen alten Klagen über die Arroganz der Siegermächte. Die Zeit bekam wieder Fahrt. Neue Worte tauchten auf, drängten sich auch in seine Nachtgedanken. Trümmerfrauen. Das Wort ließ aufhorchen. Man konnte über sie in der Zeitung lesen, im Volksempfänger hören. Wie sie tatkräftig anpackten, den Mörtel von den Trümmersteinen klopften, sich diese in langer Reihe zureichten und aufschichteten. Viele warteten noch auf ihre Männer, wobei Unzählige der Heimgekehrten, gebeutelt von der jüngsten Vergangenheit, noch in Lethargie verharrten. Ein Wunder war geschehen. Dem auf dem Rücken liegenden Käfer war es gelungen, sich umzuwälzen, wieder auf die Beine zu kommen und sicher zu stehen. Dem Land gelang es, sich allmählich aufzurichten und die Leere wieder in Hoffnung zu verwandeln. Die alte Tatkraft, die alte Energie belebten sich, sie ließen sich wieder erwecken. Man behielt klammheimlich diese Tatsache für sich, niemand durfte merken, dass man etwas im Schilde führte. Man tat ganz harmlos, noch nie war man anders gewesen als harmlos, noch nie konnte man ein Wässerlein trüben. Nicht an die Vergangenheit rühren. Arbeiten, arbeiten, arbeiten, man schielte zur Seite, ob die anderen nichts bemerkt hatten, begriff, dass sie einen gewähren ließen. So war es. Immer stärker brach sich die alte Tatkraft Bahn. Die Macher, die Strategen, die Präzisionisten – in Russland hatten sie sich bewährt – waren plötzlich wieder da. Nichts war endgültig untergegangen, man hatte das Inferno überlebt. Man spannte jetzt die Muskeln, sprengte alle Fesseln in unwiderstehlicher Tatkraft. Wir werden es den anderen zeigen, denen nichts anderes übrigblieb, als mit offenen Mäulern zuzuschauen. Dostojewski, so berichtet der Historiker Golo Mann, habe nie besser gearbeitet als nach seinen Orgien am Spieltisch. „Von den Deutschen gilt Ähnliches. Sie arbeiteten nie erfolgreicher als nach ihren Kriegen, nie erfolgreicher 27 als nach Hitlers Krieg – der unheimliche Fleiß eines Volkes, das nach dem Zusammenbruch eine neue Selbstbestätigung suchte.“ Die Vergangenheit verlor ihren Schrecken, auch für die trinkfesten Männer des selbstgebrannten Kornschnapses, die sich einstellten auf die neuen Verhältnisse. Nur einer von ihnen begann unter der Gegenwart zu leiden, wollte sich nicht einlassen, wollte nicht aufspringen auf die immer schneller dahinfließende Zeit, gefiel sich in der Rolle des Betrachters der Gegenwart, deren Tempo ihm zuwider war. Manchmal drangen die Liedzeilen des summenden Marschierers in seine Nachtgedanken: „Einmal möcht ich morgens liegen bleiben, einmal nur im Bett die Zeit verträumen, einmal möcht ich leben, wie ich leben möchte.“ Und eine stille Wehmut machte ihm zu schaffen. So lebte er dahin. 28 Goldene Hochzeit Ute-Christine Klehe „Mehl, Eier, Butter, Salz.“ Natürlich oblag es ihr, alles zu organisieren. Und natürlich hatte sie alles organisiert, das Restaurant, das Essen, ganz unter Jürgens Finanzaufsicht, die Gästeliste, einschließlich der großen Brut von Jürgens Verwandten und Anverwandten und der verhassten Schwägerin – denn so spät im Leben sollte man sich nicht noch weiter entzweien. Es würde ein schöner Tag im Mai werden, so wie damals vor 50 Jahren, als der Flieder blühte und sie beide nur mit ihrer Schwester und Mutter als Trauzeugen zum Standesamt gelaufen waren. Seine Familie ertrug die Vorstellung nicht, er würde ‚eine von denen‘ heiraten, Flüchtlingskind und – schlimmer noch – Protestantin. Aber das war lange her. „Hilde, wo sind meine Hosenträger?“, rief er aus dem Schlafzimmer. Wie das bei älteren Herren so ist, wenn sie ihre Form verlieren. „Und Hemden hab ich auch keine mehr.“ „Liegen auf dem Bügelbrett“, seufzte sie, wissend, dass er sie aus der Küche nicht hören würde. Sie wusch sich das Mehl von den Händen, trocknete sie ab und ging in die Stube, ihm ein Hemd zu holen. „Warum räumst du sie nicht gleich weg, wenn du mit dem Bügeln fertig bist?“, fragte er. Sie sagte nichts. 50 Jahre. 52 Jahre, seit sie sich kennengelernt hatten. Damals wären sie so gerne nach Paris gefahren, als Hochzeitsreise, aber sie hatten kein Geld. Heute war es schwer, Jürgen überhaupt dazu zu bewegen, aus dem Haus zu gehen. Er war rund geworden. Und schwer. Tiefe Riefen durchstreiften seine Stirn wie Furchen einen Acker, doch das Haar war noch stets sauber nach hinten gekämmt. Dünner und weiß, die Kopfhaut sichtbar. Er sah nicht mehr gut und sah auch nicht gut aus. Und plötzlich war er ihr fremd, saß 29 auf seinem Bett wie hinter einer Glaswand in einer anderen Welt. Der ganze Raum war ihr mit einem Mal fremd. Das zweiteilige Ehebett, dazu bestimmt, eines Tages in der Mitte getrennt zu werden, dann, wenn einer von ihnen nicht mehr war, das handgeschnitzte Kreuz über dem Bettkopf – das kam noch aus seiner Jugendzeit –, die Dosen und Schachteln mit Tabletten auf dem Nachttisch, neben dem Foto des gemeinsamen Sohnes, vor zwei Jahren mit dem Motorrad gestürzt. Ohne Hilde würde Jürgen nicht überleben. Das wusste sie. Aber lebte er denn mit ihr? „Ich muss den Kuchen fertig backen“, sagte sie und erlaubte dem Raum, sie auszustoßen in Richtung Küche. Den Kuchen fertig backen und gehen. Eigenes Geld hatte sie nicht. Sie könnte zu ihrer Schwester ziehen, wenn die sie aufnähme. Oder die Scheidung beantragen – aber das wäre zu grausam. Das musste sie ihm dann doch nicht antun. Nein, sie würde einfach gehen. Ihre Finger gruben sich wieder in den Teig, während vor ihrem inneren Auge ein Plan erschien, als wäre er immer schon da gewesen. Manche Restaurants verlangen eine Vorauszahlung vor dem großen Fest. Auch das Auto könnte sie nehmen – war eh auf ihren Namen zugelassen. Ihre kleine Rente würde sie auf ein anderes Konto überweisen lassen. Das allein ergäbe genug Geld für das erste und vielleicht auch für das zweite Jahr. Sie würde nach Paris fahren und dann einmal die Loire entlang. „Du hast den Zucker vergessen“, stellte sie fest, als der Kuchen schon im Ofen war. 30 Die Säge verstummt. Nun höre ich Kraniche jenseits der Wolken. Carla Bayer-Cornelius 31 Die Straßenbilder aus Kreide aquarelliert der Frühlingsregen. Carla Bayer-Cornelius 32 Telefonmasten in grenzenloser Weite einer Schneelandschaft. Carla Bayer-Cornelius 33
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