1 DEUTSCHLANDFUNK Redaktion Hintergrund Kultur / Hörspiel Redaktion: Tina Klopp Feature Willkommen in der Gegenwart Frauen und Migranten retten das Theater Von Jenny Hoch Produktion: DLF 2015 Sprecherin: Eva Meckbach Sprecher 1 Overvoice: Maximilian Held Sprecherin 2 Overvoice: Nina Ernst Regie: Friederike Wigger Produktion: Mo, 17.08. bis Do, 20.08.2015 – Studio 6 - Dkultur Berlin – 09:30-17:00 Uhr Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © - unkorrigiertes Exemplar Sendung: Freitag, 21. August 2015, 20.10 - 21.00 Uhr 2 01. Inszenierungsausschnitt „Der Kirschgarten“/Gorki, Gutsherrin Ransjewskaja „Meine Jugend, meine Unschuld. Meine Kindheit, meine Träume. In diesem Zimmer habe ich gespielt. Durch dieses Fenster in den Garten gesehen und jeden Morgen wachte das Glück mit mir auf. Der Garten sah genauso aus wie jetzt. Nichts hat sich verändert. Weiß. Weiß.“ 02. O-Ton Björn Bicker „Wir sind Elite, wir machen Elitenkunst und das soll auch so bleiben.“ 03. Inszenierungsausschnitt „Der Kirschgarten“, Chor „Am Brunnen vor dem Tore, da steht ein Lindenbaum. Ich träumt’ in seinem Schatten so manchen süßen Traum. Ich schnitz’ in seine Rinde so manches liebe Wort. Es zog in Freud und Leiden zu ihm mich immer fort. Die alten Winde……“ Ansage Willkommen in der Gegenwart Frauen und Migranten retten das Theater Ein Feature von Jenny Hoch Inszenierungsausschnitt „Der Kirschgarten“, Chor geht weiter ….du fändest Ruhe dort.“ 04. O-Ton Björn Bicker „Das wird immer vergessen, dass die Hochkulturinstitutionen wie die Münchner Kammerspiele, das die dazu da sind, einer bestimmten bürgerlichen Schicht zu ihrer Identität zu verhelfen. Das sind überschaubare Anzahl von Menschen, acht Prozent, und die treffen sich regelmäßig, um sich zu vergewissern, wir gehören hier rein, und die anderen eben nicht. Die sind da nicht drin. Und das ist die Frage, ob man das gut 3 findet oder ob man das nicht gut findet. Ob das noch zeitgemäß ist. Ob man als bildungsbürgerliche Elite zu einer Art abgeschlossenen Parallelgesellschaft werden will. Neben vielen anderen Minderheiten. Oder, ob man das politische, gesellschaftliche Ideal hat, man möchte sich öffnen und man möchte damit auch seine Identität verändern.“ 05. O-Ton Karin Beier „Das Theater ist nach wie vor, wie soll ich sagen, die Hochburg des Bildungsbürgers.“ 07. Inszenierungsausschnitt „Hausbesuch Europa“, Spielleiter „Hausbesuch Europa ist ein Theaterstück in fünf Levels, im Prinzip. Und es geht dabei am Tisch um euch, um eure Verbindung zueinander und darüber hinaus zu Europa und in die ganze Welt. Und es geht auch darum, wer am Ende wie viel abbekommt von dem Kuchen.“ 06. O-Ton Zuhörerin „Theater und Postkolonialismus „Ich möchte da noch irgendwie eine Erklärung oder auch einen Hoffnungsschimmer. Kann denn das Theater wirklich etwas bewirken?“ 08. Inszenierungsausschnitt „Der Kirschgarten“ „Musik!“ (Schrille orientalische Pfeifen, Trommeln) 09. O-Ton Julia Wissert (in die leise Musik rein) „In den Institutionen wird Theater gemacht für weiße Männer, würd’ ich sagen. Weiße, heterosexuelle Männer.“ 4 10. O-Ton Andras Siebold (in die leise Musik rein) „Ich glaube, niemand geht mehr ins Theater, weil er sich davon eine Auseinandersetzung mit dem Jetzt verspricht.“ 11. O-Ton Zuhörer „Theater und Postkolonialismus“ „Die Machtfrage, wer in diesem Land Theater machen kann und darf, die muss doch gestellt werden!“ 12. O-Ton Julia Wissert (in die leise Musik rein) „Es wird Zeit für eine grundsätzliche Revolution.“ 13. Atmo orientalische Musik laut, hört abrupt auf 14. Atmo Montagehalle 15. O-Ton Malte Jelden „Wir stehen jetzt gerade in der Montagehalle der Münchner Kammerspiele, das ist so bisschen wie der Bauch des Theaters kann man sagen. Von hier aus kommt man in alle wichtigen Werkstätten, in die Schlosserei, in die Schreinerei, man kommt aber auch auf die Hinterbühne, und damit dann auch auf die Bühne...“ Sprecherin: Der Dramaturg Malte Jelden soll zusammen mit Björn Bicker die Münchner Kammerspiele mit einem so genannten Konversionsprojekt offener für Flüchtlinge machen. 5 16. Fortsetzung O-Ton Malte Jelden „Und das Projekt, das wir uns vorgenommen haben, trägt ja den ehrgeizigen Titel „Munich Welcome Theatre“ und will den Versuch unternehmen, das Theater dahingehend zu überprüfen, wie kann es sich langfristig verbinden mit der Realität von geflohenen Menschen hier in München? Wie kann man für, mit, von Geflohenen Theater machen, und zwar nicht nur auf dem Feld der Bühne, sondern in allen Bereichen des Theaters.“ 17. Atmo Schreinerei 18. O-Ton Malte Jelden „Jetzt sind wir hier mitten in der Schreinerei. Natürlich ist es erstmal ganz simpel zu sagen, das ist ja ne Möglichkeit der beruflichen Qualifizierung. Hier könnten junge Menschen, die noch zur Schule gehen oder sich gerade umschauen, könnten sich hier beruflich qualifizieren. Bis hin dazu, dass man Ausbildungsplätze ganz bewusst schaffen kann, zum Beispiel für Menschen, die mit ner Fluchtgeschichte nach München gekommen sind.“ 19. Atmo Schreinerei Hämmern 20. Fortsetzung O-Ton Malte Jelden „Sprache ist das Thema, soziale Teilhabe ist das Thema, aber auch Rechtsberatung und Amtshilfe und all diese Sachen. Für all’ diese Themen gibt’s im Theater lauter Experten. Also wir haben Pädagoginnen hier, wir haben Verwaltungsfachleute hier, wir haben Juristen hier, wir haben Künstler hier, das sind unglaubliche Potenziale.“ 6 Theaterausschnitt Gstanzl Gesang Akzent 21. O-Ton Björn Bicker „Das, was wir tun wird immer sozusagen abgetan als Sozialarbeit, wenn es gut läuft, als politische Arbeit. Da geht’s im marxistischen Sinne um Mittel und Verteilungen. Wer die Produktionsmittel hat, der hat die Macht. Was ist denn heutzutage das Kerngeschäft der Theater und könnte man das nicht ganz anders definieren? Wenn man, sozusagen, Partizipation und Teilhabe, wenn man das ernst nähme? Vor allem im Hinblick darauf, dass wir mit einer Gesellschaft konfrontiert sind, wo es so etwas wie Mehrheitsgesellschaft oder Leitkultur eigentlich gar nicht mehr gibt, und sich die Mehrheit aus vielen Minderheiten zusammensetzt. Ich habe genau das jetzt erlebt, bei einer Diskussion beim Deutschen Bühnenverein, wo ich darüber gesprochen habe, was ist das Kerngeschäft der Theater? In der anschließenden Diskussion ist ein Leiter eines großen 5-Sparten-Theaters aufgestanden und hat gesagt: Wir sind Elite, wir machen Elitenkunst und das soll auch so bleiben.“ Sprecherin: Björn Bicker betreut Theater-Projekte als Dramaturg und Autor. Mit dem Minderheiten-Mehrheiten-Diskurs beschäftigt er sich jetzt seit mehr als zehn Jahren. 22. O-Ton Björn Bicker „Alle wollen jetzt Theater machen mit Geflohenen und es gibt Projekte ohne Ende. Aber du kommst ganz schnell an den Punkt, dass du merkst, du kannst deinen normalen Stiefel gar nicht so weitermachen. Weil die Leute haben basic needs, die müssen irgendwo wohnen, die müssen arbeiten, die müssen irgendwie an der Gesellschaft teilhaben. Sprich, du musst, wenn du künstlerisch arbeitest, dich auch um solche Themen kümmern. Und dann plötzlich wird die Frage von Seiten der Geflohenen gestellt, ja ,was macht ihr denn? Für wen sprecht ihr denn? Ihr könnt doch gar nicht für uns sprechen!“ 7 Gstanzl Gesang Akzent Sprecherin: Der Chef von Björn Bicker und Malte Jelden heißt Matthias Lilienthal. Er ist der neue Intendant der Münchner Kammerspiele und mit ihm soll alles anders werden: kleines statt großes Ensemble. Junge statt alte Regisseure. Freie Gruppen statt gediegener Klassikerinszenierungen. Internationalität statt Nabelschau. Eng angeschlossen an das Theater wird außerdem die Flüchtlings-Initiative Bellevue de Monaco. 23. Atmo Müllerstraße 24. O-Ton Matthias Lilienthal „Bellevue de Monaco kam zustande, ich hatte angefangen, als ich mich mit der Stadt auseinandergesetzt habe, über das Thema Mieten zu arbeiten. Und habe damals mit einem Journalisten von der „Süddeutschen Zeitung“, Alex Rühle, sehr viel geredet. Der hat dann im Juni letzten Jahres mich angerufen und gesagt: Komm’ doch mal mit, guck’ dir doch mal drei Häuser an, die Stadt will die abreißen, aber wir finden, dass soll ein Flüchtlingshaus werden. Das sind drei Fünfziger-Jahre-Häuser mit einem großen Fahrradladen und einem Tuchlager hintendran, wir sind 300 Meter vom Viktualienmarkt entfernt, also in der Mitte der Stadt, und das ist eigentlich das große Motiv, dass man sagt, das eine Flüchtlingsunterbringung nicht irgendwo in der Peripherie, sondern bei diesen hohen Münchner Mietpreisen in der Mitte der Stadt, und dass wir auch versuchen, so was wie ein gläsernes Flüchtlingshaus zu machen, also dass wir systematisch auch versuchen, Begegnungen aus der Stadt und der Hausbewohner in einer organisierten Form mit Schutz der Bewohner möglich zu machen.“ 25. Atmo Treppenhaus Schritte Treppenhaus „Hallo.....“ 8 26. O-Ton Lilienthal „Hier sind vom Sozialreferat schon Flüchtlinge einquartiert, die sollen auch hier wohnen bleiben. Eigentlich ist die Geste, dass so wie große Konzerne ihre Mitarbeiter begrüßen, das mit der gleichen Freundlichkeit versucht die Stadt, die Geflüchteten zu begrüßen. Stadttheater ist immer ne sehr deutsche Institution im Gegensatz zum Rest der Gesellschaft, und genau das ein bisschen durcheinanderzubringen wäre der Ansatz.“ 27. Atmo Wohnung Sprecherin: Anders als ein Politiker muss Matthias Lilienthal nicht von den Bürgern gewählt werden. Er hat seinen Intendanten-Posten bereits sicher. Trotzdem geht er auf Ochsentour. Er besucht Münchner zu Hause und stellt sich und seinen Spielplan vor. Er will die Bürger von seiner Idee eines offenen Stadttheaters, das die Grenzen der herkömmlichen Bühne sprengt, überzeugen. 28. O-Ton Lilienthal „Das ist so zwischen Tupperware-Party und einfachem Diskurs-Herstellen und Räume für öffentlichen Streit Installieren, ich glaube, da kann München auch noch ein bisschen zulegen. Ich bin ein populistischer Charmeur und versuche, sehr auf die Menschen zuzugehen.“ 29. Atmo Wohnung 9 Sprecherin: Eine WG in München-Haidhausen. Zu Gast sind etwa 15 Freunde und Nachbarn. Alle quetschen sich ins Schlafzimmer der Gastgeberin. Es gibt Oliven, Hummus und Käsestangen. Matthias Lilienthal trägt ein rotes T-Shirt, die Ärmel hat er bis zu den Schultern hochgekrempelt. 30. O-Ton Matthias Lilienthal „Von Shabbyshabby Appartments habt ihr schon was gehört, oder? Das war ja relativ fett in der Presse drin.“ Sprecherin: Er erläutert die Kunstaktion „Shabbyshabby Apartments“. Gemeinsam mit dem Architekturkollektiv Raumlaborberlin will er auf die Wohnungsnot in München aufmerksam machen. Wer ein Ticket ergattert, kann in einer der temporären Behausungen im Park oder mitten auf der Straße übernachten. Frühstück gibt’s in der Theaterkantine. 31. Fortsetzung O-Ton Matthias Lilienthal „Natürlich spielt für mich auch ne Rolle, dass es den Performancebegriff anders stellt. Das ist jetzt trotzdem für mich Theater. Trotzdem da keine Bühne ist und keine Schauspieler, keine Performer. Es passiert, außer dass ihr da pennt, passiert da nichts. Aber ich verspreche trotzdem, dass viel passiert. Im Theater fangen wir dann an mit Nicolas Stemann. Nicolas Stemann ist ein Regisseur, der in den späten Neunziger Jahren und den Nullerjahren extrem berühmt geworden ist mit der Aufführung von Elfriede Jelinek-Texten.“ Sprecherin: Das Sofa ist unter der Last der Besucher zusammengebrochen. (es knallt), „Oh! Ah!“, (alle lachen) „Jetzt brauchen wir ne Tischlerei. Schon öfter passiert?“ 10 Sprecherin: Außerdem hat Matthias Lilienthal den libanesischen Künstler Rabih Mroué nach München geholt, der mit seiner Performance „Ode to Joy“ einen persönlichen Blick auf die Konflikte im Nahen Osten wirft. 32. Fortsetzung O-Ton Matthias Lilienthal „Ich habe Lust, die Münchner zu ein bisschen Internationalität zu verführen. Das Bildungsniveau in Beirut im Mittelstand und in der Oberschicht ist deutlich höher als in Deutschland. In Beirut kann die Mittelschicht und die Oberschicht Französisch, Arabisch und Englisch perfekt in Schrift und Sprache. Davon bin ich Dutzende Kilometer entfernt. In einem Diskurs zwischen Beirut und München würde mich auch wirklich interessieren, dass Beirut einfach die glamourösere Stadt ist als München und dass viele Klischees, die wir im Kopf davon haben, einfach Blödsinn sind. Und Glamour liegt mir ja am Herzen...Vielen, vielen Dank!“ „Wir danken...“ (Applaus) Sprecherin: Eine andere Wohnung. 33. Inszenierungsausschnitt „Hausbesuch Europa“ (Geräusch Maschine, Musik, Lachen, Zettel abreißen) „Wir befinden uns jetzt in Level 1, 1951 wird an einem Tisch die Montanunion gegründet, der Vertrag über die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl wird von Frankreich, Italien, Belgien, den Niederlanden, Luxemburg und der BRD unterzeichnet...“ 34. Atmo Hausbesuch Europa 11 Sprecherin: Auf der Theaterkarte für „Hausbesuch Europa“ von Rimini Protokoll steht anstelle der Nummer eines Sitzplatzes die Adresse einer Wohnung in Berlin-Wedding. Circa 16 Zuschauer, die jetzt Mitspieler sind, sitzen um einen langen Tisch. Auf dem Tisch: eine selbstgemalte Karte von Europa, in die die Mitspieler Verbindungslinien eingetragen haben. Linien zwischen Orten, wo sie gelebt haben oder die für sie aus anderen Gründen wichtig sind. Und eine fiepende, ratternde Kiste, die Fragen ausspuckt. Sie müssen reihum beantwortet werden. 35. O-Ton Daniel Wetzel „Grit Schuster ist eine Spieldesignerin, Interactive Game Design heißt das, glaube ich. Die hat zusammen mit weiteren Kollegen diese Kiste entwickelt aus Bauteilen von Elektronikmärkten und so. Es ist praktisch ein zusammengestöpselter Computer. Die sitzen da nach wie vor und löten und programmieren und löten da auf so Platinen rum und machen Sachen, von denen ich dachte, die werden nur in China gemacht. Es ist im Prinzip eine Kombination von Drucker, wie man sie aus Kassenautomaten kennt, dann hat es aber Lautsprecher, dann kommuniziert es mit Steuereinheiten von außen. Ist mit einer Software bespielt, die das Script ist. Das Script besteht eben aus Texten, aus Klängen und aus Algorithmen.“ Sprecherin: Daniel Wetzel ist einer der drei Gründer der freien Theatergruppe Rimini Protokoll 36. Inszenierungsausschnitt „Hausbesuch Europa“ (Alarm/Maschinengeräusch) „Noch eine Frage an den Gastgeber: Über welches politische Thema habt ihr hier zuletzt kontrovers diskutiert?“ „Ich gehe davon aus, dass das letzte Mal über die seit längerem brisante Thema der Flüchtlingspolitik von Europa diskutiert wurde, vor allem im Hinblick darauf, dass seit Kurzem extrem viele Menschen im Mittelmeer ertrunken sind, und das statt darüber zu diskutieren, wie man sie retten kann und wie man sie vielleicht eher nach Europa holen kann, darüber diskutiert wird, wie man Schiffe in Libyen zerstören kann oder wie man das hinkriegt, dass man dort Schiffe zerstören darf“ (Alarm). 12 Sprecherin (über der Spiel-Atmo): Bei Rimini Protokoll ist der Zuschauer nicht passiv, er wird selbst zum Performer. 37. Inszenierungsausschnitt „Hausbesuch Europa“ (Ding, Ding, Ding..) „Ich bitte jetzt alle, für einen Moment die Augen zu schließen, denkt an einen Ort, an dem Europa nicht funktioniert. Ich bestimme, wann es weitergeht.“ (Ding) 38. Inszenierungsausschnitt „Die Schutzbefohlenen“ Song „Wieso jetzt hat der, dieser Ausländer/einen Sitzplatz in der U-Bahn und I net. I net!/Wird man ja wohl nochmal sagen dürfen./Und den stoß ich vom Bahnsteig, bei nächster Gelegenheit stoß ich ihn runter/ Ich stoß ihn vom Bahnsteig. Oh yeah./ Das wird man ja wohl nochmal machen dürfen./ Freiheit kann Gefühl sein./ Freiheit brauchen wir!/“ Sprecherin (über Lied): Nicolas Stemanns Inszenierung von Elfriede Jelinks Stück „Die Schutzbefohlenen“ kam zuerst am Hamburger Thalia-Theater heraus. Inszenierungsausschnitt „Die Schutzbefohlenen“ Song geht weiter 39. O-Ton Nicolas Stemann „Als ich anfing, mich mit diesem Text zu beschäftigen, und ich darüber nachgedacht habe, wie kann ich den umsetzen, war mir relativ schnell klar, dass die Frage, wer da spricht und wer für wen spricht, zentral sein wird in der Findung einer Form der Umsetzung für diesen Text. Relativ schnell bin ich da auf ein interessantes, weil repräsentatives Dilemma gestoßen. Das ist ein Text, wie immer bei Elfriede Jelinek, der in einer hochkomplexen Sprache geschrieben ist. Um diesen Text adäquat auf ner Bühne zu sprechen, braucht man Experten, sprich, man braucht Schauspieler., 13 die mit der deutschen Sprache umgehen können. Und auf der anderen Seite handelt der Text von Flüchtlingen, ganz konkret geht’s um die Flüchtlingsproteste vor zwei Jahren in der Votivkirche, aber das lässt sich natürlich auch ausweiten auf die generellen Flüchtlingsproteste, die es im Moment gibt in Deutschland, auch in anderen Ländern. Da ist immer das zentrale Anliegen der Flüchtlinge, sichtbar zu werden.“ 40. Inszenierungsausschnitt „Die Schutzbefohlenen“, ein Flüchtling „Wir sind da, aber auch wieder nicht da. Wir haben nichts. Tot sind wir auch nicht, noch nicht. Diese Aufgabenteilung ist wichtig. Tot oder leben, jeder muss das Seine leisten. Das sehen wir ein. Das heißt, die einen sind tot, die anderen nicht. Wir noch nicht!“ 41. Fortsetzung O-Ton Nicolas Stemann „Ich glaube, das ist generell die Gefahr von Theater, gerade auch von politischem Theater, dass es sich damit erschöpft. Sich zu einem Thema äußert, die Zuschauer sind unglaublich betroffen, gehen nach Hause, und glauben, sie haben jetzt schon was getan, weil sie sich im Theater mit diesem Thema irgendwie haben berieseln lassen und denken, jetzt sind sie ein besserer Mensch, aber das stimmt natürlich gar nicht, weil die Probleme nach wie vor ungelöst sind. Diesen Ausweg wollte ich verbauen mit dieser Inszenierung.“ Sprecherin: Stemann holt Flüchtlinge auf die Bühne, lässt sie einen Teil des Jelinek-Textes sprechen, aber auch eigene Anliegen artikulieren. Drei professionelle Schauspieler sprechen den Rest in verteilten Rollen. 42. Inszenierungsausschnitt „Die Schutzbefohlenen“, Flüchtling auf Französisch, Schauspieler übersetzt 14 „Wir legen uns auf den kalten Kirchenfußboden, aber wir wissen nicht, wo wir morgen sein werden, und übermorgen. Wo? Wo? Wo?/ Wir werden mit böser Rede euer gedenken. Aber das wird euch ganz egal sein, das wissen wir schon. Denn nicht legal sein wird unser Aufenthalt. Das ist überhaupt eurer Lieblingswort: legal, legal, legal: Alle: illegal! Illegal! Illegal!“ (Geschrei). 43. Atmo Diskussionsveranstaltung Postkolonialismus Sprecherin: Die Inszenierung, insbesondere eine Szene, in der sich ein weißer Schauspieler braun anmalt, also Blackfacing betreibt, erhielt viel Beifall, stieß aber auch auf heftige Ablehnung. Zum Beispiel im Rahmen der Diskussionsveranstaltung „Theater und Postkolonialismus“ beim Berliner Theatertreffen, unter anderem mit der Kuratorin Sandrine Mikossé-Aikins. 44. O-Ton Sandrine Mikossé-Aikins, Kuratorin „Das Inszenieren von irgendwas mit Geflüchteten und Geflüchteten auf der Bühne ist für mich keine dekoloniale Theaterarbeit. Also das reicht einfach nicht aus. Ich finde, da muss man nochmal gucken, dass man irgendwie sich daran erinnert, dass es um Strukturen geht einmal. Dass es um Inhalte geht, aber auch um die Analyse der Zeichen und die Geschichte dieser Zeichen. Die da drin vorkommen. Und Blackface ist eben ein solches Zeichen. Und die Fragen, warum es persistiert, ist ne Frage, die ich alleine nicht beantworten kann. Meine Theorie ist, es ist teilweise inzwischen einem Backlash geschuldet, dass jetzt erst recht Blackface gemacht wird, weil es halt thematisiert wird, und weil eben auch vor allem von schwarzen Menschen thematisiert worden ist.“ 45. Inszenierungsausschnitt „Die Lächerliche Finsternis“ „Sehr geehrter Herr Vorsitzender Richter, mein Name ist Ultimo Michael Pussi, und wie Sie wissen, wie ja auch der Presse zu entnehmen war, bin ich ein schwarzer 15 Neger aus Somalia. Der Einfachheit halber spreche ich jetzt deutsch mit Ihnen, bitte, das müssen Sie verstehen, das macht es uns sehr viel einfacher.“ Sprecherin: In „Die Lächerliche Finsternis“ von Wolfram Lotz am Wiener Burgtheater spielt die weiße Schauspielerin Stefanie Reinsperger einen schwarzen Piraten – in breitem Wienerisch. 46. Atmo Diskussion Postkolonialismus 47. O-Ton Azadeh Sharifi „Die Lächerliche Finsternis ist geschrieben von Wolfram Lotz, einem weißen Mann und inszeniert von einem anderen weißen Mann, Dujan David Parizek. Meiner Ansicht nach ist es für ein ausschließlich weißes Publikum gemacht. Denn in der Lächerlichen Finsternis wird das Unvermögen des deutschen Repräsentationstheaters, mit Rassismus und Postkolonialismus, verbandelt. Es wird das N-Wort benutzt, es wird Blackface benutzt, und es wird jeder mögliche Stereotyp über den Anderen erzeugt.“ Sprecherin: Die Kulturwissenschaftlerin Azadeh Sharifi in ihrem Eröffnungsvortrag der Diskussion „Theater und Postkolonialismus“ beim Berliner Theatertreffen. 48. O-Ton Azadeh Sharifi „Natürlich werden die Stereotype verwendet, um sie zu dekonstruieren und damit zu entlarven, nur kann dann in diesem Raum kein Nicht-Weißer, kein NichtHeterosexueller, kein Nicht-Westeuropäischer Mensch anwesend sein.“ 16 49. Theateraufführung Urwaldgeräusche aus „Die Lächerliche Finsternis“ (eventl. im Loop unter den folgenden O-Tönen) 50. O-Ton Andras Siebold „Jedes Theater hat jetzt gerade sein Flüchtlingsprojekt und sein Migrantenstadl drin und sein religionsverbindenden Abend und so weiter. Aber die Spielpläne werden trotzdem immer reaktionärer. Sprecherin: Andras Siebold, Leiter des Internationalen Sommerfestivals auf Kampnagel in Hamburg. O-ton Siebold: Erst mal müssten die Leute, die in den Theatern arbeiten sich selbst mit den Themen beschäftigen. Regisseure, Leiter, Dramaturgen, die müssten anfangen, ihren Horizont zu erweitern und sich mit anderen Themen, Texten auseinandersetzen. Das passiert einfach nicht. Das wird singulär am Rand gemacht, und wenn man dann mal einen Essay liest über Postkolonialismus ist das sozusagen Legitimation genug, um ein Themenspecial dafür an einem Abend zu machen. Aber eine konstante Beschäftigung mit anderen Themen, die vielleicht auch dazu führt, dass die Ensembles anders aussehen, die findet einfach nicht statt.“ 51. O-Ton Karin Beier „Was nicht passieren darf, ist, dass man sagt, wir können jetzt keine Weißen schwarze Flüchtlinge spielen lassen. Wir können aber auch keine schwarzen Flüchtlinge nehmen, weil dann heißt es sofort, die werden missbraucht für eine elitäre Kunst. Und das Ergebnis ist dann, wir können überhaupt nichts mehr über Flüchtlinge erzählen, das fänd ich ganz ganz dramatisch, dass man Themen ausklammert, weil man nichts mehr richtig machen kann. Sprecherin: Karin Beier, Intendantin des Hamburger Schauspielhauses 17 O-Ton Karin Beier Das ist jetzt quasi der Aufruf an uns Kulturschaffende oder Künstler, zu sagen, man muss da einfach – was heißt einfach? – man muss riskieren, politisch inkorrekt zu sein. Und man muss es vielleicht auch bewusst tun und man muss sich diesen Diskussionen dann stellen. Das ist sehr unangenehm oft, weil es eher eine Beschimpfung als eine Diskussion ist. Nichtsdestotrotz, das Eisen nicht mehr anzufassen, ist so ungefähr das Falscheste, was man machen kann.“ 52. Inszenierungsausschnitt „Die Lächerliche Finsternis“ Afrikanisch-Bayerischer Gstanzl-Song 53. O-Ton Björn Bicker „Ich kann das total verstehen, dass Leute sich da aufregen und sagen, das wollen wir nicht, weil das genau in dieser Tradition des Nicht-Beschäftigt-Habens steht. Am konkreten Beispiel des Blackfacings, das ist genau wie das Wort Neger, wenn Leute sagen, wir möchten nicht, dass das in Kinderbüchern vorkommt, weil das ein diffamierendes, furchtbares Wort ist. Und dann gibt immer wieder Leute dieser Gesellschaft, von Literaturkritikern bis sonst irgendwas, die das einfach nicht ernst nehmen. Und das ist glaube ich, dass das nicht getan wird, einfach mal hingenommen wird, hat was mit ner mangelnden Empathie-Fähigkeit zu tun, finde ich, in dieser Gesellschaft. Und das wiederum hat damit zu tun, dass diese Diskurse hier nicht geführt worden sind.“ 52. Inszenierungsausschnitt „Die Lächerliche Finsternis“ Afrikanisch-Bayerischer Gstanzl-Song 54. O-Ton Matthias Warstat „Diese spezielle Frage hat, glaube ich, wirklich mit den anderen Einwanderungsoder Zuwanderungsgeschichten zu tun. 18 Sprecherin: Matthias Warstat ist Professor für Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin. O-Ton Matthias Warstat Dass Deutschland eben sehr lange gebraucht hat, sich überhaupt als Zuwanderungsgesellschaft zu begreifen. Eigentlich so wirklich erst seit den Neunziger Jahren.“ Sprecherin: Stattdessen macht sich der ein Journalist Matthias Heine in der Tageszeitung „Die Welt“ anlässlich der Diskussion über die Intendanten-Nachfolge an der Berliner Volksbühne über vermeintliches Randgruppentheater lustig - Zitat: „Wenn die Hauptstadt irgendwas nicht dringend braucht, ist es noch eine weitere Bühne, auf der einbeinige albanische Transgender-Performer die Verbrechen der Deutschen im Hererokrieg nachtanzen.“ 55. O-Ton Matthias Warstat „Ein anderer Grund ist, auch diese Wurzeln im 18. Jahrhundert, die so stark verknüpft sind mit der Idee eines Nationaltheaters. Also dieses bürgerliche Theaterprojekt war gleichzeitig ein Nationaltheaterprojekt. Diese Bindung an Stücke deutscher Sprache ist dann doch konstant ziemlich wichtig geblieben und wird noch heute oft verwendet, um, ich weiß nicht, ob man das so formulieren kann, um es jetzt zum Beispiel türkischstämmigen Bewerbern an Schauspielschulen nicht gerade leicht zu machen. Es wird dann gesagt: Ja kannst du überhaupt das deutschsprachige Repertoire spielen?“ Chor im „Kirschgarten“ Akzent 19 56. O-Ton Andras Siebold „Es gibt ein großes Bedürfnis nach klassischer Theaterkultur. Nach Stücken, Literatur des 19. Jahrhunderts, Romanbearbeitungen und so weiter. Ich finde zum Beispiel, dass einer, der das am konsequentesten macht, Claus Peymann ist, den ich total super finde mit dem BE, weil er sich überhaupt nicht verbiegt, sondern sehr konsequent in eine Richtung Theater macht. Und ich glaube, es gibt dafür ein großes Publikum, das sich Theater als ein Medium von früher wünscht. Ich finde, es ist auch nichts gegen zu sagen, dass es Museen gibt, die sich auf das 17., 18. Jahrhundert spezialisiert haben. Nur ich finde, es gibt da ein Problem, wo Museen sozusagen so tun, als würden sie eigentlich aus dem Jetzt heraus operieren, aber im Prinzip sich mit dem 18. und 19. Jahrhundert beschäftigen.“ 57. Inszenierungsausschnitt „Der Kirschgarten“, im Chor „Am Brunnen vor dem Tore, da steht ein Lindenbaum. Ich träumt’ in seinem Schatten so manchen süßen Traum. Ich schnitz’ in seine Rinde so manches liebe Wort. Es zog in Freud und Leiden zu ihm mich immer fort.“ Sprecherin: über Chor Die Schauspieler singen dieses Lied in Nurkan Erpulats Gastarbeiter-Version von Anton Tschechows „Der Kirschgarten“. Mit dieser Inszenierung eröffnete das Berliner Gorki Theater unter der neuen Intendantin Shermin Langhoff. 58. O-Ton Hortensia Völckers „Deshalb haben wir als Kulturstiftung des Bundes schon vor acht Jahren Programme angeboten: „Heimspiel“, „Wanderlust“, „Doppelpass“. Sprecherin: Hortensia Völckers ist die Künstlerische Direktorin der Kulturstiftung des Bundes. 20 59. Hortensia Völckers „Bis zu 20 Millionen haben wir da verteilen dürfen, und die Theater eingeladen, erstmal sich zu bewerben. Das war nicht so ganz einfach, weil man das nicht so machte früher. Auch mal abgelehnt werden, dass war dann auch für Intendanten ein kurioser Vorgang. Und da ging es bei dem „Heimspiel“, ich erwähne das, weil es ein gutes Darstellungsobjekt ist, dass man neue Publikumsschichten mit neuen Themen finden sollte. Also rausgehen und aus dem Theater raus, hören, was passiert da eigentlich gerade? Das Theater war immer ein bisschen hinterher, weil es eben so schwerfällig ist. Das ist ja ein sehr hierarchisches System und die werden sich auch nur ändern unter Druck, wenn keiner mehr kommt. Das ist immer so. Das ist auch in der Schule so, wie die sich verändert. Das ist in der Politik so.“ 60. Inszenierungsausschnitt „Der Kirschgarten“ 2. Strophe im Chor orientalisch moduliert „Ich mußt’ auch heute wandern vorbei in tiefer Nacht,(orientalisch moduliert)/ da hab’ ich noch im Dunkeln die Augen zugemacht.(orientalisch moduliert)/Und seine Zweige rauschten, als riefen sie mir zu(orientalisch)/Komm her zu mir, Geselle, hier find’st du deine Ruh!“ Sprecherin Laut Deutschem Bühnenverein gibt es 142 öffentlich getragene Theater in Deutschland. Aber nur 18 werden von Frauen geleitet. Das Berliner Gorki Theater ist deutschlandweit das erste Theater, das von einer Frau geleitet wird, die aus der Türkei stammt und ein sogenanntes „postmigrantisches Ensemble“ hat. Chor steht frei 61. O-Ton Matthias Warstat „Es ist auf jeden Fall mal ein Theater das mit Themen beschäftigt ist, die mit der Zuwanderung zu tun haben. Auch wenn es jetzt gelungen ist, am Maxim Gorki Theater, dieses Spektrum zu erweitern hin zu der Frage: Wie muss ein deutsches 21 Theater aussehen, das den Realitäten dieser Zuwanderungsgesellschaft, dieser ganzen kulturellen Diversität gerecht wird? Auch, dass es ein Theater ist, das sich nicht einem bestimmten Einwanderungsmilieu zuordnen lassen will, sondern, wo darauf Wert gelegt wird, dass es um vielfältige Identitäten geht, PatchworkIdentitäten geht, so dass diese Vorsilbe „post“ auch Sinn macht, also es ist kein rein migrantisches Theater, sondern es soll thematisch deutlich darüber hinaus gehen. Es geht darum, über die Gesellschaft als Ganze nachzudenken.“ 62. Atmo Inszenierungsausschnitt „Norouz: Eydi!“, Persischer Gesang, Trommeln Sprecherin : Im Studio R, der Nebenspielstätte des Berliner Gorki Theaters, wird Norouz gefeiert, das persische Neujahr. Im ausverkauften Theater sind mindestens 80 Prozent Iraner. Gesang geht weiter „Norouz: Eydi!“ 63. O-Ton Shermin Langhoff (über Atmo) „Das mag sein, dass das in all der Vielfalt stattfindet, es ist genauso sexy und cool, wie weiß zu sein oder deutsch zu sein... Sprecherin: Shermin Langhoff, Intendantin des Berliner Gorki Theaters, dem Theater des Jahres 2015. 64. O-Ton Shermin Langhoff Was wir nicht vorhaben, ist ne Reproduktion des Exotistischen oder des Erotischen, das dann zu finden ist in dem anderen. Insofern geht’s weder um die so genannten Reichtümer und Bereicherungen, eine Diskurssprache die ja auch teilweise, in der Politik vor allem, gepflegt wird, weil auch die entspringt einem berechnenden und 22 kalkulierenden Wertesystem. Was machen wir, wenn die so genannten „Anderen“ weniger Bruttosozialprodukt einbringen, als sie verbrauchen? Also wenn sie nicht mehr so wertzuschätzen sind für diese Gesellschaft? Es gibt ein großes Interesse von jungen Menschen, die sehr große Identifikationsmomente zu finden scheinen in den neuen Stückentwicklungen und Fragestellungen hier. Das heißt, wir sind in Berlin unter dem Durchschnitt und liegen bei im Durchschnitt 40 bis 42 Jahren, was schon jung ist. Und wir wissen, dass wir überdurchschnittlich viele Menschen mit anderen Pässen oder mit Eltern mit anderen Pässen haben.“ 65. Ausschnitt aus „Conflict Food“, Gorki (Stimmen, Küchengeräusche) „Zwiebeln, die Zucchini auch alle, Tomaten verteilen wir auch noch, das ist vegetarisch, das Halbe-Halbe, das Fleisch, also wir müssen nur direkt anfangen. Hier ist Salz, ich stelle euch Gewürze und Öl hier in die Mitte, dann können beide Gruppen davon nehmen“ Sprecherin (über Atmo): „Conflict Food“ heißt die interaktive Theater-Kochshow in der Kantine des Gorki. Zuschauer in weißen Schürzen kochen zusammen mit Ensemblemitgliedern und Gästen. Diesmal: persische und syrische Küche mit den Schauspielern Aram Tafreshian und Ayham Majid Agha. 66. Fortsetzung „Conflict Food“ „Es gibt im Iran sehr viele, aber vor allem zwei verschiedene Arten, Reis zu kochen.“ 67. O-Ton Olga Grjasnowa „Andere Länder, andere Küchen. Ich glaube, es ist immer ein ganz guter Zugang zur Kultur überhaupt. Deswegen heißt es auch „Conflict Food“, weil es so viele Konflikte birgt. Zum Beispiel die Geschichte mit Reis, die aserbaidschanische Version und die persische Version, das ist eine riesen große Debatte.“ 23 Sprecherin: Die Schriftstellerin Olga Grjasnowa stammt aus Aiserbaidschan. Sie hat sich die Kochshow „Conflict Food“ ausgedacht. 68. Fortsetzung „Conflict Food“ „Ich zeig’ das in dem anderen Topf, da machen wir jetzt den Reis, vorsichtig wieder rein (Kochgeräusche). Also wir schalten runter beim Reis, wenn die Kartoffeln so... Machen den Reis vorsichtig rein, bisschen vorsichtiger als ich jetzt gerade. (Geräusche). Machen so einen kleinen Berg. Dann machen wir Löcher rein. Bisschen Butter, und zwar bisschen verteilt. Können wir am Schluss, wenn der Reis fertig ist, bisschen umrühren.“ 69. Fortsetzung O-Ton Olga Grjasnowa „Ich meine, das Essen ist wirklich gut, aber es wird zu einer nationalen Sache erklärt, was eigentlich Unsinn ist. Es ist genau wie diese Leitkultur. Es gibt nicht die eine Art zu kochen.“ 70. O-Ton Jens Hillje (Über Koch-Atmo von „Conflict Food“) „Im Fest, im sich gemeinsam Erleben, (gibt es,) in der Unterschiedlichkeit steckt ne große Energie und ne große Freiheit, Sprecherin: Jens Hillje ist Co-Leiter des Gorki Theaters. 71. Fortsetzung O-Ton Jens Hillje „...fast schon ein Vorschein einer möglichen Freiheit, die dann irgendwann auch jenseits des Fests im Leben einer Stadt Einzug hält. In Berlin hat man ja manchmal das Gefühl, dass das tatsächlich ins Leben der Stadt jenseits des Feierns nachts hinübergeht. 10:42 Und ein Aushalten von Konflikten in der heterogenen Gesellschaft kultiviert hat und auch ein Genießen der Differenz und der Vielfalt mit 24 sich bringt. Weil, was man immer wieder vergisst, wenn wir über Diversität und vielfältige Gesellschaft sprechen, das ist eine sehr, sehr anstrengende Gesellschaft. Eine offene Gesellschaft ist eine Gesellschaft, die jeden, jede fordert, Konflikte zu verhandeln, anzugehen, auszusprechen, den anderen aber dabei anzuerkennen und zu respektieren. Das ist ne Aufgabe, die erfordert viel an zivilisatorischem Können von einem heutigen urbanen Stadtbürger.“ 72. Atmo Theaterfoyer 73. O-Ton Autorin/Testperson „Entschuldigung, darf ich Sie mal was fragen? Sie haben hier gerade ‚Die Schutzbefohlenen’ gesehen. Haben Sie Lust, einen kleinen Test mitzumachen?“ „Worum geht’s da?“ „Das ist ein Test im Internet von der Harvard Uni, und da geht’s darum, dass man seine eigene Einstellung zu Rassismus testen kann.“ „Ja gerne, da habe ich ja nichts zu befürchten .“ 74. Atmo Computerklappern 75. O-Ton Testperson (macht den „Impliziten Assoziationstest“) „Yup. Test geht los. Welche Aussage trifft auf Sie am ehesten zu? Ich bevorzuge weiße Menschen stark gegenüber Schwarzen? No way.“ Sprecherin: Im Internet unter implicit.havard.edu findet sich der „Implizite Assoziationstest“ zum Thema Rassismus. Angeblich lassen sich damit Einstellungen gegenüber Menschen mit anderer Hautfarbe ermitteln. 25 76. O-Ton Testperson „So, jetzt steht links schwarze Menschen oder gut. Und rechts weiße Menschen oder schlecht. Also der Test umgedreht. Das ist ein weißer Mensch... Jetzt hätte ich beinahe gut gedrückt. Schrecklich, wundervoll... Ach so, ups...“ Sprecherin: Viele Menschen verschweigen ihre Vorurteile bei Befragungen lieber – oder wissen nicht einmal, dass sie Vorurteile haben. 77. Fortsetzung O-Ton Testperson „So Ergebnis, bitte warten, bitte Leertaste drücken, um fortzufahren... Geschlecht? Männlich. Alter? Na, was sagen wir da mal? Zweiundvierzig. Ethnischer Hintergrund? Europäisch. Oha. Mittlere automatische Bevorzugung von Weißen gegenüber Schwarzen. Auweh. Das hätte ich jetzt nicht gedacht.“ Sprecherin: Das Ganze gibt es auch andersherum, als positiven Rassismus. 78. Atmo Inszenierungsausschnitt „Statue of Loss“ Trommeln, Tiergeräusche, Knistern Sprecherin: „Statue of Loss“ ist ein Stück des Tänzers und Choreografen Faustin Linyekula, das im im Rahmen des Festivals „Return to Sender“ im Berliner HAU gastierte. Im Anschluss an die Aufführung findet eine Publikumsdiskussion statt. 79. Atmo Publikumsdiskussion 26 80. O-Ton Publikumsdiskussion zu „Statue of Loss“ von Faustin Linyekula im HAU (schlechtes Englisch) „I really like your show and what I’m really impressed of was that it’s so intensive, it’s very intense and when you doing the shaking thing. Every cell of your body, every fiber is shaking and äh. I really love that. And I think all the show was very very intensive you really comitted to it. And this is I think special african.“ Sprecherin: Linyekulas Stück ist eine meditative Hommage an die afrikanischen Soldaten, die im Ersten Weltkrieg für Europa gestorben sind. Die Frau lobt überschwänglich seine Intensität als Performer, die ihrer Meinung nach typisch afrikanisch sei. 81. „Statue of Loss“ Gesang in afrikanischer Sprache, Gitarrenbegleitung (intensiver werdend) 82. O-Ton Faustin Linyekula Sprecher 1 overvoice: „Ich bin Afrikaner, und ich bin Künstler, aber ich bin kein afrikanischer Künstler.“ Sprecherin: Faustin Linyekula lebt und arbeitet in Kisangani im Kongo. 83. O-Ton Faustin Linyekula Sprecher 1 overvoice: „Wenn man beides miteinander vermischt, scheint der afrikanische Part mehr Gewicht zu bekommen als der Künstler. Es ist eine Projektion der Zuschauer, zu denken, Energie und Intensität sei typisch afrikanisch. Intensität sollte Teil jeder 27 menschlichen Erfahrung sein. Es wäre doch traurig – für Deutsche, für Europäer, für die ganze Welt – wenn Intensität für Afrikaner reserviert wäre.“ 84. Fortsetzung Atmo/Inszenierungsausschnitt „Statue of Loss“ Gesang in afrikanischer Sprache, Gitarrenbegleitung 85. O-Ton Faustin Linyekula Sprecher overvoice „Europa hat sich immer als Zentrum der Welt gesehen, also musste sich alles auf Europa beziehen. Jetzt ist es an Europa, zu verstehen, dass die Welt sich verändert hat. Wir sind nicht mehr im 19. Jahrhundert, die Zentren haben sich vervielfältigt. Europa muss dass endlich kapieren. Oder ihr Europäer wacht eines Tages auf und es ist zu spät. Manchmal machen mich all diese Klischees über Afrika traurig, aber nicht für mich, sondern für die, die sie immer weitertragen. 86. Atmo Theaterstück „Das Kohlhaas-Prinzip“, Gorki 87. Inszenierungsausschnitt „Das Kohlhaas-Prinzip“, Gorki „Wir sind doch hier alle Teil eines ungerechten Systems, und ich finde, das sollten wir hier mal thematisieren! Das wissen wir alle. Wir sollten aufbegehren! Wir sollten wütend werden! Richtig wütend.“ Sprecherin: „Das Kohlhaas-Prinzip“ von Yael Ronen hatte am Berliner Gorki Theater Premiere. 88. Fortsetzung Inszenierungsausschnitt „Das Kohlhaas-Prinzip“ „Jerry, wenn ich zum Beispiel Jerry wäre, ich wäre so wütend. So als behinderter Schwarzer in Deutschland, na das ist hart.“ „Ich bin am Miniskus...“ „Du bist 28 behindert! Wenigstens bist du kein Jude! Aber trotzdem, der muss doch diskriminiert worden sein, seit er denken kann!“ „Nein, ich wurde nicht diskriminiert...“ „Racial Profiling, der wird an jedem Flughafen rausgezogen und kontrolliert.“ „Ok, das stimmt... ja, das nervt....“ Sprecherin: Die Regisseurin Yael Ronen kommt aus Israel. 89. Fortsetzung Inszenierungsausschnitt „Das Kohlhaas-Prinzip“ „... Ja klar, so wie der aussieht, na klar kriegt der keinen Job und keine Wohnung. Na klar muss er dann irgendwann anfangen, Drogen zu dealen.“ „Hä?“ (Durcheinander).. „zwei Gramm Weißes von Schwarzen, so läuft das doch... Sklaverei. Das ist doch mal ein Themenfeld, das du bearbeiten ... Kolonialismus, Boko Haram, das ist was für dich. Äh, äh, Ebola! Was die Pharmaunternehmen für Milliardengewinne mit seinem Aidsproblem einfahren..“ „Mein Aidsproblem???“ „Jetzt kriegst du diesen afrikanischen...“ (Streit-Gebrüll). 90. O-Ton Yael Ronen: Sprecherin 2 Overvoice „In Israel ist es selbstverständlich, sich durch Humor auszudrücken. Es ist nur hier so, dass Kritiker und Zuschauer in der Vorstellung sitzen und nicht sicher sind, ob sie lachen dürfen oder wie laut sie lachen dürfen. Für mich ist es ganz normal, es gibt keine Hierarchie, auf welche Weise man über ein Thema sprechen darf, egal, wie schmerzvoll, wichtig oder tiefschürfend es ist. Ich finde, man darf Humor immer einsetzen.“ Sprecherin: Mit ihrer Inszenierung „Common Ground“ über den Balkan-Krieg war Yael Ronen zum Theatertreffen eingeladen. Sie hat es zusammen mit Schauspielern aus dem ehemaligen Jugoslawien erarbeitet. Es erzählt deren wahre Geschichten. 29 91. Inszenierungsausschnitt „Common Ground“ „Ich habe sie gefragt, wo sie herkommt.“ Prijedor“ „Scheiße. Mir wird schlecht. Bevor ich hierhergekommen bin, habe ich die Artikel über meinen Vater nochmals gelesen. Mein Vater lebt in Prijedor“ „Ich hab gar keinen Vater, mein Vater ist verschwunden.“ „Scheiße. Ich hab einen Artikel gelesen, in dem steht, dass mein Vater im Konzentrationslager Omarska gearbeitet hat.“ „Mein Vater war Gefangener in Omarska. Meine Hände schwitzen, mein Mund ist trocken. Was für einen schwarzen Humor das Leben hat.“ 92. Sprecherin 2 Overvoice O-Ton Yael Ronen „Das Tolle an „Common Ground“ ist, das es nicht einfach nur ein Stück über den Balkan geworden ist, dass nur Leute von dort interessiert. Jeder fühlt sich angesprochen, weil sich so gut wie in jeder Familiengeschichte Spuren des Kriegs finden.“ 93. Inszenierungsausschnitt „Common Ground“ „Orid setzt sich zu uns, sie versteht nicht wie republica srbska ein Teil von Bosnien sein kann. So how can a country be inside another country? Because it’s one country, Ist a result of the war“ (Durcheinander). 94. O-Ton Shermin Langhoff „Common Ground“ ist ein Stück, wo der Bundespräsident genauso wie ich, genauso wie viele andere Zuschauer, weinen. Das ist ein Stück, das einen sehr berührt, das sehr wirklich tieftraurige Momente hat, wo man ohnmächtig ob der Menschheit werden kann. Und genau in diesem Raum hilft uns Humor, zu verzeihen, hilft uns Humor, zu verstehen, hilft uns Humor, unsere Herzen zu öffnen, gegebenenfalls auch dann, um einen Dolchstoß reinzubekommen.“ 30 95. Atmo „Das Kohlhaas-Prinzip“ Akkorde von Paint it Black.... Sound. 96. Sprecherin 2 overvoice: O-Ton Yael Ronen: Wenn ich Regie führe, vergesse ich meistens, dass ich eine Frau bin. Generell muss ich sagen, dass das nie ein großes Thema in meinem Leben war. Vielleicht, weil ich so aufgewachsen bin, dass es klar war, dass ich es verdiene, dieselben Rechte zu haben wie Männer.“ Sprecherin: „Das Kohlhaas-Prinzip“ ist Yael Ronens aktuelle Inszenierung . 97. Inszenierungsausschnitt „Kohlhaas-Prinzip“ 98. O-Ton Yael Ronen Sprecherin 2 overvoice „Mich interessiert die Frage, die die Novelle aufwirft, geht es Michael Kohlhaas um Gerechtigkeit oder um Rache? Es stellt viele aktuelle Fragen: Sind das Terroristen oder Freiheitskämpfer? Welcher Kampf sollte unterstützt werden? Wie gehen wir mit solchen Konflikten um? Ist deren Brutalität gerechtfertigt? Schließlich passieren ja auch viele Ungerechtigkeiten. Wie sollen wir in so einem Kontext rebellieren?“ Sprecherin: Michael Kohlhaas sei „einer der rechtschaffensten zugleich und entsetzlichsten Menschen seiner Zeit“, heißt es in der Novelle von Heinrich von Kleist. Yael Ronen macht aus dem Pferde- einen politisch korrekten Fahrradhändler. 31 99. Inszenierungsausschnitt „Das Kohlhaas-Prinzip“ „Er trennte sorgfältig seinen Müll, er machte sogar die Pappe vom PlastikJogurtbecher ab. Und warf sie zum Altpapier. Er hatte eine Haftpflichtversicherung und eine Risiko-Lebensversicherung. Er war ein ehrlicher Steuerzahler und strikter Veganer.“ Sprecherin: Ein moderner Wutbürger, der – man kann es so oder so sehen – zum Aktivisten oder Terroristen wird. Und sich damit am Ende auch als Spiegel für den Theaterbesucher selbst anbietet. 100. Inszenierungsausschnitt „Das Kohlhaas-Prinzip“ (treibende Musik) „Am Kampf für Gerechtigkeit kann niemand unbeteiligt sein. Im Angesicht von Unrecht sollte ein freier Bürger revoltieren und protestieren, oder für sein Schweigen zur Verantwortung gezogen werden.“ 101. Inszenierungsausschnitt „Das Kohlhaas-Prinzip“ „Paint it Black“ (Song aggressiv gesungen), Höhepunkt: „...Blaaaack“. ABSAGE Willkommen in der Gegenwart Frauen und Migranten retten das Theater Ein Feature von Jenny Hoch Mit: Karin Beier, Björn Bicker, Olga Grjasnova , Jens Hillje , Malte Jelden, Shermin Langhoff , Matthias Lilienthal, Faustin Linyekula , Sandrine Micossé Aikins , Yael Ronen, Azadeh Sharifi, Andrasch Siebold, Nicolas Stemann, Hortensia Völkers, Mathias Warstadt, Daniel Wetzel, Julia Wissert. Es sprachen: Eva Meckbach, Nina Ernst und Maximilian Held Ton: Andreas Stoffels Regie: Friederike Wigger Redaktion: Tina Klopp Eine Produktion des Deutschlandfunks 2015
© Copyright 2025 ExpyDoc