Land der Freiwilligen

Schaffhauser Nachrichten, Freitag 31. Juli 2015
Land der Freiwilligen
Von Sandro Stoll
Die Höhenfeuer sind aufgeschichtet, die Würste und
Getränke bestellt. Heute Abend werden die Zelte und
Festbänke auf den Platz gefahren, und in dem einen
oder anderen Backofen zu Hause geht noch ein
Kuchen auf. Zehntausende fleissige Hände helfen
mit, die 1.-August-Feiern vorzubereiten. Mitglieder
von Vereinen sind es, zufällig zusammengewürfelte
Helfer und immer auch ein paar Mitglieder des
Gemeinderates.
Der 1. August, unser Nationalfeiertag, ist ein Tag der
Freiwilligen – und zumindest in dieser Hinsicht ein Tag wie jeder andere auch. Denn
freiwilliges Engagement kennt keine arbeitsfreien Tage, für Freiwillige gibt es immer etwas
zu tun. Man denke sich nur einmal all die Vereine und Institutionen weg, die sich für den
Sport, die Kultur, bedürftige Mitmenschen oder die Natur engagieren – die Schweiz wäre ein
ödes Land. Ja nicht einmal etwas zu feiern hätten wir: Ohne Freiwillige gäbe es kein Turn-,
Stadt- oder Quartierfest, und auch ein grosses Festival wie «Stars in Town» fände ohne seine
495 Helferinnen und Helfer nicht statt.
4000 Franken geschenkt
Gemäss einer Studie des Bundesamtes für Statistik aus dem Jahre 2011 gehen rund 33 Prozent
der Bevölkerung mindestens einer institutionalisierten oder informellen Freiwilligenarbeit
nach. Dabei leisten sie geschätzte 640 Millionen Stunden Arbeit pro Jahr – also fast gleich
viel, wie im gesamten Gesundheits- und Sozialwesen gegen Bezahlung gearbeitet wird. Der
gesamtwirtschaftliche Wert ihres freiwilligen Engagements wird auf über 30 Milliarden
Franken veranschlagt. Das heisst, jeder von uns bekommt pro Jahr eine Leistung im Wert von
fast 4000 Franken von den Schweizer Freiwilligen geschenkt. Doch freiwillige Arbeit ist
mehr als nur ein wichtiger Faktor für unsere Lebensqualität, es ist der Kitt, der vieles
zusammenhält. Ehrenamtliches Engagement verbindet Junge und Alte, es schafft Kontakte
zwischen mehr und weniger Privilegierten, und es baut Brücken zwischen unterschiedlichen
Kulturen. Freiwillige dürfen daher mit Recht sagen: Wir sind ein tragender Pfeiler unserer
Gesellschaft.
Bürgernahe Entscheidungen
Anders als in anderen Ländern spielt nebenamtliches Engagement auch in der Schweizer
Politik die zentrale Rolle. Rund 14 000 Gemeinderäte, mindestens ebenso viele
Gemeindeparlamentarier und mehrere Zehn- tausend Mitglieder von Kirchen- und
Schulpflegen halten die gut 2300 Schweizer Gemeinden meist gegen nur geringes Entgelt am
Laufen. Ihr Einsatz garantiert, dass in unserem nach wie vor feingliedrig strukturierten
föderalistischen System viele Entscheidungen vor Ort getroffen werden können – also dort,
wo der Schuh drückt und wo man in aller Regel am besten weiss, was zu tun ist.
Entscheidungen vor Ort sind deshalb die besseren Entscheide, weil sie transparent sind, weil
die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass sie den Interessen der Bürger gerecht werden, und weil
man sie bereitwilliger mitträgt – selbst wenn sie einmal nicht den eigenen Wünschen
entsprechen. Zudem: Wer mitentscheiden kann, ist sich auch bewusst, dass er eine
Mitverantwortung trägt für das, was beschlossen worden ist. Unser von Milizarbeit getragener
Föderalismus ist also die Basis für Identifikation, Engagement und Gemeinsinn und somit –
nebst geordneten wirtschaftlichen Verhältnissen – die wichtigste Komponente für unser
Wohlergehen.
Schwieriges Umfeld
Trotz seiner Bedeutung ist das Schweizer Freiwilligensystem unter Druck. Für Vereine,
Gemeinden und Parteien ist es schwieriger geworden, Leute zu finden, die sich tatkräftig –
und vor allem langfristig – einsetzen wollen. Die Gründe dafür sind vielfältig: Die hohen
Anforderungen in der Arbeitswelt spielen wohl eine Rolle, das laufend vielfältiger werdende
Ablenkungsangebot in der Freizeit auch. Zudem sind für viele Wohn- und Arbeitsort nicht
mehr identisch, was zwar den Fokus öffnet, aber eben auch die Identifikation mit der Welt vor
der eigenen Haustür erschwert. Beim politischen Engagement kommen weitere Erschwernisse
dazu: Früher gab es für ein Amt im Gemeinderat Anerkennung und öffentlichen Respekt.
Heute, so klagen manche Gemeindepolitiker nicht ganz zu Unrecht, ist davon oft nicht mehr
viel zu spüren. Zudem ist die Arbeit für die Mitglieder eines Gemeinderates schwieriger
geworden. Entscheide, die eine Exekutive im Sozial-, Schul- und Bauwesen fällen muss, sind
mit grosser Regelmässigkeit äusserst komplex. Das hat nicht zuletzt mit der zunehmenden
Verrechtlichung und Bürokratisierung zu tun, die vom Bund über die Kantone bis auf die
Gemeindeebene drückt. Ausserdem waren politische und militä- rische Laufbahnen einst
Karriere- beschleuniger, inzwischen dagegen betrachten manche Chefs ein Engagement
zugunsten des Milizsystems eher als unliebsamen Störfaktor im durchrationalisierten
Geschäftsalltag.
Breite öffentliche Debatte nötig
Es ist Zeit, Gegensteuer zu geben. Das Land der Freiwilligen braucht neue Verbündete. Erste
Vorstellungen, wie das Schweizer Milizsystem gestärkt werde könnte, liegen auf dem Tisch.
Andreas Müller etwa, Vizedirektor des Thinktanks «Avenir Suisse», schlägt einen
obligatorischen «Bürgerdienst» vor, also eine allgemeine Dienstpflicht für alle Frauen und
Männer, egal ob In- oder Ausländer. Die Idee, freiwilliges Engagement mit einem
obligatorischen Dienst zu fördern, mutet auf den ersten Blick etwas seltsam an. Ganz abwegig
ist die Idee aber trotzdem nicht. Zweifellos würde ein Bürgerdienst nicht bloss die
Teilnahmefähigkeit am Milizsystem erleichtern, gut möglich wäre es nämlich auch, dass die
eine oder der andere Gefallen an seiner Tätigkeit fände, lange über die eigentliche
Dienstpflicht hinaus. Auch Economiesuisse und der Schweizerische Arbeitgeberverband
haben sich vor Kurzem in die Diskussion eingebracht. Mit einem von über 200 Firmen und
Organisationen unterschriebenen Appell fordern sie die Schweizer Unternehmen auf, ihren
Mitarbeitenden die Vereinbarkeit von beruflicher Tätigkeit und politischem Amt zu
erleichtern. Natürlich muss da der Tatbeweis erst noch erbracht werden, aber immerhin: Die
öffentliche Debatte läuft langsam an.
Den Thinktanks, Politikwissenschaftern und Wirtschaftsverbänden allein sollte man die
Diskussion über freiwilliges Engagement aber nicht überlassen. Wir alle können etwas dafür
tun, eine der wichtigsten Stützen unserer Gesellschaft zu stärken: mit unserem Stimmzettel,
wenn es darum geht, unsere föderalistischen Strukturen zu festigen und zu erhalten, mit
unserem Respekt gegenüber allen, die sich freiwillig in den Dienst der Gesellschaft stellen –
und vor allem auch mit unserer Bereitschaft, da und dort wieder einmal selbst anzupacken.
Freiwilliges Engagement ist mehr als nur ein wichtiger Faktor für unsere Lebensqualität – es
ist der Kitt, der unsere Gesellschaft zusammenhält.