Kopfüber in der MiG-29

AKTUELL | Flugsimulator
Eine westfälische Kleinstadt entwickelt sich
zum Mekka für Fans von
Flugsimulationen. Tobit,
eigentlich ein Spezialist
für KommunikationsSoftware, betreibt dort
vier Simulatoren, die ein
Computerspiel äußerst
realistisch umsetzen.
von Udo Harbers
Kopfüber in der MiG-29
ie Kleinstadt Ahaus am Rande des Münsterlandes ist der westlichste Stützpunkt
der russischen Luftwaffe. Ein kleiner
Tower mitten im Gewerbegebiet markiert den
Standort. Auch die dunkelblauen Positionslichter einer Landebahn gehören zum Ambiente, sie
säumen den Weg zur Airbase. Kaum hat man
die Zugangskontrolle passiert, ist man umgeben
vom geschäftigen Treiben der Piloten, die ihre
letzten Missionen besprechen und sich startklar
machen für den nächsten Auftrag. An der Decke
des Raumes erzeugen Videos die Illusion, dass
startende und landende Maschinen über die
Köpfe der Besucher
donnern. An der Bar
lockt die größte Wodka-Auswahl diesseits
des Kremls.
Dann ist es Zeit für
den eigenen Flug.
Durch die bebenden
Gänge des Luftwaffenstützpunktes geht es zum
Briefing. Ein erfahrener Pilot berichtet, dass
amerikanische F-16-Maschinen in den Luftraum
eingedrungen sind. Es gilt, die Situation schnell
und präzise zu klären. Das Bodenpersonal hilft
den Piloten routiniert in die Kanzel einer MiG29. Der gepolsterte Schulterbügel rastet ein. Der
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Kabinendeckel schließt sich. Die Hände klammern sich um Steuerknüppel und Schubhebel.
Mit 200 Kilo-Newton geht es steil in die Luft.
Airbase in Ahaus
Bei der russischen Enklave handelt es sich natürlich nicht um einen militärischen Irrläufer, sondern um die Simulation eines Luftwaffenstützpunktes. Das Software-Unternehmen Tobit hat
auf seinem Firmengelände in der westfälischen
Kleinstadt ein eigenes Gebäude errichtet, in
dem vier Flugsimulatoren, der „Kerosin Flyer’s
Club“ und die Diskothek „Poveronov“ untergebracht sind. Seit
kurzem ist auf dem Gelände außerdem eine
ausrangierte SU-22 zu
bewundern, die an einer Spezialkonstruktion im „Hangar 23“ über den Parkplätzen hängt.
Das so genannte „Virtual.Aero“ bietet jedoch
nicht einfache Bildschirmplätze für die Flugsimulation, sondern rundum bewegliche Kabinen, die jedes Manöver des Piloten umsetzen.
Fliegt er eine Rechtskurve, neigt sich die Kabine
nach rechts, geht es nach unten, neigt sich das
Gerät nach vorn. Wagt der Pilot einen Looping,
steht die Kabine auf dem Kopf. Die zwei Tonnen
schweren Maschinen ermöglichen endlose Drehungen um 360 Grad sowohl über die Längsals auch über die Querachse. Wenn es sein
muss – und die Piloten es vertragen – mit bis zu
60 Umdrehungen pro Minute.
Die Software, die das Abenteuer in der Luft simuliert, stammt von Eagle Dynamics aus dem
Moskauer Umland. Bei der Simulation geht es
um die Jagd auf feindliche Geschwader oder um
die Bombardierung von Panzern, Flugzeugträgern oder Hafenanlagen. Unter dem Titel „Lock
On“ wird das Programm von der Computerspiel-Firma UbiSoft vertrieben. In Ahaus kommt
eine abgewandelte Version zum Einsatz, mit der
nur das Kampfflugzeug MiG-29 Fulcrum geflogen wird und lediglich vier Missionen mit unterschiedlichen Zielen und Witterungsbedingungen zur Verfügung stehen. Außerdem wurde die
komplizierte Steuerung so stark vereinfacht, dass
auch Anfänger damit zurechtkommen.
Wacklige Knie
Bei der Mission „Point Blank“ hat man es beispielsweise mit einem Geschwader feindlicher
F-16-Jets zu tun. Gerade genießen die Piloten
noch den Ausblick auf die russische Krim unter
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einem strahlend blauen Himmel, als in Richtung
neun Uhr ein kleiner Verband der Gegner auftaucht. Die Maschine schwenkt auf den neuen
Kurs. Der Pilot erhöht den Schub und nimmt
sein Ziel ins Visier. Doch der Co-Pilot entdeckt
einen feindlichen Flieger, der am eigenen Heck
klebt. Er holt die Kameraden aus dem eigenen
Geschwader zu Hilfe. Ein anderes Team ist in einer günstigen Position und holt den Verfolger
vom Himmel.
Die Simulation der Flugmanöver ist äußerst
realistisch. Wer zum ersten Mal fliegt, hat damit
zu kämpfen, die Maschine überhaupt in den
Griff zu bekommen. Steig- und Sinkflüge, Drehungen und Loopings sorgen für wacklige Knie
beim Aussteigen. Das Geschehen am Himmel
wird innerhalb der Kabinen auf die Frontseite
projiziert, Pilot und Co-Pilot sitzen nebeneinander dicht vor der Leinwand. Einer der beiden
steuert, der andere behält die Geschwader im
Blick. Denn die acht Piloten in den vier Flugsimulatoren des Virtual Aero fliegen die Mission
gemeinsam gegen virtuelle Gegner. Zu diesem
Zweck können sich die beiden Insassen einer
Kabine via Headset verständigen und per Knopfdruck Verbindung zu den übrigen Piloten aufnehmen. Ebenfalls per Knopfdruck tauschen
Pilot und Co-Pilot ihre Rollen fließend.
Nach dem zehnminütigen Flug geht es zum
Debriefing. Ein erfahrener Pilot erwartet die acht
Mitglieder des Geschwaders und analysiert ihre
Mission. Dazu stehen ihm bereits ausgewählte
und geschnittene Videobilder zur Verfügung, die
die Software „Lock On“ aufgezeichnet hat. Die
Tipps sind nützlich für die folgenden Missionen.
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Nach dem Flug ist
vor dem Flug
Der Reiz der Flugsimulatoren hat sich herumgesprochen. Jede Woche finden mehr als 2.000
Starts und Landungen statt, an den Wochenenden heben bis zu 500 Piloten ab. Obwohl Tobit
bisher keine nennenswerte Werbung für den Virtual Aero gemacht hat, sind die Geräte Abend für
Abend nahezu ausgebucht. Einzelne Missionen
kann man vor Ort an den Terminals im „Flyer’s
Club“ buchen oder bis zu sieben Tage im voraus
via Internet (www.virtual.aero) reservieren. Eine
Mission dauert eine halbe Stunde, wobei Briefing und Debriefing jeweils zehn Minuten benötigen. Pro Pilot verlangt Tobit 2,50 Euro.
Mit viel Einfallsreichtum hat Tobit den
Virtual Aero zu einer imaginären Airbase ausgebaut. Der „Kerosin Flyer’s
Club“ ist mit Teilen einer MiG-23
des
ungarischen Militärs ausgestattet. Ein präpariertes Triebwerk spuckt von Zeit zu Zeit Feuer. Auf Monitoren an den Wänden
werden die nächsten Missionen aufgerufen. Auf dem Weg zum Briefing geht es
über bebende Gitterböden, das Brummen
der Flugzeugmotoren wird stärker. Mit einfachen elektronischen Bauteilen haben Techniker
von Tobit die Bassfrequenzen der Musik im
„Flyer’s Club“ in Schwingungen gewandelt und
an den Gittern angelegt.
Bleibt die Frage, warum der Software-Hersteller
Tobit einen Flugsimulator betreibt. Doch die
Simulatoren sind eher Nebensache. Tobit will
mit der Airbase zeigen, was die Kommunikations-Software „David V8“ leistet. Dazu ist die
gesamte Airbase zu einem intelligenten Gebäude ausgebaut. Die meiste Rechen-Power steckt
dabei natürlich in den Simulatoren. Ein Rechner
pro Kabine übernimmt allein die Simulation
durch die „Lock On“-Software, die Visualisierung über eine High-End-Grafikkarte und die
Projektion. Ein weiterer Rechner verarbeitet die
Bewegungs- und Beschleunigungsdaten in Echtzeit und steuert so die Motoren. Ein zentraler
Rechner verbindet alle Maschinen und ermöglicht es, dass die Piloten die anderen Maschinen
im Luftraum sehen und jagen können. Sämtliche
Informationen zu den Abläufen, vom Schließen
der Kabinendeckel bis zu den Leistungen der
einzelnen Piloten laufen in „David“ zusammen.
Doch auch das gesamte Ambiente ist elektronisch geregelt. Von der Klimaanlage, die Temperatur und Belüftung des Gebäudes abhängig von
der Anzahl der anwesenden Personen regelt, bis
zur komplexen Steuerung der Simulatoren wird
alles von „David“ kontrolliert. Die Software
steuert das Buchungssystem für die Flüge, kümmert sich um das Musikprogramm im „Flyer’s
Club“, öffnet und schließt die Tresore für die
Wertsachen der Piloten, die während des Flugs
aus den Taschen fallen könnten. Knapp 40
Hochleistungsrechner steuern die Einzelabläufe, ein zentraler Server koordiniert das Ganze.
Das Buchungssystem ist verknüpft mit den
Chip-Karten, die jeder Besucher des Virtual Aero
erhält. Alle Kosten, von den Flügen bis zu Getränken und Speisen werden damit zunächst
bargeldlos verbucht. Verlässt ein Besucher
das Gebäude, begleicht er sein Konto. Darüber hinaus speichert das
System automatisch die Ergebnisse und Aufzeichnungen
der geflogenen Missionen. Zu
Hause kann er sich über das Internet
auf seinem Konto einloggen, neue
Buchungen vornehmen oder die geflogenen Missionen mit der eigenen „Lock On“-Software
nochmals erleben.
Doch was das System von
Tobit leistet, spielt sich zum
Glück im Hintergrund ab. Für den Besucher
der russischen Airbase am Rande Westfalens
soll die Illusion perfekt sein. Nebenbei nimmt
der Gast allenfalls die hohe technische Ausstattung wahr, die vielleicht zur Zukunft eines Vergnügungsparks gehört.
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