amnestyjournal0915final.

www.amnesty.de/Journal
das magazin für die menschenrechte
4,80 euro
amnesty Journal
verletzte
seelen
ärzte und psychologen helfen
traumatisierten opfern – und sind
oft selbst an folter beteiligt
ein fall für die Justiz
der export von g36gewehren nach mexiko
falsch erfasst
rassistische gewalt in
deutschland
meisterwerk
Jafar panahis film
»taxi teheran«
08/09
2015
august/
september
INHALT
titel: folter
und heilberufe
16 Dr. Jekyll und Mr. Hyde
Ärzte müssten Menschen eigentlich
helfen, viele aber sind an Folter
beteiligt.
20 Verschärfte Zusammenarbeit
CIA-Psychologen sind mitverantwortlich
für die Folter von Terrorverdächtigen.
25 Stimme der Verstummten
Das Ulmer Behandlungszentrum
für Folteropfer ist eine von wenigen
Anlaufstellen für traumatisierte
Flüchtlinge.
30 Zermürbte Seelen
Gewalt, aber auch prekäre Verhältnisse
nach der Flucht belasten Flüchtlinge.
32 »Wir haben es mit starken
Menschen zu tun«
Ein Arzt über die Behandlung von
traumatisierten Flüchtlingen in
Deutschland.
34 Schreiben als Therapie
In einem Buch erinnert sich ein
Betroffener an die erlittene Folter.
36 »Gewalt setzt sich im Frieden fort«
Ein Interview zur Arbeit mit traumatisierten Frauen in Konflikten.
38
2
16
25
themen
kultur
38 Wo nur die Steine wachsen
Seit 40 Jahren hält Marokko die Westsahara völkerrechtswidrig besetzt.
62 Der genaue Blick
Joshua Oppenheimers neuer Film zum
indonesischen Massaker von 1965.
46 Zurück ins Leben
Säureattentate sind in Kolumbien ein
Phänomen, das von der Politik lange
ignoriert wurde.
66 Mehr als eine Randnotiz
Bücher der Kinder- und Jugendliteratur
schildern Flucht individuell statt anonym.
50 Drei Brüder für Gerechtigkeit
Folter hat in Mexiko System, das erfuhren
drei Unbeteiligte am eigenen Leib.
68 Hüter ohne Haus
Ein entlassener Direktor am russischen
Filmmuseum arbeitet einfach weiter.
53 »Wir sind auf einem guten Weg«
Interview mit Consuelo Morales Elizondo.
70 Dieses Kino ist Kunst
»Taxi Teheran« ist ein Meisterwerk des
Menschenrechtskinos.
54 Meister des Todes
Wegen Waffenexporten nach Mexiko
steht Heckler & Koch vor Gericht.
72 In The Ghetto
Eine Studie zeigt, wie Armut in schwarzen US-Stadtteilen kriminalisiert wird.
56 Alter Rassismus, neue Opfer
Wie adäquat erfassen Behörden
rassistische Gewalt?
74 Eine andere Stimme aus
Aserbaidschan
Der Roman »Steinträume« als eine persönliche Sicht auf das Verhältnis zwischen Armeniern und Aserbaidschanern.
59 Menschenrechte gegen Rassismus
Handlungsempfehlungen der UNO.
60 »Diese Sympathie ist eine
unglaubliche Antriebskraft«
Ein Interview mit Ensaf Haidar.
54
77 Musik aus Ruinen
Das arabische DJ-Kollektiv »Checkpoint
303« verhandelt im neuen Album »The
Iqrit Files« viele Themen.
62
amnesty Journal | 08-09/2015
oft vergeht viel zeit …
… bis von Folter betroffene, traumatisierte Flüchtlinge
in Deutschland eine adäquate Behandlung erhalten. Dass
es überhaupt professionelle Anlaufstellen gibt, ist vor
allem zivilgesellschaftlichen Initiativen zu verdanken und
engagierten Ärztinnen und Ärzten sowie Psychologinnen
und Psychologen, die diese über Jahre hinweg aufgebaut
haben.
Unser Titelbild wurde gezeichnet von Lennart Gäbel.
rubriken
04 Weltkarte
05 Good News:
Endlich gleich
06 Panorama
08 Interview:
Alice Nkom
09 Nachrichten
11 Kolumne:
Ruth Jüttner
12 Einsatz mit Erfolg
13 Selmin Çalışkan über
Gesetze, die schützen
75 Rezensionen:
Bücher
76 Rezensionen:
Film & Musik
78 Briefe gegen das Vergessen
81 Aktiv für Amnesty
83 Impressum
Damit diese wichtige Arbeit fortgesetzt werden kann,
bedarf es vor allem einer geregelten Finanzierung aus
öffentlichen Mitteln – hier sieht Amnesty die deutsche
Politik im Rahmen der »Stop Folter«-Kampagne eindeutig
in der Pflicht.
Wegen einer möglichen Pflichtverletzung bei Waffenexporten nach Mexiko muss sich das Rüstungsunternehmen Heckler & Koch nun vor Gericht verantworten. Die
Sturmgewehre gingen aus dem Schwarzwald unter anderem in den für Menschenrechtsverletzungen bekannten
mexikanischen Bundesstaat Guerrero, was nicht zuletzt
Journalisten und Amnesty-Experten in langjährigen und
intensiven Recherchen nachgewiesen haben. Im September strahlt die ARD nun einen fiktiven Spielfilm aus, der
begleitet von einer Dokumentation, diese blutigen Konsequenzen deutscher Rüstungsexporte einem Millionenpublikum präsentieren wird (Seite 54).
Dass sich Hartnäckigkeit und Einsatz auszahlen, zeigt
sich auch mit Blick auf die »Briefe gegen das Vergessen«,
mit denen sich Amnesty seit Jahren für das Schicksal einzelner verfolgter, bedrohter oder verschleppter Menschen
einsetzt. Einer von ihnen ist der junge Nigerianer Moses
Akatugba, der im Mai freikam. Im Alter von 16 Jahren war
er verhaftet und später auf Grundlage eines unter Folter
erzwungenen Geständnisses zum Tode verurteilt worden.
In einem sehr persönlichen Text schildert er seine ersten
Tage nach der Haft (Seite 12). Und auch bei anderen Fällen der »Briefe gegen das Vergessen« zeigen sich positive
Entwicklungen bis hin zu Freilassungen (Seite 80).
Solche Erfolge sind nur möglich durch die große Unterstützung vieler einzelner Menschen weltweit. Eine von
ihnen ist die Punk-Rock-Legende Patti Smith, die den
»Ambassador of Conscience Award« in Berlin im Namen
von Amnesty an Joan Baez überreichte
(Seite 82). Drehen sie doch einen ihrer
Hits laut und genießen sie den Sommer
in vollen Zügen.
Fotos Seite 2: Rita Leistner / Redux / laif | Amin Akhtar / laif | Marcus Reichmann | Bernd Weißbrod / dpa / pa | Drafthouse Films / Participant Media
Foto Editorial: Amnesty
inhalt
|
editorial
Anton Landgraf ist Redakteur des Amnesty Journals.
3
WELTKARTE
irland Im Juni verabschiedete Irland eines
der weltweit restriktivsten Abtreibungsgesetze:
Schwangerschaftsabbrüche sind demnach
auch dann verboten, wenn die Schwangerschaft Folge einer Vergewaltigung ist oder
schwere gesundheitliche Folgen für die Mutter
nach sich ziehen kann. Das Gesetz zwingt
Frauen, die ihre Schwangerschaft beenden
wollen, dazu, ins Ausland zu gehen – täglich
tun dies zehn bis zwölf Frauen. Nach einem
illegalen Schwangerschaftsabbruch drohen bis
zu 14 Jahre Haft. �
griechenland Die Ägäis entwickelt sich zum
Hauptfluchtweg über das Mittelmeer nach
Europa. Aber Griechenland ist mit dieser Entwicklung überfordert. Es herrscht ein humanitärer Notstand, funktionierende Aufnahmestrukturen fehlen. Inseln der Nordägäis wie
Lesbos, Samos oder Chios haben weder ausreichend räumliche Kapazitäten noch genügend Personal für die Registrierung und Versorgung der Menschen. Tausende Flüchtlinge
campieren unter freiem Himmel, ohne sanitäre
Einrichtungen und medizinische Versorgung.
Ohne die Hilfe der anderen EU-Staaten ist das
Leben der Schutzsuchenden gefährdet. �
햲
햳
햷
햵
햶
�
�
mexiko Amnesty International verlangt Auf klärung über einen mutmaßlichen Militärbefehl
zur gezielten Tötung von Kriminellen. Vor einem
Massaker in der Ortschaft Tlatlaya hatten die
Streitkräfte nach Angaben von mexikanischen
Menschenrechtsaktivisten den Soldaten einen
Tötungsbefehl gegen Kriminelle erteilt. Die
Truppen sollten ihre Einsätze vor allem in der
Nacht durchführen und mutmaßliche Banditen in der Dunkelheit erschießen. Kurz nach
dem Erlass des angeblichen Befehls waren am
11. Juli 2014 bei Gefechten zwischen Soldaten
und mutmaßlichen Bandenmitgliedern in der
Ortschaft 22 Menschen ums Leben gekommen.
brasilien Schon bald könnten 16-Jährige
in Brasilien nach Erwachsenenstrafrecht ver urteilt werden. Diese Verfassungsänderung
wird derzeit im Kongress in Brasilia diskutiert.
Damit würden 16- bis 18-Jährige bei Tötungsdelikten, schwerem Diebstahl und »schwerwiegenden Straftaten« so bestraft wie derzeit
Erwachsene: Mit langjähriger Haft in Gefängnissen, die ihre Insassen erst recht zu Kriminellen machen. In Brasilien geschehen weltweit die meisten Tötungsdelikte. Die Gesetzesänderung ist eine Reaktion der Regierung auf
die hohe Jugendkriminalität. Sie erntet viel Kritik, da sie gegen eine Reihe von nationalen und
internationalen Gesetzen verstoßen würde.
4
�
gaza Beim Gaza-Krieg 2014 haben sowohl
die israelischen Streitkräfte als auch bewaff nete palästinensische Gruppen internationale
Rechte verletzt und wahrscheinlich Kriegs verbrechen begangen. Zu diesem Ergebnis
kommt eine von den Vereinten Nationen eingesetzte Untersuchungskommission. So wurden auf beiden Seiten Zivilisten getötet und
zivile Einrichtungen zerstört. Zeugenaussagen
belegen den Angriff Israels auf Wohnhäuser,
Krankenhäuser und medizinisches Personal
sowie die gezielte Tötung von Zivilisten durch
die Hamas und die Hinrichtung von 23 »Kollaborateuren« in Gaza.
amnesty Journal | 08-09/2015
GOOD NEWS
Foto: Drew Angerer / UPI / laif
papua-neuguinea Hexenjagd in Form von
Folter, Vergewaltigung, Genitalverstümmelung
oder Mord wird noch immer in vielen Dörfern
Papua-Neuguineas praktiziert. Obwohl seit
2013 die Hexenverfolgung verboten ist, wurden in diesem Jahr mindestens zwei Frauen,
die der Hexerei bezichtigt wurden, in einer
Hütte festgehalten, eine weitere wurde zu Tode
gehackt. Häufig ist die unterstellte Hexerei nur
ein Vorwand für Gewalt gegen die meist alleinstehenden Frauen. Die Reformen von 2013
brachten härtere Strafen, doch Polizei und
Regierung unternehmen nur wenig, um die
Gewalt gegen Frauen einzudämmen oder über
Hexerei aufzuklären. �
»Freudiger Tag«. Das Weiße Haus im Regenbogenlicht, 26. Juni 2015.
endlich gleich
햴
Ausgewählte Ereignisse vom 1. Mai bis 15. Juli 2015
weltkarte
usa #LoveWins hieß der Hashtag zum Urteil des Obersten
Gerichtshofs der USA, der am 26. Juni 2015 auf einen
Schlag alle gleichgeschlechtlichen Ehen in den Vereinigten
Staaten von Amerika legalisierte. #LoveWins steht auch für
den dramatischen Kampf von Jim Obergefell, der seit 2013
um seinen Status als Witwer rang. Er wollte in der Todesurkunde seines verstorbenen Ehemanns John Arthur als Ehepartner eingetragen werden. Jetzt hat er es geschafft: Die
Homo-Ehe hat in der Verfassung der USA nun die gleiche
Wertigkeit wie die heterosexuelle Ehe.
In den USA ist das Eherecht jedoch den einzelnen Bundesstaaten vorbehalten – mit dem Ergebnis, das bislang in
nur 37 Bundesstaaten sowie im District of Columbia die
gleichgeschlechtliche Ehe möglich ist. Im Jahr 2004 war
Massachusetts der erste Staat, der homosexuelle Partnerschaften legalisierte.
»Dies ist nicht nur ein freudiger Tag für Menschen, die
sich in einer liebevollen und festen gleichgeschlechtlichen
Partnerschaft befinden, sondern auch für jeden, der an
Menschenrechte und Gleichheit für alle glaubt", erklärte
Steven W. Hawkins, Direktor von Amnesty International in
den USA zur Entscheidung des Gerichtshofs.« Die Möglichkeit, selbst zu entscheiden, wen man heiratet, sei ein durch
internationale Abkommen geschütztes Menschenrecht, sagte
er weiter.
Ungeachtet des Kampfes um Gleichstellung versuchen
viele Bundesstaaten, die Gesetze zu unterlaufen. Obwohl die
Homo-Ehe nun formal gleichgestellt ist, können in 31 Staaten Schwule, Lesben und Transsexuelle weiterhin wegen ihrer sexuellen Orientierung gefeuert werden. Gesetzlichen
Schutz vor Diskriminierung erfahren sie nur in 19 Staaten.
Kläger Jim Obergefell hat mit seinem Kampf schon viel
erreicht. Dass US-Präsident Obama ihn anrief, um zu gratulieren, zeigt die Bedeutung des Urteils. Bis allerdings tatsächlich Gleichberechtigung herrscht, bedarf es weiterer
Anstrengungen. »Es liegt noch immer viel Arbeit vor uns«,
meinte Hawkins, »bis alle Formen der Diskriminierung von
Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgeschlechtlichen
ein für alle Mal Vergangenheit sein werden.«
5
Foto: Narciso Contreras / Polaris / laif
indien: straflosigkeit in kaschmir
Angehörige der Sicherheitskräfte können im indischen Bundesstaat Jammu und Kaschmir die Menschenrechte
verletzen, ohne dafür belangt zu werden, wie ein kürzlich veröffentlichter Amnesty-Bericht belegt. Soldaten,
Grenzschützer und Polizisten genießen dabei den Schutz eines speziellen Gesetzes, das die Gewaltanwendung
im Namen der Terrorismusbekämpfung und der nationalen Einheit weitgehend straffrei zulässt. Von Sicherheitskräften begangene Menschenrechtsverletzungen wurden zwar in großer Zahl dokumentiert, aber kaum je geahndet.
Amnesty spricht in dem Bericht von einem »Versagen Indiens gegenüber seinen internationalen Verpflichtungen
und gegenüber seiner eigenen Verfassung«.
6
amnesty Journal | 08-09/2015
PANORAMA
ungarn: zaun gegen flüchtlinge
Das ungarische Parlament hat mit großer Mehrheit die Regierung ermächtigt, einen vier Meter hohen und
175 Kilometer langen Zaun an der Grenze zu Serbien zu errichten. Außerdem sollen Bewegungssensoren,
Infrarotkameras und intensive Patrouillen eingesetzt werden. Das Gesetz tritt am 1. August in Kraft. Ähnliche
Anlagen gibt es bereits an den bulgarischen und griechischen Grenzen zur Türkei. Mit einer Reihe weiterer
Gesetzesänderungen will die Regierung in Budapest Flüchtlinge zusätzlich abschrecken: Wer in Ungarn einen
Asylantrag stellt, soll künftig selbst für Kost und Unterkunft während der Antragsbearbeitung aufkommen.
Konkret heißt das, dass die Behörden Geld und Wertgegenstände von Migranten beschlagnahmen oder
die Antragsteller zu gemeinnütziger Arbeit verpflichten können.
Foto: Andrew Testa / The New York Times / Redux / laif
panorama
7
INTERVIEW
ALICE NKOM
RECHTSANWÄLTIN AUS KAMERUN
in einer Hochzeitsmesse, im Namen Gottes, noch dazu völlig
anlasslos: Ich war enttäuscht.
Foto: Ralf Rebmann
Wie haben Sie reagiert?
Ich bin aufgestanden und habe die Kirche wutentbrannt
verlassen. Leider verlief die zweite Hochzeit ähnlich, ebenso ein
Treffen mit hohen Vertretern der evangelischen Kirche. Ich war
kurz davor, endgültig mit der Institution Kirche abzuschließen.
Doch der Kirchentag hat mir neuen Mut gegeben. Dieses Gemeinschaftsgefühl, diese Demut: Da waren sie wieder, die
Werte, die ich in jungen Jahren in meiner Kirche gelernt hatte.
Es wäre feige, vor den Gewaltpredigern in meiner Heimat davonzulaufen. Ich glaube an die christlichen Werte, also werde
ich sie verteidigen.
»der wandel
wird kommen«
Vom 3. bis 7. Juni fand in Stuttgart der Evangelische Kirchentag statt. Mit dabei war auf Einladung des Kirchentages die
kamerunische Rechtsanwältin Alice Nkom. Die Trägerin des
7. Menschenrechtspreises der deutschen Sektion von Amnesty
International setzt sich in ihrem Heimatland für die Rechte von
Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Intersexuellen
(LGBTI) ein – gegen großen Widerstand aus den Kirchen.
Die katholische Kirche in Kamerun bezeichnet Homosexualität
offen als Verstoß gegen die göttliche Ordnung. Wie positioniert
sich ihr evangelisches Pendant?
Die Frage habe ich mir auch gestellt, als ich von Amnesty
International zum Kirchentag eingeladen wurde. Ich hatte bis
dato nur wenig Kontakt zur evangelischen Kirche. Glücklicherweise ergab es sich, dass ich auf zwei evangelische Hochzeiten
eingeladen wurde. Auf die erste freute ich mich besonders: Sie
sollte von einer Pastorin gelesen werden. Für mich als Katholikin ein absolutes Novum! Jedenfalls erwartete ich eine bereichernde Hochzeitsfeier, ein Fest der Liebe… und wurde bitter
enttäuscht. Die Predigt der Pastorin sprühte nur so vor Hass
und Ausgrenzung. Homosexualität? Eine Sünde! Derartige Worte
8
Glauben Sie, dass die Kirchen in Kamerun ihre ablehnende
Haltung eines Tages ablegen werden?
Die Kirchen, das sind zunächst einmal ihre Mitglieder.
Es ist an uns, den längst überfälligen Wandel einzuleiten.
Entwicklungen wie jüngst in Irland, aber auch die derzeitigen
Diskussionen über die »Ehe für alle« in Deutschland stimmen
mich hoffnungsfroh. Wir leben in einer globalisierten Welt, in
der auch Fortschritt vor nationalen Grenzen keinen Halt macht.
Auch nicht vor Kamerun!
Was antworten Sie auf die Aussage der Kirchen, Homosexualität
gefährde die Familie?
In einer Beziehung geht es um die Liebe zwischen zwei
Menschen, nicht um Sexualität oder Nachwuchs. Nicht ohne
Grund hat Jesus die - wohlgemerkt asexuelle - Nächstenliebe
zum höchsten Wert seiner Lehre erhoben. Er war ein kluger
junger Mann, der übrigens ebenso kinderlos war wie die Ordensträger der katholischen Kirche – und dessen spiritueller Vater
berühmter ist als sein leiblicher. Außerdem sind es doch Hasspredigten wie die des kamerunischen Kardinals Tumi, die unzählige Familien zerstören. Wie viele Mütter sollen denn noch
mit ihren Kindern brechen – nur, weil ihre sexuelle Orientierung
nicht den religiösen oder gesellschaftlichen Vorstellungen entspricht? Manchmal frage ich mich, was geschehen wäre, wenn
Jesus sich geoutet hätte. Ginge es nach der kamerunischen
Kirche, hätte Maria ihren Sohn verstoßen müssen. Das ist doch
absurd! Keine Frage: Der Wandel wird kommen. Und weder die
kamerunischen Kirchen noch die Regierung werden diesen Tag
verhindern können.
Fragen: Raphael Kreusch
amnesty Journal | 08-09/2015
»Es ist unfassbar, dass zehn Frauen im Sudan
ausgepeitscht werden könnten, nur weil sie einen Rock
oder eine Hose getragen haben. Das Gesetz über die
öffentliche Ordnung wird völlig unverhältnismäßig
angewandt. Es verletzt in fundamentaler Weise die
Frauenrechte. Ein Rocksaum ist kein Verbrechen.«
SARAH JACKSON, STELLVERTRETENDE REGIONALDIREKTORIN
FÜR OSTAFRIKA BEI AMNESTY INTERNATIONAL
Foto: una.knipsolina / photocase.de
amnesty im visier
britischer
geheimdienste
Wer hört mit? »Ziel der Massenüberwachung.«
interview
|
nachrichten
Britische Regierungsbehörden haben das Internationale
Sekretariat von Amnesty International in Großbritannien
ausgespäht. Amnesty-Generalsekretär Salil Shetty zeigte
sich empört.
Das Spezialgericht »Investigatory Powers
Tribunal« (IPT), das die rechtsprechende Gewalt über die
Geheimdienste in Großbritannien innehat, hat Ende Juni
Amnesty International darüber informiert, dass britische
Regierungsbehörden das Internationale Sekretariat der
Menschenrechtsorganisation in London ausgespäht haben.
Die Behörden haben demnach die Kommunikation von
Amnesty abgefangen und gespeichert.
»Nach 18 Monaten des Rechtsstreits und all den damit
verbundenen Verleugnungen und Ausflüchten, wurde uns nun
bestätigt, dass wir tatsächlich zum Ziel der Massenüberwachung durch die britische Regierung geworden sind. Es ist
ungeheuerlich, dass etwas, das sonst oftmals tyrannischen
Machthabern zugeschrieben wird, von der britischen Regierung
ausgeht«, sagte Salil Shetty, internationaler Generalsekretär von
Amnesty International. »Wie sollen wir unserer wichtigen Arbeit
weltweit nachgehen, wenn Menschenrechtsverteidiger und
Opfer von Menschenrechtsverletzungen nun davon ausgehen
müssen, dass ihre vertrauliche Korrespondenz mit uns voraussichtlich in den Händen der Regierung landet?«
In einer E-Mail informierte das IPT Amnesty International
darüber, dass es bei der Entscheidung des Spezialgerichts vom
22. Juni zu einer Verwechslung gekommen sei: Das IPT war im
Juni zu dem Schluss gekommen, dass die britische Regierung
die ägyptische Organisation »Egyptian Initiative for Personal
Rights« (EIPR) und das südafrikanische »Legal Resources Center« unrechtmäßig ausspioniert hatte. Tatsächlich, so gab das
IPT bekannt, war neben der Organisation in Südafrika jedoch
Amnesty International Ltd. und nicht die ägyptische EIPR ausgespäht worden. Die NGOs gehören zu insgesamt zehn Organisationen, die Klage gegen die mutmaßlich illegale Massenüberwachung ihrer Arbeit durch britische Geheimdienste eingereicht
hatten. Das IPT teilte nicht mit, wann und warum Amnesty
International ausgespäht wurde und zu welchem Zweck die
gesammelten Informationen genutzt wurden.
grossbritannien
9
In keinem der 50 US-Bundesstaaten entsprechen die
gesetzlichen Vorgaben zur Anwendung tödlicher Gewalt durch
Polizisten bzw. andere Beamte mit Polizeiaufgaben den internationalen Menschenrechtsstandards. In einigen Bundesstaaten
ist überhaupt nicht geregelt, wann Polizisten Schusswaffen einsetzen dürfen. Das belegt ein im Juni veröffentlichter AmnestyBericht. Amnesty-Ermittler überprüften und analysierten landesweit Gesetzesvorgaben, Polizeiberichte, relevante Gerichtsurteile und statistische Daten.
Insgesamt 13 Bundesstaaten, darunter New York, Kalifornien, South Dakota und Missouri, erfüllen nicht einmal die
Mindeststandards der US-amerikanischen Verfassung. Neun
Bundesländer und der District of Columbia haben überhaupt
keine Gesetze, die regulieren, unter welchen Umständen Polizisten und andere Beamte mit Polizeiaufgaben tödliche Gewalt
anwenden dürfen. Staatliche Institutionen, die Fälle tödlicher
Polizeigewalt umgehend, unabhängig und umfassend untersuchen, gibt es in keinem einzigen Bundesstaat.
Auch umfassende nationale Statistiken über die Zahl der
Opfer von Polizeigewalt gibt es nicht. Die wenigen vorhandenen
offiziellen Daten legen nahe, dass Afroamerikaner unverhältnismäßig häufig Opfer tödlicher Polizeigewalt werden.
Amnesty International fordert die USA auf, die entsprechen-
usa
30.000
MENSCHEN
WERDEN JEDES
JAHR IN DEN
USA DURCH
schusswaffen
GETÖTET.
HINZU KOMMEN DURCHSCHNITTLICH 100.000 VERLETZTE.
57,5%
DER OPFER SIND afroamerikaner, OBWOHL IHR
BEVÖLKERUNGSANTEIL
NUR BEI 13,2% LIEGT.
Quelle: Amnesty
schiessen ohne regeln
den Gesetze auf nationaler Ebene und in den Bundesstaaten
internationalen Menschenrechtsstandards anzupassen. Polizeibeamte dürfen nur dann potenziell tödliche Waffen einsetzen
oder mögliche todbringende körperliche Gewalt anwenden,
wenn dies das einzige und letzte Mittel ist, um die Beamten
oder andere Personen in unmittelbarer Lebensgefahr oder vor
einer drohenden schwerwiegenden Körperverletzung zu schützen. Außerdem müssen Statistiken erstellt und Daten erfasst
und veröffentlicht werden, die tödliche Gewalt durch Polizisten
und andere Beamte mit Polizeibefugnissen umfassend dokumentieren.
dominikanische republik weist menschen haitianischer abstammung aus
Keine Papiere – keine Rechte. So lautet
häufig das Los für Tausende Menschen haitianischer Abstammung, die in der Dominikanischen Republik leben. Obwohl sie
dort geboren wurden, stellt man Personen mit haitianischen
Wurzeln häufig keine Geburtsurkunden aus und spricht ihnen
damit Menschenrechte ab: Sie haben keinen Zugang zu Bildungswesen, Arbeitsmarkt und Gesundheitssystem, dürfen
nicht wählen und können wegen fehlender Papiere nicht heira-
dominikanische republik
ten und eine Familie gründen. Im Juni lief eine Frist zur Legalisierung des Aufenthaltsstatus von Ausländern in der Dominikanischen Republik ab – damit werden schätzungsweise eine Viertelmillion Menschen zu Staatenlosen. Zehntausende sind schon
nach Haiti ausgewandert, in ein Land, das viele von ihnen nie
betreten haben oder dessen Sprache sie nicht sprechen. Beobachter vermuten, dass sich Präsident Danilo Medina mit diesem
Vorgehen für die Wahlen 2016 positionieren will.
repressionen gegen medien
Die Behörden Myanmars verschärfen im Vorfeld der
Wahlen im November die Repression gegen unabhängige Medien. Drohungen, Einschüchterungen und Verhaftungen nehmen zu, wie ein neuer Bericht von Amnesty dokumentiert. Darin
wird aufgezeigt, wie die Behörden trotz der viel beschworenen
»Öffnung« alte und neue Methoden einsetzen, um unabhängige
Medien einzuschüchtern und die freie Meinungsäußerung zu
unterbinden.
Zwar hat sich die Medienlandschaft seit 2011 deutlich
verändert und in dem Land gibt es heute eine Vielzahl verschiedener Presse- und Medienerzeugnisse. Im vergangenen Jahr hat die Repression jedoch wieder
deutlich zugenommen: Amnesty geht von mindestens zehn Journalisten aus, die wegen ihrer
Berichterstattung als gewaltfreie politische Gefangene in Haft sitzen. Im Oktober 2014 wurde
der freie Journalist Aung Kyaw Naing im Militärgewahrsam erschossen.
Die Medien werden umfassend überwacht,
Einschüchterungen sind alltäglich. Das repressive Klima führt nach Aussagen von Medienvertretern gegenüber Amnesty zu weitreichender
Selbstzensur, insbesondere bei der Berichterstattung über sensible Themen wie das Militär,
nationalistische Kreise oder die Situation der
Weitreichende Selbstzensur. Unabhängige Medien spüren den Druck der Behörden.
verfolgten Minderheit der Rohingya.
Foto: David Hogsholt / The New York Times / Redux / laif
myanmar
10
amnesty Journal | 08-09/2015
Zeichnung: Oliver Grajewski
kolumne
ruth
Jüttner
generation
knast
Alle lokalen und internationalen Menschenrechtsorganisationen sind sich in der Bewertung der aktuellen Lage in Ägypten einig: Das Land erlebt unter der Herrschaft
von Präsident Abdel Fattah al-Sisi die schwerste Menschenrechtskrise in der modernen Geschichte des Landes. Und wie reagieren die Verantwortlichen in Ägypten?
Die Existenz gewaltloser politischer Gefangener oder Folter in Gefängnissen wird
schlicht geleugnet. Grundsätzlich weisen ägyptische Diplomaten jede Kritik an der
Menschenrechtslage als »Einmischung in die inneren Angelegenheiten« zurück und
rechtfertigen die Repression gegen Andersdenkende als notwendig im »Kampf gegen den Terrorismus«. Den jüngsten Amnesty-Bericht »Generation Jail – Egypt’s
Youth go from Protest to Prison« bezeichnet das ägyptische Außenministerium als
»Lüge« und unterstellt Amnesty International sogar eine Nähe zum Terrorismus.
Doch was hat es mit dem »Kampf gegen Terrorismus« zu tun, wenn ein 18-jähriger
Student festgenommen wird, weil er ein T-Shirt mit der Aufschrift »Land ohne Folter« trägt und seit mehr als 500 Tagen ohne Anklageerhebung unter katastrophalen
Bedingungen gefangen gehalten wird?
Er ist dabei nur einer unter vielen. Menschenrechtsorganisationen zählen mindestens 18 inhaftierte Journalisten, dokumentieren eine Rekordzahl von 289 Folterfällen in Gefängnissen in den vergangenen zwölf Monaten und zählen im Zeitraum
von Juli 2013 bis Mai 2014 mehr als 41.000 Menschen, die festgenommen, angeklagt oder verurteilt wurden. Selbst der staatsnahe Nationale Menschenrechtsrat
schlägt Alarm: Gefängnisse sind zu 160 Prozent überbelegt, Zellen der Polizei sogar
zu 300 Prozent. Zudem wurden seit Juli 2013 mehr als 850 Todesurteile verhängt.
Erinnern wir uns: Unter dem Eindruck der Aufstände in Nordafrika gelobten die
westlichen Regierungen eine Abkehr von der bisherigen Unterstützung für repressive und autokratische Herrscher in der arabischen Welt, die sich gegenüber dem
Westen als Partner und Garant für Stabilität darstellten. Doch nur viereinhalb Jahre
später fallen die westlichen Staaten in alte Politikmuster zurück.
Der Staatsbesuch von Präsident al-Sisi Anfang Juni in Berlin ist ein Beispiel dafür,
dass die Verwirklichung der Rechte der ägyptischen Bevölkerung auf Freiheit, Würde und soziale Gerechtigkeit für die deutsche Außenpolitik offenkundig eine untergeordnete Rolle spielen. Während für al-Sisi der rote Teppich ausgerollt wurde,
wurde die Menschenrechtskrise in Ägypten unter den Teppich gekehrt. Dem Machthaber aus Kairo wurde die große Bühne geboten, um sich als Demokrat und Vollstrecker des ägyptischen Volkswillens zu präsentieren. Der schwache Hinweis von
Bundeskanzlerin Angela Merkel, man habe in menschenrechtlichen Fragen unterschiedliche Ansichten, ist für ägyptische Menschenrechtverteidiger und Aktivisten
ein Schlag ins Gesicht. Während sie sich unter existenziellen Bedrohungen für
Menschenrechte und Freiheit einsetzen, muss die Bundesregierung im Bundestag
offiziell eingestehen, dass es misslang, von al-Sisi konkrete Zusagen zur Verbesserung in Einzelfällen oder der Menschenrechtslage allgemein zu erhalten.
Was bleibt, ist ein bitterer Nachgeschmack: Während die Bundesregierung hinsichtlich der Menschenrechte mit leeren Händen dasteht, erscheint die deutsche Wirtschaft nach dem Abschluss des Rekordauftrags für Siemens für Gaskraftwerke und
Windparks in Höhe von acht Milliarden Euro als Gewinner. Mit Blick auf die politische Gewalt in Ägypten stehen düstere Zeiten bevor: Ende Juni 2015 fiel mit dem
Generalstaatsanwalt Hisham Barakat ein ranghoher Vertreter der Justiz einem Attentat zum Opfer. Wenn die Sicherheitskräfte bislang mit harter Hand vorgegangen
sind, steht nun zu befürchten, dass sie mit der eisernen Faust zuschlagen.
Ruth Jüttner ist Expertin der deutschen Amnesty-Sektion für den Nahen und Mittleren Osten sowie für Nordafrika.
nachrichten
|
kolumne
11
überwältigende freude
Als ich meine Mutter aus dem Gefängnis
anrief, um ihr zu sagen, dass ich nach
zehn Jahren in Haft begnadigt worden
war, fiel sie in Ohnmacht. Mir wurde erzählt, dass sie erst wieder zu sich kam,
als man sie mit Wasser übergoss. Als sie
mich dann zum ersten Mal nach all diesen Jahren sah, packte sie mich und hielt
mich ganz fest. Sie ließ mich fast 15 Minuten lang nicht los. Dabei weinte sie die
ganze Zeit über vor Freude.
Auch ich war vor Freude überwältigt,
als ich am 28. Mai um 16 Uhr von meiner
Begnadigung erfuhr. Zuerst konnte ich gar
nichts sagen, ich war so glücklich. Am
nächsten Tag organisierte ich ein Fußballspiel zwischen den Gefangenen des Todestrakts und anderen Häftlingen, um zu
feiern. Ich hatte während meiner Zeit in
Haft die Fußballmannschaft des Todestrakts trainiert. Wir gewannen 3:0! Alle
freuten sich über das Fußballspiel.
An diesem Sonntag besuchte ich die
Gefängniskirche. Ich teilte Fruchtsaft und
Kekse mit anderen Häftlingen, und es
wurde eine Ansage zu meiner Freilassung
gemacht. Alle freuten sich. Ich hatte
Freunde im Gefängnis. Ich brachte anderen Häftlingen Englisch und Mathe bei,
und diejenigen, die Spaß daran hatten,
wurden meine Freunde.
Wenige Tage später wurde ich freigelassen. An meinem ersten Abend zu
Hause hatte meine Mutter ein besonderes Essen vorbereitet – Okra-Suppe mit
Rindfleisch. Die ganze Familie saß zusammen am Esstisch. Danach gab es
eine Feier mit Freunden der Familie. Wir
sangen Lieder, machten Musik und beteten. Wir beteten für all diejenigen, die
sich für meine Freilassung eingesetzt
hatten, für die Aktivisten von Amnesty
12
Foto: HURSDEF / Amnesty
Der Nigerianer Moses Akatugba wurde im
November 2005 im Alter von 16 Jahren
festgenommen, massiv gefoltert und
später zum Tode verurteilt – weil er
angeblich Mobiltelefone gestohlen hatte.
Amnesty International setzte sich mit
weltweiten Kampagnen für ihn ein, unter
anderem mit den »Briefen gegen das
Vergessen« und dem Briefmarathon.
Über 800.000 Briefe und Unterschriften
wurden gesammelt – mit Erfolg: Im Mai
2015 wurde Moses Akatugba begnadigt
und aus der Haft entlassen. In diesem
Text beschreibt er seine ersten Tage in
Freiheit.
»Ich werde mich als Menschenrechtsaktivist einsetzen.« Moses Akatugba.
International und Justine Ijeomah, den
Leiter der nigerianischen Menschenrechtsorganisation »Human Rights Social
Development and Environmental Foundation« (HURSDEF) und seine Frau, Goodness Justine. Alle Gäste teilten die Getränke miteinander.
Die erste Nacht schlief ich in meinem
neuen Bett. Ich schlief unglaublich gut.
Was mich am meisten überraschte, war,
dass ich um 5 Uhr morgens nicht den
Weckton des Gefängnisses hörte. Ich wartete darauf und merkte schließlich, dass
ich nicht träumte, sondern tatsächlich
frei war. Als ich das begriffen hatte, fühlte ich mich tief in meiner Seele frei. Die
Dinge hatten sich zum Guten gewandt.
Ich machte die Augen wieder zu, genoss
meinen »Freiheitsschlaf« in vollen Zügen
und schlief bis 10 Uhr. Ich habe unglaublich gut geschlafen.
Jetzt, wo ich frei bin, will ich mich
weiterbilden und das erreichen, wovon
ich schon immer geträumt habe: Ich
möchte Arzt werden, um die Wünsche
meines verstorbenen Vaters zu erfüllen.
Ich werde mich aber auch als Menschenrechtsaktivist einsetzen und Menschen helfen, die sich in der gleichen
Lage befinden, in der ich mich befunden
habe. Ich habe schon einen Antrag ausgefüllt und ein Passfoto gemacht – das
sind Voraussetzungen für die Arbeit als
ehrenamtlicher Aktivist bei der HURSDEF. Justine, der Leiter, begrüßte mich
als »Kamerad Moses Akatugba«. Ich
sagte ihm: »Justine, ich trete dem
Kampf gegen Folter bei, damit andere
nicht das gleiche Leid erfahren müssen
wie ich.«
Siehe auch Seite 80.
amnesty Journal | 08-09/2015
Weltweit beteiligen sich Tausende Menschen mit Appellschreiben an den »Urgent Actions«, den »Briefen gegen
das Vergessen« und an Unterschriftenaktionen von Amnesty
International. Dass dieser Einsatz drohende Menschenrechtsverletzungen verhindert und Menschen in Not hilft, zeigen
diese Beispiele.
verbraucherschützer und aktivistin wieder frei
Ende Mai nahm der sudanesische Geheimdienst den
Verbraucherschützer Yasir Mirghani Abdalrahman und die
Aktivistin Nasreen Ali Mustafa fest. Yasir Mirghani Abdalrahman hatte Regierungsvertretern vorgeworfen, in Korruptionsfälle verwickelt zu sein. Nasreen Ali Mustafa hatte die vielen
Fälle nicht gemeldeter sexueller Übergriffe in Schulbussen
öffentlich kritisiert und an die betroffenen Familien appelliert, ihr Schweigen zu brechen. Der Geheimdienst zwang die
Aktivistin, ihre Aussagen zu widerrufen. Beide kamen nach
mehr als zweiwöchiger Haft frei, sie wurden nicht angeklagt.
sudan
begnadigung für gefolterten arzt
vereinigte arabische emirate Mahmood al-Jaidah wurde Ende
Mai durch den Präsidenten des Landes begnadigt und flog
noch am selben Tag in seine Heimat Katar. Er war im Februar 2013 ohne Haftbefehl am Flughafen von Dubai auf der
Durchreise festgenommen und in ein Geheimgefängnis verschleppt worden. Bedienstete der Haftanstalt hatten ihn
geschlagen, ihm den Schlaf entzogen und mit dem Tod
gedroht, bis der Arzt ein vermeintliches Geständnis unterschrieb, auf dessen Grundlage er später zu sieben Jahren
Haft verurteilt wurde. Während des Gerichtsprozesses war
zudem sein angereister Sohn kurzzeitig verschleppt und
bedroht worden.
dank nach vorläufiger freilassung
guinea Wegen ihres schlechten Gesundheitszustands kamen
der Unteroffizier Dogius Koly Théa und der Volkswirt Kala
Honomou Mitte Juni frei. Sie waren Anfang Mai von der Gendarmerie festgenommen worden. Die erste Woche in Haft
verbrachten sie in Zellen, die auch als Toiletten dienten und
schliefen auf dem blanken Boden. Zunächst verweigerte man
ihnen einen Anwalt. Außerdem erhielten sie keine angemessene Behandlung ihrer gesundheitlichen Probleme. Anklage
wurde bisher nicht erhoben, die Ermittlungen gegen sie dauern aber auch nach der Freilassung an. Die beiden Familienväter sagten nach ihrer Freilassung: »Wir sind Amnesty International dankbar für alles, was die Organisation getan hat,
um uns aus dieser schrecklichen Lage zu befreien.«
gegen kaution frei
Wie Mitte Juni bekannt wurde, ist Mahdieh Golrou
gegen Kaution aus der Haft entlassen worden. Die Frauenrechtlerin war von Oktober 2014 bis Januar 2015 inhaftiert,
nachdem sie vor dem Parlament in Teheran friedlich gegen
Gewalt an Frauen, insbesondere gegen eine Serie von Säureattentaten protestiert hatte. Sie saß zunächst in Einzelhaft
ohne dass Anklage erhoben wurde. Die Iranerin war bereits
2009 zu einer zweijährigen Haftstrafe verurteilt worden.
iran
einsatz mit erfolg
selmin Çalişkan über
gesetze,
die schützen
Foto: Amnesty
einsatz mit erfolg
Im Istanbuler Stadtteil Beyoğlu, in der Nähe des
Taksim-Platzes, steht ein unscheinbares, aber einzigartiges Haus. Ein Überlebensort für Menschen,
die gewalttätige Übergriffe fürchten. Es sind Menschen, die den türkischen Staat stören und von der
Gesellschaft verachtet werden – weil sie ihre sexuelle Identität nicht an der Zwei-Geschlechter-Norm
ausrichten. Der gesellschaftliche Widerspruch in der
Türkei ist frappierend: Im Fernsehen erfreut sich der
Auftritt transsexueller und transvestitischer Künstler
großer Beliebtheit. Aber wehe, man bekennt sich
öffentlich zur Homo- oder Transsexualität. Die
Menschenrechtsaktivistin Ebru Kırancı hat das
Trans*Gästehaus 2013 in Istanbul gegründet. Im
Juni konnte ich sie mit all ihrer Empathie, Klarheit
und ihrem Humor kennenlernen. Sie erzählte, dass
die Nachfrage die Kapazitäten bei weitem übertreffe: Der Ort ist zu einem Anlaufpunkt für LGBTIQ der
Türkei, aus Syrien und dem Mittleren Osten geworden. Das liegt vor allem an »Ebru abla« (große
Schwester Ebru), wie sie respektvoll genannt wird.
Seit den neunziger Jahren hat sie zivilgesellschaftliche Strukturen in der Türkei mit aufgebaut: Durch
die Mitgründung der NGO Lambda Istanbul, durch
ihre Mitarbeit beim Menschenrechtsverein IHD
Istanbul und der Gründung der ersten transsexuellen Organisation Istanbul LGBTT. Seit über zehn
Jahren arbeitet sie mit Amnesty zusammen. Wegen
dieses Engagements haben ihr Amnesty und der
CSD e.V. am 27. Juni 2015 in Berlin den Soul of
Stonewall Award in der Kategorie Widerstand verliehen. Der Preis ist eine Anerkennung ihrer Arbeit und
längst überfällig. Er ist auch ein Signal an türkische
Abgeordnete, den Schutz von Trans*Menschen gesetzlich zu verankern: Die Polizei muss Trans*Menschen vor gewalttätigen Übergriffen schützen, Hassverbrechen und Morde müssen vor Gericht konsequent geahndet werden. Der Wahlkampf der AKP
habe erheblich zu Hassverbrechen beigetragen,
wurde mir berichtet. Allein im Mai seien vier
Trans*menschen ermordet worden. Auch deshalb
lautete das Motto des diesjährigen CSD in Istanbul:
»Bize bir yasa lazım!« – »Wir brauchen ein Gesetz!«
Ein Gesetz, das schützt und nicht kriminalisiert.
Selmin Çalışkan ist Generalsekretärin der deutschen Amnesty-Sektion.
13
TITEL
Zur modernen Folter gehört ein Arzt.
Oppositionelle in einem syrischen
Gefängnis.
Foto: Sergey Ponomarev / laif
14
amnesty Journal | 08-09/2015
Folter und Heilberufe
Sie misshandeln statt zu
behandeln, sie sind dabei, wenn
gefoltert wird, oder sie foltern selbst:
Ärztinnen und Ärzte sind häufig Täter.
Viele Heilberufler sind aber auch
aktive Menschenrechtler.
Dank ihres Engagements sind
spezialisierte Anlaufstellen
entstanden, die für die Behandlung
von Folteropfern unerlässlich sind.
15
»Ihr könnt weitermachen.«
Verhörraum der Freien Syrischen Armee.
Foto: Abdalrhman Ismail / Reuters
Dr. Jekyll
und Mr. Hyde
Ärzte und andere Heilberufe genießen höchste gesellschaftliche
Anerkennung. Ihr ethischer Kodex verpflichtet sie, den Menschen
zu helfen, die sich ihnen anvertrauen. Doch zugleich gibt es kaum
eine Berufsgruppe, die in zahlreichen Ländern so intensiv
in Folterpraktiken involviert ist.
Von Uta von Schrenk
16
amnesty Journal | 08-09/2015
I
ch wurde peinlich genau von einem Arzt untersucht. Er
hat mich über meine Familie befragt, über chronische
oder akute Erkrankungen und darüber, ob Teile meines
Körpers wegen vorheriger Erkrankungen empfindlich
seien. Ich dachte, dass ich die Folter reduzieren könnte, wenn ich
ihm diese Informationen gebe. Stunden später verstand ich den
wirklichen Grund für das Interesse des Arztes: Ich hörte seine
Stimme, ohne Zweifel, die sagte: ›Es ist alles in Ordnung, ihr
könnt weitermachen.‹«
Dies sind die zu Protokoll gegebenen Erinnerungen des
Psychoanalytikers C. Chelala, der in Uruguay während der
Militärdiktatur von 1976 bis 1985 gefoltert wurde.
Ärzte assistieren bei Folter und Misshandlung oder legen
selbst Hand an. Psychologen erarbeiten Methoden für die sogenannte »Weiße Folter«, die keine sichtbaren Spuren hinterlässt,
oder »optimieren« grausame Verhörmethoden.
Im Februar protestierte der Weltärztebund (WMA) in einem
Brief an den saudi-arabischen König gegen die Auspeitschung
des Bloggers Raif Badawi – und gegen die »Standardprozedur«
in dem Land, wonach Ärzte die körperliche Fitness von Inhaftierten bescheinigen, bevor diese ausgepeitscht werden. Dies
mache die Mediziner zu Komplizen von Folter, so die internationale Ärztevereinigung.
Zwischen 2002 und 2007 wurden mindestens 119 Menschen
in US-Geheimgefängnissen gefoltert. Psychologen haben Millionen Dollar damit verdient, Verhörmethoden für Militär und
Geheimdienst auszuarbeiten und effektiver zu gestalten (mehr
dazu Seite 20). Das bescheinigt der offizielle CIA-Folterreport des
US-Senats. Und Ärzte und Pfleger haben bei Folter und grausamer, unmenschlicher und erniedrigender Behandlung der USGefangenen »mitgewirkt«. So lautet der Vorwurf des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz.
In Syrien haben Ärzte und medizinisches Personal verletzte
Oppositionelle, die sich gegen das Regime von Baschar al-Assad
gestellt hatten, in staatlichen Krankenhäusern gefoltert. Das
berichtete eine Amnesty-Delegation 2011. Die Krankenhäuser
seien zu »Instrumenten der Unterdrückung« geworden, heißt es
in dem Bericht.
Ist Folter unter medizinischer Betreuung eine seltene Perversion innerhalb des Berufsbildes, die Tat weniger fehlgeleiteter Sadisten? Wohl eher nicht. Steven Miles, Professor für Medizinische Ethik an der Universität von Minnesota, schreibt in einem Beitrag für das Fachmagazin »The Lancet«, »die Beteiligung
von Medizinern an Folterungen und Misshandlungen von Inhaftierten ist in den (…) Ländern, die Folter praktizieren, üblich«.
In mehr als 140 Ländern wird nach Erkenntnissen von Amnesty
auch heute noch gefoltert. Ärzte attestieren Inhaftierten die
Tauglichkeit für Misshandlungen. Ärzte überwachen Vitalzeichen während der Folter. Ärzte geben das Signal, Misshandlungen zu intensivieren. Ärzte empfehlen und entwickeln Techniken, Narben auf ein Minimum zu reduzieren. »Etwa ein Drittel
bis nahezu die Hälfte aller überlebenden Folteropfer berichtet
von Ärzten, die die Misshandlungen überwacht haben«, so Steven Miles. Diese Zahlen umfassten allerdings weder Opfer, die
keine beteiligten Ärzte sahen, noch jene, die an den Folterungen
starben – und bei denen Ärzte eine natürliche Todesursache bescheinigten. Sein bitteres Fazit: »Es sind weitaus mehr Ärzte an
Folterungen Inhaftierter beteiligt als in Programmen beschäftigt, die überlebende Folteropfer behandeln.«
Welcher Systematik die Einbeziehung von Ärzten bei Folter
folgt, erklärt der Medizinethiker Holger Furtmayr, der das Istan-
folter und heilberufe
Besonders verletzlich
Wenn staatliche Gewalt eskaliert oder Kriege wüten,
ertragen Zivilisten das größte Leid. Sie geraten in die
Schusslinie, werden als unfreiwillige Zeugen, Verdächtige oder Zugehörige einer gesellschaftlichen Gruppe
inhaftiert, gefoltert und getötet – Überlebende müssen
oft flüchten. Heilberufler wie Psychologen und Ärzte
sind hier als Opfer, Täter, Helfende oder Experten beteiligt. Amnesty International dokumentiert schwerwiegende Verstrickungen von Menschen, die eigentlich
heilen statt quälen sollen und fordert die Ahndung und
Aufklärung von Folter und Vertreibung. Gleichzeitig
finden sich unter den Heilberuflern besonders engagierte Menschenrechtler, die nicht selten wegen ihres
Engagements verfolgt werden.
In Deutschland begegnen wir einem Teil der
schwersttraumatisierten Opfer von Menschenrechtsverletzungen als Asylsuchende und illegalisierte
Flüchtlinge. Plötzlich sind die Überlebenden von
Konflikt und Verfolgung unter uns. Sie stellen eine besonders schutzbedürftige und zu versorgende Gruppe
in unserer Gesellschaft dar. Ihre Versorgung ist eine
gesellschaftliche wie professionell zu bewältigende
Aufgabe. Sie dürfen nicht in abgelegenen Industriebrachen sozial isoliert werden, sondern sollen am Leben in
unserer Gesellschaft teilhaben können. Professionelle
Hilfe kann nicht nur von schlecht oder gar nicht finanzierten Therapiezentren getragen werden, sondern
muss langfristig in die deutsche Gesundheitsversorgung eingegliedert werden.
Amnesty unterstützt die Psychosozialen Therapiezentren, die seit ihrer Gründung die Aufgabe der Versorgung von traumatisierten Geflüchteten übernehmen. Für ihr ganzheitliches Angebot aus spezialisierten
psychosozialen und psychotherapeutischen Hilfen besteht jedoch keine verbindliche Finanzierungsgrundlage, eine flächendeckende Versorgung ist nicht möglich.
Diese Initiativen müssen integraler Bestandteil eines
sich öffnenden Gesundheitssystems mit umfassenden
therapeutisch-psychosozialen Angeboten zur Traumabewältigung sein. Die Übernahme der therapeutischen
Angebote wird mit Inkrafttreten des neu geregelten
Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylBLG) im März 2015
nicht mehr vor allem durch die Ämter, sondern nach
Krankenkassenleistungen geregelt. Diese erkennen die
Psychotherapieleistungen der Therapiezentren nicht
an. Für die anderen notwendigen psychosozialen Hilfen, Dolmetscherleistungen etc. bestehen keinerlei verbindliche Finanzierungsregelungen. Amnesty fordert
schnelle Maßnahmen zur Beseitigung des eklatanten
Mangels in der Versorgung dieser besonders verletzlichen Flüchtlinge.
Das Ziel ist, dass kein Mensch auf der Welt mehr
Opfer von Folter und Verfolgung wird oder zur Flucht
gezwungen ist. Solange dies nicht erreicht ist, müssen
wir uns um die betroffenen Menschen kümmern.
Das Amnesty-Aktionsnetz Heilberufe
17
»Es
»Es sind
sind weitaus
weitaus mehr
mehr Ärzte
Ärzte
an
an Folterungen
Folterungen Inhaftierter
Inhaftierter
beteiligt
beteiligt als
als in
in Programmen
Programmen
beschäftigt,
beschäftigt, die
die überlebende
überlebende
Folteropfer
Folteropfer behandeln.«
behandeln.«
bul-Protokoll der UNO, das internationale Standards für die
Untersuchung und Dokumentation von Folter festlegt, mit ins
Deutsche übersetzt hat: »Es kommt vermutlich eher auf den
Grad der ›Professionalisierung‹ der Folter an, ob in der Regel
unter direkter ärztlicher oder psychologischer Beilhilfe gefoltert
wird. Wenn zum Beispiel, was vor ein paar Jahren noch häufiger
vorkam, jemand auf einem türkischen Polizeirevier gefoltert
wurde, war sehr wahrscheinlich kein Arzt zugegen.« Zur modernen und gezielten Folter gehört ein Arzt, spontane Übergriffe
und Brachialmethoden kommen ohne ihn aus.
Doch wie kommt ausgerechnet eine Berufsgruppe, deren
Tätigkeit ein hohes Maß an ethischer Kompetenz voraussetzt,
dazu, ihren Verhaltenskodex zu verraten? Ärzten werden höchste gesellschaftliche Anerkennung und Vertrauen entgegengebracht. Der hippokratische Eid verpflichtet den Arzt, Menschen
zu helfen und ihnen nicht Schaden oder Schmerzen zuzufügen.
Auch von Psychologen erwartet man, dass sie in seelischer Not
helfen und nicht das Gegenteil bewirken.
Was macht Dr. Jekyll zu Mr. Hyde?
»Sie haben hier sehr unterschiedliche Täterprofile«, sagt
Thomas Wenzel, Professor für Sozialpsychiatrie und Experte
zum Thema aus Wien. »Vielen Ärzten ist gar nicht bewusst, dass
ihr Verhalten ethisch nicht haltbar ist – weil sie die internationalen Richtlinien gar nicht kennen.« So sei vielen etwa die »Declaration of Malta« nicht geläufig, die dem Arzt die Unterstützung
von Zwangsernährung bei Hungerstreikenden untersagt. Auch
sei vielen nicht klar, dass sie sich – juristisch betrachtet – an Folter indirekt beteiligen, sobald sie die gesundheitlichen Folgen
von Folter und damit den Vorgang selbst nicht dokumentieren.
»Es gibt aber auch Ärzte, die selbst bedroht werden, wenn sie
Folter auch nur dokumentieren«, sagt Wenzel. Eine Gruppe also,
die selbst Schutz braucht, damit sie andere schützen kann. »Und
es gibt jene, die sehr wohl wissen, was sie tun und sich dennoch
an den Taten beteiligen – siehe die Psychologen, die die Verhörmethoden für den US-Geheimdienst und das Militär im ›War on
Terror‹ ausgearbeitet haben«, so Wenzel. Der Medizinethiker
Holger Furtmayr weist darauf hin, dass Folter oft auch einen
»ideologischen Überbau« habe, wie etwa bei der Beteiligung von
Ärzten an der Folter in den lateinamerikanischen Militärdiktaturen: »Die Folterer wähnen sich auf der Seite des moralisch
Richtigen«. Folter wird in die eigene Berufsethik integriert, das
18
Quälen des Schutzbefohlenen wird zum Teil des Jobs – vor allem
bei Militärärzten ist diese Gefahr groß.
Und die Opfer?
Die Dunkelziffer der Opfer ist bedrückend hoch. Etwa 80
Prozent der Folteropfer werden nicht als solche erkannt – das
zeigt eine Studie aus den USA. »Das liegt auch daran, dass die
Opfer nicht über die erlittene Folter sprechen«, sagt Sozialpsychiater Wenzel. Gründe seien unter anderem Scham, Schuldgefühle oder kulturelle Hintergründe – in vielen Ländern spricht
man nicht über psychische Beeinträchtigungen, weil man dann
gesellschaftlich stigmatisiert würde. Umso wichtiger ist es, Standards bei der Begutachtung und Behandlung von Folteropfern
zu setzen – gerade in den Ländern, in denen die Opfer Asyl suchen. »Wir müssen es erst einmal schaffen, Folteropfer zu erkennen, zu schützen und zu behandeln«, sagt Wenzel. »Der nächste
Schritt ist die Strafverfolgung der Täter.«
Eine Traumatisierung durch Folter zu erkennen, ist nicht
einfach. Die Symptome können vielfältig sein: Von massiven
Angststörungen bis zu psychosomatischen Kopfschmerzen sind
viele Krankheitsbilder möglich. Das macht auch den Umgang
mit Folteropfern so schwierig. »Die Frage, die ich mir als Arzt
stellen muss, ist: War dieser Patient, der da vor mir sitzt, einer
Risikosituation ausgesetzt? Aus welchem Land kommt er? Aus
welcher Region? War er im Gefängnis? Welche Symptome zeigt
er?«, sagt Sozialpsychiater Wenzel. Die Foltertechniken unterscheiden sich von Land zu Land. Die Folgen psychischer Folter
sind anderer Art als die Folgen körperlicher Gewalt: »Schläge auf
Fußsohlen und Unterschenkel hinterlassen Narben und typische Schmerzen. Isolationshaft und sexuelle Erniedrigung
hinterlassen seelische, aber keine sichtbaren Folgen.« Medizinisch betrachtet also ein schwieriges Terrain.
Entsprechend schlecht ist die Versorgung. Auch in Deutschland. Statistiken zufolge muss Deutschland für das Jahr 2015 mit
mehr als 150.000 traumatisierten Flüchtlingen rechnen – nicht
alle sind Folteropfer, aber viele. Doch es fehlt an Früherkennung, an Diagnostik und an Therapieplätzen. Die psychosozialen Behandlungszentren, die sich auch durch das Engagement
von Amnesty in Deutschland gegründet haben, können nur
einen Bruchteil des Bedarfs decken, nach eigenen Angaben 15
Prozent (mehr dazu Seite 25).
Amnesty fordert deshalb die Bundesregierung auf, für die
amnesty Journal | 08-09/2015
»Grausame und erniedrigende
Behandlung.« Festnahme eines
Verdächtigen durch US-Soldaten
im Irak.
Foto: Rita Leistner / Redux / laif
nötige medizinische und psychologische Behandlung von durch
Folter traumatisierten Asylsuchenden zu sorgen. Dazu ist sie
auch verpflichtet laut der alten und der neuen EU-AufnahmeRichtlinie für Flüchtlinge, die bis spätestens Sommer 2015 umgesetzt sein müsste. Müsste. Es komme zu Verzögerungen, heißt
es.
Hans-Wolfgang Gierlichs, ehemals Leiter einer psychosomatischen Klinik und engagierter Gutachter für Traumafolgen,
nimmt das erste Glied dieser bislang nicht funktionierenden
Versorgungskette in den Blick: »Zuerst einmal muss sich die
Politik zu einer Früherkennung durchringen.« Früherkennung
aber bedeutet geschultes Personal – Sozialpädagogen, Ärzte,
Psychologen –, das in den Erstaufnahmeeinrichtungen nach
traumatisierten Menschen Ausschau hält, sie einer Behandlung
zuführt und ihren Schutzstatus bestätigt. Denn Patienten mit
einer Posttraumatischen Belastungsstörung, und da schließt
sich der Kreis, dürfen nicht abgeschoben werden. Doch ein
solches Modell setzt eine beherzte Wende der deutschen Asylpolitik voraus. »Leider ist der Abschreckungsgedanke immer
noch sehr stark in der deutschen Politik«, so der Befund Gier-
folter und heilberufe
lückenhafte strafverfolgung
Die Strafverfolgung von Ärzten, die an Folter beteiligt waren, ist lückenhaft. Bislang wurden nur vereinzelt Ärzte zur
Rechenschaft gezogen. Nach dem Zweiten Weltkrieg war
Griechenland das erste Land, in dem sich 1975 ein Arzt
wegen Beteiligung an Folter vor einem Kriegsgericht verantworten musste. In den achtziger Jahren verhängten
Gerichte in Argentinien, Chile und Uruguay Freiheitsstrafen wegen ärztlicher Mitwirkung an Folter in Zeiten der
Militärdiktatur, teilweise wurden Approbationen von den
Ärztekammern ausgesetzt oder zurückgezogen. Auch in
Südafrika ging man in den achtziger Jahren juristisch gegen Ärzte vor. In den neunziger Jahren kamen Brasilien
und Ruanda dazu. Seit 2000 haben Guyana, Pakistan, Sri
Lanka und Großbritannien Ärzte für die Mitwirkung an Folter bestraft. Internationale Gerichte verurteilten serbische
Ärzte wegen Kriegsverbrechen. 19
lichs. Es werde befürchtet, dass noch mehr Flüchtlinge kommen
würden, wenn sie hier eine angemessene Behandlung ihrer
Traumafolgestörungen erwarten könnten.
Amnesty geht jedoch noch einen Schritt weiter: Die Bundesregierung müsse dafür sorgen, »dass Ärzte und Psychotherapeuten in Deutschland in die Lage versetzt werden, Traumatisierungen bei Asylsuchenden zu identifizieren und die Patienten
entsprechend zu behandeln oder an spezialisierte Stellen zu
verweisen«. Zu viele Fälle blieben sonst unerkannt.
Dabei gibt es seit langem bewährte Standards im Umgang
mit Folteropfern. Grundlegend ist das Istanbul-Protokoll der
Vereinten Nationen, das 1999 veröffentlicht und 2001 als Handbuch herausgegeben wurde. Darin sind Richtlinien für eine
rechtliche und medizinische Untersuchung von Folter und Misshandlungen festgelegt. Dazu gehören etwa Fragetechniken im
Gespräch mit Folteropfern, Vorgaben für forensische Untersu-
chungen, für strafrechtliche Ermittlungen, die Sicherung von
Beweisen oder psychiatrische und psychologische Begutachtungen. Die entsprechenden Standards fristen jedoch trotz ihres
langjährigen Bestehens »weitgehend ein Schattendasein« in
Ärztekreisen, wie es auf der Homepage der Professur für Ethik
in der Medizin an der Universität Erlangen-Nürnberg heißt.
Zwar hat die Bundesärztekammer das Curriculum »Begutachtung psychisch reaktiver Traumafolgen in aufenthaltsrechtlichen Verfahren« in ihr Fortbildungsangebot aufgenommen
und den Landesärztekammern auch empfohlen. Allerdings
bieten nicht alle Ärztekammern die Fortbildung an. Und das
Thema ist nicht beliebt. »Leider gibt es eine sehr geringe Kompetenz und Bereitschaft unter Ärzten, sich mit Traumafolgen zu
beschäftigen«, sagt Gierlichs, der das Curriculum vor 14 Jahren
mitentwickelte. Dementsprechend bescheiden fällt die Liste der
zertifizierten Gutachter für Traumafolgen aus. Nur Bayern, Ba-
Verschärfte
Zusammenarbeit
Zwei Militärpsychologen der CIA sind mitverantwortlich für die US-Folter von
Terrorverdächtigen. Auch der amerikanische Psychologenverband steht unter
Verdacht, das Folterprogramm indirekt unterstützt zu haben. Von Maik Söhler
W
er mit Sigmund Freud, dem Begründer der Psychoanalyse, an das Thema Psychologie und Folter herangeht, kann zu einem schlichten Befund kommen: Bei der Folter von Terrorverdächtigen in diversen von der CIA illegal errichteten Gefangenenlagern hat
während der Jahre 2002 bis 2007 das »Ich« versagt« und das
»Es« gewonnen. Freud kennzeichnete in seinem dreigliedrigen
Modell der menschlichen Psyche das »Ich« als Kontrollzentrum
des kritischen Verstandes, das vom »Über-Ich« und vom »Es«
beeinflusst werde. Während das »Über-Ich« als moralische
Instanz über Ge- und Verbote wache, folge das »Es« dem Lustprinzip und damit auch dem Zerstörungstrieb.
Freuds Modell ist hier in mehrerlei Hinsicht interessant,
weil das CIA-Folterprogramm unter der Aufsicht der US-Regierung entstand – einer Regierung, der die Gesetzgebung und
damit die Deutungshoheit über Ge- und Verbote obliegt. Die
Durchführung des Folterprogramms wiederum wurde von der
CIA mit dem Wissen ebenjener Regierung an zwei Militärpsychologen vergeben, die im »Offiziellen Bericht des US-Senats
zum Internierungs- und Verhörprogramm der CIA«, der Ende
2014 veröffentlicht wurde, nur »Dr. Grayson Swigert« und »Dr.
Hammond Dunbar« genannt werden.
Die richtigen Namen der Psychologen lauten James Mitchell
und Bruce Jessen. Sie haben den überwiegenden Teil der systematischen Misshandlung und Folter von Terrorverdächtigen in
20
mindestens 119 Fällen zu verantworten. Und sie haben gut daran
verdient: 2005 gründeten sie das Unternehmen »Mitchell Jessen
& Associates«, mehr als 82 Millionen US-Dollar waren am Ende
der Lohn für ihre Expertise bezüglich Waterboardings, Schlafentzugs, Kälte- und Lärmfolter, Schlägen und Würgegriffen.
Man kann also sagen, um ein letztes Mal zur Psychoanalyse
zurückzukehren, dass im Fall der US-Folter alle drei Glieder des
Freud’schen Modells im negativen Sinne zusammenwirkten: Die
Regierung als »Über-Ich« bannte Folter nicht, sondern suchte im
Gegenteil neue Begründungen und Legitimationen für die »verschärften Verhörmethoden«, denen Gefangene ausgesetzt wurden. Die CIA und andere ausführende Organe bekamen die Freigabe, als »Es« so destruktiv wie möglich in den Grenzen des Erlaubten zu handeln. »Dr. Grayson Swigert« und »Dr. Hammond
Dunbar« schließlich verbanden »Über-Ich« und »Es« und schritten zur Ausführung.
Das Ergebnis der Arbeit von Swigert und Dunbar fasste Dianne Feinstein, die Vorsitzende des Geheimdienstausschusses
des US-Senats, die den CIA-Folterbericht verantwortet und herausgegeben hat, im Herbst 2014 so zusammen: »Die Haftbedingungen und die Anwendung erlaubter und unerlaubter Verhörund Konditionierungsverfahren waren grausam, unmenschlich
und entwürdigend.«
Über zig Seiten ist im offiziell freigegebenen Auszug des CIAFolterberichts – ein wesentlich größerer Teil liegt nur der US-Re-
amnesty Journal | 08-09/2015
den-Württemberg, Berlin, Hessen und Nordrhein-Westfalen führen überhaupt jeweils bis zu einem Dutzend Ärzte auf, die eine
Traumatisierung erkennen und behandeln können.
»Misshandlungen zu erkennen, dafür werden wir Ärzte im
Studium sensibilisiert – und insbesondere Orthopäden, Kinderund Frauenärzte, Psychiater, Psychotherapeuten, Allgemeinärzte und Chirurgen spezifizieren dies in ihrer Weiterbildungszeit
zum Facharzt/zur Fachärztin. Die Folgen von Misshandlungen
sind jedoch ein Stiefkind in der ärztlichen Fortbildung«, räumt
Ulrich Clever, ehrenamtlicher Menschenrechtsbeauftragter der
Bundesärztekammer, ein. Er sieht hierfür allerdings auch das
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge und die nachgeordneten Erstaufnahmestellen für Flüchtlinge in der Verantwortung. »Die Behörden sind nicht gezwungen, unsere zertifizierten Ärzte, Psychiater und Psychologen, die das Curriculum absolviert haben, als Gutachter für Traumafolgen anzufordern.«
gierung vor und wird wohl unter Verschluss bleiben – von der
Rolle Swigerts und Dunbars die Rede. Beide haben ihre Erkenntnisse wohl während ihrer Tätigkeit für ein Trainingsprogramm
der US-Armee namens »SERE« (»Survival, Evasion, Resistance,
Escape«) erworben, mit dem US-Soldaten, die in Gefangenschaft
geraten, gegen mögliche Folter gewappnet werden sollen.
Mehrfach beriefen sich Swigert und Dunbar, wie aus den vom
Geheimdienstausschuss des US-Senats ausgewerteten Quellen –
Protokollen, Telexen, E-Mails, Berichten, Plänen, Briefings etc. –
hervorgeht, auf Mittel und Methoden des SERE-Programms, darunter auch solche, die selten (»Einpferchen in dunkle Kisten«)
oder nach bisherigem Kenntnisstand nie (»Einsatz von Insekten«, »vorgetäuschte Begräbnisse«) zum Einsatz kamen.
Bereits im Juli 2002, so der CIA-Folterbericht, war Swigert
(der heute unter seinem richtigen Namen James Mitchell in Florida lebt) an Besprechungen in der CIA-Zentrale beteiligt und
setzte sich dabei mit Erfolg für ein Engagement Dunbars ein,
der daraufhin einen Vertrag erhielt. Beide Psychologen hatten
nachweislich keinerlei Verhörerfahrung, wussten nichts über AlQaida und sprachen erst recht kein Arabisch.
Umso diensteifriger gingen die beiden Psychologen anschließend ans Werk. Viele Verhöre in den »Black Sites« genannten Geheimgefängnissen hätten sie persönlich geführt und zwar mit
einer Härte, die gestandene CIA-Mitarbeiter dazu brachte, erst
Protestnoten einzureichen und schließlich um ihre Versetzung
zu bitten. Den überwiegenden Teil des Waterboardings von Khalid Sheikh Mohammed, der mit dieser Methode mindestens 183
Mal gefoltert wurde, hätten Swigert und Dunbar selbst übernommen. Das lässt sich im CIA-Folterbericht nachlesen.
In den USA ist die Debatte über Psychologen, die statt Folterund Misshandlungsopfern zu helfen selbst misshandeln und
foltern, schon in die nächste Phase eingetreten. So steht die
American Psychological Association (APA), der mächtige Dachverband der US-Psychologen, nun selbst in der Kritik. Nicht nur,
dass kritische Psychologen Abgrenzungen des Verbands zu den
Taten Swigerts und Dunbars vermissen, auch eine Verstrickung
der APA in die Vorgänge gilt als erwiesen. Joseph Matarrazo
etwa, ehemaliger Präsident der APA, war, wenn auch im kleinen
Rahmen, finanziell an der Firma »Mitchell Jessen & Associates«
beteiligt.
folter und heilberufe
folter im dienst der wissenschaft
Ärzte foltern nicht nur im Auftrag von Machthabern oder
Staaten. Ärzte foltern auch, um zu forschen. In der Antike
sezierten alexandrinische Ärzte Menschen bei lebendigem
Leibe – dies war der grausame Beginn der modernen
Anatomie. Deutsche Ärzte traktierten im Ersten Weltkrieg
Menschen, neben denen Granaten eingeschlagen hatten,
mit Elektroschocks. Sie wollten auf diese Weise die Reaktionen dieser sogenannten »Kriegshysteriker« testen.
Nationalsozialistische Ärzte nahmen sadistische Unter suchungen an KZ-Häftlingen vor – im Dienste einer rassistischen Wissenschaft. »Die
»Die Haftbedingungen
Haftbedingungen und
und
die
die Anwendung
Anwendung erlaubter
erlaubter
und
und unerlaubter
unerlaubter VerhörVerhör- und
und
Konditionierungsverfahren
Konditionierungsverfahren
waren
waren grausam,
grausam, unmenschunmenschlich
lich und
und entwürdigend.«
entwürdigend.«
Andere APA-Mitglieder hätten sich an Verhören beteiligt, in
denen die Foltermethoden »erzwungene Nacktheit«, »Lärm«
und »permanente Beleuchtung« zur Anwendung gekommen
seien. Die APA habe davon gewusst und ihre Ethikrichtlinie im
Jahr 2002 bewusst gelockert. Wo zuvor nur die Ethikrichtlinie
des Verbandes als Grundlage des psychologischen Handelns genannt wurde, sei hinzugefügt worden, dass durchaus auch einer
gesetzlichen Anordnung Folge geleistet werden könne.
In der »New York Times« bekräftigte der Pulitzer-Preisträger
James Risen Ende April bereits zuvor von ihm erhobene Vorwürfe gegen die APA, diese habe enger mit der US-Regierung unter
George W. Bush zusammengearbeitet als bisher bekannt gewesen sei. Die APA habe der Regierung bei juristischen und ethischen Formulierungen geholfen, um den Vorwurf der Folter
gegenüber Kritikern zu entkräftigen und so die „»verschärften
Verhörmethoden« als legitim erscheinen zu lassen.
Ein im Juli veröffentlichter Bericht, den die APA zu ihrer
eigenen Rolle im CIA-Folterskandal in Auftrag gegeben hat,
kommt zu ähnlichen Schlüssen. Der ehemalige Ethikdirektor
der APA, Stephen Behnke, habe im Geheimen Aussagen der APA
zu den »verschärften Verhörmethoden« mit einem Militärpsychologen abgestimmt. Im Gegenzug erhielt er vom Pentagon einen Vertrag und durfte Verhörspezialisten trainieren.
Die American Psychological Association hat sich erst nach
Monaten der öffentlichen Kritik zur Selbstkritik durchringen
können. Man bedauere zutiefst und entschuldige sich für das eigene Verhalten und die Konsequenzen. Es würden Vorschläge
erarbeitet, um die Teilhabe von Psychologen an Verhören künftig zu unterbinden. Auch die Ethikrichtlinien des Verbandes sollen abermals überarbeitet werden.
Der Autor ist Journalist und lebt in Berlin.
21
»Instrumente der Unterdrückung.« Gefängnis des
Islamischen Staates in
Syrien. Dort wurde auch der
US-Fotograf James Foley, der
später hingerichtet wurde,
festgehalten.
Foto: Jasper Juinen / The New York Times / Redux / laif
Dies bedeute für die Flüchtlinge, dass ein Großteil ihrer Gutachter nicht ausreichend geschult sei – und für die Ärzte fehle der
Anreiz, sich entsprechend fortzubilden. »Ein sehr ärgerlicher
Zustand«, so Clever.
Alles in allem scheint die Forderung von Amnesty, die Richtlinien des Istanbul-Protokolls in die Lehrpläne der Ärzte- und
Therapeutenausbildung zu integrieren und ausreichende Fortbildungen zu diesem Thema anzubieten, einen wunden Punkt
in der Ärzteschaft zu berühren. Oder wie Gierlichs es formuliert:
»Es gibt viel zu wenig Diagnostik im Bereich Traumatisierung.
Dafür bräuchten wir ganz andere Zahlen von ausgebildeten
Ärzten.«
Doch es rumort auch in der internationalen Ärzteschaft ob
der eigenen Rolle im Umgang mit Folter. Mitglieder des Weltärztebundes fordern seit mehreren Jahren eine Überarbeitung
der 1975 verabschiedeten »Erklärung von Tokio«. Diese ist
durchaus ein Meilenstein in der medizinischen Ethik: Sie verurteilt die Beteiligung von Medizinern an Folterungen, grausamen, unmenschlichen oder erniedrigenden Vorgängen sowie
jegliche Handlungen, die die Fähigkeit des Opfers herabsetzen,
derartiger Behandlung zu widerstehen. Sie dient vielen medizinischen Richtlinien als Mustervorlage. Und der Weltärztebund
hat die Erklärung auch mehrfach überarbeitet, dennoch, so die
Kritiker, zu denen auch der US-amerikanische Medizinethiker
Miles gehört, müsse sie die Rolle und Verantwortung von Medizinern in den Folter praktizierenden Ländern deutlicher herausstellen – und Wege aufzeigen, wie diese beruflich und strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden könnten. Miles, der sich
in seinem neuen Buch »Doctors who torture« mit der Straflosigkeit von an Folter beteiligten Ärzten beschäftigt, vermutet, »dass
der Weltärztebund sich wohl nicht mit der Frage der Verantwortlichkeit auseinandersetzen will«.
Die Autorin ist Journalistin und lebt in Berlin.
Weitere Informationen:
www.sbpm.de: Zertifizierte Traumafolgen-Ärzte/-Psychologen in Deutschland.
http://doctorswhotorture.com: Internationale Dokumentation von Fällen,
in denen Ärzte für die Beteiligung an Folter bestraft wurden.
»Wir
»Wir müssen
müssen es
es erst
erst einmal
einmal schaffen,
schaffen,
Folteropfer
Folteropfer zu
zu erkennen,
erkennen, zu
zu schützen
schützen
und
und zu
zu behandeln.
behandeln. Der
Der nächste
nächste Schritt
Schritt
ist
ist die
die Strafverfolgung
Strafverfolgung der
der Täter.«
Täter.«
22
amnesty Journal | 08-09/2015
✂
marokko: freiheit
für wafae charaf
und oussama housne!
stop folter
vielen dank!
Wafae Charaf und Oussama Housne, © Privat
Exzellenz,
die 27-jährige Wafae Charaf und der 23-jährige Oussama Housne wurden 2014 nach eigenen
Angaben nach friedlichen Protesten willkürlich festgenommen und gefoltert. Als sie dies öffentlich machten, wurden sie wegen »falscher Anschuldigung« und »Verleumdung der Polizei« zu
zwei bzw. drei Jahren Haft verurteilt. Die beiden jungen marokkanischen Aktivist_innen sind
Mitglieder der Menschenrechtsvereinigung Association Marocaine des Droits Humains (AMDH).
Amnesty International betrachtet sie als gewaltlose politische Gefangene. Die Urteile senden
eine unmissverständliche Botschaft: Wer in Marokko als Folteropfer gegen die Verantwortlichen
Klage einreicht, läuft Gefahr, selbst hinter Gittern zu landen.
Amnesty International wird
alle Unterschriften an den
marokkanischen Justizminister
weiterleiten.
Bitte tragen Sie sich in der
rechten Spalte ein, wenn Sie
weitere Informationen zu
unserer Arbeit und den Möglichkeiten der Unterstützung
von Amnesty International
möchten. Die Angabe dieser
Daten ist freiwillig. Sie sind
nicht Teil der Petition und
werden von uns nicht an den
Adressaten weitergegeben.
ich fordere sie daher auf,
▪ dafür zu sorgen, dass Wafae Charaf und Oussama Housne unverzüglich und bedingungslos
freigelassen werden;
▪ wirksame Maßnahmen zu ergreifen, um Folteropfer und Zeug_innen vor Einschüchterung,
Vergeltung und Gegenklagen zu schützen, und dafür die Bestimmung im Strafgesetz
aufzuheben, welche Verleumdung und Beleidigung von Beamt_innen kriminalisiert;
▪ sicherzustellen, dass alle Berichte über Folter und Misshandlung unverzüglich, wirksam,
unparteiisch und unabhängig untersucht werden.
Ja, ich will mich weiter für die
Menschenrechte einsetzen!
Ich bin einverstanden, über die Arbeit
und die Möglichkeiten der Unterstützung
von Amnesty International e.V. auch per
Telefon oder E-Mail informiert zu werden.
Bitte in Druckbuchstaben schreiben.
Name
Vorname
Straße
PLZ
Hausnr.
Telefon
Wohnort
Unterschrift
E-Mail
Ja, ich will mich weiter für die
Menschenrechte einsetzen!
Ich bin einverstanden, über die Arbeit
und die Möglichkeiten der Unterstützung
von Amnesty International e.V. auch per
Telefon oder E-Mail informiert zu werden.
Bitte in Druckbuchstaben schreiben.
Name
Vorname
Hausnr.
Straße
PLZ
Telefon
Wohnort
Unterschrift
E-Mail
Ja, ich will mich weiter für die
Menschenrechte einsetzen!
Ich bin einverstanden, über die Arbeit
und die Möglichkeiten der Unterstützung
von Amnesty International e.V. auch per
Telefon oder E-Mail informiert zu werden.
Bitte in Druckbuchstaben schreiben.
Name
Vorname
Hausnr.
Straße
PLZ
Telefon
Wohnort
Unterschrift
E-Mail
amnesty international
Sektion der Bundesrepublik Deutschland e.V.
Kampagnen und Kommunikation: Petitionen/Postkarten
Zinnowitzer Straße 8 . 10115 Berlin
7000/7413
Bitte unterschreiben und bis spätestens 30. September 2015 an Amnesty International zurücksenden.
Ihre Daten werden von uns nur zu
vereinsinternen Zwecken und gemäß
den gesetzlichen Bestimmungen des
BDSG gespeichert und nicht an Dritte
weitergegeben. Sie haben das Recht,
die Einwilligung zur Speicherung Ihrer
Daten jederzeit zu widerrufen.
ein kahler raum
seit tagen kein schlaf
müde
kurz vorm einschlafen
ein schlag ins gesicht
müde
kurz vorm einschlafen
ein schlag ins gesicht
ein schlag ins gesicht
ein schlag ins gesicht
bis du was dagegen tust.
auf amnesty.de/stopfolter
Stimme der
Verstummten
Viele Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen, sind schwer traumatisiert.
Die Behandlungszentren für Folteropfer sind oftmals die einzigen Einrichtungen,
die therapeutische Hilfe anbieten. In Ulm entstand vor 20 Jahren eine der
ersten Initiativen. Die wechselvolle Geschichte des Zentrums zeigt, mit welchen
Schwierigkeiten die Aktivisten zu kämpfen haben – und wie wichtig ihr Einsatz ist.
Von Urs M. Fiechtner
E
in großes Verdienst vieler Amnesty-Kampagnen liegt
oft darin, ein Menschenrechtsthema überhaupt erst in
die Öffentlichkeit zu bringen und damit eine gesellschaftliche Entwicklung in Gang zu setzen, die ohne
einen solchen Anstoß nicht denkbar gewesen wären. Schon
die erste internationale Kampagne war ein Beispiel dafür: Am
10. Dezember 1972 startete Amnesty die »Campaign Against Torture« mit dem weitgreifenden Ziel, »die Folter so undenkbar zu
machen wie die Sklaverei«, so der damalige Amnesty-Generalsekretär Sean McBride. Aufgrund dieser Analogie wurde das
Kampagnenkürzel CAT häufig auch als »Campaign for the Abolition of Torture« ausgeschrieben.
Die Resonanz in der Öffentlichkeit war enorm und schwankte zwischen Überraschung und Empörung, denn über die Existenz von Folter hatte es bisher kaum öffentliche Debatten gegeben. Für die meisten Menschen war der Begriff unklar, viele
brachten ihn eher mit den Verliesen der Inquisition oder den
Kerkern der Gestapo in Verbindung als mit einer Praxis der
Gegenwart. In der geteilten Welt des Kalten Krieges machte man
Folter – wenn überhaupt – nur der jeweils anderen Seite zum
Vorwurf. Weit gefehlt: Der im Zuge der Kampagne veröffentlichte, sorgfältig recherchierte Amnesty-Bericht belegte die Existenz
staatlich angeordneter und systematisch organisierter Folter in
über 60 Ländern in Ost und West. Die Zeitungen waren voll davon, in der Bundesrepublik wurde der »Bericht über die Folter«
(Fischer Taschenbuch Verlag) bald zum Bestseller. 1973 verabschiedete die UNO-Vollversammlung einstimmig eine Resolution gegen Folter, und nach jahrelanger Kampagnenarbeit von
Amnesty und anderen Organisationen wurde 1984 endlich die
UNO-Antifolterkonvention verabschiedet.
folter und heilberufe
Auch im Hinblick auf die praktische Hilfe für Folterüberlebende zeigte die Kampagnenarbeit ungeahnte Wirkung. Amnesty hatte Mediziner dazu aufgerufen, sich mit der Kampagne zu
solidarisieren und sowohl Methoden zur wissenschaftlichen
Erforschung von Folterfolgen wie auch zur therapeutischen
Hilfe zu entwickeln. Innerhalb weniger Monate schlossen sich
4.000 Ärztinnen und Ärzte aus 34 Ländern zu einem internationalen Netzwerk (Amnesty Health Network, in Deutschland heute vertreten durch das Amnesty-Aktionsnetz Heilberufe) zusammen – vielleicht auch als Gegenreaktion auf die beschämende
Nachricht, dass in vielen Ländern Angehörige von Heilberufen
mit zu den Tätern gehörten. In einigen Ländern, darunter
Schweden, Chile, Griechenland und Dänemark, begannen Mediziner mit der systematischen Analyse von Folterfolgen.
In Dänemark entstand daraus 1978 eine Gruppe von Ärztinnen und Ärzten, die sich unter Leitung von Dr. Ines Genefke
vor allem der physischen und psychischen Rehabilitation von
Folterüberlebenden widmete. Die Arbeit der Gruppe war so
erfolgreich, dass sie ab 1982 als eigenständige, unabhängige
Organisation eine Abteilung im Nationalen Hospital Kopenhagen aufbauen konnte. Mit diesem nun förmlich etablierten
Rehabilitation and Research Centre for Torture Victims (RCT,
heute Dignity), das in den Medien häufig kurz als »AmnestyKlinik« bezeichnet wurde, war das weltweit erste Behandlungszentrum für Folteropfer entstanden.
Kopenhagen wurde sehr rasch zum Vorbild. Die Gruppe um
Ines Genefke hatte nicht nur wissenschaftlich belastbare Methoden für die Analyse und Behandlung von Folterfolgen entwickelt,
sondern gleichzeitig auch bewiesen, dass aus einer kleinen Privatinitiative eine anerkannte medizinische Institution werden
25
kann. Das Beispiel ging um die Welt: Unter dem Dach des aus
dem RCT entstandenen International Rehabilitation Council for
Torture Victims (IRCT) sind heute 145 Behandlungszentren in
über 70 Ländern der Welt miteinander vernetzt.
Auch in der Bundesrepublik entstanden Ende der siebziger
und in den achtziger Jahren Initiativen für die Gründung von
Behandlungszentren. Wie in Frankfurt am Main oder Düsseldorf gingen diese Initiativen jedoch meist nicht von der Ärzteschaft aus, sondern von Ehrenamtlichen aus Asylarbeitskreisen,
Flüchtlingsräten und Amnesty-Gruppen. Sie reagierten damit
auf die steigende Anzahl der Flüchtlinge, die aus Diktaturen und
Kriegsgebieten nach Deutschland kamen und hier auf ein unzureichend vorbereitetes Gesundheitssystem stießen. Viele der
Flüchtlinge litten unter einer schweren Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS), ohne dass ihnen die niedergelassenen
Psychiater und Psychotherapeuten wirksam hätten helfen können. Teils wegen des ohnehin eingeschränkten Zuganges von
Flüchtlingen zum deutschen Gesundheitssystem, teils wegen
der Sprachbarriere – die dolmetschergestützte Therapie war
noch weitgehend unbekannt und die Krankenkassen weigerten
sich damals wie heute, Dolmetscher zu finanzieren.
Hinzu kam, zumindest in den Augen erfahrener AmnestyMitglieder, dass die erfolgreiche Therapie eines durch Folter
und Gewalt gezeichneten Menschen besonderer Kenntnisse bedarf. Das knappe Überleben einer Naturkatastrophe oder eines
was muss besser werden?
e Amnesty fordert die Bundesregierung, die Länder und
die Kommunen dazu auf, eine verbindliche, langfristige
und nachhaltige (Teil-)Finanzierung der psychosozialen
Behandlungszentren durch öffentliche Mittel zu beschließen, um ausreichende Behandlungsmöglichkeiten für alle
durch Folter traumatisierten Flüchtlinge zu sichern.
r Die Bundesregierung soll zudem, im Falle einer Bewilligungs- und Auszahlungsverschiebung der Fördermittel
der EU, eine Zwischenfinanzierung der Zentren herstellen,
so dass die fehlende Finanzierung nicht zu Lasten der
Flüchtlinge und Asylsuchenden geht. t Sie soll dafür sorgen, dass die Leistungen der psychosozialen Behandlungszentren als »pauschalisierte Komplexleistungen« im Rahmen der Gesetzlichen Krankenversicherung anerkannt werden. Unter anderem soll der Einsatz von qualifizierten Dolmetschern von der Gesetzlichen
Krankenversicherung übernommen werden.
u Die Bundesregierung soll sich außerdem darum kümmern, dass behandlungsbedürftige traumatisierte Flüchtlinge auch schon während der ersten 15 Monate ihres
Aufenthalts in Deutschland, in denen ihnen nur die
Grundversorgung nach dem AsylbLG zusteht, die nötige
Behandlung erhalten. i Das Gesundheitsministerium und die Bundesärztekammer sollten dazu beitragen, dass Ärzte und Psychotherapeuten in Deutschland in die Lage versetzt werden, Traumatisierungen bei Asylsuchenden zu identifizieren und die
Patienten entsprechend zu behandeln oder an spezialisierte Stellen zu verweisen. Hierfür sollten die Richtlinien
des Istanbul-Protokolls in die Lehrpläne der Ärzte- und
Therapeutenausbildung integriert werden. 26
schweren Unfalls und viele andere schreckliche Erfahrungen
können einen Menschen über die Grenzen seiner seelischen Belastbarkeit stoßen – aber ein Erdbeben wird ihm nicht planvoll
von anderen Menschen zugefügt.
Mit den 1991 einsetzenden Kriegen im ehemaligen Jugoslawien stieg der Druck noch weiter an: Allein aufgrund des Bosnienkrieges kamen zwischen 1992 und 1995 rund 350.000 Menschen nach Deutschland, von denen ein hoher Prozentsatz traumatisiert war – unter ihnen insbesondere Frauen, die im Zuge
»ethnischer Säuberungen« Opfer militärisch organisierter Massenvergewaltigungen geworden waren.
In Süddeutschland war die Lage besonders desolat. Viele Folterüberlebende hätten lange Reisen auf sich nehmen müssen,
um in einer anderen Stadt in therapeutische Behandlung zu
kommen, und dies auch noch regelmäßig über Wochen und
Monate hinweg, trotz unbezahlbarer Fahrtkosten und trotz der
Residenzpflicht für Asylbewerber. Auch die große Region rund
um Ulm gehörte dazu. Hier lebten damals rund 10.000 Flüchtlinge, von denen geschätzte 25 Prozent traumatisierte waren.
Ein Behandlungszentrum musste her!
Am Anfang bestand die Ulmer Initiative nur aus zwei Amnesty-Mitgliedern. Eine Lehrerin und ein Künstler – beides Berufe, die in der Regel weder mit übermäßigem gesellschaftspolitischen Einfluss noch unbegrenzten Geldmitteln verbunden sind.
Was die beiden Initiatoren aber hatten, das war Amnesty: gute
Argumente auf der Basis gesicherter Fakten, ein großes Netzwerk erfahrener Menschenrechtsaktivisten und -experten und
einen guten Namen, der Türen öffnen kann. Innerhalb nur weniger Monate bildete sich ein Initiativkreis mit Unterstützern
aus der Bürgerschaft, aus Kirchen und Parteien, von Amnesty
und anderen Organisationen. Die Strategie war einfach: Es
musste ein Träger gefunden werden, der in der Lage war, ein
Behandlungszentrum institutionell aufzubauen. Und um ihn
zu finden, musste das Thema so breit wie möglich in die Öffent-
Die Anzahl
Anzahl der
der
Die
Flüchtlinge, die
die
Flüchtlinge,
aus Diktaturen
Diktaturen
aus
und Kriegsgebieten
Kriegsgebieten
und
nach Deutschland
Deutschland
nach
kamen, stieg
stieg an,
an, sie
sie
kamen,
stießen hier
hier auf
auf
stießen
ein unzureichend
unzureichend
ein
vorbereitetes
vorbereitetes
Gesundheitssystem.
Gesundheitssystem.
amnesty Journal | 08-09/2015
Vorbild Dänemark. Das Rehabilitation
and Research Centre for Torture
Victims im Nationalen Hospital
Kopenhagen, 1983.
Foto: Peter Marlow / Magnum Photos / Agentur Focus
lichkeit getragen werden. Hunderte Veranstaltungen wurden
organisiert, parallel dazu fanden Gespräche mit Einrichtungen
des Gesundheitssystems und der Wohlfahrtsverbände statt.
Wie so oft, wenn man in Deutschland ein sinnvolles Anliegen hat, stieß man allerorts auf offene Ohren, aber auf verschlossene Geldbeutel. Angesichts der restriktiven Regelungen
des 1993 verabschiedeten Asylbewerberleistungsgesetzes waren
die Sorgen groß, die Behandlung von Folteropfern finanziell
nicht schultern zu können. Der Initiativkreis erhöhte den öffentlichen Druck und bekam zudem durch das Amnesty-Aktionsnetz Heilberufe kompetentes ehrenamtliches Personal in Aussicht gestellt. Schließlich fand sich ein Träger in Gestalt des
REHA-Vereins für soziale Psychiatrie Donau-Alb. Im Januar 1995
nahm das Behandlungszentrum für Folteropfer Ulm (BFU) seine
Arbeit auf, zunächst mit dem ehrenamtlichen Einsatz von drei
Aufnahmeärzten, rund 20 kooperierenden Ärzten und Ärztinnen, Therapeuten, Rechtsanwälten und Sozialarbeitern sowie
Dolmetschern für die Region rund um die Stadt.
Schon im ersten Jahr waren etwa 100 Klienten in Diagnostik
und Therapie, viele von ihnen Kurden aus der Türkei (25 Pro-
folter und heilberufe
zent), Kriegsflüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien
(20 Prozent), Flüchtlinge aus Pakistan, Indien und Sri Lanka
(15 Prozent), dem Nahen Osten (10 Prozent) sowie aus den GUSStaaten, Afrika und dem Mittleren Osten (30 Prozent).
Der ewige Kampf um die Finanzierung der Arbeit blieb dabei der ständige Begleiter des BFU wie auch fast aller anderen
Behandlungszentren. Immer wieder mussten Krisen überstanden oder mit vereinten Kräften eine bevorstehende Schließung
abgewendet werden. Dennoch war es möglich, vor allem mit der
Hilfe von Amnesty und aus einem großen Unterstützerkreis, die
Arbeit immer weiter auszubauen. Heute arbeiten über 30 Personen für das BFU, die überwiegende Mehrheit als Honorarkräfte
auf Stundenbasis. Nach jahrelangen politischen Auseinandersetzungen gibt es nun einen Zuschuss des Landes Baden-Württemberg, der knapp ein Drittel der jährlichen Kosten auffängt.
Hinzu kommen Kommunen, kirchliche Mittel, die Beiträge von
Spendern und Förderern und die Unterstützung von Amnesty.
Nachdem das BFU in den vergangenen 20 Jahren mehrere
Male vor der Schließung stand, ist die finanzielle Not inzwischen etwas gelindert, die Therapieplätze für 100 bis 130 Klien-
27
Grenzen der seelischen Belastbarkeit.
Behandlungszentrum für Folteropfer
in Berlin-Moabit.
Foto: Amin Akhtar / laif
28
amnesty Journal | 08-09/2015
ten pro Jahr sind halbwegs abgesichert. Aber die Warteliste
derer, denen vorläufig aufgrund der begrenzten Kapazitäten
keine Therapie angeboten werden kann, ist lang. Und sie wird
länger werden, weil sich mit den steigenden Flüchtlingszahlen
auch der Bedarf an Therapieplätzen erhöht. Deshalb müssten
dringend neue Stellen geschaffen werden. Zurzeit werden Folter- und Gewaltüberlebende aus über 20 Ländern im BFU behandelt. Ein größerer Anteil kommt aus Afghanistan (15 Prozent),
aus Nigeria (12 Prozent) und aus der Türkei (9 Prozent), gefolgt
von Flüchtlingen aus den Balkanstaaten, Iran, Pakistan, Irak,
Syrien, Tschetschenien, Russland, Georgien, Kongo, Togo,
Uganda, Sierra Leone, Algerien, Gambia und Kolumbien.
In gewisser Weise sind Behandlungszentren für Folter- und
Gewalttraumatisierte ein Spiegel der Krisenherde unserer Zeit.
Aber sie spiegeln die Situation nicht unmittelbar, sondern verzögert wider. Viele Traumatisierte benötigen Zeit, bis sie bereit
sind, Hilfe anzunehmen. Oder bis sich ein Sozialarbeiter, Arzt,
Freund oder ein ehrenamtlicher Helfer findet, der sie an ein
Zentrum vermittelt. Und manchmal kann es Jahre dauern, bis
jemand bereit ist, seine Geschichte zu erzählen.
Es ist vielleicht die Tragik der in Deutschland immer
wiederkehrenden Debatten über Flüchtlinge, dass zu wenig
über deren Geschichten gesprochen wird. Manchmal, weil man
ihnen nicht zuhören will oder kann, und manchmal, weil sie so
Unaussprechliches erlebt haben, dass sie es nicht aussprechen
können. Sehr wahrscheinlich wird jeder, der schon einmal
praktische Erfahrungen in der Flüchtlingsarbeit gesammelt
hat, irgendwann auf den Gedanken gekommen sein, dass es in
Deutschland wohl viel weniger Ausländerfeindlichkeit gäbe
und ganz gewiss keine Attacken auf Flüchtlingsunterkünfte,
wenn die einen fähig wären zuzuhören und die anderen fähig
wären zu erzählen. Auf Folter- und Gewaltüberlebende trifft
dies ganz besonders zu: Wenn sie verstummen, muss jemand
an ihrer Stelle sprechen.
Das BFU hat daher seine Öffentlichkeitsarbeit immer stärker
auf die Anliegen der Menschenrechtsbildung ausgerichtet. In
Zusammenarbeit mit Amnesty im Bezirk Ulm werden jährlich
bis zu 100 Veranstaltungen in der Jugend- und Erwachsenenbildung in ganz Süddeutschland vermittelt oder organisiert.
aktionsnetz heilberufe
Das Amnesty-Aktionsnetz Heil berufe engagiert sich in vier
Bere ichen: Heilberufler/innen als Opfer, Täter, Helfende
und Experten hin sichtlich schw erer Menschenrechtsverletzungen. Mitglieder dieser Gruppe engagieren sich
schon seit Jahrzehnten in regionalen therapeutischpsychosozialen Zentren. Eine Gründung ist die Bundesweite Arbeitsgemeinschaft der psychosozialen Zentren für
Flüchtlinge und Folteropfer (BAfF e.V). Die wesentlichen Schwerpunkte sind:
a Men schen rechts bil dung innerhalb von Amnesty wie
auch an Universitäten in der Öffentlichkeit
a Interprofessionelle, fachliche Netzwerkarbeit zum
schnellen Informationsaustausch und internationale
politische Arbeit, a Inhaltliche Arbeit – aktuell zu den Themen Menschenrechte und psychiatrische Behandlung, therapeutische und psychosoziale Versorgung von Flüchtlingen
und Folteropfern weltweit, Rechte HIV-positiver Mütter
in Südafrika, Umsetzung internationaler Normen
bezüglich des Menschenrechts auf Gesundheit
Weitere Infos unter E-Mail: [email protected]
In diesem Jahr begeht das BFU den 20. Jahrestag seiner
Gründung. Gefeiert wird aber nicht: Die Feier sparen wir uns auf
für den Tag, an dem solche Einrichtungen überflüssig geworden
sind, für den Tag, an dem Folter endlich so »undenkbar« geworden ist, wie es schon die erste Antifolterkampagne von Amnesty
angestrebt hatte. Das wird noch eine Weile dauern. Aber es wird
vielleicht etwas schneller gehen, wenn möglichst viele Menschen
sich der »Stop Folter«-Kampagne von Amnesty anschließen und
zusätzlich die Arbeit der Behandlungszentren für Folteropfer
unterstützen.
Der Autor ist Schriftsteller und Amnesty-Mitglied.
Es ist
ist vielleicht
vielleicht die
die eigentliche
eigentliche
Es
Tragik der
der in
in Deutschland
Deutschland
Tragik
immer wiederkehrenden
wiederkehrenden
immer
Debatten über
über Flüchtlinge,
Flüchtlinge,
Debatten
dass zu
zu wenig
wenig über
über deren
deren
dass
Geschichten gesprochen
gesprochen wird.
wird.
Geschichten
folter und heilberufe
29
Zermürbte Seelen
Flüchtlinge mit Foltererfahrungen leiden besonders häufig unter psychischen
Erkrankungen. Die Gewalt, die sie erfahren haben, die oft dramatische Flucht,
aber auch prekäre Lebensverhältnisse im neuen Land belasten sie existenziell.
Der Zugang zu professioneller Hilfe ist dennoch hürdenreich. Von Jana Hauschild
M
ahmoud* hat nicht nur eine Hölle erlebt. Als der
Syrer 2011 an einer Demonstration gegen den syrischen Staatspräsidenten Baschar al-Assad teilnimmt, wird er vom Staatsschutz festgenommen –
und in Haft gefoltert. Bis zur Ohnmacht treiben ihm seine Peiniger Elektroschocks durch den Körper. Sie fesseln seine Arme
hinter seinem Rücken und hängen ihn stundenlang daran auf.
Mit anderen Männern wird er so eng in einer Zelle zusammengepfercht, dass sie nur stehen, nicht schlafen können. Im Ohr
immer die Schreie der anderen, die gefoltert werden. Die Wächter drohen zudem, Mahmoud zu vergewaltigen und seine Familie zu überfallen. Der 35-Jährige ist verheiratet und hat zwei Kinder. Es gelingt seiner Familie, ihn aus der Haft freizukaufen. Mit
dem letzten Geld finanzieren sie seine Flucht. Für Frau und Kinder reicht es nicht. Sie bleiben zurück, dort, wo das Regime die
Familie im Visier hat – und ihr Leben bedroht.
Mahmoud steigt in Libyen auf ein Schiff Richtung Europa.
Es havariert, Menschen ertrinken, er überlebt und kommt in
Italien in Gewahrsam. Die Beamten misshandeln ihn. Als er freikommt, kann er sich nach Deutschland durchschlagen. Berlin
erreicht er im Herbst 2014. Im Gepäck: Angst und die bedrückenden Erinnerungen an Gewalt und Tod. Sie haben sich fest in
sein Gehirn gebrannt. Im Schlaf, aber auch am Tag überwältigen
sie den jungen Mann. Dann hört er die Männer im Gefängnis
schreien, sieht Menschen ertrinken, spürt die Panik in sich
hochkommen, hat das Gefühl, er sei wieder zurück. In der Hölle.
Ihn verlässt die Kraft. Ohne Familie will er nicht mehr leben.
Mahmoud leidet unter einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) und Depressionen – wie viele Folteropfer, die aus
ihrer Heimat geflohen sind. Experten schätzen, dass die Zahl der
psychisch Erkrankten unter Geflüchteten generell um ein Vielfaches höher ist als im Rest der Bevölkerung. Sie leiden Erhebungen
zufolge bis zu zehnmal häufiger unter Angsterkrankungen, Depressionen oder einer PTBS. Doch vor allem diejenigen, die Folter
ausgesetzt waren, erkranken deutlich öfter. Einer dänischen
Untersuchung zufolge weisen Folteropfer bis zu dreimal häufiger
Beschwerden von Angst- bis Zwangsstörung auf als Flüchtlinge,
die diese Gewalterfahrung nicht gemacht haben. Tatsächlich steigert Folter das Risiko dafür, an einer PTBS zu erkranken, so drastisch wie kein anderes Erlebnis im Leben von Menschen. Angst,
Sucht oder Depressionen sind typische Begleiter der TraumaErkrankung. Ob jemand nach einer Flucht psychisch erkrankt,
hängt allerdings nicht nur von seinen Erfahrungen im Herkunftsland oder während der oft lebensbedrohlichen Flucht ab,
sondern auch davon, wie das Leben in dem neuen Land ist, welche Möglichkeiten er hat, seinen Alltag zu gestalten.
»Gerade Flüchtlinge, die von staatlichen Organen verfolgt,
misshandelt oder gefoltert wurden, die also schwere Menschen-
30
rechtverletzungen erlebt haben, zeigen ein großes Bedürfnis
nach Sicherheit«, sagt Johannes Kruse, Direktor der Klinik für
Psychosomatik und Psychotherapie an der Universität Marburg.
Dann kämen sie in ein Land, dessen Sprache sie nicht sprechen
und von dem sie nicht wissen, ob es ihnen Schutz gewähren
wird. Das verunsichere sie sehr. »Wenn die Flüchtlinge dann
auch noch von brennenden Flüchtlingsheimen hören oder
sehen, wie Einheimische gegen sie demonstrieren, schürt das
zusätzliche Ängste«, so Kruse. Dabei wisse man inzwischen: Jedes Problem im Aufnahmeland erschwert es den Geflüchteten,
die Traumatisierung zu verarbeiten.
»In Erstaufnahmeeinrichtungen haben die Flüchtlinge
keinen richtigen Rückzugsraum – egal wie gestresst, erschöpft
oder auch traurig sie durch all die Erlebnisse sind«, kritisiert die
Psychiaterin Meryam Schouler-Ocak von der psychiatrischen
Universitätsklinik der Charité in Berlin, wo auch Flüchtlinge mit
psychischen Erkrankungen behandelt werden. Dazu kommen:
Die willkürliche Zuteilung zu einem Wohnort. Das Zusammenleben auf engstem Raum, mit fremden Menschen, die selbst
oftmals psychisch leiden. Eine Studie aus den USA bestätigt die
Eindrücke. Flüchtlinge, die in institutionellen Einrichtungen
lebten oder wegen ihres Aufenthaltsstatus keiner Arbeit nachgehen konnten, wiesen mehr psychische Probleme auf als
Migranten mit eigener Wohnung oder einem Job.
Doch auch das Asylverfahren ist zermürbend. Die Anhörungen bei Ämtern oder durch das Bundesministerium für Migration stellen für viele eine enorme Herausforderung dar, weil sie
dort unter anderem zu ihren traumatischen Erlebnissen befragt
werden. »Nicht selten werden die Berichte von Folter und Gewalt
später als Schutzbehauptungen abgetan und der Antrag auf Asyl
wird abgelehnt. Ursache dafür ist, dass die Betroffenen meist
nicht chronologisch oder nur lückenhaft erzählen«, sagt Mediziner Johannes Kruse. Dabei sei eben diese Schwierigkeit meist
Ausdruck der Posttraumatischen Belastungsstörung selbst. Wenn
jemand gefoltert wurde, könne er diese Erfahrung nicht wie jedes andere Ereignis im Gehirn abspeichern, sondern nur in Splittern. »Zudem sind diese Erinnerungsfetzen nicht nur sehr brutal, sondern oft auch schambesetzt«, ergänzt Kruse. Wird ihnen
Asyl verwehrt, können die Antragstellenden Klage einreichen –
und müssen dann ihre Biografie und die traumatisierenden
Erlebnisse noch einmal vor einem Gericht vortragen.
Die andauernde Unsicherheit darüber, wie es weitergeht,
stellt eine existenzielle Belastung dar. Schon 2004 wies eine
niederländische Untersuchung auf diesen Umstand hin: Flüchtlingen, die bereits seit zwei Jahren auf eine Entscheidung warteten, ging es psychisch deutlich schlechter als jenen, die weniger
als ein halbes Jahr ohne klare Bleibeperspektive in den Niederlanden lebten. Von den gerade erst Angekommenen wiesen 42
amnesty Journal | 08-09/2015
Aufenthalts»Erst
»Erst wenn
wenn der
der Aufenthalts
Aufenthalts-status
status geklärt
geklärt ist,
ist, kommen
kommen
die
die Flüchtlinge
Flüchtlinge zur
zur Ruhe.
Ruhe.
Und
Und erst
erst dann
dann können
können
sie
sie ihre
ihre Erlebnisse
Erlebnisse wirklich
wirklich
aufarbeiten.«
aufarbeiten.«
Prozent eine Depression, Angststörung oder PTBS auf. In der
Gruppe, die schon lange wartete, lag die Rate bei 66 Prozent.
»Das Wichtigste für die Flüchtlinge ist es, ihre Zukunft zu
klären«, sagt auch die Ärztin und Psychotherapeutin Mechthild
Wenk-Ansohn, die die ambulante Abteilung am Behandlungszentrum für Folteropfer in Berlin leitet. Sie und ihre Kollegen erleben oft, dass Asylsuchende im Klageverfahren bis zu fünf Jahre auf eine definitive Entscheidung warten oder über Jahre als
Flüchtlinge nur geduldet werden. »Doch erst wenn der Aufenthaltsstatus geklärt ist, kommen die Flüchtlinge zur Ruhe. Und
erst dann können sie ihre Erlebnisse wirklich aufarbeiten«, betont Wenk-Ansohn. Ein typisches Beispiel dafür sei der Syrer
Mahmoud, der seit Anfang 2015 bei ihr in Behandlung ist. Er
sollte im Dublin-Verfahren nach Italien zurückgeschoben werden, das Land, in dem er bereits Opfer von Gewalt geworden
war. Doch diese Abschiebung konnte verhindert werden. Seit
sein Aufenthaltsstatus geklärt ist und er ein Bleiberecht erhalten
hat, sind seine Beschwerden deutlich zurückgegangen. Ohne
das Behandlungszentrum wäre es wohl nie dazu gekommen.
Einzelgespräche, in denen er die Erlebnisse aufarbeitete, und
Gruppensitzungen, in denen er Menschen traf, die sich ein neues Leben aufbauen müssen, haben ihm wieder Halt gegeben.
Bundesweit gibt es etwa zwei Dutzend Behandlungseinrichtungen für Geflüchtete und Folteropfer. Das Personal ist im Umgang mit Menschen aus anderen Kulturen geschult. Dolmetscher ermöglichen die Therapiegespräche. Doch Kapazitäten
und Geld reichen nicht aus. Die Einrichtungen führen pro Jahr
rund 3.600 Psychotherapien durch, schreibt die Bundespsychotherapeutenkammer in einer aktuellen Stellungnahme. Nach
ihren Hochrechnungen lag der Behandlungsbedarf im Jahr 2014
aber bei rund 80.000. Das Behandlungszentrum für Folteropfer
in Berlin berichtet ebenfalls, dass es zehnmal mehr Anfragen
gibt als Therapieplätze existieren.
Oftmals ist der Zugang zu psychiatrischer oder psychologischer Hilfe für Geflüchtete allerdings verstellt. Das Asylbewerberleistungsgesetz sieht eine medizinische Versorgung für Asylsuchende nur vor, wenn die Erkrankung akut oder lebensbedrohlich ist. »Psychische Störungen zählen oft nicht dazu. Blei-
folter und heilberufe
ben die Beschwerden allerdings unbehandelt, können sie sich
verschlimmern oder chronisch werden, mit all dem Leid für die
Betroffenen«, betont die Berliner Psychiaterin Schouler-Ocak.
Gleichzeitig bleiben psychische Erkrankungen bei Flüchtlingen häufig unerkannt. Das EU-geförderte Projekt PROTECT (Verbesserung der Erkennung und Versorgung von geflohenen Folteropfern in der EU) hat deshalb in den vergangenen Jahren einen kurzen Fragebogen entworfen, mithilfe dessen auch NichtMediziner feststellen können, ob ein Flüchtling aufgrund von
Folter und massiver Gewalterfahrung Behandlungsbedarf hat. In
einigen Ländern, die an dem Projekt teilnahmen, gehört der Test
schon zum Standardverfahren bei der Erstaufnahme, in Deutschland noch nicht. »Die Vorstöße, die es hierzulande gibt, sind leider bisher nicht ausreichend zu den Flüchtlingseinrichtungen
durchgedrungen«, sagt Johannes Kruse, der mit einem Team der
Düsseldorfer Uniklinik versucht hat, ein eigenes Screening-Verfahren in den Asylprozess zu integrieren. Viele Erstaufnahmen
hätten zurückgemeldet, sie hätten keine Kapazitäten, um die
Befragungen bei allen durchzuführen. »Doch selbst wenn sie das
täten und bedürftige Flüchtlinge identifizieren würden, wäre eine
Versorgung notwendig, für die aber weiterhin die Mittel und die
personellen Ressourcen fehlen«, so Kruse.
Mahmoud lernt inzwischen Deutsch und möchte wieder in
seinem alten Beruf als Maler arbeiten. Die Behörden stimmten
zu, dass er seine Frau und Kinder nach Deutschland nachholen
kann. Mit ihnen möchte Mahmoud in eine Wohnung ziehen,
gemeinsam von vorn beginnen. Zukunftspläne, wo vor wenigen
Wochen noch der Wunsch zu sterben stand. Die Schreie der anderen, die ins Gehirn eingebrannten Schreckensbilder: »Sie werden wohl nie ganz weg sein«, sagt seine Therapeutin Wenk-Ansohn. »Doch sie werden nicht mehr seinen Alltag bestimmen.«
* Name geändert
Die Autorin ist freie Journalistin und lebt in Berlin.
Diesen Artikel können Sie sich in unserer Tablet-App vorlesen lassen:
www.amnesty.de/app
31
»Wir haben
es mit starken
Menschen zu tun«
Ein Gespräch mit dem Arzt Ernst-Ludwig Iskenius über die Möglichkeiten,
traumatisierte Flüchtlinge in Deutschland zu behandeln.
Welche Erfahrungen haben Sie dazu geführt, traumatisierte
Flüchtlinge zu behandeln?
Zum ersten Mal wurde ich mit diesem Thema konfrontiert,
als ich in Bosnien Flüchtlingslager als Freiwilliger unterstützt
habe. Damals hatte ich mit Traumatisierung und der psychosozialen Situation von Flüchtlingen keine Erfahrung. In unserer
Ausbildung kam dieses Thema nicht vor. Als ich 1995 nach
Deutschland zurückkehrte, betreute ich zusammen mit anderen
ehrenamtlich bosnische Flüchtlinge. Daraufhin haben wir 1998
ein kleines psychosoziales Zentrum für traumatisierte Flüchtlinge in Villingen-Schwenningen gegründet. Das Zentrum habe
ich 15 Jahre ärztlich geleitet.
Wie erkennt man, dass jemand ein Folteropfer ist?
Es steht den Menschen meist nicht auf die Stirn geschrieben,
ob sie traumatisiert sind. Im Gegenteil: Sie versuchen, sich so normal wie möglich zu verhalten. Über das Trauma, vor allem wenn
es mit Folter zu tun hat, wird nicht gesprochen, da es häufig mit
viel Scham besetzt ist. Zum eigenen Schutz werden Erinnerungen
an dieses schreckliche Leid vermieden. Zunächst muss man feststellen: Worunter leiden die Menschen? Welche Symptome haben
sie? Vor allen Dingen muss man eine Beziehung aufbauen, sodass
die Menschen das Gefühl haben: Hier ist jemand, der mich versteht. Wenn dies gelingt, können wir anfangen, systematisch die
Lebensgeschichte aufzuarbeiten. Dabei knüpfen wir nicht an die
schlechten, sondern an die guten Erlebnisse an, um die psychischen Ressourcen zu mobilisieren. Anschließend tasten wir uns
langsam an die traumatischen Situationen heran.
Wie haben Sie diese spezielle Therapie entwickelt?
Wir haben uns zunächst gefragt, was die Menschen eigentlich brauchen. Das war zum einen Sicherheit, zum anderen
Verlässlichkeit und einen Ansprechpartner, also jemanden, mit
dem sie kommunizieren konnten. Deswegen haben wir von
Anfang an mit Dolmetschern gearbeitet. Das ist natürlich eine
andere Situation als in einer psychotherapeutischen Zweierbeziehung, aber wir haben gute Erfahrungen damit gemacht.
Wie hoch sind die Chancen auf eine Heilung?
Das kommt sehr stark auf drei Momente an: Das eine ist, wie
viele Ressourcen die Menschen selbst haben – ob sie eine gute
32
oder schlechte Kindheit hatten, spielt zum Beispiel eine sehr
entscheidende Rolle. Wichtig ist, wie frühzeitig Bedingungen
geschaffen werden, damit sie ihre eigenen inneren Selbstheilungskräfte mobilisieren können. Und natürlich kommt
es auch auf die Schwere des Traumas an. Ein Folteropfer wird
sicher immer irgendwelche seelischen Narben davontragen.
Entscheidend ist, dass die Menschen so bald wie möglich wieder
ein möglichst normales Leben führen können. Die Opfer völlig
zu heilen und sie so wiederherzustellen, wie sie vor der Folter
waren, ist meiner Erfahrung nach nicht möglich.
Wie schwierig ist es für einen traumatisierten Flüchtling, eine
Therapie zu bekommen?
In der Versorgung dieser besonders verletzlichen Gruppe
gibt es in Deutschland noch erhebliche Defizite. Es gibt nur wenige Institutionen und Therapeuten, die Erfahrung mit Folterüberlebenden haben. Außerdem gilt ja nach wie vor das Asylbewerberleistungsgesetz. Zumindest den Sozialämtern ist heute
aber immerhin klar, dass Flüchtlinge ein Recht auf Behandlung
haben, wenn bei ihnen eine Traumatisierung nachgewiesen
wurde. Es gibt spezielle Ambulanzen, die sich damit beschäftigen – an den Universitätskliniken, aber auch an kleineren Krankenhäusern. Einige Psychiatrien haben spezielle Sprechstunden
eingerichtet. Wenige Hausärzte beginnen ebenfalls, sich um diese Menschen zu kümmern. Allerdings ist das bisher nur auf das
zufällige persönliche Engagement einzelner Personen zurückzuführen. Strukturelle Änderungen brauchen viel Zeit. Dabei ist in
den vergangenen Jahrzehnten sehr viel versäumt worden.
Aber die wichtigsten Dinge sind zunächst gar nicht so sehr die
entsprechenden Therapieangebote. Wichtig sind vor allem möglichst normale Wohnverhältnisse, Integration und Sprache, sodass sie sich eben auch selbst helfen können und aus den Abhängigkeiten herauskommen. Gerade Folteropfern, die extreme Ohnmacht und Abhängigkeiten erlebt haben, muss man die Möglichkeit geben, wieder an ihre früheren alten Ressourcen oder Fähigkeiten anzuknüpfen. Das würde vielen Leuten bereits helfen.
Spielt der Ort der Unterbringung dabei eine Rolle?
Es ist ein riesiges Problem, dass Flüchtlinge häufig an völlig
abgelegenen Orten untergebracht werden, dass man sie regelrecht verstecken will. Darunter leiden Flüchtlinge und trauma-
amnesty Journal | 08-09/2015
Warum hat das Thema Traumatisierung so lange Zeit keine
Rolle gespielt?
Flüchtlinge sollten stets abgewehrt und abgeschreckt werden. Wenn überhaupt, dann haben sich private Initiativen wie
unsere um sie gekümmert. Am Anfang wurden wir von den Behörden, aber auch von der medizinischen Seite belächelt oder
ausgegrenzt. Das hat sich aber im Laufe der Zeit geändert. Die
Behörden sehen selbst, dass viele Konflikte, die durch die Traumatisierung bedingt sind, viel besser gelöst werden können,
wenn man die Menschen frühzeitig behandelt. Letztlich ist es
für sie billiger.
Wie ist die Situation der Behandlungszentren?
Dass die Behandlungszentren über so lange Jahre kontinuierlich arbeiten, ist ein großes Wunder und hat damit zu tun,
dass viele Leute auch gerne in diesen Zentren arbeiten. Aber alle
Zentren sind nach wie vor in einer finanziell prekären Situation.
Die Leistungen, die sie erbringen, müssen endlich kostendeckend
bezahlt werden. Dafür ist eigentlich die Gesetzliche Krankenversicherung zuständig. Die Palliativmedizin, also die Behandlung
von Patienten, die unter großen Schmerzen leiden und nur noch
eine geringe Lebenserwartung haben, könnte dabei als Beispiel
dienen. Dort werden mittlerweile komplexe Leistungen von der
Gesetzlichen Krankenversicherung finanziert. Es werden nicht
nur die rein somatischen, medikamentösen Hilfsmittel und so
weiter bezahlt, sondern auch die psychosoziale Betreuung. Ich
denke, etwas Ähnliches müsste mit den psychosozialen Zentren
und mit allen Strukturen, die sich mit traumatisieren Migranten und Flüchtlingen beschäftigen, auch möglich sein.
Allerdings werden auch die Zentren keine flächendeckende
Versorgung aller traumatisierten Flüchtlinge sicherstellen kön-
nen. Es muss ein abgestuftes Konzept zur Integration in das vorhandene Versorgungssystem erarbeitet werden. Das kann man
aber nicht dem Innenministerium überlassen, sondern das Gesundheitsministerium sollte sich endlich darum kümmern. Die
in der Bundesweiten Arbeitsgemeinschaft zusammengeschlossenen psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer
(BAfF) können ihre jahrelangen Erfahrungen als spezialisierte
Kompetenzzentren wirksam in ein solches Versorgungsnetz
einbringen. Es bedarf nämlich einer »Alphabetisierung« im
Umgang mit dieser höchst verletzlichen Personengruppe unter
den Heilberuflern.
Was gibt Ihnen die Energie, sich über so lange Zeit mit diesem
doch sehr schwierigen Thema zu beschäftigen?
Diese Frage wird mir sehr häufig gestellt und ich kann nur
antworten: die Menschen selber. Wir haben es mit Menschen
zu tun, die sehr stark sind, die starke Persönlichkeiten sind, die
natürlich schlimmste Sachen erlebt, aber auch überlebt haben
und sich bemühen, in die Normalität zurückzufinden. Ich muss
sagen: Ich habe in dieser Arbeit sehr viel gelernt, nicht nur über
mich selber, sondern auch über unsere Gesellschaft und habe
von meinen Patienten viele Anregungen bekommen, wie man
die Welt auch anders sehen könnte. Und das macht stark.
Fragen: Anton Landgraf
interview
ernst-ludwig iskenius
Foto: privat
tisierte Menschen sehr stark. Sie sind durch ihre Traumata
schon in sich isoliert und haben Schwierigkeiten, Beziehungen
wieder aufzubauen. Und dann werden sie noch irgendwo weit
weg in den Wald hingesetzt. In großen Sammelunterkünften mit
ihren besonderen Belastungen (Lärm, unterschiedliche Gerüche, Enge, Konflikte) sind Folteropfer psychisch völlig überfordert und werden durch die Umgebung ständig an ihre leidvollen
Erfahrungen erinnert. Dadurch werden sie zusätzlich krank.
Ernst-Ludwig Iskenius ist Arzt und
hat unter anderem mehrere Jahre
in einer pädiatrischen Praxis mitgearbeitet, bevor er den Verein Refugio e.V. in Villingen-Schwenningen für traumatisierte
Flüchtlinge aufgebaut und 15 Jahre ärztlich geleitet hat.
Zur Zeit arbeitet er in der spezialisierten Palliativmedizin
für Kinder und Jugendliche (SAPV) in Rostock.
»Ein
»Ein Folteropfer
Folteropfer wird
wird sicher
sicher immer
immer
irgendwelche
irgendwelche seelischen
seelischen Narben
Narben
davontragen.
davontragen. Entscheidend
Entscheidend ist,
ist,
dass
dass die
die Menschen
Menschen so
so bald
bald wie
wie
möglich
möglich wieder
wieder ein
ein möglichst
möglichst
normales
normales Leben
Leben führen
führen können.«
können.«
folter und heilberufe
33
Schreiben
als Therapie
Im Iran-Irak-Krieg geriet Human Mirrafati als junger Soldat in
irakische Kriegsgefangenschaft. Von 1985 bis 1990 überlebte er
Folter und Misshandlungen, bis er nach Deutschland fliehen konnte.
Seine Erinnerungen hat er in einem Buch veröffentlicht. Von Ralf Rebmann
H
uman Mirrafati hat seinen Händen viel zu verdanken. Er hat mit ihnen ein neues Leben aufgebaut –
im wahrsten Sinne des Wortes. Der 53-Jährige ist
gelernter Tischler. Das Haus, in dem er und seine
Familie in Berlin wohnen, die Einrichtung in Wohnzimmer und
Küche, hat er selbst hergestellt.
Seine Hände halfen ihm auch bei einem anderen Lebensabschnitt. Er musste seine Erinnerungen aufschreiben, um mit
ihnen leben zu können: Erinnerungen an die dunklen Zellen
von Gefangenenlager Nummer 9, die Schläge, die Tritte und an
die vor Schmerzen stöhnenden Mitgefangenen. Man liest davon
in seinem Buch »Verlorene Sterne«, das im vergangenen Jahr in
überarbeiteter Auflage erschienen ist.
Human Mirrafati hat fünf Jahre, von 1985 bis 1990, als iranischer Kriegsgefangener in irakischen Gefangenenlagern verbracht. Er musste Folter und Misshandlungen erleiden, hat immer wieder versucht, aus der Haft Asyl zu beantragen. Nach der
Freilassung floh er 1992 nach Deutschland.
»Ich habe keine Hassgefühle«, sagt er trotz alledem und
lächelt. Human Mirrafati hat eine ruhige Stimme, selbst wenn
er über Details der Folter und des Krieges spricht. Wie überlebt
man eine solche Zeit? Wie hält man fünf Jahre Folter aus? Er
sagt: »Man hat keine andere Wahl.«
Mirrafati wächst mit sechs Geschwistern im Norden Irans
auf. Ende der siebziger Jahre erlebt er als Jugendlicher die Proteste gegen die Schah-Regierung. Als Ayatollah Khomeini 1979
aus dem Exil zurückkehrt und die Islamische Republik ausruft,
ist Human Mirrafati 17 Jahre alt. Nur ein Jahr später beginnt der
Erste Golfkrieg zwischen dem Irak und dem Iran.
Drei Jahre nach Kriegsausbruch wird auch er Soldat. Wie viele seiner Freunde ist er vom Krieg überzeugt. Doch schon bald
ändert er seine Meinung: »Nach und nach glaubte ich nicht
mehr daran, es tauchten immer mehr Fragezeichen auf.« Ein
Gefecht in der Nacht zum 15. August 1985 ändert alles: Seine Einheit wird von irakischen Truppen umstellt. Viele werden getötet,
die Überlebenden, darunter Human Mirrafati, ergeben sich. Es
ist der Beginn einer fünfjährigen Kriegsgefangenschaft.
»Krieg für Frieden – so etwas gibt es nicht«, sagt er. Das wolle er vor allem jungen Leuten klarmachen. »Egal unter welchem
Namen man einen Krieg der Öffentlichkeit verkauft, es ist der
falsche Weg.« Die wichtigste Lebenszeit habe er durch den Krieg
und die Zeit in Gefangenschaft verloren.
Diese beginnt für ihn zunächst in einer vier mal sieben
34
Meter großen Gefängniszelle. Mit 37 anderen Gefangenen, verwundet und halb verdurstet, harrt er darin aus. Es folgen Verhöre, nicht nur mit Worten, sondern auch mit Eisenstangen.
Human Mirrafati wird während eines solchen Verhörs so lange
malträtiert, bis er ohnmächtig wird.
Die meiste Zeit seiner Gefangenschaft verbringt er im Gefangenenlager 9 in der irakischen Stadt Romadi, westlich von
Bagdad. Auf 500 Gefangene kommen dort nur neun Toiletten.
»Wenn man im Gefängnis ist, werden die Wünsche kleiner«,
sagt er. Zum Alltag gehören Schläge und Schikanen. Er und seine Mitgefangenen schlafen hungrig ein, weil sie sich von der
spärlichen Tagesration noch etwas absparen müssen. Ihre eiternden Wunden versorgen sie selbst, mit Pinzetten und warmem Wasser.
Human Mirrafati wird für drei Tage in Einzelhaft genommen, weil er sich über das Brot, das nach Benzin schmeckt, beschwert hat. »Man konnte von heute auf morgen sterben – ohne
dass jemand dafür geradestehen musste.« Manchmal sind Mitarbeiter des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK)
zu Besuch, doch an den Haftbedingungen können sie kaum etwas ändern. Sie lassen Schreibutensilien und Bücher da, darunter den Koran und die Bibel. Mirrafati liest sie und trifft eine
folgenschwere Entscheidung:
»Wenn man viel Zeit hat, kommen viele Fragen. Religionen
haben viel gemeinsam, aber alle enthalten Grausamkeiten. Um
ein guter Mensch zu sein, brauche ich keinen Gott.« Er ist mit
traditionell-religiösen Werten aufgewachsen, in Gefangenschaft
entscheidet er sich gegen sie. Seinen religiösen Vornamen »Asrar« ändert er zu »Human«. Im Lager hört man von seinem
Sinneswandel. Fanatisch-religiöse Mitgefangene bedrohen ihn,
wollen ihn nach der Freilassung an die iranischen Behörden
ausliefern.
Auch aus diesem Grund bittet er das IKRK mehrmals um
Asyl – erfolglos. Irgendwann verliert er die Hoffnung: Mit einer
Rasierklinge ritzt er sich in den Duschräumen des Gefängnisses
die Pulsadern auf. Nur weil ein Freund in der Nähe ist, überlebt
er. Der Krieg endet 1988, doch es dauert bis 1990, bis Human
Mirrafati endlich frei ist.
In Sicherheit ist er deswegen nicht. »Für mich war von
Anfang an klar, dass ich nicht im Iran bleiben kann«, erklärt er.
»Vor den Augen meiner Mutter gesteinigt zu werden, das wollte
ich ihr nicht antun.« Wegen »Abkehr vom Glauben« ist die iranische Geheimpolizei ihm auf den Fersen. Sie verhören und dro-
amnesty Journal | 08-09/2015
»Ich habe keine Hassgefühle.«
Human Mirrafati.
Foto: Henning Schacht / Amnesty
hen ihm, wollen wissen, wer sich in Gefangenschaft noch vom
»Glauben abgewendet« habe. 1992 gelingt Human Mirrafati
schließlich die Flucht, über Paris und Warschau nach Deutschland.
»Ich bin sehr froh, dass ich nicht seelisch gefoltert wurde.
Körperlich kann man sich wieder erholen, seelisch aber nicht.«
In Deutschland beginnt er ein neues Leben. Er erhält Asyl und
macht eine Therapie im Behandlungszentrum für Folteropfer in
Berlin. Sein Therapeut rät ihm, die Erlebnisse aufzuschreiben.
Human Mirrafati sagt heute: »Schreiben ist das Einzige, das
hilft. Selbst wenn man es nicht veröffentlichen will.« Er selbst
schreibt unter dem Namen Schiwan Bamdad, nicht weil er sich
verstecken muss, sondern weil er einen Künstlernamen wollte.
Er ist mit seiner Geschichte an die Öffentlichkeit gegangen,
weil es ihm hilft. Er hat sein Buch bei verschiedenen Veranstaltungen vorgestellt, darunter auch im Rahmen der Kampagne
»Stop Folter« von Amnesty International. Am meisten interessieren ihn die Fragen der Zuhörer. So zum Beispiel die Frage,
warum er in Gefangenschaft den Vornamen »Human« gewählt
habe.
Dann erzählt er die Legende von der magischen Pflanze
Hum, die nur in ganz besonderen Gegenden zu finden sei. Wer
sie zerreibe und von ihr trinke, werde unsterblich – und nenne
sich Human. »Zwar habe ich von dieser Pflanze nie getrunken«,
sagt er und lächelt, »aber einiges überlebt habe ich schon.«
Wie überlebt
überlebt
Wie
man eine
eine solche
solche
man
Zeit? Wie
Wie hält
hält
Zeit?
man fünf
fünf Jahre
Jahre
man
Folter aus?
aus?
Folter
Er sagt:
sagt: »Man
»Man
Er
hat keine
keine
hat
andere Wahl.«
Wahl.«
andere
Der Autor ist Journalist und lebt in Berlin.
folter und heilberufe
35
Entführt und vergewaltigt.
Frau in einem Flüchtlingszentrum in Süd-Kivu,
DR Kongo.
Foto: Falvo Alfredo / contrasto / laif
»Gewalt setzt sich
im Frieden fort«
In der Demokratischen Republik Kongo werden Massenvergewaltigungen
systematisch als Kriegswaffe eingesetzt. Ein Gespräch mit Alena Mehlau,
Psychologin bei medica mondiale e.V., über ihre Arbeit mit traumatisierten Frauen.
Wenn Frauen nach einer Vergewaltigung medizinische oder
psychologische Unterstützung suchen, worauf kommt es dabei
an?
Ein Grundprinzip besteht darin, sichere Räume zu schaffen.
Eine Vergewaltigung ist eine traumatische Erfahrung. Das Ziel
unserer Projekte ist ein geduldiger Vertrauensaufbau, der auf
langfristige Beziehungen hinwirkt. Gelingt es unseren Beraterinnen vor Ort, dabei auch das soziale Umfeld der betroffenen
Frauen einzubeziehen, kann das wesentlich dazu beitragen, vor
Posttraumatischen Belastungsstörungen zu schützen.
Sind das die Leitlinien Ihrer Arbeit?
Das Besondere ist, dass unser Ansatz, Vertrauen und langfristige Beziehungen aufzubauen, sehr niedrigschwellig ist: Er
lässt sich nicht nur in beratenden oder therapeutischen Settings
anwenden, sondern in jeder Form von Unterstützung für Frau-
36
en, die sexualisierte Gewalt erfahren haben. Wir wissen, dass
nur ein kleiner Teil der Frauen therapeutische Unterstützung
braucht. Wesentlich sind andere Formen der Unterstützung, wie
sozioökonomische Programme, Rechtshilfe und Gesundheitsprogramme in den Gemeinden, in denen die Frauen leben. Deswegen haben wir trauma-sensible Leitlinien entwickelt, die das
Ziel verfolgen, eine ganzheitliche Unterstützung von Frauen sicherzustellen.
Ist es überhaupt möglich, die betroffenen Frauen anzusprechen, wenn sexualisierte Gewalt tabuisiert ist?
Die Dunkelziffer ist immens. Viele Frauen sprechen aufgrund der Stigmatisierung, Marginalisierung und der Tatsache,
dass sie dann aus der Gesellschaft oder von ihren Partnern oder
Ehemännern verstoßen werden, nicht darüber, dass sie sexualisierte Gewalt erfahren mussten. Wer dann tatsächlich Hilfe und
amnesty Journal | 08-09/2015
Unterstützung sucht, wer den Mut hat, das Leid und die schmerzvolle Erfahrung anderen Menschen anzuvertrauen, erhält indes
nur einen Bruchteil der tatsächlich angemessenen Unterstützung. Das liegt nicht zuletzt daran, dass die Kriege, Konflikte und
auch andere Formen sexualisierter Gewalt in Regionen stattfinden, die teilweise immer noch sehr unsicher und nur extrem
schwer erreichbar sind. Die Mitarbeiterinnen unserer Partnerorganisationen im Kongo, beispielsweise in Nord- und Süd-Kivu,
müssen mitunter Tagesmärsche auf sich nehmen, um die Dörfer
zu erreichen, in denen sie Frauen unterstützen wollen.
Was meinen Sie genau, wenn Sie von sexualisierter Gewalt in
Konflikten sprechen?
Das fängt bei Massenvergewaltigungen an, die lange andauern, mit vielen Tätern im Kollektiv, geht über Genitalverstümmelungen, die häufig mit Vergewaltigung und anderen Formen
von Folter verbunden sind, bis hin zu bewusster Ansteckung mit
sexuell übertragbaren Krankheiten wie HIV. Diese massive Brutalität ist sehr erschreckend. Hinzu kommen viele Formen von
Gewalt im Familien- und Bekanntenkreis. In den Regionen im
Kongo, in denen ich viel unterwegs bin, ist die Gewalt durch Mitglieder der Familie und Bekannte, wie etwa Nachbarn aus dem
Dorf, das größte Problem. Dort fehlen oft auch die finanziellen
Mittel, um gegen familiäre Gewalt oder Gewalt in den Communities vorzugehen.
Was ist der Unterschied zwischen »sexualisierter« und
»sexueller« Gewalt?
Der Begriff der sexuellen Gewalt ist eine Unterkategorie von
Gewalt. Wenn Sie aber von sexualisierter Gewalt sprechen, dann
wird klar, dass die Sexualität selbst als Werkzeug dient, um
Macht und Unterdrückung auszuüben. Das heißt, wir benutzen
den Begriff, um deutlich zu machen, wie Sexualität instrumentalisiert wird.
Sexualisierte Gewalt ist sicherlich nicht nur auf die Zeit von
bewaffneten Konflikten beschränkt.
Ja, die Gewalt dauert an und natürlich auch die patriarchale
Geschlechterhierarchie. Je mehr Diskriminierung, je mehr Unterdrückung und je mehr Gewalt gegen Frauen bereits vor dem
folter und heilberufe
Krieg bestanden, desto effektiver ist sexualisierte Gewalt auch als
Waffe in Kriegen und Konflikten. Genauso sehen wir auch, wie
sich die Gewalt danach, wenn relativer Friede herrscht, fortsetzt.
Sollten die Betroffenen nicht lieber in einem anderen Land
behandelt werden?
Das kommt durchaus vor, wenn Frauen beispielsweise in
Deutschland aufgenommen und unterstützt werden. Die Frage
ist dann aber: Was passiert, wenn die Frauen wieder zurück in
ihre Heimat sollen? Wird an die Reintegration der Frauen gedacht?
Hinzu kommt, dass eine Auswahl getroffen werden muss,
die besonders problematisch ist. Wie kann man diesen Auswahlprozess so gestalten, dass er nicht stigmatisierend wirkt? Man
kann ja nicht abfragen, ob jemand bestimmte Auswahlkriterien
erfüllt, ob eine Frau tatsächlich jesidisch ist und vergewaltigt
wurde, um es zugespitzt zu formulieren. So etwas wirkt absolut
retraumatisierend.
Aufgrund dieser Komplexität empfehle ich immer die Arbeit
vor Ort, weil man dort mehr Frauen erreicht, als wenn eine Auswahl nach Deutschland oder in ein anderes Land reisen kann.
Und sie ist auch nachhaltiger. Wenn zum Beispiel vor Ort Fachkräfte geschult und Strukturen aufgebaut werden, dann entsteht
ein längerfristiger Nutzen, auch wenn die akute Krisensituation
schon längst vorbei ist.
Gibt es überhaupt eine Chance, traumatisierte Personen zu stabilisieren, wenn bewaffnete Konflikte über Jahrzehnte andauern?
Ja, definitiv. Wichtig ist dabei die Frage, ob eine Chance besteht, langfristige Perspektiven zu schaffen. Ich erlebe immer
wieder, wie Frauen, die mehrfach sexualisierte Gewalt erfahren
haben, heute sagen: Ja, ich wurde massiv verletzt, aber ich lebe
und ich gestalte mein Leben. Menschen können durch soziale
Unterstützung und mithilfe neuer Lebensperspektiven so viel
Kraft und Mut schöpfen, dass sie sich trotz andauernder traumatischer Erfahrungen stabilisieren. Diese Erfolge machen
unsere Arbeit aus – und geben auch uns selbst neuen Mut.
Fragen: Andreas Koob Foto: medica mondiale
»Ich
»Ich erlebe
erlebe immer
immer
wieder,
wieder, wie
wie Frauen
Frauen
sagen:
sagen: Ja,
Ja, ich
ich wurde
wurde
massiv
massiv verletzt,
verletzt,
aber
aber ich
ich lebe
lebe und
und
ich
ich gestalte
gestalte mein
mein
Leben.«
Leben.«
interview
alena mehlau
Alena Mehlau ist Diplom-Psychologin und Fachreferentin für TraumaArbeit bei medica mondiale, einer
in Deutschland ansässigen, internationalen Nichtregierungsorganisation, die sich weltweit für
Frauen und Mädchen in Kriegs- und Krisengebieten einsetzt. Sie begleitet und berät Partnerorganisationen bei der
Umsetzung trauma-sensibler Unterstützungsangebote für
Überlebende von sexualisierter und geschlechtsspezifischer Gewalt mit Schwerpunkt auf der Region der Großen
Seen in Afrika. 37
THEMEN
Kampf um Aufmerksamkeit. Saharauischer Flüchtling in der algerischen Provinzhauptstadt Tindouf.
38
amnesty Journal | 08-09/2015
Wo nur
die Steine
wachsen
Seit 40 Jahren hat Marokko die Westsahara völkerrechtswidrig besetzt,
seit 25 Jahren verweigert das Königreich das UNO-Referendum über
die Unabhängigkeit. In den Flüchtlingslagern in Algerien werden derweil
die Rufe nach einem neuen Krieg lauter, in den besetzen Gebieten
sind Menschenrechtsverletzungen alltäglich.
Von York Schaefer (Text) und Marcus Reichmann (Fotos)
westsahara
39
40
amnesty Journal | 08-09/2015
Verurteilt zu lebenslanger Angst und Sehnsucht. Flüchtlingslager Smara im Süden Algeriens (links oben). Guerilla-Training, Herstellung von Prothesen für Minenopfer (links unten). Hilfslieferungen werden abgeladen (rechts oben). Saharauische Frauen im Lager Dakhla (unten).
westsahara
41
Protest in der Todeszone. Drei Meter hoher Wall aus Feldstein und Sand.
Mohammed Salek ist ein furchtloser Mann. Mit zielstrebig sicherem Schritt marschiert der saharauische Aktivist in bloßen
Sandalen über den steinigen Wüstenboden in Richtung eines
kaum 1,50 Meter hohen Stacheldrahtzaunes. Nur in Wurfweite
dahinter türmt sich ein etwa drei Meter hoher Wall aus Felsgestein und Sand mit militärischen Unterständen und Geschützbunkern auf. Ein marokkanischer Grenzsoldat beobachtet die
Szenerie per Feldstecher, neben ihm schauen weitere Soldaten
mit einer Mischung aus gespannter Aufmerksamkeit und betonter Gelassenheit zu.
Mohammed weiß ungefähr, wo an dieser Stelle der Mauer
zwischen der befreiten Westsahara und den seit 40 Jahren von
Marokko besetzten Gebieten des Landes die Anti-Personen-Minen liegen. Sieben Millionen sollen es insgesamt sein entlang
des mehr als 2.700 Kilometer langen Abwehrsystems mit Radaranlagen und 120.000 Mann Bewachung. Viele Minen sind längst
entschärft oder mit Kreisen aus Steinen und roten Stoffblumen
gekennzeichnet. Aber ganz sicher, wo genau sie liegen, ist sich
Mohammed Salek nicht. Der 28-Jährige im blauen FC-BarcelonaSweater und mit lässig gewickeltem schwarzem Turban kennt
die Gefahren – und er ignoriert sie. »Jeder Schritt kann dein letzter sein, aber wenigstens sterbe ich so für mein Land und für
mein Recht«, sagt er, formt mit Zeige- und Mittelfinger vorne
am Zaun das Victory-Zeichen, schreit den Grenzern »Sahara
libre!« entgegen und schwenkt die saharauische Flagge. Protest
in der Todeszone, in ehemaligem Kriegsgebiet. Ein Protest mit
42
symbolischer Wirkung an einem Bollwerk der Macht, wo die
Saharauis um mehr Aufmerksamkeit in der Weltöffentlichkeit
kämpfen.
16 Jahre lang tobte hier der Guerillakampf der saharauischen Unabhängigkeitsbewegung Frente Polisario gegen die
völkerrechtswidrige Annexion des Landes durch Marokko, das
nach dem Abzug der spanischen Kolonialmacht 1975 im »Grünen Marsch« mit 350.000 Zivilisten und 30.000 Soldaten in die
Westsahara einmarschierte. Der Polisario gelang es während des
Krieges einen schmalen Streifen Land an der Grenze zu Algerien
zu erobern. Nach einem 1991 von der UNO vermittelten Waffenstillstand sollte ein Referendum stattfinden, in dem das ehemalige Nomadenvolk über die politische Zukunft des beanspruchten Gebietes als autonome marokkanische Provinz oder für die
staatliche Unabhängigkeit abstimmen sollte. Bis heute allerdings verweigert das Königreich Mohameds VI. das Recht der
Saharauis auf Selbstbestimmung, eine Art Mindeststandard
internationaler Politik seit der Gründung von UNO und Völkerbund. Man verweist auf die vermeintlich historische Zugehörigkeit der früheren spanischen Kolonie Westsahara zu Marokko.
Auch geostrategische Interessen von Ländern wie der ehemaligen marokkanischen Protektoratsmacht Frankreich sowie die
Ausbeutung der Bodenschätze wie Phosphat, der üppigen Fischgründe und Ölvorkommen entlang der Atlantikküste führen
dazu, dass die Westsahara immer wieder als letzte Kolonie
Afrikas bezeichnet wird.
amnesty Journal | 08-09/2015
MAROKKO
ALGERIEN
Tindouf
El Aaiun
WEST SAHARA
»Berm«
MAURETANIEN
»Unser Ziel ist es,
Aufmerksamkeit über die
Mauer zu erregen, die unser
Land in zwei Teile schneidet
und seit fast 35 Jahren unsere
Familien trennt.«
Normalerweise kommt Mohammed Salek nicht nur mit
einer kleinen Gruppe von spanischen und italienischen Unterstützern hier in die Grenzregion, die etwa eine Autostunde von
den saharauischen Flüchtlingslagern im äußersten Südwesten
Algeriens entfernt liegt. Der Aktivist ist Mitbegründer der Organisation »Gritos contra el muro« (Schreie gegen die Mauer), die
seit Anfang 2013 alle zwei Monate mit Dutzenden Anhängern in
Pick-Ups über holprige Buckelpisten in das menschenleere
Grenzgebiet fährt, um gegen den modernen Limes, auch Berm
genannt, zu protestieren. Als sie bei der ersten Demonstration
den Zaun durchschnitten, feuerten die Grenzsoldaten zur Warnung in die Luft. »Unser Ziel ist es, Aufmerksamkeit über die
Mauer zu erregen, die unser Land in zwei Teile schneidet und
seit fast 35 Jahren unsere Familien trennt«, sagt Mohammed
nach der Tour in dem kleinen weißen Lehmhaus seiner Familie
im Flüchtlingscamp Boujdour.
Man sitzt gemeinsam auf einem sandigen Teppich, durch
»Es ist weite Leere, umgeben von Leere. Dort wachsen nur Steine. (…) Die Saharauis warten. Sie sind zu lebenslanger Angst und
Sehnsucht verurteilt«, hatte der kürzlich verstorbene Antikolonialismus-Kämpfer Eduardo Galeano aus Uruguay einmal etwas
pathetisch über die Trostlosigkeit der Lager in der Wüste gesagt.
Etwa 120.000 Menschen leben dort in Zelten und Lehmhütten
Schreie gegen die Mauer. Mohammed Salek.
Die Geduld geht zu Ende. Mohammed Salem.
westsahara
die glaslosen Fenster in Kniehöhe strömt ein leichter Luftzug,
von draußen hört man meckernde Ziegen. Auf einem kleinen
eisernen Holzkohleofen köchelt das Teewasser, Mohammed
Saleks Freund und Mitkämpfer bei den »Gritos«, Mohammed
Salem, spült die Gläser. Die saharauische Teezeremonie kann je
nach Anlass eine zeitaufwändige Angelegenheit sein, aber wenn
die Menschen in den fünf riesigen Flüchtlingslagern nahe der
algerischen Provinzhauptstadt Tindouf bei allem sonstigen
Mangel von etwas mehr als genug haben, dann ist es Zeit.
Im Teufelsgarten
43
»Krieg und
Gewalt haben
uns keine
Lösung
gebracht.«
»Jeder Schritt kann dein letzter sein.« Markierte Mine.
in einem unwirtlichen, kargen Niemandsland aus Sand, Geröll
und Perspektivlosigkeit. Hammada heißt dieser Teil der Sahara,
auch Teufelsgarten genannt. Im Sommer steigt das Thermometer auf bis zu 50 Grad, in den Winternächten fällt es bis auf den
Gefrierpunkt. Bereits 1976 wurde die Demokratische Arabische
Republik Sahara (DARS) ausgerufen, die von der Polisario als
Zentralregierung im Exil im Lager Rabouni vertreten und vor
allem von afrikanischen und südamerikanischen Staaten anerkannt wird. Es gibt lokale Parlamente und Bürgerkomitees, Polizei und Gerichtsbarkeit sowie staatlich regulierte Medien und
ein Gefängnis. In den Krankenhäusern arbeiten vorwiegend
spanische und kubanische Ärzte. Auf Schulbildung haben die
Saharauis immer großen Wert gelegt, die Alphabetisierungsrate
liegt bei 90 Prozent, für ein Flüchtlingslager eine hohe Rate.
Eine autonome saharauische Wirtschaft gibt es bis auf ein überschaubares Einzelhandel- und Dienstleistungsgewerbe allerdings nicht. Die Westsahara ist abhängig von internationalen
Hilfslieferungen.
Zwar hatte auch schon Al-Wali Mustafa Sayyid, 1973 Mitbegründer der Polisario und erster Präsident des Exilstaates, die
Bevölkerung auf einen langen Unabhängigkeitskampf eingeschworen, doch die Geduld vor allem der jungen Leute geht
langsam zu Ende. »Die ewigen Verhandlungen sind Zeitverschwendung. Marokko versucht die Besetzung zum Fait accompli zu machen und wir leiden. Nach dem Krieg haben wir unser
Vertrauen in die internationale Gemeinschaft gesetzt und wurden Jahr für Jahr mit gebrochenen Versprechen hingehalten«,
kritisiert Gritos-Mitglied Mohammed Salem die Politik der Polisario, die auch fast 25 Jahre nach dem Waffenstillstand weiter
auf Verhandlungen setzt. Obwohl der 29-Jährige selbst noch nie
gekämpft hat, sieht er, wie inzwischen viele vor allem junge Saharauis, den Krieg gegen Marokko als echte Option. »Das Warten
ohne etwas zu tun, die Stagnation frustriert die Menschen. So
lange es keinen Krieg gibt, wird uns niemand Aufmerksamkeit
44
schenken«, glaubt Mohammed, der nebenbei den Blog »Saharawivoice« betreibt und für den der politische Kampf im Exil, wie
bei vielen seiner Landsleute in den Flüchtlingscamps, eine nahezu alltägliche Beschäftigung, eine Sinngebung für ein Leben
im Wartestand geworden ist.
Allerdings gibt es auch moderatere Töne unter den Flüchtlingen, von denen zwei Drittel unter 25 Jahre alt sind und die in
den Camps geboren wurden. »Krieg und Gewalt haben uns keine Lösung gebracht«, sagt die Menschenrechtsaktivistin Abida
Mohamed Buzeid, die den Willen großer Teile der PolisarioJugend nach einem neuen Krieg ablehnt. Die 28-Jährige hat in
Algier Biochemie studiert, spricht vier Sprachen und könnte
sicherlich Karriere machen. Stattdessen ist sie zu ihrer Familie
in das Camp Boujdour zurückgekehrt. Heute arbeitet Abida für
Afapredesa, eine Nichtregierungsorganisation der Familien von
saharauischen Gefangenen und Verschleppten mit Sitz im Lager
Smara. An den Wänden und auf Schautafeln in den Räumen der
NGO hängen Dutzende großformatig gerahmte Fotos von jungen Männern mit ernsten Gesichtern, die nach Angaben von
Afapredesa Opfer von Übergriffen marokkanischer Sicherheitskräfte wurden.
»Lager der Würde«
Vor allem den Ereignissen von Gdeim Izik wird hier viel Raum
gegeben. In dem Vorort von El Aaiun, der potenziellen Hauptstadt eines Staates Westsahara an der Atlantikküste, hatten im
Herbst 2010 um die 20.000 Saharauis mit 5.000 Zelten ein
»Lager der Würde« aufgebaut, um für ihre politischen und
sozioökonomischen Rechte zu demonstrieren: Meinungsfreiheit, Versammlungsrecht, das Recht auf Arbeit. Nach vier Wochen zumindest gefühlter Freiheit und Unabhängigkeit kam das
jähe Ende. Am Morgen des 8. November gegen 6 Uhr überrollten
marokkanische Sicherheitskräfte mit Bulldozern und Wasserwerfern das Camp. Über 150 Saharauis wurden inhaftiert, es
amnesty Journal | 08-09/2015
Die wichtigste Stimme der Saharauis ist die
Menschenrechtsaktivistin Aminatou Haidar,
die aufgrund ihres Einsatzes schon häufig inhaftiert und misshandelt wurde. Bei einem
internationalen Treffen zur Westsahara-Frage
in Berlin Ende vergangenen Jahres verlas die
zarte Frau mit dem bunten Malahfa-Umhang
eine lange Liste des Grauens: willkürliche Razzien und Verhaftungen, Folter in Geheimgefängnissen, Vergewaltigungen, Vergiftungen
des Viehs, die Verweigerung von Grundrechten
wie Arbeit, Pressefreiheit und politische Aktivitäten. Seit inzwischen 28 Jahren setzt sich
Haidar für die politische Selbstbestimmung
ihrer Heimat ein, 2009 hat sie dafür bei einem
Hungerstreik ihr Leben riskiert. Die marokkanische Regierung hatte ihr damals den Pass
abgenommen und sie auf die spanische Kanaren-Insel Lanzarote abgeschoben. »Durch die
Ungerechtigkeit, die ich und mein Volk erfahren, bin ich gezwungen, so lange zu kämpfen,
bis die Freiheit meines Landes wiederhergestellt ist.«
Folter und Misshandlungen
Wichtigste Stimme der Saharauis. Abida Mohamed Buzeid (oben), T-Shirt mit einem Foto von Aminatou Haidar.
kam zu Straßenschlachten mit Toten und Verletzten auf beiden
Seiten. 24 Aktivisten wurden nach jahrelanger Untersuchungshaft 2013 von marokkanischen Militärgerichten unter rechtlich
zweifelhaften Bedingungen zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Weil die Saharauis mit ihren traditionellen Zelten aus der
architektonisch marokkanisierten Stadt El Aaiun ausgezogen
sind, nimmt der Protest von Gdeim Izik seitdem einen wichtigen Platz im kollektiven Gedächtnis der Menschen ein.
»In Gdeim Izik ging es darum, in Würde in unserem Heimatland leben zu können und zu zeigen: Wir sind die Bewohner von
El Aaiun«, erzählt Omar, der uns durch die Flüchtlingslager begleitet und der seinen vollen Namen nicht veröffentlicht sehen
möchte. Wegen seiner Beteiligung als Medienbeauftragter in
Gdeim Izik musste der 33-jährige Familienvater nach der Auflösung des Protestcamps in die Flüchtlingslager in Algerien fliehen. »Im Gegensatz zu unseren Landsleuten in den besetzten
Gebieten haben wir in den Camps zwar persönliche und politische Freiheiten, aber wir sind Flüchtlinge hier und die Lebensbedingungen in der Wüste und ohne Aussichten für die Zukunft
sind sehr hart«, sagt Omar.
westsahara
Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty
International, Human Rights Watch oder das
Robert F. Kennedy Center for Justice and Human Rights (RFK) prangern seit Jahren gravierende Menschenrechtsverletzungen in den
besetzten Gebieten der Westsahara an. »Die
marokkanischen Ordnungskräfte unterdrücken weiterhin jedes Einstehen für das Recht
der Saharauis auf Selbstbestimmung. Saharauische Aktivisten, Demonstranten und Journalisten sind Restriktionen bei der Meinungsund Versammlungsfreiheit ausgesetzt und
werden verhaftet und gefoltert«, heißt es im
Jahresbericht 2014/15 von Amnesty International. In einem kürzlich erschienenen AmnestyBericht schildern Saharauis, wie sie in Polizeifahrzeugen schwer misshandelt und anschließend in der Wüste
ausgesetzt wurden. Andere wurde bei Verhören gefoltert, bevor
sie formal angeklagt wurden.
Der jüngste Report des RFK für die Zeit zwischen März und
September 2014 berichtet von 90 Fällen von Menschenrechtsverletzungen, darunter Misshandlungen bei Demonstrationen
und in Gefängnissen, in denen zurzeit mehr als 70 politische
Gefangene einsitzen sollen. Ausländische Zeugen der Repressalien sieht Marokko nicht gerne. So wurden nach Informationen
der Gesellschaft für bedrohte Völker seit April 2014 mindestens
59 ausländische Journalisten und Menschenrechtler aus der
Westsahara ausgewiesen. Die UNO-Mission Minurso zur Überwachung des Waffenstillstandes und für die Abhaltung des
Referendums ist zudem die einzige Friedensmission weltweit,
die keinen Auftrag zur Überwachung der Menschenrechte hat.
Der Autor ist freier Journalist und lebt in Bremen.
Diesen Artikel können Sie sich in unserer Tablet-App vorlesen lassen:
www.amnesty.de/app
45
Foto: Luis Acosta / AFP / Getty Images
Extrem ätzende Schwefelsäure. Maria Cuervo
Zurück ins Leben
Säureattentate sind in Kolumbien ein Phänomen, das von
der Politik lange ignoriert wurde. Nur wenige Täter wurden
verurteilt. Das könnte sich bald ändern, denn der Fall von
Natalia Ponce de León hat landesweit für Schlagzeilen
gesorgt. Nachdem sie Opfer eines Attentats wurde, wandte
sich die junge Frau an die Öffentlichkeit und engagiert sich
für die Rechte der Opfer. Von Knut Henkel
Langsam zieht Natalia Ponce de León den Rollladen hoch und
lässt Licht in das Wohnzimmer. Dann dreht sie langsam ihr Gesicht dem Fenster zu. Dabei achtet sie darauf, dass die Kamera
nur ihr Profil erfassen kann. Mehr will sie nicht zeigen – noch
nicht. Natalia Ponce de León, eine junge, schmale, sportliche
Frau mit kurzen pechschwarzen Haaren, will ihr Leben zurück.
Das hat der Attentäter zerstört. Jonathan Vega klingelte am
27. März 2014 in der 122. Straße in Bogotá an ihrer Haustür und
bat den Portier, sie zu rufen. Dann kippte er Natalia Ponce de
León Schwefelsäure ins Gesicht und über den Oberkörper.
Über ein Drittel ihrer Haut, im Gesicht, am Oberkörper, an
Armen und Beinen sind verätzt. »Die Verbrennungen sind alle
dritten Grades und wir haben hier noch keinen so schweren Fall
gehabt, der auf ein Säureattentat zurückgeht«, erklärt Dr. Jorge
46
Luis Gaviria. Der plastische Chirurg arbeitet an der Klinik Simón
Bolívar im Norden Bogotás und hat Anfang Mai die 16. Operation durchgeführt, um die von Säure zerfressenen Lippen von
Natalia Ponce de León zu rekonstruieren. Die OP ist erfolgreich
verlaufen. Für die Patientin ist es ein weiterer kleiner Schritt zurück ins Leben. Das ist das übergeordnete Ziel von Natalia Ponce
de León – sie will ihr Leben wiederhaben, dem Attentäter nicht
den Triumph lassen, es zerstört zu haben, auch wenn es nie
wieder so sein wird wie früher.
»Mich ohne Gesicht im Spiegel zu sehen, das war Folter«,
sagt sie mit leiser Stimme auf dem Sofa im Wohnzimmer ihrer
Mutter. Dann hebt sie den Kopf: »Aber die Ärzte haben Unglaubliches geleistet, es ist schon wieder ein Gesicht«, sagt sie optimistisch. Die Haut an den Wangenknochen ist narbig und fleckig, aber nicht wulstig, wie bei vielen anderen Opfern. Die
Wimpern sind nur noch teilweise vorhanden, aber die Augen
blieben unversehrt und auch die Nase hat ihre Form behalten.
Die Narben überlappen nicht wie bei anderen Opfern die Nasenlöcher, lassen nicht die Augen verschwinden und verschließen
keine natürliche Falte.
Schwefelsäure ist extrem ätzend. Sie findet sich in jeder
Autobatterie und zerstört binnen weniger Sekunden die Konsis-
amnesty Journal | 08-09/2015
Foto: Luis Acosta / AFP / Getty Images
Drei Jahre und vierzig Operationen. Nubia Espitia.
tenz der Haut. »Rund drei Jahre und vierzig Operationen dauert
es, um das Gesicht einer Patientin oder eines Patienten zu rekonstruieren«, erklärt Dr. Gaviria. Seit 20 Jahren operiert der 50jährige Chirurg am Simón Bolívar, der einzigen Klinik Kolumbiens für Brandopfer. Hierhin werden alle Patienten überwiesen, deren Verletzungen im Gesicht mit modernster plastischer
Chirurgie therapiert werden – Brand- und Säureverletzungen,
aber auch großflächige Brandwunden durch Gas- und Stromunfälle.
Die Zahl der Säureanschläge in Kolumbien hat in den vergangenen zehn Jahren alarmierende Ausmaße angenommen.
Laut den Statistiken der Gerichtsmedizin wurden in Kolumbien
zwischen 2004 und März 2015 insgesamt 1.002 Fälle registriert,
bei denen chemische Komponenten zu Verätzungen führten.
Dabei handelt es sich um Unfälle mit beißenden Reinigungsmitteln und um Verletzungen durch Gas, ätzende Pulver oder
Klebstoffe, wie Dr. Martha Isabel Delgado erklärt. Die Gerichtsmedizinerin in Bogotá ist gerade dabei, die Statistiken auszuwerten, denn seit 2013 werden die Angriffe mit Säure stärker
wahrgenommen. »Das liegt vor allem daran, dass sich Opfer –
meist sind es Frauen – organisiert haben und mehr politisches
Handeln einklagen«, meint die Forensikerin. Delgado hat 155
Fälle aus der Statistik gefiltert, bei denen absichtlich Säure eingesetzt wurde: 80 davon sind Frauen und 75 Männer. Allerdings
gibt es Unterschiede, denn während bei Männern die Säureverletzungen eher an Armen und Beinen und im Kontext von
Raubüberfallen und Arbeitskonflikten registriert werden, ist bei
Frauen fast immer das Gesicht betroffen. »Eifersucht, Ableh-
kolumbien
nung, gekränkte machistische Eitelkeit sind die Motive in einer
zutiefst patriarchalen Gesellschaft«, erläutert Dr. Delgado. Was
man selbst nicht besitzen könne, solle auch kein anderer haben,
laute die kranke Logik.
Das war bei Natalia Ponce de León nicht anders. Der Attentäter soll ein ehemaliger Nachbar sein, der von ihr abgewiesen
wurde. Doch der Fall markiert in Kolumbien einen Wendepunkt:
Die Familie der 35-Jährigen machte das Attentat sofort publik
und rief die Facebook-Seite »Alle mit Natalia Ponce de León« ins
Leben, die in wenigen Wochen Zehntausende »Likes« erhielt.
Zudem zeigen immer mehr Berichte das Leid der Opfer auf.
Frauen, denen mutwillig Säure ins Gesicht geschüttet wurde,
gibt es Dutzende in Bogotá, und Dr. Gaviria weiß von Patientinnen, die an einer Ampel oder Straßenecke stehen und um Almosen bitten. »Das ist eine fürchterliche Realität in Kolumbien«,
kritisiert der Chirurg die unzureichende Hilfe für die Opfer.
Die Zahl der
Säureanschläge
in Kolumbien hat
alarmierende Ausmaße
angenommen.
47
Foto: Luis Acosta / AFP / Getty Images
Eifersucht, Ablehnung, machistische Eitelkeit. Gina Potes
Zwar ist seit Mitte 2013 die Übernahme der Behandlungskosten für Säureopfern gesetzlich geregelt, aber in der Praxis wird
dieses Gesetz immer wieder unterlaufen. »Viele Patienten kommen aus einfachen Verhältnissen. Da fehlt es manchmal am
Geld für den Bus, um zur Klinik zu kommen«, sagt Dr. Gaviria.
Für spezielle Cremes, die Patienten selbst bezahlen müssen,
oder den Anwalt, der die Rechte auf die notwendigen Operationen einklagt, ganz zu schweigen. Bei Natalia Ponce de León, das
erste Opfer aus Bogotás gut situiertem Norden, ist das nicht der
Fall. Auch wegen der medialen Präsenz hat die Krankenversicherung alle Kosten anstandslos übernommen. Bei vielen Opfern
aus dem armen Süden der kolumbianischen Hauptstadt ist das
anders, bestätigen die Ärzte der Klinik Simón Bolívar. »Sie müssen für ihre Behandlung kämpfen und eine staatliche Rente für
Opfer von Säureanschlägen gibt es nicht«, kritisieren Dr. Gaviria
und sein Vorgesetzter Dr. Rafael Jimenez Osorio unisono.
Das bemängelt auch die Stiftung Natalia Ponce de León, die
Ende April 2015 gegründet wurde und ein Anlaufpunkt für
Opfer werden soll. »Mein Ziel ist es, eine Herberge für Opfer in
der Nähe der Klinik Simón Bolívar zu eröffnen. Dort sollen sie
Rechtshilfe und psychologische Betreuung erhalten«, erklärt die
Gründerin. Sie hat das Projekt Mitte April vorgestellt und ein
Buch veröffentlicht, das von ihrem eigenen Leid und ihrem
Kampf für ein Leben nach dem Säureattentat handelt. Ein
Schritt, der vom städtischen Gesundheitsamt Bogotás begrüßt
und unterstützt wird. »Diese Angriffe sind eine lebenslange Folter für die Opfer, ihr Leben wird zerstört – doch sie müssen es
weiter leben. Scharfe Gesetze und umfassende Hilfe sind nötig«,
48
mahnt Mauricio Bustamente García, der Leiter des Amts. García
gehört zur linken Stadtverwaltung von Bogotá und verweist auf
die hohe Dunkelziffer der Fälle und auf die Tatsache, dass bisher
erst eine Handvoll Täter verurteilt wurden.
Neben der Kultur der Gewalt nach sechzig Jahren Bürgerkrieg ist die Straflosigkeit ein weiterer Faktor. Gerichtsmedizinerin Delgado zufolge könnten die kolumbianischen Zahlen in
Relation zur Bevölkerungszahl sogar über denen liegen, die aus
Bangladesch und Indien bekannt sind. »Genau lässt sich das
nicht sagen, denn bei der Gerichtsmedizin gehen nur die Fälle
ein, die ein juristisches Nachspiel haben«, erklärt Delgado. Das
ist längst nicht immer der Fall, denn bisher fallen Säureattentate in die Kategorie der »persönlichen Angriffe«. Sie haben damit
den gleichen Stellenwert wie Schläge, gelten nicht als Attentat
auf das Leben und werden mit Haftstrafen von nur wenigen Jahren geahndet – wenn es denn überhaupt zum Prozess kommt.
Das soll sich nun ändern. Anfang Mai passierte ein Gesetzesentwurf in erster Lesung das Parlament, der für Säureattentäter
Haftstrafen nicht unter zwölf Jahren vorsieht. Ist das Gesicht betroffen, ein Auge oder die Nase zerstört, sind Haftstrafen von bis
zu 45 Jahren möglich. Opfer wie Natalia Ponce de León begrüßen
die Gesetzesvorlage. Doch die 35-jährige Frau mit der rauen
Stimme weiß genau, dass es damit nicht getan ist. »Wir müssen
endlich der Kultur der Gewalt entgegentreten, diesem Verlust
von Werten, der Ignoranz und Ungleichheit«, fordert sie. Dafür
will sie sich mit ihrer Stiftung engagieren.
Der Autor ist Lateinamerika-Korrespondent.
amnesty Journal | 08-09/2015
erst menschen
schützen,
dann grenzen
Schluss mit der Abschottungspolitik.
Für sichere Fluchtwege:
www.amnesty.de/fluechtlinge
»Komitee Cerezo«. Cafeteria an der Autonomen Universität von Mexiko-Stadt.
Drei Brüder
für Gerechtigkeit
Folter hat in Mexiko System. Das mussten die Brüder Alejandro, Antonio und Hector Cerezo
am eigenen Leib erfahren. Den Studenten wurden Bombenanschläge zur Last gelegt, die sie
nicht begangen hatten. Jahrelang saßen sie in Hochsicherheitsgefängnissen. Heute steht das
»Comité Cerezo« politischen Gefangenen, Menschenrechtsverteidigern und Angehörigen
von Verschwundenen im ganzen Land zur Seite. Und Folter bleibt weiterhin ein Thema.
Von Kathrin Zeiske (Text) und Rodrigo Jardón (Fotos)
50
amnesty Journal | 08-09/2015
»Sag, dass es dein Bruder war – dann lassen wir ihn verschwinden und dich am Leben.« Dieser Satz hat sich in Hector Cerezos
Kopf eingebrannt. Immer und immer wieder hat er ihn gehört.
An jenem Tag im August 2001, als Angehörige der Spezialeinheit
AFI und Soldaten vermummt in die Wohnung eindringen und
ihn und seine Brüder foltern. Insgesamt zwölf Stunden lang,
denn keiner von ihnen macht eine Aussage. Genau dieser Satz
lässt sie die gezielt zugefügten Schmerzen aushalten; die Angst,
mit der Plastiktüte über dem Kopf zu ersticken oder vergewaltigt zu werden, wie es ihnen angedroht wird. »Meine eigenen
Brüder zu beschuldigen, stand für mich außer Frage. Es war ein
Ding der Unmöglichkeit, das sie von mir verlangten«, erklärt
Hector.
Die Liebe zu ihren Brüdern sei es auch gewesen, die sie die
jahrelange Isolationshaft habe durchhalten lassen. »Und das
Wissen um unsere eigene Unschuld. Sie konnten uns wie Verbrecher behandeln, aber wir waren keine«, erinnert er sich. Nur
Studenten mit politischem Hintergrund, die Paolo Freire lasen,
Alphabetisierungskampagnen unterstützten und für soziale Gerechtigkeit auf die Straße gingen. Weit davon entfernt, in Bankfilialen Bomben zu legen. »Unsere Festnahme war nicht vorhersehbar. Hätten wir etwas geahnt, wären wir bestimmt nicht zu
Hause gewesen«, bemerkt Hector mit dem den Brüdern eigenen
Galgenhumor.
Er schäumt Milch für einen Cappuccino auf. In einer winzigen Cafeteria, die sie auf dem riesigen Campus der Autonomen
Universität von Mexiko-Stadt betreiben. Ein kleiner Verschlag
hinter gelbgestrichenen Backsteinen, der mit Flugblättern, Infomaterial und Plakaten beklebt ist. Studierende strömen daran
vorbei zu ihren Vorlesungen in Philosophie und Literatur. Seit
die Brüder Cerezo vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen wurden, verdienen sie sich hier ihren Lebensunterhalt. Wer hätte sie
auch angestellt, als Ex-Häftlinge des Hochsicherheitstraktes?
Professoren, mit denen sie die Jahre zuvor in stetem Briefwechsel standen, unterstützten sie, die Cafeteria zu eröffnen.
Jahrelang hatten sich die drei Brüder höchstens von weitem
in Gerichtsverhandlungen gesehen. Ihre Geschwister Emiliana
Regelmäßige Todesdrohungen. Wandbilder an der Universität.
mexiko
»Wir haben so viel
Solidarität und
Unterstützung erhalten,
heute wollen wir diese
weitergeben«
und Francisco gründeten außerhalb der Gefängnismauern das
»Komitee Cerezo«, um ihre Freilassung zu erwirken. Nun vereint
sie ihr tagtägliches Engagement gegen Folter und Verschwindenlassen. Die Organisation zählt inzwischen 25 feste und 50
ehrenamtliche Mitarbeiter. »Wir haben so viel Solidarität und
Unterstützung erhalten, heute wollen wir diese weitergeben«,
sagt Hector.
Schließlich sitzen unzählige Menschen in Mexiko ohne ein
faires Gerichtsverfahren hinter Gittern. »Waren wir damals
noch Einzelfälle, so sind es im sogenannten ›Drogenkrieg‹ Tausende, die unschuldig eingesperrt und verurteilt werden.« Folter
werde dabei von der Polizei als »ganz normale Ermittlungsmethode« angewandt, um Aussagen zu erzwingen. Sie diene dazu,
Schuldige zu schaffen und die Gefängnisse mit vermeintlichen
Drogenhändlern zu füllen. Auch das Militär, das in Mexiko Sicherheitsaufgaben übernimmt, wende Folter an. Betroffen seien
vor allem Menschen, die keinen politischen Einfluss, kein Geld
für einen Anwalt und kein Wissen um ihre Rechte haben.
Dass in Mexiko Folter üblich ist, bestätigte im April auch der
UNO-Sonderberichterstatter über Folter, Juan Méndez. Darüber
hinaus machte er öffentlich, dass er von der mexikanischen
Regierung dazu angehalten wurde, diese Tatsache in seinem
Bericht herunterzuspielen. »Wenn ein UNO-Gesandter so behandelt wird, was kann dann die mexikanische Zivilgesellschaft
erwarten?«, fragt Alejandro Cerezo empört.
Der 33-Jährige nahm als Leiter des Unterstützungskomitees
im Jahr 2012 den Aachener Friedenspreis entgegen. Seine eigene
Anwältin, Digna Ochoa, wurde ermordet, als sie versuchte, den
damals gerade 19-Jährigen aus dem Gefängnis zu holen. Er und
seine Brüder erhalten regelmäßig Todesdrohungen, während
Polizeibeamte in Zivil ihr Haus abfilmen. Diese Vorfälle haben
sie zu Experten im Umgang mit staatlicher Repression gemacht.
Das »Komitee Cerezo« unterstützt Menschenrechtsverteidiger
dabei, Strategien auszuarbeiten, um sich selbst zu schützen.
»Sie suchen unsere Hilfe, weil ihnen sonst niemand Rat geben
kann«, erklärt Alejandro. Anfangs sprachen sie Menschen an,
die Todesdrohungen erhalten hatten. »Heute sind Drohungen
schon etwas Gewöhnliches und Schlimmeres muss passieren,
bevor wir kontaktiert werden.«
Dann helfen die Brüder weiter, mit größter Kompetenz. Sie
sehen sich zum Verwechseln ähnlich. Und heute tragen sie auch
noch alle ein rotes T-Shirt. »Habt ihr euch zum Fototermin abgesprochen?«, scherzt eine Kollegin und schüttelt den Kopf. Gelegenheit für Humor gibt es immer. Eine erfolgreiche Strategie,
um tagein, tagaus mit den bitterernsten Themen umzugehen,
die das Komitee beschäftigen. Folter sehen sie dabei als Teil
eines Unrechtssystems an.
51
»Menschen in Deutschland fällt es oft schwer zu glauben,
dass die Situation in Mexiko wirklich so extrem ist«, weiß Antonio, der Dritte im Bunde, von zahlreichen Besuchen und Rundreisen zu berichten. Erst kürzlich wurden die Brüder Cerezo von
Abgeordneten des Deutschen Bundestages zu dem Polizeiabkommen befragt, das zwischen Mexiko und Deutschland geplant ist. In ihrer ruhigen und freundlichen Art legen sie dann
dezidiert dar, was ihnen aus ihrer Dokumentationsarbeit so klar
vor Augen liegt.
Dass die Bundespolizei für massive Menschenrechtsverletzungen in Mexiko verantwortlich ist. Dass die brutalsten Polizeieinsätze der vergangenen zehn Jahre auf ihr Konto gehen. Wie in
Atenco, einer Gemeinde nahe der mexikanischen Hauptstadt.
Die Polizei nahm dort 2006 nach Protestaktionen mehr als 200
Personen fest, die anschließend von Folterungen und sexuellen
Übergriffen berichteten. Zudem wurde ein Jugendlicher erschossen. Diese Polizei soll nun mit deutscher Hilfe professionalisiert werden. »Für den Kampf gegen Straflosigkeit ist kein
Technologietransfer notwendig, sondern eine gesetzestreue Polizei in einer transparenten Demokratie«, sagt Antonio Cerezo.
»Solange diese nicht vorhanden ist, sollte Deutschland Menschenrechte exportieren und keine Waffen.«
Seine kleinen Söhne spielen zwischen Kartons mit Kaffeetüten Verstecken. Könnt ihr eigentlich Familie haben, hatte sie
einmal eine junge Austauschstudentin gefragt. Doch die Brüder
versuchen gemeinsam mit ihren Partnerinnen ein »möglichst
normales Leben« zu führen. Nach den Jahren im Gefängnis
mehr denn je. An den Wänden im Hinterzimmer der Cafeteria
hängen eng beschriebene Tafeln und Kalender, voll mit Terminen und Aktionsplänen. Ein Operationszentrum für die Menschenrechte mit familiärem Flair und dem Geruch von geröstetem Kaffee.
Der Regierung Enrique Peña Nieto stehen die Brüder mehr
als kritisch gegenüber. Als Gouverneur des Bundesstaates Méxi-
co war er für die Vorfälle in Atenco verantwortlich, unter seiner
Präsidentschaft wurden 43 Studenten mit Beteiligung von Polizei und Militär verschleppt. Auch neun Monate später herrscht
Straflosigkeit vor und wer protestiert, wird inhaftiert. Der Präsident ist weiter im Amt, auch wenn viele seinen Rücktritt fordern. »Mit Peña Nieto gibt es eine Kontinuität der Repression
und Militarisierung. Folter, außergerichtliche Hinrichtungen
und gewaltsames Verschwindenlassen haben in vielen Landesteilen noch zugenommen«, bemerkt Antonio.
Damit im Einklang stehe die rigorose Durchsetzung großer
Wirtschaftsvorhaben. »Menschen werden nur noch als Störenfriede ökonomischer Megaprojekte wahrgenommen«, meint
Antonio. So wie im Bundesstaat Puebla, wo Aktivisten gegen
Minen-, Tourismus- und Industrieprojekte protestieren und es
40 zum Teil minderjährige politische Gefangene gibt. Drei von
ihnen erstatteten Anzeige wegen Folterungen. Kürzlich wurde in
Puebla ein 18-jähriger Sprayer mit einem Genickschuss von der
Polizei getötet.
»Die Sensibilisierung für Menschen- und Bürgerrechte ist
umso wichtiger, je drastischer diese beschnitten werden«,
schließt Hector. Es gebe viel zu tun. Und so verabschieden sich
die Brüder und wirken hochmotiviert, als sie den Raum verlassen. Alejandro, um zu der von ihnen initiierten Menschenrechtsschule aufzubrechen, Antonio zu einem Menschenrechtstheaterprojekt, das sie mit einer Stadtteilbewegung aufbauen,
Hector zu einem Beratungsgespräch mit Angehörigen von Verschwundenen über eine Gesetzesinitiative. Erst am späten
Abend werden sie sich wiedersehen, in einem kleinen Wohnhaus im Süden der Millionenmetropole, dessen Wände voller
Gemälde hängen. Farbenfrohe Werke, die während ihrer Zeit im
Gefängnis entstanden sind. Ihr ungebrochener Mut macht Hoffnung.
Die Autorin ist Mittelamerika-Korrespondentin und lebt in Mexiko-Stadt.
Tägliches Engagement gegen Folter und Verschwindenlassen. Antonio, Alejandro, Hector.
52
amnesty Journal | 08-09/2015
»Wir sind auf einem guten Weg«
Monterrey, die Hauptstadt des mexikanischen Bundesstaates
Nuevo León, galt als eine der Städte mit der höchsten Lebensqualität in Lateinamerika. 1993 haben Sie dort die Organisation CADHAC gegründet. Wie ist die Situation heute?
Um die organisierte Kriminalität zu bekämpfen, schickte Präsident Felipe Calderón 2010 das Militär nach Monterrey. Damit
begann eine sehr schwierige Zeit für uns. Der Staat entschied
»aufzuräumen« und nahm dabei alle verdächtigen Jugendlichen
mit, insbesondere jene aus armen Verhältnissen oder solche mit
Ohrringen oder Tattoos. Sie wurden festgenommen und gefoltert, die Mehrheit von ihnen kam dabei ums Leben. Das Militär,
die Polizei und die organisierte Kriminalität ließen Menschen
verschwinden und die Gesellschaft war zwischen den Konfliktparteien gefangen. In Lateinamerika wird das Verschwindenlassen benutzt, um die Gesellschaft zu paralysieren.
CADHAC unterstützt die Familien der Verschwundenen bei
ihrer Suche. Wie gehen Sie vor?
Unser Ziel ist es, die Familien bei der Suche nach vermissten
Familienmitgliedern und der Suche nach den Verantwortlichen
zu begleiten. Dabei stehen wir ihnen mit psychosozialer und
juristischer Unterstützung zur Seite. Zunächst sind es oft die
Familienmitglieder, die aus Verzweiflung anfangen, die Verschwundenen zu suchen. Die Verantwortung liegt jedoch bei
den staatlichen Behörden. Genauso wie die Expertise. Und falls
sie die nicht haben, dann müssen sie sich weiterbilden!
In welchem Kontakt stehen Sie zu den staatlichen Behörden?
Im Jahr 2011 kam der Poet Javier Sicilia, dessen Sohn entführt und ermordet wurde, mit der »Caravana del Consuelo«
(Karawane des Trostes) nach Monterrey. Nachdem er die Berichte von sechs Müttern gehört hatte, sagte er: »Wir müssen mit
dem Generalstaatsanwalt sprechen«. Dieser hörte sich die Geschichten der Mütter an und versprach, den Fällen nachzugehen. Überraschenderweise gab es wenig später tatsächlich Fortschritte bei der Bearbeitung der Akten. Daraufhin fingen die Familien an, mit den Behörden zu kooperieren. Natürlich hatten
beide Seiten große Vorurteile. Doch dieser Kontakt hat einen
wichtigen Wandel bewirkt. Als sie die Familien persönlich kennengelernt haben, fingen die Behörden an, die Suche nach den
Verschwundenen ernst zu nehmen. Seitdem gibt es alle zwei
Monate ein Treffen mit den Behörden, den Familien und uns
von CADHAC, in denen wir jeden Fall einzeln durchgehen. So
haben wir einige Personen wiederfinden können
Was waren die größten Erfolge von CADHAC?
Gemeinsam mit den Familien haben wir es geschafft, dass
das Verschwindenlassen 2012 in Nuevo León als Straftatbestand
aufgenommen wurde. Außerdem haben wir eine Anleitung zur
konkreten Suche erstellt und seit 2014 gibt es hierzu eine
Sondereinheit, die das ganze Jahr über arbeitet, 24 Stunden am
Tag. Wenn eine Person als vermisst gemeldet wird, sind die ers-
mexiko
ten 72 Stunden entscheidend. Danach sinken die Chancen. Im
ersten Jahr wurden von 1.515 vermissten Personen 81 Prozent
gefunden. Außerdem befinden sich in Nuevo León momentan
72 Personen in Haft, denen Verschwindenlassen vorgeworfen
wird. Zwölf Polizisten wurden bereits verurteilt. Natürlich sind
wir nicht immer erfolgreich, aber wir sind auf einem guten Weg.
Außerdem beobachten wir, dass die Familienangehörigen der
Verschwundenen ihre Rechte vermehrt wahrnehmen und trotz
ihrer schmerzvollen Situation immer stärker werden.
Ließen sich die Erfolge von Nuevo León auch in anderen
Bundesstaaten wiederholen?
Ich denke, unser Modell lässt sich auch in anderen Staaten
anwenden, vorausgesetzt, es gibt den notwendigen politischen
Willen vonseiten des Gouverneurs und des Staatsanwalts.
Außerdem braucht es ein Mindestmaß an Kapazitäten, um die
Mitarbeiter auszubilden. Das bedeutet, dass ein armer Staat wie
Guerrero finanzielle Unterstützung von der Bundesebene benötigt. Der Generalstaatsanwalt des Nachbarstaats Tamaulipas hat
uns bereits angefragt, als er von unserer Sondereinheit gehört
hat. Derzeit sind wir dabei, 22 Fälle in Tamaulipas zu überprüfen. Es ist wichtig, dass die Familien, trotz ihres berechtigten
Misstrauens, auf den Rechtsstaat setzen. Denn nur so können
wir Wahrheit und Gerechtigkeit erlangen.
Sie haben kürzlich den Deutsch-Französischen Menschenrechtspreis Gilberto Bosques erhalten. Was bedeutet diese
Ehrung für Sie?
Damit wird nicht nur unsere Arbeit anerkannt, sondern in
erster Linie die der Familien, die noch immer ihre Angehörigen
suchen. Wir von CADHAC sind das Getriebe zwischen den Familien und den Behörden. Der Preis bedeutet, dass es Regierungen
und Menschen gibt, die diese Anstrengungen wahrnehmen.
Welche Unterstützung kann Deutschland leisten?
Mit mehr als 1.700 in Mexiko angesiedelten deutschen Firmen hat Deutschlands Stimme viel Gewicht in Mexiko und wird
von der Politik gehört. Deutschland kann helfen, Druck auf die
Politik auszuüben. Denn was wir brauchen, ist politischer Wille,
der sich auch in Taten zeigt und zu Gerechtigkeit führt. Die Verantwortlichen müssen vor Gericht gestellt und verurteilt werden, auch die aus höheren Rängen.
Fragen: Leona Binz
interview
consuelo morales elizondo
Foto: Amnesty
Ein Gespräch mit Consuelo Morales Elizondo von der
mexikanischen Menschenrechtsorganisation CADHAC
über das Verschwindenlassen in Mexiko und die
Verantwortung der staatlichen Institutionen.
Consuelo Morales Elizondo ist Gründerin und Direktorin der mexikanischen Menschenrechtsorganisation
CADHAC (»Ciudadanos en Apoyo a
los Derechos Humanos«, Bürger für die Menschenrechte)
und Trägerin des deutsch-französischen Menschenrechtspreises Gilberto Bosques. 53
Meister des Todes
Das Rüstungsunternehmen Heckler & Koch muss sich vor dem Stuttgarter Landgericht
wegen Waffenexporten nach Mexiko verantworten. Die Ausfuhr der G36-Gewehre
liefert auch den Stoff für einen Spielfilm und eine Dokumentation,
die demnächst in der ARD zu sehen sind.
Foto: Bernd Weißbrod / dpa / pa
Von Wolf-Dieter Vogel
Den Anfang machte Jürgen Grässlin. Im April 2010 erstattete der
Freiburger Friedensaktivist Anzeige gegen das Rüstungsunternehmen Heckler & Koch. Sein Vorwurf: Die Waffenbauer aus
dem schwäbischen Oberndorf am Neckar haben Sturmgewehre
vom Typ G36 an mexikanische Bundesstaaten geliefert, für die
keine Exportgenehmigungen vorlagen. Sein Informant: ein Insider, der selbst lange Zeit bei der Schwarzwälder Firma beschäftigt war und in Mexiko Polizisten an der Waffe ausbildete. Nun
gilt er als Kronzeuge in einem Verfahren, das demnächst vor
dem Stuttgarter Landgericht beginnen könnte. Dass die Strafverfolger nach über fünf Jahren tatsächlich erwägen, Anklage zu
erheben, ist vor allem dem Einsatz von Aktivisten wie Grässlin
sowie einigen Journalistinnen und Journalisten zu verdanken.
Ohne den ständigen öffentlichen Druck, so ist zu befürchten,
wären die Ermittlungen im Sande verlaufen. Und so kommt auch
das Amnesty-Journal ins Spiel. Denn Recherchen für das Magazin und damit ein auf die Menschenrechte gerichteter Blick
spielten bei der Verfolgung des Falls eine bedeutende Rolle.
Der 12. Dezember 2011: Studenten der pädagogischen Fachschule Ayotzinapa blockieren eine Autobahn im südmexikanischen Bundesstaat Guerrero. Die als rebellisch bekannten Kommilitonen fordern bessere Studienbedingungen. Polizisten greifen ein und versuchen, die jungen Männer in der Landeshauptstadt Chilpancingo von der Straße zu räumen. Eine Tankstelle
geht in Flammen auf, Steine fliegen. Plötzlich fallen Schüsse.
Wenig später liegen zwei der Studenten tot auf dem Asphalt, erschossen von Polizeibeamten in Uniform oder in Zivil. Genau
weiß das niemand, denn die Schützen werden nie juristisch zur
54
Verantwortung gezogen. Wie bei 98 Prozent der Verbrechen in
Mexiko bleiben die Täter auch in diesem Fall straflos.
Amnesty beobachtet schon lange die schwierigen Verhältnisse in dem Bundesstaat. Bereits in den siebziger Jahren verschwanden in Guerrero Oppositionelle und auch heute werden
dort regimekritische Menschen verfolgt, gefoltert und getötet.
Söldner der Mafia, Polizisten und Soldaten gehen gegen Bauern
und Indigene vor, die ihnen im Wege stehen. Den staatlichen Behörden vertraut kaum jemand, fast niemand erstattet Anzeige.
Schließlich könnte der Beamte, der die Klage entgegennimmt,
im Sold jener Kriminellen stehen, die hinter dem Angriff stecken. Für viele sind Organisationen wie das Menschenrechtszentrum Tlachinollan in Guerrero deshalb der einzige Anlaufpunkt, um ihr Recht einzuklagen. Ein halbes Jahr vor dem tödlichen Polizeieinsatz von Chilpancingo würdigt die deutsche
Amnesty-Sektion diesen Einsatz und verleiht Abel Barrera, dem
Leiter und Gründer des Zentrums, den Menschenrechtspreis.
Auch das Amnesty-Journal bleibt dran. Im Rahmen der Kampagne »Hände hoch für Waffenkontrolle« zur Unterstützung der
Verhandlungen über den UNO-Waffenkontrollvertrag »Arms
Trade Treaty« (ATT) recherchieren Journalisten und AmnestyExperten die Hintergründe der Polizeiaktion. Das Ergebnis: An
jenem 12. Dezember 2011 waren auch Sturmgewehre vom Typ
G36 im Einsatz. Nach Angaben in den Ermittlungsakten hätten
mindestens zwölf Polizisten die deutschen Waffen getragen,
erklärt der Tlachinollan-Anwalt Vidulfo Rosales dem AmnestyJournal. Einige Monate später bestätigt eine Liste des mexikanischen Verteidigungsministeriums: 1.924 der Gewehre sind in
amnesty Journal | 08-09/2015
Blutige Konsequenzen. Sturmgewehr G36
Guerrero gelandet, obwohl der Bundesstaat zu jenen vier Regionen zählt, für die die Exportbehörden wegen der schwierigen
Menschenrechtslage keine Ausfuhrgenehmigung erteilt hatten.
Insgesamt gelangten laut dem Dokument etwa die Hälfte von
9.652 gelieferten Schusswaffen in die »verbotenen« Bundesländer. »Besonders beunruhigend ist es, dass lokale Polizeibeamte
diese gefährlichen Gewehre tragen«, reagierte Abel Barrera auf
die Waffenlieferungen.
Die Befürchtungen sollten sich ein weiteres Mal bestätigen.
Auch beim Angriff von Kriminellen und Lokalpolizisten auf Studenten der Ayotzinapa-Fachschule am 26. September 2014 in der
Stadt Iguala trugen Polizisten die schwäbischen Schusswaffen.
Sechs Menschen starben vor Ort, 43 Studenten wurden verschleppt und wahrscheinlich ermordet. Vieles spricht dafür,
dass die Beamten und die Killer der Mafia mit dem G36 auf ihre
Opfer schossen. Mindestens 38 der Sturmgewehre wurden am
Morgen nach dem Einsatz dort gefunden, wo sie nie hätten landen dürfen: im Polizeirevier von Iguala.
Nach Angaben des Rechtsanwalts Alejandro Ramos Gallegos
sitzen sechs Polizisten, die das G36 trugen, wegen des Massakers
in Haft. Eine Überprüfung der Seriennummern durch das
Bundeswirtschaftsministerium legte offen, dass die Gewehre
laut Exportpapieren in acht Bundesstaaten gingen, nicht aber
nach Guerrero. Diese Papiere, mit denen die Mexikaner und
Heckler & Koch gegenüber dem Bundesausfuhramt (BAfA) den
rechtlich einwandfreien Verbleib der Waffen bestätigen, müssen
also »geschönt« worden sein. Welche Rolle dabei die Schwarzwälder Firma spielte, müssen die Strafverfolger klären. Offen-
mexiko
kundig ist aber, dass kein Bafa-Beamter und auch keine Vertreterin der deutschen Botschaft jemals kontrolliert hat, wo die
G36 wirklich gelandet sind. Das betrifft nicht nur Mexiko: Ob in
Saudi-Arabien, Pakistan oder Libyen, niemand verfolgt, was mit
exportierten deutschen Kleinwaffen, also etwa Pistolen, Gewehren oder Granaten, passiert. Die Bundesregierung will nun Kontrollen vor Ort einführen.
»Wirksame Vor-Ort-Kontrollen für deutsche Waffenexporte
einführen!«, forderten auch schon am 30. Juni 2015 AmnestyAktivistinnen und Aktivisten auf dem Münchner Filmfest. Dort
stellte der Regisseur Daniel Harrich einen Politkrimi vor, der
auch von Amnesty begleitet wird. Der fiktiv gehaltene Spielfilm
»Meister des Todes« handelt von einem baden-württembergischen Rüstungsunternehmen, dessen Sturmgewehr illegal nach
Mexiko geliefert wurde. Der Protagonist, ein exzellenter Schütze, sieht mit eigenen Augen, wie von ihm an der Waffe angelernte Polizisten in Guerrero zwei Studenten mit dem Gewehr erschießen. Dann wendet er sich an einen Friedensbewegten und
wird zum Kronzeugen gegen seine ehemaligen Arbeitgeber. Im
September strahlt die ARD den Spielfilm zusammen mit einer
Dokumentation über den realen Fall im Abendprogramm aus.
Über fünf Jahre nach der Anzeige des Pazifisten Grässlin und
drei Jahre nach den Recherchen des Amnesty Journals erfährt
damit ein Millionenpublikum neue Hintergründe eines Falls,
der beispielhaft für die blutigen Konsequenzen der deutschen
Rüstungsexportpolitik steht.
Der Autor ist Journalist und lebt in Berlin.
55
Alter Rassismus,
neue Opfer
Unabhängige Wissenschaftler überprüften im Auftrag des
Landes Brandenburg die Zahl der dortigen Todesopfer
rechter und rassistischer Gewalt – ein für Deutschland bislang beispielloser Vorgang. Statt den offiziell anerkannten
neun Toten seit 1990 zählen sie mindestens 18. Damit stellt
sich die Frage, wie adäquat Behörden rassistische Gewalt
erfassen. Von Andreas Koob
Andrzej Fratczak war am Abend feiern, am Morgen liegt er tot
auf dem Rasen neben der Disco. Es hatte Streit gegeben in der
Nacht, eine Rangelei, bevor drei junge Deutsche den 36-jährigen
Polen verprügelten. Mehrmals hatten sie auf den am Boden
Liegenden eingetreten, waren auf ihn gesprungen, bevor er
schließlich durch einen Messerstich getötet wurde. Für die
Schlägerei wurden die Täter verurteilt, der tödliche Messerstich
ließ sich jedoch niemandem nachweisen.
Von einem politischen Tatmotiv war nie die Rede. Dabei trug
einer der Täter in jener Nacht ein T-Shirt mit Adolf-Hitler-Aufdruck und bezeichnete sich selbst als den »Chef von Auschwitz«.
56
Was den Behörden ebenso bekannt war wie andere Äußerungen
der Täter wie diese: Den Polen müsse man ein bisschen ausbluten lassen oder »Wir haben ein Polenschwein« und »Das Schwein
stech’ ich ab«. Das Gericht aber sprach später lediglich von einer
verbalen Auseinandersetzung an jenem 7. Oktober 1990 in der
beschaulichen brandenburgischen Kleinstadt Lübbenau.
Manche Details jener Tat werden erst jetzt nach fast 25 Jahren öffentlich. Denn der gewaltsame Tod von Andrzej Fratczak
gehört zu den insgesamt 24 Fällen, die der am Potsdamer Moses
Mendelssohn Zentrum (MMZ) tätige Politologe Christoph Kopke
gemeinsam mit seinem Kollegen Gebhard Schultz erneut auf
eine politische Motivation überprüft hat. Nach der Selbstenttarnung der rechtsextremen Terrorgruppierung NSU und der damit verbundenen Erkenntnis über die bislang zehn bekannten,
durch sie verübten Morde hatte das Bundeskriminalamt (BKA)
die Länder angewiesen, die bisherigen Zahlen der Todesopfer
rechter und rassistischer Gewalt erneut zu überprüfen, auch
wenn alle diese Verfahren aus juristischer Sicht bereits abgeschlossen waren.
amnesty Journal | 08-09/2015
»Die Taten werden völlig entpolitisiert.«
Rostock-Lichtenhagen, August 1992.
Unterschätztes Ausmaß
rassistischer Gewalt
Foto: Christian Jungeblodt / laif
Indem es die Wissenschaftler des MMZ beauftragte,
wählte das Land Brandenburg einen Sonderweg. Es
ließ die bisherigen Statistiken und damit auch die
frühere Arbeit von Polizei und Justiz durch das Wissenschaftler-Duo Kopke und Schultz extern überprüfen. Das Ergebnis ist eindeutig: Nach mehr als
zwei Jahren Arbeit identifizieren die Wissenschaftler neun politisch motivierte Tötungsdelikte, die
bisher nicht als solche galten. Auch der Fall Fratczak
gehört dazu. Damit verdoppelt sich die Zahl: Mit
den bereits erfassten Gewalttaten sind es in Brandenburg nun 18 offiziell anerkannte Opfer. Die Behörden hatten das Ausmaß rechter und rassistischer Gewalt seinerzeit also drastisch unterschätzt.
Vier Tage erst gehörten die neuen Bundesländer
dem wiedervereinten Deutschland an, als Fratczak
starb. In der Folgezeit nahm die massive rassistische
Gewalt flächendeckend zu und prägte die Stimmung im Land. Unabhängige Initiativen, darunter
vor allem Opfer- und Betroffenenberatungen sowie
die Journalisten Heike Kleffner und Frank Jansen,
die bis heute im Auftrag unter anderem von »Zeit«
und »Tagesspiegel« zu rechten und rassistischen
Tötungsdelikten recherchieren, untersuchten die
Vorkommnisse und listeten die Todesopfer dieser
Taten auf. Fratczaks Name findet sich an erster Stelle dieses Monitorings. Auf seine Tötung folgten viele weitere, mit denen die Schere zwischen offiziellen und zivilgesellschaftlichen Zahlen immer weiter auseinanderging. Bis heute sind bundesweit nur
64 Tötungsdelikte anerkannt, während die Amadeu-AntonioStiftung 184 zählt. Also gibt es 120 Tote, bei denen staatliche Stellen bestreiten, dass sie Opfer rassistischer Gewalt geworden sind.
Dass die neun von den Wissenschaftlern neu bewerteten Fälle
auch offiziell als politisch rechts motivierte Taten gewertet werden, kündigte Brandenburgs Innenminister Karl-Heinz Schröter
nach der Veröffentlichung der Studienergebnisse bereits an.
Konkret heißt das, dass sie dem BKA nachgemeldet und
rückwirkend auch in die Statistik politisch motivierter Kriminalität (PMK) aufgenommen werden. Neben Fratczak sind unter
den neun Personen vor allem Punks, Obdachlose und andere
Menschen, die die Täter ausgehend von ihrem rassistischen und
rechten Feindbild verfolgten und töteten, weil sie sie »so eklig
wie Ausländer« fanden, wie einer der Täter in den Akten zitiert
wird. Die Studie veröffentlicht viele sehr schockierende Details
zu diesen menschenfeindlichen Einstellungen der Täter und zu
den Taten selbst. In nahezu allen Fällen prügelten und traten die
Täter wahllos auf die Opfer ein, misshandelten diese, teils urinierten sie auf sie, teils quälten sie sie über Stunden, manchmal
auch im Beisein von Zeuginnen und Zeugen, die nicht oder nicht
entschieden genug intervenierten. Einige prahlten und brüsteten sich öffentlich mit der Tötung ihrer Opfer. Manche der Täter
waren zudem äußerst jung, einer war sogar erst 13 Jahre alt. Manche Fälle ließen sich gut rekonstruieren, andere nicht mehr,
auch weil die Behörden die Unterlagen bereits vernichtet hatten.
deutschland
Bis heute sind nur 64
Tötungsdelikte anerkannt,
während die AmadeuAntonio-Stiftung 184 zählt.
Außergewöhnliche Zusammenarbeit
Kopke sichtete, was es noch zu sichten gab. Mit seinem Kollegen
arbeitete er sich durch insgesamt vier sogenannte Aktenmeter,
was knapp 50 gefüllten Leitz-Ordnern entspricht. Gemeinsam
mit einem Arbeitskreis aus Expertinnen und Experten unter
anderem von Polizei, Innenministerium, der Landesintegrationsbeauftragten, einer Opferberatung sowie weiterer zivilgesellschaftlicher Initiativen wurden die Taten aus sehr verschiedenen Perspektiven auch gemeinsam diskutiert. Alle Beteiligten
lobten ausdrücklich diese sehr außergewöhnliche Zusammenarbeit und appellierten an die anderen Bundesländer, ihre Altfälle in ähnlicher Weise unabhängig überprüfen zu lassen.
Die Studie habe offengelegt, dass das Ausmaß tödlicher
rechter Gewalt in Brandenburg von staatlichen Stellen falsch
beurteilt wurde, hieß es in einer gemeinsamen Erklärung der
brandenburgischen Betroffenenberatung »Opferperspektive«
und der Berliner Amadeu-Antonio-Stiftung. Auf Nachfrage betonen die beiden Initiativen, die in jenem Arbeitskreis auch selbst
vertreten waren, aber, dass sie mit dem Ergebnis nicht ganz zufrieden seien. Sie hätten für die Anerkennung von mindestens
vier weiteren Todesopfern plädiert. Einer von ihnen ist Kajrat
Batesov, der – wie Fratczak – feiern ging und danach nicht mehr
zurückkam. Batesov war Deutschrusse. An jenem Abend im Jahr
2002 besucht er gemeinsam mit einem Freund eine Disco in der
Kleinstadt Wittstock im Nordwesten Brandenburgs. Sie bleiben
dort lange an diesem Abend, aber nicht, um zu feiern, sondern
weil sie sich irgendwann nicht mehr trauen, sich auf den Heimweg zu machen.
»Russische Scheiße« hatte jemand geschrien, sie werden
beim Tanzen beschimpft und bedrängt. Als sie später doch aufbrechen, kommt es vor der Disco zu einer Schlägerei. Batesov
und sein Freund liegen schnell am Boden, während vier Männer
rechte und rassistische gewalt
782 rechtsmotivierte Gewalttaten erfassten die Beratungsstellen allein in Ostdeutschland und Berlin im Jahr 2014,
von denen sie 457, also mehr als die Hälfte, als rassistisch
motiviert einstuften. Damit ist jener Anteil im Vergleich
zum Jahr 2013 um mehr als 30 Prozent angestiegen. Das
Innenministerium erfasste im selben Zeitraum für das
gesamte Bundesgebiet 1.029 Delikte, was einen Anstieg
rechter politisch motivierter Gewalt von 22,9 Prozent im
Vergleich zum Vorjahr bedeutet. Niemand muss eine rassistische Gewalttat hinnehmen – praktische Informationen
für Betroffene oder Zeuginnen und Zeugen gibt es hier:
www.opferperspektive.de/sie-wurden-angriffen#1
57
um sie herumstehen und drei von ihnen auf sie eintreten.
»Bleib endlich liegen, Scheißrusse«, sagt einer der Täter. Auch
andere Bemerkungen fallen. Die Täter treten weiter auf die
wehrlos am Boden Liegenden ein, bis schließlich einer der Männer einen mehr als 17 Kilogramm schweren Feldstein auf Batesovs Brustkorb fallen lässt. Zweieinhalb Wochen später stirbt der
24-jährige Vater an den Folgen der Tat.
Politische Motive unberücksichtigt
Subjektiv habe diese Tat, wie es die MMZ-Studie formuliert, »einen fremdenfeindlichen Eindruck hinterlassen«, was sich aber
objektiv nicht feststellen ließ, sodass ein »politisches Motiv
nicht nachweisbar« war. An anderer Stelle verweisen die beiden
Wissenschaftler allerdings auf die Problematik, »politisch motiviert« angemessen zu definieren. Insgesamt orientiert sich die
Studie aber weitgehend an der Richtschnur der PMK-Kriterien,
einem System, das aus Sicht der Wissenschaftler allein genommen »nur bedingt geeignet ist, das Rechtsextremismusproblem
und sein reales gesellschaftliches Ausmaß adäquat abzubilden«. Da verblüfft es nicht, dass es andere Einschätzungen zum
Fall Batesov gibt: »Diese Tat war klar politisch motiviert«, sagt
etwa Joschka Fröschner von der »Opferperspektive« und begründet es ganz schlicht und einfach: »Sie ist erst wegen des
Rassismus derart eskaliert.« Was an dieser fehlenden Anerkennung der politischen Motivation besonders sprachlos macht,
ist folgender Umstand: Batesov selbst hatte sich schon vor der
Gewalttat bei der Betroffenenberatung gemeldet und Hilfe gesucht. Flaschen seien nach ihm geworfen worden, die Aggressionen in Wittstock gegen ihn und seine Familie seien offen
spürbar gewesen.
Dieses Problem beschränkt sich keinesfalls auf Batesovs Fall.
Die PMK-Systematisierung weise grundsätzlich Mängel auf, sagt
Anna Brausam von der Amadeu-Antonio-Stiftung: »Taten, bei
denen ein sozialdarwinistisches oder rassistisches Motiv mindestens eine tatbegleitende bis -eskalierende Rolle spielen,
werden bisher nicht in der PMK-Statistik erfasst und damit von
staatlicher Seite völlig entpolitisiert.« Dadurch würden auch im
Fall Batesov die tödlichen Folgen rassistischer Gewalt verharmlost, so Brausam. »Insgesamt verdeutlichen die Ergebnisse des
MMZ, dass bei nachweislich rechten Tätern den politischen Motiven durch Polizei, Staatsanwaltschaft und Gericht nicht oder
nicht ausreichend nachgegangen wurde. Sie sind somit sukzessive entpolitisiert worden und zwar von einer Instanz zur nächsten«, sagt Fröschners Kollegin Judith Porath. Diese Einschätzung
teilen auch andere, die sich mit dem Thema beschäftigen, so
etwa Joshua Kwesi Aikins, der vor allem auch Staatsanwaltschaften und Gerichte kritisiert. Aikins, der an der Universität Kassel
arbeitet, hatte im Zusammenhang mit der Prüfung Deutschlands durch den UNO-Antirassismus-Ausschuss (CERD) einen
Schattenbericht zu rassistischer Diskriminierung in Deutschland koordiniert und im Juni 2015 veröffentlicht (siehe auch
folgende Seite).
Für einen Aussiebeffekt rassistischer oder rechter Motive
im Verfahrensverlauf nennt er konkrete Zahlen: Eine Studie
aus Baden-Württemberg belegt für die Jahre 2004 bis 2008,
dass bei nur 13 Prozent der von der Polizei aufgeklärten Fälle
von Hasskriminalität auch vor Gericht ausdrücklich die Vorurteilsmotivation benannt und strafverschärfend einbezogen
wurde. Zudem gibt er vergleichbare Ergebnisse einer Studie
aus Sachsen wieder. Es bestünden deshalb in Bezug auf den
behördlichen Umgang mit vorurteilsmotivierten Straftaten
»eklatante Fehlstellen sowohl in den statistischen und gesetzlichen Grundlagen als auch in der Funktionsfähigkeit der
Strafverfolgungsbehörden und Gerichte selbst«, so ein Fazit
des Berichts.
Im Fall Batesov versagte vermutlich bereits die Polizei, die
möglichen politischen Motiven bei ihrer Ermittlung nicht ausreichend nachging. »Grundsätzlich ist ein aktiveres polizeiliches
Ermitteln gefragt, wie etwa in Großbritannien, wo es zunächst
vor allem auf die Situationseinschätzung der Betroffenen ankommt«, sagt Fröschner. Er kritisiert, dass nicht nur in Batesovs
Fall rassistische Motive nicht anerkannt wurden, sondern auch
bei aktuellen, weniger schwerwiegenden Vorfällen. Fröschner
weiß, wovon er spricht. Er berät und unterstützt Personen im
nördlichen Brandenburg, die akuter Gewalt und Bedrohung
ausgesetzt sind.
Der Autor ist Volontär des Amnesty Journals.
angriffe auf flüchtlinge und deren unterkünfte
Der Verfassungsschutzbericht zählte für das erste Halbjahr 2015 bereits 150 rechte, gegen Flüchtlingsunterkünfte gerichtete Straftaten. Im gesamten Jahr 2014 waren es
170. Schon zwischen 2013 und 2014 hatten sich die Delikte, zu denen auch Propagandadelikte und Sachbeschädigungen zählen, verdreifacht. Ausschließlich gewalttätige
Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte hingegen zählten Pro
Asyl und die Amadeu-Antonio-Stiftung: Für 2014 erfassten
sie mindestens 247, bis Juni 2015 weitere 98 Gewalttaten. Insbesondere der Rassismus und mögliche Straftaten
von Angehörigen der bürgerlichen Mitte dürften nicht ausgeblendet werden.
58
Tödliche Folgen rassistischer Gewalt werden verharmlost.
amnesty Journal | 08-09/2015
Menschenrechte gegen Rassismus
Im Mai wurde Deutschlands Bericht vor dem UNOAntirassismus-Ausschuss (CERD) behandelt. Auch zivilgesellschaftliche Initiativen reichten Parallelberichte ein.
Joshua Kwesi Aikins koordinierte einen dieser Berichte.
Foto: Tobias Ritz / Amnesty
Ein wichtiges, aber vernachlässigtes Instrument im Kampf
gegen Rassismus, das überall da genutzt werden kann, wo
Rassismus stattfindet und Menschen sich dagegen zur Wehr
setzen, ist das Menschenrecht gegen Rassismus – mit dem sich
Deutschland bereits 1969 verpflichtet hat, alle Menschen aktiv
vor Rassismus zu schützen. Es basiert auf der UNO-Antirassismus-Konvention, deren Verpflichtungen und Schutzrechte allerdings wenig bekannt sind, sodass insbesondere von Rassismus
betroffene Menschen sich äußerst selten darauf berufen. Der
menschenrechtliche Schutz vor Rassismus muss in Deutschland
stärker eingefordert werden.
Die Konvention stellt eindeutig klar: Rassistische Diskriminierung ist eine Menschenrechtsverletzung. Und sie findet dann
statt, wenn Menschen aufgrund ihrer zugeschriebenen oder vermeintlichen »Rasse, der Hautfarbe, der Abstammung, dem nationalen Ursprung oder dem Volkstum« eine »Unterscheidung,
Ausschließung, Beschränkung oder Bevorzugung« erfahren,
»die zum Ziel oder zur Folge hat, dass dadurch ein gleichberechtigtes Anerkennen, Genießen oder Ausüben von Menschenrechten und Grundfreiheiten im politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen oder jedem sonstigen Bereich des öffentlichen
Lebens vereitelt oder beeinträchtigt wird«.
Alle Vertragsstaaten sind in der Pflicht, ihre Bevölkerung vor
rassistischer Diskriminierung zu schützen und zwar durch eine
Politik, die Diskriminierung aktiv und ausgleichend entgegen-
Amnesty-Aktion in Dresden, 23. Mai 2015.
deutschland
wirkt. Mit der Formulierung »zum Ziel oder zur Folge haben«
wird deutlich, dass auch institutionelle sowie nicht intentionale
rassistische Diskriminierung zu berücksichtigen sind. Anders
als in Deutschland häufig diskutiert, kommt es nicht darauf an,
ob eine Äußerung oder Handlung rassistisch »gemeint« war –
ausschließlich die rassistischen Folgen für die Diskriminierten
sind maßgeblich.
Obwohl Rassismus in Deutschland eine Tradition hat, die
weit vor dem Nationalsozialismus zur Zeit der Versklavung
begann und im deutschen Kolonialismus vertieft wurde, ist es
bis heute schwierig, über rassistische Diskriminierung in Alltag,
Gesetzen und Strukturen zu sprechen. Auch von Polizei, Behörden und der Regierung wird Rassismus bagatellisiert, relativiert
oder abgestritten, was auch in absurden Begriffen wie »Fremdenfeindlichkeit« seinen Ausdruck findet. Ein unzureichendes
Rassismusverständnis zeigt sich nicht zuletzt darin, dass auch
im Menschenrechtskontext zu wenig unterschiedliche Rassismuserfahrungen und -expertisen einbezogen werden. Für ein
tieferes Verständnis von Rassismus ist all das fatal.
Dieses Jahr im Mai wurde Deutschlands Bericht turnusgemäß durch den UNO-Antirassismus-Ausschuss (CERD) behandelt. Zu dieser Überprüfung, die alle vier Jahre stattfindet, reichen auch zivilgesellschaftliche Initiativen Parallelberichte ein,
die vor allem offiziell ausgeblendete Missstände aufzeigen. Dieses Jahr waren zum ersten Mal Selbstorganisationen von Menschen mit Rassismuserfahrung maßgeblich am Erstellen dieser
Parallelberichte beteiligt, darunter vor allem Expertinnen und
Experten, die entweder für Selbstorganisationen von Rassismuserfahrenen arbeiten oder sich durch individuelle wissenschaftliche oder zivilgesellschaftliche Expertise auszeichnen. Dieser
Bericht weist dadurch konstruktiv über das vorherrschende, verengte Rassismusverständnis hinaus.
Der CERD-Ausschuss hat die Einreichung der Parallelberichte ausdrücklich begrüßt – und viele Inhalte sowohl bei der Befragung der deutschen Delegation als auch in seinen Empfehlungen aufgegriffen. Deutschland komme seinen Verpflichtungen nicht nach. Dies reiche von ganz grundlegenden Problemen
wie der mangelnden Umsetzung der Konvention in nationales
Recht über die unzureichende Erfassung von Hassverbrechen
bis hin zu rassistischer Diskriminierung im Bildungssystem
oder durch »Racial Profiling«. All das bemängelte auch der Parallelbericht. Der Ausschuss folgte auch innovativen Interventionen des Parallelberichts wie der Analyse von rassistischer Diskriminierung von Frauen, die einen Hijab tragen, oder von Lesben, Schwulen, Bi-, Trans- und Intersexuellen, die gleichzeitig
Gruppen angehören, die in Deutschland Rassismus erleben. Die
Mehrfachdiskriminierung etwa dieser Personengruppen, sogenannte intersektionelle Diskriminierung, solle mehr beachtet
werden. Wie es jetzt weitergeht, hängt auch davon ab, wie entschieden die deutsche Zivilgesellschaft die Umsetzung der Ausschussempfehlungen einfordert – Organisationen wie Amnesty
International sind ebenso gefragt wie engagierte Einzelpersonen: Jede und jeder, ob im Parlament oder auf dem Schulhof
kann einen Beitrag leisten.
Der Autor arbeitet an der Universität Kassel und war zentraler Koordinator
des Parallelberichts. Weitere Infos unter: rassismusbericht.de
59
»Diese Sympathie
ist eine
unglaubliche
Antriebskraft«
50 Stockschläge vor aller Augen: Der saudi-arabische
Blogger Raif Badawi wurde Anfang des Jahres öffentlich
geprügelt. Seither ist er permanent in Gefahr, weitere
Schläge zu erhalten. Anfang Juni bestätigte der Oberste
Gerichtshof das Urteil gegen ihn: 1.000 Stockschläge,
zehn Jahre Haft und eine Geldstrafe von umgerechnet
240.000 Euro. Raif Badawis Ehefrau, Ensaf Haidar,
ist mit ihren drei Kindern nach Kanada geflohen.
Im Interview mit dem Amnesty Journal schildert sie
ihren Weg ins Exil und ihren unermüdlichen Einsatz
für die Freilassung ihres Mannes.
Seit Sie sich 2008 von Raif Badawi verabschiedet haben, ist viel
Zeit vergangen. Welche Gefühle haben Sie seither durchlebt?
In dieser Zeit habe ich vieles durchgemacht. Ich erlebe bis
heute ein ständiges Wechselbad der Gefühle. Manchmal bin ich
optimistisch und glaube, dass die Dinge sich verändern und die
Sache einen guten Ausgang nimmt. Manchmal bin ich traurig,
verzweifelt und müde. Ich will das Negative nicht überbewerten,
muss aber zugeben, dass es auch da ist.
Vermissen Sie etwas, wenn Sie an Ihr Leben in Saudi-Arabien
denken?
Außer Raif vermisse ich nichts. Wenn er nach Kanada
kommt, ist das Kapitel für mich abgeschlossen. Was es für mich
nicht mehr gibt, ist so etwas wie Heimat, aber ich fühlte mich in
Saudi-Arabien ohnehin nie als freier Mensch.
Jeden Freitag besteht nach wie vor die Gefahr, dass Ihr Ehemann
erneut öffentlich geprügelt wird. Was löst das bei Ihnen aus?
Jeder Tag fühlt sich leer und traurig für mich an. Das alles
lässt mich ohnehin nicht zur Ruhe kommen. Aber freitags gibt
es diesen zusätzlichen Ballast, diese Tage fallen mir wirklich
besonders schwer.
Ihr Leben hat sich schlagartig verändert. Sie sind jetzt alleinerziehend und leben im Exil. Wie haben Sie sich damit arrangiert?
60
Das Leben geht weiter. Die Kinder gehen in die Schule und
ich habe Leute um mich, mit denen ich gerne Zeit verbringe.
Und wenn ich Unterstützung brauche, sind sie da. Das funktioniert alles.
Der Entschluss, ins Exil zu gehen, der fehlende Vater und die
extrem schwierige Gesamtsituation – wie haben Sie das Ihren
Kindern erklärt und wie gehen Sie damit um?
Ich habe es ihnen nicht sofort gesagt. Nach einer kurzen Station in Ägypten lebten wir in Beirut. Wir verbrachten dort fast
zwei Jahre, bevor wir nach Kanada gingen. Zunächst wollte ich
den Kindern nicht zu viel erzählen, auch wenn sie ständig fragten und nachhakten, wo Raif sei und wann er zurückkomme.
Ständig erwarteten sie ihn. Erst kurz vor der Prügelstrafe im
Januar, kurz vor jenen ersten 50 Stockschlägen habe ich den
Fragen nachgegeben. Ich hatte das Gefühl, dass ich es ihnen
erklären muss, dass sie mehr wissen müssen. Das war gut für
uns alle. Natürlich hatten sie viele neue Fragen, etwa zu Raifs
Blog und warum er ihn betrieb. Insgesamt bringen die drei Kinder das ganz unterschiedlich zum Ausdruck. Aber sie warten auf
ihn, auch wenn sie wissen, dass er im Gefängnis sitzt. Sie wollen
ihren Vater bei sich haben.
Sie telefonieren mit Raif Badawi. Wie frei können Sie reden,
und worüber sprechen Sie mit ihm?
Ich kann ihn nicht anrufen. Wenn wir telefonieren, ruft er
mich an – unregelmäßig, etwa zwei bis drei Mal in der Woche.
Das sind sehr kurze Telefonate. Er will nicht darüber sprechen,
was mit ihm im Gefängnis geschieht und ich frage ihn auch
nicht danach. Er will wissen, wie es mir und den Kindern geht
und was wir machen. Ich frage ihn das gleiche. So haben wir uns
arrangiert.
Halten Sie es für möglich, dass die weltweite Öffentlichkeit die
Angelegenheit negativ beeinflussen könnte?
Nein, einen negativen Effekt kann ich mir nicht vorstellen.
Im Gegenteil: Ich glaube fest an einen guten Ausgang. Die Sache
braucht nur mehr Zeit.
amnesty Journal | 08-09/2015
interview
ensaf haidar
Foto: Karen Veldkamp / Amnesty
Ensaf Haidar kämpft seit seiner Inhaftierung für
die Freilassung ihres Mannes Raif Badawi. Im Mai
reiste sie nach Europa, um an Veranstaltungen
und Aktionen für Badawi teilzunehmen. Sie
sprach dabei unter anderem in Dresden auf der
Jahresversammlung der deutschen Amnesty Sektion. Ensaf Haidar lebt mittlerweile mit ihren
drei Kindern östlich von Montreal in Kanada.
Raif Badawi startete als unbekannter Blogger, inzwischen ist
er zu einer weltweit bekannten Ikone für Meinungsfreiheit
geworden – weiß er, was außerhalb Saudi-Arabiens passiert?
Er weiß immer, was los ist – ich versuche ihn so gut es geht
auf dem Laufenden zu halten. Das hilft ihm und gibt ihm Energie.
Wie haben Sie persönlich diesen Prozess wahrgenommen, als
ihr Mann Tag für Tag bekannter wurde?
Ich hatte zunächst Angst davor, was passieren würde. Und
zugleich hatte ich die Hoffnung, dass der Kampf für Raif zum
Erfolg führen könnte.
Dank Ihres enormen Einsatzes wurden auch Sie weltweit bekannt. Sie und Ihre Familie stehen nun ebenfalls im Rampenlicht. Wie geht es Ihnen mit dieser Rolle?
Es ist meine Pflicht als seine Frau, für ihn da zu sein, ihn zu
verteidigen, ihm zu helfen. Das tue ich, weil die Kinder und ich
ihn zurückwollen. Ich bin froh, dass ich nicht allein bin mit meiner Forderung, sondern dass wir alle gemeinsam dasselbe wollen.
Die Resonanz ist riesengroß, vor allem in den sozialen Netzwerken. Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie immer
wieder all diese »Likes« auf Facebook sehen?
Das macht mich glücklich und gibt mir Kraft, um weiterzumachen. Diese Sympathie ist eine unglaubliche Antriebskraft.
interview
|
ensaf haidar
Wissen Sie, warum Raif Badawi den Blog initiierte, gab es
einen Auslöser?
Er hatte die Absicht, eine Plattform zu schaffen, einen Raum
zu schaffen, um über Menschenrechte und Probleme zu sprechen. Er wollte es den Leuten ermöglichen, frei ihre Meinung zu
äußern. Raif denkt und handelt frei und er mag es, wenn Leute
frei handeln, denken und entscheiden können – die Webseite
sollte ein Anfang sein.
Wusste er, dass er sich damit in Gefahr begab?
Es war ihm von Anfang an bewusst, dass es eine heikle Angelegenheit war. Aber er hatte ganz und gar nicht mit einer derart
harten Strafe gerechnet. Und bis jetzt kann er nicht glauben,
dass er diese Strafe für das bekommt, was er eigentlich gemacht
hat.
Inzwischen sind seine Texte auch in einem Buch erschienen.
Haben Sie das Vorhaben gemeinsam abgestimmt?
Als der Vorschlag kam, entschieden wir uns einfach dafür.
Alle Leute, die mit Raif sympathisieren, haben dadurch eine
echte Chance, zu erfahren, was er denkt. Spätestens damit dürfte
allen klar werden, dass sein Handeln und seine Strafe in keinen
Zusammenhang zu bringen sind.
Fragen: Andreas Koob
61
KULTUR
Der
genaue
Blick
Unter die Lupe genommen. Szene aus Joshua Oppenheimers »The Look of Silence«.
62
amnesty Journal | 08-09/2015
Mit »The Look of Silence« beschäftigt
sich der US-amerikanische Filmemacher
Joshua Oppenheimer erneut mit dem
indonesischen Massaker von 1965 –
diesmal aus der Perspektive der Opfer.
Eine Werkschau von Georg Kasch
Foto: Drafthouse Films / Participant Media
»the look of silence«
63
S
chönheit kann ziemlich irritierend wirken. Etwa dann,
wenn von den grausamsten Menschenrechtsverbrechen
die Rede ist – und sich dazu Naturpanoramen aufblättern, Menschen in aufwändigen Kostümen vor einem
Wasserfall posieren, Autos und Menschen im nächtlichen
Scheinwerferlicht eine geheimnisvolle Aura erhalten. Selbst die
an sich eher unspektakuläre Arbeit eines Optikers wird zum ästhetischen Bilderrätsel: Zunächst sieht man nur eine Linse, die
sich vor ein Auge schiebt. Erst allmählich begreift man, dass ein
Brillenmacher bei seinem Kunden die Dioptrinstärke ermittelt.
Zugleich sucht hier einer auch im übertragenen Sinn nach
Klarheit. Denn Adi, der Brillenmacher im Film »The Look of Silence«, ist der jüngste Bruder von Ramli, einem der bekanntesten Opfer des Massakers in Indonesien 1965, mit dem die Diktatur von General Suharto begann. Damals wurden massenhaft
»Kommunisten« ermordet, oft auf bestialische Weise. Schätzungen gehen von bis zu einer Million Opfer aus. In der offiziellen
indonesischen Geschichtsschreibung werden die Taten bis heu-
Foto: Roy Tee / Hollandse Hoogte / laif
te zum heroischen Kampf verklärt, der das Land vor den Kommunisten schützte. Die Täter von damals gehören immer noch
zur Elite, trotz des Demokratisierungsprozesses des Landes seit
gut 15 Jahren.
Mit den Tätern hatte sich der US-amerikanische Filmemacher Joshua Oppenheimer in seinem preisgekrönten Dokumentarfilm »The Act of Killing« 2012 auseinandergesetzt. In der
Annahme, hier werde ein Film über ihre Heldentaten gedreht,
spielen sie die Folterungen und Morde von einst nach, prahlen
mit ihrer Grausamkeit. Immer wieder aber mischen sich auch
Momente des Zweifelns hinein – weil sie natürlich wissen, dass
sie Verbrechen begangen haben. So entstehen Momente der Uneindeutigkeit, auch für den Zuschauer. »Jeder Täter ist auch ein
Mensch«, sagt Oppenheimer. »Sie sind keine Monster, sondern
Spiegel. Da hineinzuschauen, schmerzt.«
Für seinen Film erntete Oppenheimer viel Lob, unzählige
Preise und eine Oscar-Nominierung. Aber es gab auch kritische
Stimmen: Was ist mit den Opfern? Deren Perspektive vertritt
nun Ramlis Familie in »The Look of Silence«, der am 1. Oktober
in die Kinos kommt und zuvor beim Menschenrechtsfilmfestival in Nürnberg läuft. Vor allem Adi, der erst zwei Jahre nach
Ramlis Tod geboren wurde. Er reist unter dem Vorwand zu den
Tätern, ihnen eine neue Brille zu machen, und stellt dabei unangenehme Fragen – ruhig, aber genau nachhakend, als würde er
seit Jahren als Journalist arbeiten.
»Als ich jung war, wollte ich immer die Täter treffen«, sagt
er heute – gemeinsam mit Oppenheimer hat er den Film in
Deutschland vorgestellt. »Als Joshua kam und mit mir diesen
Film machen wollte, ging ein Traum in Erfüllung. Ich hatte diese
Fragen seit Jahrzehnten im Kopf und endlich konnte ich sie stellen.« Im Film sieht man Adi oft vor einem Fernseher mit dem
Material zu »The Act of Killing« sitzen, mit ruhigem, konzentriertem Blick. Nur selten zeigt ein Schatten auf seinem Gesicht,
eine Falte, ein Zusammenzucken, wie sehr ihn das bewegt, was
er sieht: die Mörder seines großen Bruders.
Mit Adi hat Oppenheimer den idealen Protagonisten gefunden, weil er trotz all des Leids, mit dem er sich auseinandersetzen muss, ruhig bleibt. »Wut ist sinnlos«, erklärt er. »Wenn ich
wütend werden würde, wäre ich wie die Täter.« Auch wegen Adi
ist »The Look of Silence« ein zutiefst bewegender Film, dem so
etwas wie Rache fremd zu sein scheint. Mit seinen Fragen bringt
er die Täter und ihre Familien vollkommen aus dem Konzept.
Die Ausreden, in die sie sich flüchten, ihr Beschwichtigen und
Mauern erinnert fatal an jene Reflexe, mit denen sich die Tätergeneration in Deutschland nach 1945 gewehrt hat. »Stellen Sie
sich vor, die Nazis hätten den Krieg gewonnen – und würden
jetzt von einem Opfer mit ihren Taten konfrontiert«, sagt
Oppenheimer.
Sieht besonders genau hin. Regisseur Oppenheimer.
64
»Stellen Sie sich vor, die
Nazis hätten den Krieg
gewonnen – und würden
jetzt von einem Opfer mit
ihren Taten konfrontiert.«
amnesty Journal | 08-09/2015
Foto: Drafthouse Films / Participant Media
Die Fragen des kleinen Bruders. Adi befragt Commander Amir Siahaan, einen der Verantwortlichen für den Tod seines älteren Bruders.
Der 40-jährige Regisseur und Filmwissenschaftler stammt
aus einer deutsch-jüdischen Familie – viele Verwandte seiner
Großeltern wurden im Holocaust ermordet. Wie Adi ist auch er
besonnen, freundlich, sanft. Immer wieder hinterfragt er sich
und seine Methoden kritisch. »Ich interessiere mich dafür, wie
wir Menschen in einer Art zusammenleben können, die Würde
und Fürsorge fördert und in der es undenkbar wird, einander
systematisch zu verletzen«, erklärt er seine Motivation, sich in
seinen Filmen immer wieder mit den universalen Menschenrechten auseinanderzusetzen. Oft beginnen sie wie Rätsel. Erst
allmählich begreift man die Zusammenhänge, setzen sich die
Geschichten mosaikartig zusammen. So bleibt man als Zuschauer wach, denkt mit. Die Art und Weise, wie sich in »The Look of
Silence« nach den vielen Worten der Abwehr und Verteidigung
durch die Täter Momente der Stille aufspannen, lässt ihr Schweigen unangenehm nachhallen.
Selten gelingt es Kunst, derart stark in die Realität hineinzuwirken wie in Oppenheimers Filmen: Während »The Act of Killing« in Indonesien vor allem heimlich gezeigt und übers Internet populär wurde, wurde »The Look of Silence« auch dank der
Unterstützung durch die nationale Menschenrechtskommission
zu einem landesweit diskutierten Film. Seitdem haben ihn vor
allem junge Menschen gesehen, wie Adi berichtet. Zwar gibt es
Versuche der Zensur, den Film zu unterdrücken. Aber auch das
wurde medial kritisch aufgegriffen. Längst hat eine offizielle
Diskussion über die Vergangenheit Indonesiens eingesetzt, die
unaufhaltbar scheint.
Nach Indonesien kam Oppenheimer zum ersten Mal 2001.
Er war gefragt worden, ob er den Mitgliedern einer verbotenen
Gewerkschaft helfen könne, einen Film über ihre Situation zu
machen: »The Globalisation Tapes«. Auf der Suche danach, wer
schuld an ihrem Leid ist, verfolgen die Arbeiter die Spuren der
»the look of silence«
Globalisierung, die sie bis zu den amoralischen Regeln der Welthandelsorganisation führt und zu den USA, die jahrzehntelang
den wirtschaftsliberalen Diktator Suharto unterstützten. Auch
wenn Oppenheimer bei der Entstehung dieses Wut- und Mutmachfilms als Berater und nicht als Regisseur wirkte, gibt es
viele Momente, die seine Handschrift tragen. Besonders die der
Verfremdung, etwa wenn eine Plantagenarbeiterin um einen
Palmenbaum herum Gift versprüht und gut gelaunt davon
singt, dass dieses Gift sie töten wird.
Bis dahin wusste Oppenheimer nichts über Indonesien und
dessen Geschichte. Während der gemeinsamen Arbeit lernte er,
wie angstbehaftet dort der Versuch war, sich gewerkschaftlich
zu organisieren, weil 1965 so viele Gewerkschafter unter den Opfern waren. Seine Erkenntnis: »Das stärkste Gift ist die Angst.«
Deutlich wurde aber auch, wie sehr sein Heimatland in die Menschenrechtsverletzungen involviert war. Den USA hatte er schon
1996 in »These Places We’ve Learned to Call Home« auf den
rechtsradikalen Zahn gefühlt: In schockierender Weise schneidet er düstere, experimentelle Bilder mit Telefongesprächen
zusammen, die er mit Menschen vom rechten Rand geführt hat.
Was da an wirren Verschwörungstheorien, an Rassismus, Antisemitismus und dreistesten Faktenverdrehungen aufscheint,
hat an Aktualität nichts eingebüßt, wie die Morde an Schwarzen
in den USA gerade auf erschreckende Weise demonstrieren.
»Kunst ist wie das Kind in Andersens Märchen ›Des Kaisers
neue Kleider‹«, sagt Oppenheimer. »Sie kann die Welt nicht verändern. Aber sie kann auf Dinge hinweisen, die die Menschen
nicht sehen.« Seine Filme fordern dazu auf, besonders genau
hinzusehen – und forschen letztlich nach einer Antwort auf die
Frage, was es bedeutet, ein Mensch zu sein.
Der Autor arbeitet als freier Kulturjournalist in Berlin.
65
Flucht ist mehr als das Überwinden von Landesgrenzen. Zeichnung aus dem Kinderbuch »Zuhause kann überall sein«.
Mehr als
eine Randnotiz
Die Meldungen über steigende Flüchtlingszahlen reißen nicht ab, die Politik diskutiert
über Verteilungsschlüssel, Obergrenzen, Kosten – Flüchtlinge begegnen uns täglich
als geschichts- und namenlose Zahlenansammlungen und Randnotizen.
Die aktuelle Kinder- und Jugendliteratur setzt der Anonymität der Tagesmedien
die Schilderung individueller Schicksale entgegen. Von Marlene Zöhrer
66
amnesty Journal | 08-09/2015
Zeichnung: Freya Blackwood / Knesebeck Verlag
P
ackend, schonungslos und zutiefst berührend sind die
Bilder-, Kinder- und Jugendbücher, die sich mit dem
Thema Flucht beschäftigen: Sie erzählen vom unfreiwilligen Aufbruch, vom (lebens-)gefährlichen Unterwegssein und vom beschwerlichen Versuch in der Fremde anzukommen. Sie erzählen vom Erinnern und Vergessen, von Angst, Ungewissheit und Hoffnung. Und sie erinnern durch ihre Protagonistinnen und Protagonisten daran, dass 46 Prozent aller Flüchtlinge weltweit Kinder und Jugendliche sind, die zudem häufig
auf sich allein gestellt sind.
So auch Akim aus Claude K. Dubois preisgekröntem Bilderbuch »Akim rennt«. Dubois zeichnet darin in kargen Worten
und skizzenhaften Bildern die Geschichte eines kleinen Jungen.
Sein individuelles Schicksal berührt und bewegt. Und es lässt
die Lesenden erahnen, was unzähligen Kindern und Jugendlichen in den Kriegsgebieten widerfährt, wenn von einem auf
den anderen Moment alles anders ist, wenn der Krieg, der eben
noch weit weg zu sein schien, alles zerstört: das Dorf, das Zuhause, die Familie. Akim, der gerade noch mit seinen Freunden am
Fluss gespielt hat, ist nun auf der Flucht. Allein, ohne Eltern.
Akim flieht erst vor den Bomben und dann vor den Soldaten, die
ihn gefangen nehmen. Gleich mehrfach muss der Junge binnen
weniger Tage um sein Leben rennen. Er hat Glück, er trifft auf
eine Gruppe von Flüchtlingen, der er sich anschließen kann,
und gelangt schließlich in ein Flüchtlingslager. Doch auch wenn
der Junge dort in Sicherheit und mit dem Wichtigsten versorgt
zu sein scheint, ist seine Reise auch nach dem ersehnten Wiedersehen mit seiner Mutter innerlich noch lange nicht zu Ende.
Akim leidet unter den Eindrücken des Krieges. Mit dem kleinen
Stofftier im Arm, das er auf seiner Flucht gefunden hat, steht er
neben den anderen Flüchtlingskindern – in sich gekehrt und
traumatisiert.
Ob Bilder-, Kinder- oder Jugendbuch, eines machen alle
Texte und Illustrationen unmissverständlich klar: Unterdrückung, Terror, Krieg, Vertreibung und Flucht hinterlassen tiefe
Narben auf den Seelen. Der Weg in eine neue, hoffentlich sichere, Zukunft ist meist nicht nur beschwerlich, sondern lebensgefährlich – viel zu viele schaffen es nicht. So wie Samia Yusuf
Omar, deren wahre Geschichte Reinhard Kleist in seiner eindrücklichen und viel beachteten Graphic Novel »Der Traum von
Olympia« nacherzählt: Samia ertrinkt auf der Überfahrt von
Libyen nach Malta.
Aber auch die Überlebenden werden auf ihrer Flucht häufig
mit dem Tod konfrontiert. Erinnerungen an Familienangehörige, Bekannte oder Mit-Flüchtlinge, die vor Erschöpfung sterben
oder brutal hingerichtet werden, sind ihre ständigen Begleiter.
»Ein Schuss, die Tür schleudert in den Raum. Papa kippt der
Länge nach auf den Boden. Noch ein Schuss. Papa liegt ganz still.
Um ihn herum bildet sich eine Blutlache. Die rauen Holzdielen
saugen es auf wie Saft. Der Mann ist ein Soldat. Ich weiß, wie Soldaten aussehen. Soldaten haben Pistolen in der Hand.« Albin,
der kindliche Ich-Erzähler aus Ingeborg Kringeland Halds
Jugendroman »Vielleicht dürfen wir bleiben« ist sechs Jahre alt,
als der Krieg in Bosnien ihn und seine Familie einholt und zur
Flucht zwingt. Gemeinsam mit seiner Mutter und seinen beiden
jüngeren Zwillingsschwestern schafft er es bis nach Norwegen.
Doch gerade als es scheint, sie könnten dort auch wirklich
ankommen und das Erlebte hinter sich lassen, soll die Familie
abgeschoben werden. Albin entschließt sich wegzulaufen, um in
Norwegen bleiben zu können. Der mittlerweile elfjährige Junge
versteckt sich in einer kleinen Waldhütte – die Erinnerungen an
kinder- und Jugendbücher
die Flucht vor fünf Jahren durchziehen sein »Abenteuer«. Und
einmal mehr wird deutlich, welche bürokratischen und gesellschaftlichen Unwegsamkeiten überwunden werden müssen,
um in einem fremden Land leben zu dürfen. Flucht endet oder
glückt nicht mit dem Überschreiten von Landesgrenzen.
Davon erzählen – wenn auch auf ganz unterschiedliche
Weise, immer aber mit eingestreuten Erinnerungen und Schilderungen der Flucht – auch die Jugendromane »Der Glücksfinder«, »Das Schicksal der Sterne« und »Sommer unter schwarzen
Flügeln«. Die jugendlichen Flüchtlinge suchen ihren Platz in unserer Gesellschaft, sehen sich dabei neben Offenheit, Fürsorge
und persönlichem Engagement aber immer wieder mit Vorurteilen und offener Ablehnung konfrontiert. Peer Martin lässt
seine Protagonistin, die junge Syrerin Nuri, in »Sommer unter
schwarzen Flügeln« auf den rechtsradikalen Calvin treffen: Sie
rettet ihn im Haus ihrer Deutschlehrerin vor dem Sturz vom
Balkon. Er sträubt sich gegen ihre Geschichte, die sie ungefragt
erzählt, und kann sich dem Erzählten, dem Klang der Worte
doch nicht entziehen. Im Widerstreit der Weltanschauungen
und Erfahrungen von Nuri und Calvin entspinnt sich eine feinfühlige, poetische (Liebes-)Geschichte, die ein schonungsloses
Gesellschaftsporträt zeichnet.
Hoffnungsvoller stimmt das Bilderbuch »Zuhause kann
überall sein« von Irena Kobald und Freya Blackwood. Es thematisiert die Problematik des Fremdseins und Ankommens im Zusammenhang mit Sprache: »Um in Sicherheit zu sein, kamen
wir in dieses Land. Alles war fremd. Die Leute waren fremd. Das
Essen war fremd. Die Tiere und Pflanzen waren fremd. Sogar der
Wind fühlte sich fremd an. Niemand sprach so wie ich«, erzählt
die Protagonistin traurig. Erst als ein freundliches Mädchen ihr
einzelne Worte in der fremden Sprache beibringt, beginnt ein
Annäherungsprozess und die Protagonistin kann wieder zu sich
selbst finden. Aus den neu gelernten Worten webt sie sich in
Wort und Bild eine Patchwork-Decke: »Heute ist meine neue Decke genauso warm, weich und gemütlich wie meine alte.« Sich
in der neuen, fremden Sprache ausdrücken zu können, gibt dem
Mädchen Sicherheit und bringt sein Selbstbewusstsein zurück.
Nun kann es an der Kultur und am Leben seiner neuen Heimat
teilnehmen und fühlt sich nicht weiter ausgegrenzt.
Die Autorin ist freie Journalistin, spezialisiert auf Kinder- und Jugend medien.
Bücher
Claude K. Dubois: Akim rennt. Moritz, Frankfurt am Main 2011. 96 Seiten,
12,95 Euro. Ab 6 Jahren.
Edward van de Vendel, Anoush Elman: Der Glücksfinder. Aus dem
Niederländischen von Rolf Erdorf. Carlsen, Hamburg 2011. 464 Seiten,
14,90 Euro. Ab 14 Jahren.
Reinhard Kleist: Der Traum von Olympia. Carlsen, Hamburg 2015.
152 Seiten, 17,90 Euro. Ab 14 Jahren.
Ingeborg Kringeland Hald: Vielleicht dürfen wir bleiben. Aus dem
Norwegischen von Maike Dörries. Carlsen, Hamburg 2015. 112 Seiten,
9,99 Euro. Ab 12 Jahren. Irena Kobald, Freya Blackwood: Zuhause kann überall sein. Aus dem
Englischen von Tatjana Kröll. Knesebeck, München 2015. 32 Seiten,
12,95 Euro. Ab 5 Jahren.
Peer Martin: Sommer unter schwarzen Flügeln. Oetinger, Hamburg 2015.
528 Seiten, 19,99 Euro. Ab 14 Jahren. www.unter-schwarzenfluegeln.com
Daniel Höra: Das Schicksal der Sterne. Bloomoon, München 2015.
256 Seiten, 14,99 Euro. Ab 14 Jahren. 67
Im Sommer 2014 entließ das Moskauer Kultusministerium den Direktor des russischen
Filmmuseums, Naum Kleiman, und den größten
Teil seines Stabes. Kleiman aber arbeitet weiter –
am Nachlass von Sergej Eisenstein.
Von Barbara Kerneck
I
m Frühjahr 2015 ertönte Naum Kleimans Stimme leise aus
einem Aufnahmegerät vor einem Berliner Fahrkartenschalter. Ich hatte meine Kopfhörer vergessen, wollte mir
aber mein Interview mit Kleiman noch einmal anhören.
Plötzlich mischte sich eine Wartende mit russischem Akzent
von hinten ein: »Diese Stimme kenne ich! In meiner Jugend
habe ich in Moskau im Kino ›Illusion‹ den Film ›Panzerkreuzer
Potemkin‹ von Eisenstein gesehen. Dann hielt jemand einen
Vortrag und diskutierte mit uns darüber. Furchtbar interessant!
War das damals vielleicht der Mann, zu dem diese Stimme gehört?«
Naum Kleiman, geboren 1937, hat unzählige Angehörige
der verschiedensten sowjetischen Nationen mit ihrem eigenen
Filmerbe vertraut gemacht. Als Direktor des russischen Filmmuseums (Musej Kino) baute der renommierte Filmhistoriker
und Regisseur dieses ab 1988 mit seinen Mitarbeitern auf und
rettete damit einen Schatz für die ganze Welt. Die Jüngeren aus
dem postsowjetischen Raum sahen dort nicht nur alle seit der
Oktoberrevolution populären Filmklassiker sondern auch bislang verbotene Filme. Im Ausland veranstaltete das Musej Kino
russische Filmretrospektiven. Parallel dazu zeigte es in Moskau
bislang dort unbekannte ausländische Filme aus verschiedenen
historischen Perioden.
Für seine besonderen Verdienste erhielt Kleiman, selbst Mitglied vieler Festivaljurys, 2015 die Berlinale Kamera. Dem stets
bescheiden auftretenden Mann war die damit verbundene Würdigung seiner Mitarbeiter besonders wichtig. In seinem Berliner
Hotelzimmer gab er geduldig ein Interview nach dem anderen,
mal in fließendem Deutsch, mal auf Englisch. Sein Haar und
Brillengestell glänzten dabei silbern um die Wette. Seit Sommer
2014 hat das Kultusministerium den größten Teil seines Stabes
entlassen, auch ihn als Direktor. Dagegen protestierten Dutzende internationale Filmschaffende, wie Wim Wenders oder Tilda
Swinton, in einem offenen Brief an den russischen Ministerpräsidenten Medwedjew.
Unter Kleiman hatte das russische Filmmuseum für mehr
68
Geschichtsbewusstsein geworben. Das Kino vereinte die Völker
der ehemaligen Sowjetrepubliken untereinander. Es könne dies
noch immer, meint er: »Wir bewahrten so viele kirgisische, tadschikische, armenische, georgische Filme in unserem Museum
und haben sie in Moskau auch gezeigt«, berichtet er, »und die
Kinder der zahlreichen dortigen Emigranten aus diesen Ländern
kamen, um die Vergangenheit ihrer Eltern kennenzulernen.«
Weil es lehre mitzufühlen und Verständnis für bestimmte
historische Situationen wecke, könnte das Kino auch Russland
helfen, seine bislang noch unverdaute Vergangenheit zu bewältigen und die Bevölkerung in mündige Bürger zu verwandeln,
glaubt er. Denn bislang heiße es entweder »Wir haben nur Fehler begangen« oder »Früher war alles besser!«. Nuancen dazwischen gebe es nicht.
In einer historischen Extremsituation sah Kleiman selbst
seinen ersten Film. 1942, er war viereinhalb Jahre alt, hatte man
seine Familie aus Moldawien vor den heranrückenden Deutschen evakuiert. Er erinnert sich: »1942 erreichten wir Usbekistan. Massen von Flüchtlingen trafen sich am Bahnhof von
Taschkent. Plötzlich kam eine Frau auf uns zu und sagte: ›Flüchtlinge mit Kindern können ins Kino in den Park gehen und dort
Kinderfilme anschauen.‹ Meine Mutter ging mit mir, sie stellte
mich auf eine Bank, damit ich besser sehen konnte. Der Film
war ›Der Dieb von Bagdad‹ von Michael Powell und Ludwig Berger. Ich schaute mit offenem Mund auf all diese Wunder und
den fliegenden Teppich. Meine Mutter erzählte, ich hätte die
Arme ausgebreitet, um zu fliegen.«
Nach dem Zweiten Weltkrieg heimgekehrt, musste die Familie ihre Heimat 1949 noch einmal verlassen: Man deportierte die
kleinen Handwerker nach Sibirien, als »klassenfremde Elemente«. »In Wahrheit hatten nur privilegierte Geheimdienstler ein
Auge auf unser Haus geworfen und eigneten sich dieses dann
an«, sagt Kleiman.
Ein ähnlicher Vorfall brachte ihn im Jahre 2005 um sein
geistiges Haus, das sechs Jahre zuvor extra für das Musej Kino
»Die Aufklärung setzt
sich fort wie ein Fluss,
der eine Weile
unterirdisch verläuft.«
amnesty Journal | 08-09/2015
Foto: Wolfgang Borrs
Hüter ohne Haus
Arbeitet am russischen Filmgedächtnis. Naum Kleiman.
im Moskauer Stadtteil Krasnaja Presnja eröffnete »Kinozentrum«. Dieses unterstand damals noch dem Verband der Filmschaffenden. Dessen Vorsitzender, der weltberühmte Regisseur
Nikita Michalkow, verkaufte das Gebäude kurzerhand. Der neue
Besitzer unterhält dort heute ein Multiplexkino. Da die Öffentlichkeit dessen Namen noch immer nicht erfuhr, verstummen
die Gerüchte nicht, es handele sich dabei um den Putin-Günstling Michalkow selbst.
Seit zehn Jahren ist das Moskauer Kinomuseum nun ohne
Ausstellungsräume und verwahrt seine mehr als 450.000 Requisiten, Kostüme, Dokumente und rund 3.000 Filme auf Zelluloid im Lager der Produktionsfirma Mosfilm. In Russland gibt es
heute viele Fälle von sogenanntem »Rejderstwo«, ein Begriff,
der sich vom englischen Wort für Plünderer (»raider«) ableitet:
Unternehmen und Institutionen werden durch Erpressung und
Gerichtsurteile zwangsenteignet und von Günstlingen hochgestellter Leute übernommen. Nach Auskunft des Moskauer Helsinki-Komitees haben in Zehntausenden von Fällen Gerichte bei
den Enteignungen mitgespielt.
»Aber sogenannte ›Günstlinge‹ wissen, dass sie nur für
eine kurze Zeit über Macht verfügen«, sagt Kleiman. »Daher
hassen sie die Beschäftigung mit der Geschichte. Jeder wissenschaftliche Beweis für bestimmte gesetzmäßige Weiterentwicklungen von der Industrie bis zur Kunst zeigt ja, wann es
Fortschritte gab und lässt die anderen Leute in ihnen eine
kranke Tendenz erkennen«. So erklärt sich Kleiman seine
faktische Kaltstellung.
naum kleiman
Doch Russlands Geschichte mache Sprünge wie ein Frosch,
meint der Historiker gelassen. »Mit dem Tauwetter unter
Chruschtschow begann eine Zeit der Aufklärung. Die brach bald
wieder ab. Aber sie setzte sich fort wie ein Fluss, der eine Weile
unterirdisch verläuft. Das habe ich einige Male erlebt. Solange
aber der Fluss untergetaucht ist, finden dort unten natürliche
Umgruppierungen statt. Ich bin in letzter Zeit viel in Russland
herumgereist und treffe überall sehr viele arbeitsfreudige Menschen. Sie packen an, ohne zu klagen. In allen Himmelsrichtungen sehe ich Leute, die in den verschiedensten Projekten viel Eigeninitiative an den Tag legen.«
Seine eigene Energie investiert Kleiman heute wieder in die
einstige Keimzelle des Kinomuseums. Seine Tochter Vera und er
treffen sich fast täglich im Eisenstein-Zentrum, in jener kleinen
Wohnung, in der Pera, die Witwe des Regisseurs und Kinopioniers Sergej Eisenstein (1898–1948), Kleiman einst als jungem
Mann Eisensteins gesamten Nachlass zur Auswertung anvertraute. Eisensteins in der Sowjetunion verbotenes Spätwerk
zeige, dass dieser auch in Zeiten grausamer Repressionen eine
»freie Persönlichkeit« geblieben sei, meint Kleiman und lässt
keinen Zweifel an der eigenen Absicht, dem großen Regisseur
darin nachzufolgen. Erst einmal bleibt er nicht ohne Hoffnung:
»Es gibt überall ein paar vernünftige Leute, auch in unserem
Kultusministerium.«
Die Autorin arbeitet als freie Journalistin regelmäßig zu Themen aus
Russland.
69
Dieses Kino
ist Kunst
Er gewann die diesjährige Berlinale und das mit Recht:
Jafar Panahis Film »Taxi Teheran« ist ein Meisterwerk
des Menschenrechtskinos.
Von Jürgen Kiontke
Bitte einsteigen. Panahis Taxi als Bühne für Teherans Geschichten.
70
amnesty Journal | 08-09/2015
Illustration aus dem Plakat zum Film des französischen Verleihs: Pierre-Julien Fieux / Le Cercle Noir / Memento Films
I
ch bin Filmemacher. Ich kann nichts anderes als Filmemachen. Mit Kino drücke ich mich aus, es ist mein Leben.« Der
iranische Regisseur Jafar Panahi muss sich mehr als andere
überlegen, welche Art Film er macht. Er wurde im Iran zu
20 Jahren Berufsverbot verurteilt und – fast könnte man sagen
»nebenbei« – auch noch zu sechs Jahren Haft, allerdings ist die
Gefängnisstrafe derzeit ausgesetzt. Das alles, weil er sich im
Wahljahr 2009 aufseiten der Anhänger des Präsidentschaftskandidaten Mir Hossein Mussawi positionierte, der seinerseits
bis heute unter Hausarrest steht.
Am Filmemachen, das macht Panahi immer wieder klar,
kann ihn nichts hindern. Und dieses »nichts« scheint eine besondere Qualität zu haben. Obwohl der zurückhaltend wirkende
Künstler mit vielen Schwierigkeiten konfrontiert ist, hat er nun
seinen dritten Film nach der Verurteilung gedreht. Mit »Taxi«
(derzeit mit dem Titel »Taxi Teheran« in den Kinos) gewann er
im Februar den Goldenen Bären der Berliner Filmfestspiele. Das
Werk soll der iranische Meisterregisseur auf die Berlinale geschmuggelt haben. »Taxi« kann als einer der gelungensten Filme der vergangenen Jahre im Wettbewerb des Festivals gelten.
Mit seinem gut 80 Minuten langen Film hat der drangsalierte
Regisseur ohne nennenswerte Mittel ein Meisterwerk von Weltrang geschaffen.
Und es ist der recht kleine Weltkino-Verleih aus Leipzig, der
ihn nun in die deutschen Kinos bringt. Der Weltvertrieb liegt
beim französischen Verleih Celluloid Dreams, der auch den
diesjährigen Gewinner der Goldenen Palme herausbringt:
»Dheepan« handelt vom Schicksal tamilischer Flüchtlinge und
wird in Deutschland ebenfalls in Kooperation mit Weltkino
gezeigt.
Was macht »Taxi« zu einem gelungenen Film, einem Kinoerlebnis? Jafar Panahi beherrscht die Kunst, in Schlüsselszenen
über die Welt zu erzählen, und er wird darin immer besser. In
seinem Werk »In Film Nist« (IRN 2011, deutscher Filmtitel »Dies
ist kein Film«), das Panahi vor »Taxi« gedreht hat, werden zunächst Szenen aus der Wahlnacht in Teheran 2009 angedeutet.
Später dann sitzt ein Hund vor dem Fernseher. Er schaut einen
Bericht darüber, wie in der Stadt herrenlose Hunde eingefangen
werden. Eine Metapher für die missglückte Revolte, für Unterdrückung und Unfreiheit. In »Taxi« konzentriert sich die Welt
mit ihren Einschränkungen auf den engen Raum eines Autos.
Panahi fährt selbst, Menschen steigen ein und aus. Der Subtext:
Da der Regisseur Berufsverbot hat, verdingt er sich nun als
Chauffeur. In Teheran funktioniert das Taxi eher wie ein Bus:
Leute steigen ein, bis es voll ist. Das Innere ist Treffpunkt, Debattenzone, Ort der Unterhaltung. Draußen bewegt sich die Stadt
vorbei, mit ihren Farben, ihrem Gerenne und Geschrei. Es gibt
niemanden auf der Welt, der diese Situation nicht nachvollziehen könnte.
Die Bewegung ist das zweite Strukturprinzip in »Taxi«. Sie
bedeutet Freiheit, zumindest hier, im Gegensatz zu Hausarrest
und Gefängnis. Die Bewegung verbindet die Geschichte mit
dem Kern des Kinos – nicht Stillstand, sondern Fortschreiten ist
das Prinzip des »Movie«. Und so ist es kein Wunder, dass sich
die Gespräche im Auto zunehmend um Film drehen – Kino, der
große Transmissionsriemen von gemeinsamer Identifikation,
von Allgemeinverständnis und globaler Kommunikation, er
treibt hier die Handlung an.
Die Stadt Teheran, der heutige Iran, in diesem Film fließen
»taxi teheran«
sie außen vorbei, die Gegenwart rauscht durch. Panahi hat die
Kameras so montiert, dass sie die Menschen, die im Auto sitzen,
filmen. Links und rechts aber, durch die Fenster, strömt das Straßenbild herein. Bei jedem Passagierwechsel werden die Türen
aufgerissen, jemand stürmt herein, wirft sich auf die Sitze: Zwei
mit einem Goldfischglas; eine Frau mit ihrem bei einem Unfall
verletzten Mann. »Filme mich mit der Handy-Kamera, ich sterbe
und ich muss mein Testament machen.« »Aufhängen«, brüllt
der Nächste. »Alle hinrichten.« Wer anderen etwas klaue, zum
Beispiel Autoräder, der müsse sofort umgebracht werden. »Sagen Sie mal, was arbeiten Sie denn?«, fragt die Passagierin, die
neben ihm sitzt. »Ich bin selbstständig tätig«, antwortet ihr der
Mann. »Als Straßenräuber.«
Dann kommt Film-Omid, der Raubkopie-Verkäufer. »Ich war
schon bei ihnen, sie wollten alle Woody-Allen-Filme haben.« Mit
dem manchmal doch leicht eitlen Regisseur am Steuer, so der
windige Dealer, verkaufe sich »Vicky Christina Barcelona«
gleich um einiges besser. Gemeinsam klappern sie die Kundschaft ab – Filmstudenten. Gespräche über Film ergeben sich
dabei zwangsläufig.
Ab jetzt diskutiert man in »Taxi« häufiger über das Kino –
ein Präludium: Denn dann tritt die Hauptdarstellerin dieses
wunderbaren Films auf: Hana, die zehnjährige Nichte Panahis.
Sie muss von der Schule abgeholt werden, heute war Filmstunde. Das Kind weiß gleich und natürlich besser als der Profi, wie
man Kino zu machen hat. Die Lehrerin habe doch gesagt, wie
es geht! Halbdokumentarisches Kino, im Stil eines Pier Paolo
Pasolini vielleicht, gekreuzt mit der Verve eines Kino-Nerds wie
Quentin Tarantino.
Aber Steigerung ist immer möglich – die Anwältin einer
jungen Frau namens Ghoncheh Ghavami steigt ein. Die hatte
einem Volleyballspiel der Männer zugeschaut, und das ist verboten. »Ich habe jetzt Berufsverbot«, sagt die Juristin. Wie beiläufig reiht sie sich ein als Fahrgast wie die anderen. »Erst beschuldigen ›sie‹ einen, für den Mossad oder die CIA zu spionieren, dann kommen die Vorwürfe moralischer Verfehlungen:
Engste Freunde werden zu Feinden oder landen im Gefängnis.«
Draußen sieht man zwei Gestalten auf einem Motorrad.
Auf einfachste Weise, mit wenigen Dialogen und hervorragenden Darstellern gelingt es Panahi, ein Kino der Menschenrechte zu entwickeln, in dem er die Menschenrechte ins Kino
bringt. Er entwickelt eine Bildsprache, deren Ästhetik wie beiläufig universell wirkt und die die Gegenwart mythisch abbildet:
das verschleierte Kind mit der Kamera, die verschwommenen
Verfolger.
Panahi liebt sein Publikum. In gerade einmal 80 Minuten
entwirft er ein Gesellschaftsbild der islamischen Republik Iran,
vielleicht sogar ein sympathisches. Die Sprache dieses Kinos ist
rudimentär und cool. Seine Struktur ist die des Selfies: eine
Selbstbetrachtung des globalen Chaos.
»Nichts kann mich am Filmemachen hindern«, sagt Panahi.
Kino als Kunstform werde zu seinem Hauptanliegen, wenn er in
die Ecke gedrängt werde. »Ich muss unter allen Umstanden weiter Filme machen, um der Kunst Respekt zu erweisen und mich lebendig zu fühlen.« Kino im Kino,
genial. Ansehen.
»Taxi Teheran«. IRN 2015. Regie: Jafar Panahi. Mit Hana Saeidi u.a. Kinostart: 23. Juli 2015
71
In The
Ghetto
Arm ist schwarz. North Philadelphia.
Wer bei der anhaltenden Polizeigewalt in den USA
nur mangelnde Kontrolle am Werk sieht, sollte Alice
Goffmans Studie »On The Run« zur Kriminalisierung
von Armut in schwarzen Stadtteilen lesen.
Von Maik Söhler
F
erguson, Charleston, Baltimore: Die Gewalt weißer Polizisten gegen Teile der schwarzen urbanen Bevölkerung
scheint zu den USA zu gehören wie Hamburger, Hollywood und Bowling. Es vergeht kaum ein Monat ohne solche Schlagzeilen. Regelmäßig diskutiert wird dann darüber, ob
die folgenden Proteste angemessen sind, ob Polizisten Schulterkameras tragen müssen und wie sich Bürger besser schützen
können.
Aus dem Blick gerät dabei oft, dass Polizeigewalt und Rassismus tief eingeschrieben sind in die Struktur des täglichen Lebens in bestimmten Vierteln kleinerer und größerer Städte der
USA. Oder um es in den Worten der US-Soziologin Alice Goffman zu sagen: »In einer Nation, die sich offiziell befreit hat von
einem rassistischen Klassensystem (…), wird zeitgleich eine große Menge von Strafjustizpersonal auf Kosten des Steuerzahlers
beschäftigt, um ein drakonisches Regime gegen arme schwarze
Männer und Frauen zu errichten, die in den ghettoisierten Vierteln unserer Städte leben.«
Goffmans luzide Langzeitstudie »On The Run« ist jüngst auf
Deutsch erschienen. Es handelt sich um ein Buch, das viel zum
Verständnis von Polizeigewalt, Rassismus, Alltagsdiskriminie-
72
rung und Verarmung beiträgt, weil es Wechselwirkungen schildert und vorschnelle Schuldzuweisungen vermeidet. Die Autorin hat jahrelang in einem Schwarzenviertel in Philadelphia
gelebt, ihre Beobachtungen notiert und daraus eine Studie
erarbeitet, die präzise und umfassend zugleich ist.
Die Soziologin hat alle Namen und Merkmale von Personen
sowie den Namen des Wohnviertels geändert, was weder ihrer
Feldforschung noch ihrer Analyse schadet, denn das gewonnene
Forschungsmaterial spricht für sich: 60 Prozent der schwarzen
Männer, die nicht die Highschool abgeschlossen haben, waren
mit Mitte 30 schon einmal im Gefängnis. Viele ihrer Lebensstile
sind anschließend geprägt von Geheimhaltung, Misstrauen und
Flucht.
Es sei fast egal, schreibt Goffman, ob die Männer tatsächlich
vor der Polizei und Justiz fliehen, weil ein Haftbefehl gegen sie
vorliegt, oder ob sie sich nur überwacht und verfolgt wähnen:
»Die offensichtliche Willkür des Strafjustizsystems, angefangen
von der Polizeikontrolle bis zu dem Augenblick, da die Bewährungsstrafe endet, gibt einem jungen Mann das Gefühl, dass er
sein Leben nicht selbst in der Hand hat.« Auf-der-Flucht-sein sei
zur Metapher geworden, zur Metapher eines Lebens unter den
wachsamen Augen von Judikative und Exekutive, und sie bedeute »in dauernder Bewegung zu sein, ohne jemals irgendwo anzukommen«.
2,2 Millionen Menschen in Haft
Goffman lässt gleich anfangs durchblicken, wo sie eine Hauptursache des US-Problems sieht und wertet die Gefangenenstatistik des Landes aus: »2,2 Millionen Menschen befinden sich in
Staats- oder Bezirksgefängnissen, hinzu kommen 4,8 Millionen,
amnesty Journal | 08-09/2015
»Die offensichtliche
Willkür des Strafjustizsystems gibt einem jungen
Mann das Gefühl, dass er
sein Leben nicht selbst
in der Hand hat.«
Foto: Mark Makela / The New York Times / Redux / laif
raus und in diesen Scheißladen hier, wo sie zu mehreren in
einem Bett schlafen müssen, kein Geld haben, keine Kleidung.«
deren Strafe auf Bewährung ausgesetzt ist oder die bedingt entlassen wurden. Eine Gefangenenquote dieser Höhe wurde in der
Neuzeit sonst nur zur Zeit der Zwangsarbeiterlager in der ehemaligen Sowjetunion unter Stalin erreicht.«
Und doch ist ihr klar, dass die Gefängnisse und die Beamten,
die für steten Zufluss sorgen, nur Ausführungsorgane einer höheren Gewalt sind: »Die Polizei ist in einer unmöglichen Situation: Sie ist im Kern die einzige Instanz der Regierung, die sich
mit den signifikanten sozialen Problemen der leistungsfähigen
jungen Männer, die in einem Ghetto leben, befassen muss und
keine anderen Mittel als die Macht zur Einschüchterung und zur
Festnahme hat.« Spätestens hier sei klar, dass vorsätzlich eine
bestimmte Sozialpolitik betrieben werde.
Die Rolle des Gesetzesvollzugs habe sich seit der sogenannten »Crime-Bill« unter US-Präsident Clinton in den neunziger
Jahren geändert, es gehe schon lange nicht mehr um den Schutz
einer Gegend vor Straftätern, sondern darum, komplette Stadtviertel unter Beobachtung zu stellen, weil die Behörden von einem Generalverdacht ausgingen. Das Ausmaß von polizeilicher
Überwachung und Inhaftierung in armen schwarzen Vierteln
bringe ein Paradox der Verbrechensbekämpfung hervor: »Durch
sie (die Überwachung) wird ein so großer Teil des täglichen Lebens kriminalisiert, dass am Ende weiter reichende illegale Aktivitäten gefördert werden, die die Menschen unternehmen, um
die gegen sie ergriffenen Maßnahmen zu umgehen.«
Denn es mangele an Alternativen, Mitteln und Ressourcen,
um straffällig gewordenen schwarzen Männern den Einstieg in
ein Leben ohne Kriminalität und Repression zu ermöglichen.
Goffman zitiert den Wärter einer Resozialisierungseinrichtung:
»Seit sie Kinder waren, waren sie eingesperrt. Dann kommen sie
»on the run«
Weitreichende Auswirkungen
Goffman erweist sich als gute Soziologin, da ihre Forschungen
nicht im Spannungsverhältnis von Gesetzesvollzug und Kriminalität enden. Sie bezieht auch andere Akteure ein, die betroffen
sind, wo Staatsgewalt und (potenzielle) Delinquenz aufeinandertreffen: »Das schiere Ausmaß von Polizeiüberwachung
und Inhaftierung in armen ghettoisierten Vierteln verändert
das Gemeinschaftsleben einer Nachbarschaft auf tiefgreifende
und dauerhafte Weise und dies betrifft nicht nur die jungen
Männer, auf die die Maßnahmen abzielen, sondern auch deren
Familienmitglieder, ihre Partnerschaften und Nachbarn.«
Gegen Frauen von Tätern übe die Polizei körperliche Gewalt
aus, sie verwüste Wohnungen, versuche das positive Bild des
Mannes zu zerstören, drohe mit Beschlagnahmung, Zwangsräumung, Kindesentzug – all das, um an Informationen zu gelangen. Frauen stünden vor der Wahl zwischen eigener Sicherheit
und der Freiheit des Mannes. Über Mütter schwarzer Männer
schreibt sie: »Ihre Tage sind gekennzeichnet von den guten und
schlechten Nachrichten, die sie über das Schicksal ihrer Kinder
aus Gerichtssälen, Gefängnissen und von Bewährungsausschüssen bekommen.«
Auch für viele Freunde und Verwandte gelte, dass »Urteilsverkündungen, Kautionsanhörungen und Freilassungen nach
der Verbüßung langer Haftstrafen (…) in einer Weise zum Alltag
gehören, dass sie die Funktion wichtiger sozialer Anlässe übernommen haben«. All dies stärke das Misstrauen in Polizei und
Gerichte, aber auch in Orte wie Krankenhäuser und Friedhöfe,
wo die Polizei bei bestimmten Anlässen darauf warte, per Haftbefehl Gesuchte festzunehmen.
Goffman schließt: »Ein Mann mit Justizproblemen macht
die Erfahrung, dass er es nicht mit Aufrichtigkeit und Anständigkeit schafft, dem Gefängnis fernzubleiben, sondern nur,
wenn er eine zwielichtige Figur wird, zu der niemand mehr
Vertrauen haben kann.« Protest, Kameras auf den Schultern von
Polizisten und Selbstschutz der Gemeinden mögen naheliegende Antworten auf Polizeigewalt sein – ohne eine bessere Sozialpolitik könnten sie wirkungslos bleiben.
Alice Goffman: On The Run. Die Kriminalisierung der Armen in Amerika.
Aus dem Englischen von Noemi von Alemann, Gabriele Gockel und
Thomas Wollermann. Verlag Antje Kunstmann, München 2015. 368 Seiten, 22,95 Euro.
73
Eine andere Stimme aus Aserbaidschan
D
ezember 1989. Die Sowjetunion besteht noch, wird
aber durch Unabhängigkeitsbewegungen und Nationalitätenkonflikte erschüttert. In Baku kommt es im
Gefolge des Konflikts um die Enklave Bergkarabach zu
grausamen Pogromen gegen die in Aserbaidschan ansässige armenische Bevölkerung. Der Schauspieler Sadai Sadygly wird bei
dem Versuch, einem älteren Armenier zur Hilfe zu kommen,
selbst schwer verletzt und bewusstlos ins Krankenhaus eingeliefert. Im Traum durchlebt er Erinnerungen an seinen Heimatort
Aylis.
Von Aylis leitet sich auch der Künstlername des Autors ab.
Hier wurde er am 1. Dezember 1937 geboren. An der Grenze zum
Iran und Armenien gelegen, war Aylis bis ins 18. Jahrhundert
eine bedeutende armenische Stadt. Später lebten Armenier und
Aserbaidschaner friedlich zusammen, bis ein großer Teil der armenischen Bevölkerung Ende 1919 einem Massaker durch türkische Truppen zum Opfer fiel. Auch ein Teil der ortsansässigen
Aserbaidschaner beteiligte sich an den Plünderungen. Danach
hatte Aylis nur noch wenige armenische Einwohner.
Von den älteren Einwohnerinnen erfährt Sadygly als Kind
und junger Mann viel über die Geschichte des Ortes, erkundet
die Ruinen armenischer Bauwerke. Besonders beeindrucken ihn
die Überreste der Kirchen, die mit den sie umgebenden Bergen
eine Einheit zu bilden scheinen. In der Gegenwart verzweifelt er
zunehmend an der Aggressivität, aber auch am Opportunismus
seiner Landsleute. Mehr als zehn Tage nach seiner Einlieferung
ins Krankenhaus stirbt er an den Folgen eines Schlaganfalls,
ohne aus dem Koma zu erwachen.
Akram Aylisli ist einer der bedeutendsten aserbaidschanischen Schriftsteller der Gegenwart. Den von ihm als Requiem
bezeichneten kurzen Roman »Steinträume« schrieb er
2006/2007, nicht zufällig zu einer Zeit, als die letzten Spuren
armenischer Kultur eingeebnet und beseitigt wurden. Eine Veröffentlichung plante er zunächst nicht, da ihm die Brisanz des
Themas bewusst war. Erst im Dezember 2012 erschien die russische Übersetzung in der Literaturzeitschrift »Družba Narodov«:
Als ein Aserbaidschaner, der in Ungarn 2006 wegen des Mordes
an einem Armenier zu lebenslanger Haft verurteilt worden war,
nach seiner Rückkehr in Aserbaidschan als Volksheld gefeiert
wurde, konnte Akram Aylisli nicht mehr schweigen. Die Veröffentlichung löste in Aserbaidschan heftige Reaktionen aus: Er
wurde massiv bedroht, seine Bücher öffentlich verbrannt, der
Titel des Volksschriftstellers und die Ehrenrente wurden ihm
aberkannt, seine Frau und seine Söhne verloren ihre Arbeit.
Aylisli spricht sich auch immer wieder öffentlich für die Versöhnung zwischen beiden Völkern aus. Er ist sich sicher, dass
dies auch der Wunsch der Mehrheit seiner Landsleute ist und
der Konflikt von den Machthabern für ihre Interessen instrumentalisiert wird.
Auch wenn nicht alle Anspielungen dem ausländischen
Publikum verständlich sind und die komplexen historischen
Zusammenhänge bewusst ausgeklammert werden, ist das
Buch gut lesbar. Es wirft ein Schlaglicht auf die aserbaidschanische Gesellschaft in der Zeit des Umbruchs und zeigt, ohne
belehrend zu wirken, Ursachen und Folgen eines aggressiven
Nationalismus nicht nur in Aserbaidschan. Zwei Nachworte –
von Akram Aylisli und Ernst von Waldenfels – informieren
über den Autor und die Entstehungsgeschichte
des Werkes.
Akram Aylisli: Steinträume. Aus dem Russischen von
nnelore Nitschke. Osburg Verlag, Hamburg 2015. A
170 Seiten, 20 Euro.
Foto: Meinrad Schade / laif
In dem kurzen Roman »Steinträume« setzt Akram
Aylisli seine sehr persönliche Sicht des Verhältnisses
zwischen Armeniern und Aserbaidschanern der
offiziellen Lesart entgegen. Von Judith Hoffmann
Einstige Koexistenz. In Schuschi, Bergkarabach, lebten Armenier und Aserbaidschaner friedlich zusammen.
74
amnesty Journal | 08-09/2015
Serbische Familiengeschichte
Europäische Vorurteile
Eine Tochter recherchiert, um den Tod des Vaters zu verstehen, und landet dabei inmitten der Wirren des so oft kriegerischen und totalitären 20. Jahrhunderts. Nina Bunjevac legt
mit der Graphic Novel »Vaterland« ein eindrucksvolles Buch
vor, das von Kanada nach Jugoslawien und vom Jahr 2012 zurück in die NS-Besatzungszeit in Serbien und Kroatien führt.
Es ist ein Teil ihrer Familiengeschichte, in deren Zentrum ein
Tag im Jahr 1977 steht; der Tag, an dem ihr Vater bei einer Explosion ums Leben kommt. Bunjevac zeichnet in feinen Strichen nach, wer ihr Vater war – ein serbischer Tschetnik, der
nach Kanada auswanderte und dort als Teil einer nationalistisch-royalistischen Gruppe Anschläge auf jugoslawische Einrichtungen plante und ausführte. Ihre Bildwelt aber umfasst
viel mehr: Die Familie, die mit der Verschwiegenheit und
dem Alkoholismus des Vaters immer weniger klarkommt
und deswegen Mitte der siebziger Jahre ohne ihn nach Jugoslawien zurückkehrt. Die Situation in Jugoslawien, das sich
von der Sowjetunion abgewandt hat und einen eigenen Weg
geht. Die Vergangenheit des Landes in der NS-Besatzungszeit,
die beim Auseinanderbrechen in den Neunzigern im gegenseitigen Hass von Kroaten und Serben wieder sichtbar wird.
Das ist viel und vor allem reichlich komplexer Stoff für eine
Graphic Novel. Doch Bunjevac verarbeitet ihn
souverän, präzise und kunstvoll.
Ob Livorno oder Budapest, Rumänien oder Frankreich, Osten
oder Westen – es gibt kaum einen Ort in Europa, an dem Sinti
und Roma nicht mit Vorurteilen, Diskriminierung und behördlichen Schikanen rechnen müssen. Wolfgang Wippermann, Professor für Neuere Geschichte an der FU Berlin,
arbeitet in seiner neuen Streitschrift »Niemand ist ein Zigeuner« heraus, welche antiziganistischen Ressentiments in
Europa vorhanden sind, woher sie stammen und welche
politische und gesellschaftliche Geltungsmacht sie heute annehmen. Wippermann unterscheidet zwischen »religiösem,
sozialem, rassistischem und romantischem Antiziganismus«
und geht den teils gemeinsamen, teils unterschiedlichen Entstehungsformen und Ausprägungen nach. Vor allem aber
wendet er sich der Sprache zu, denn: »Hier ist darauf hinzuweisen, dass sich die gesamte Geschichte der Verfolgung der
Roma vor, während und nach der NS-Zeit auch auf ihre Namensgebung und deren Deutung ausgewirkt hat.« Das Buch
taucht tief ins Mittelalter samt seinen »Zigeunererlassen«
ein. Und es weist aktuelle Bezüge etwa zur antiziganistischen
CSU-Kampagne des Jahres 2013 auf, als der Begriff »Sozialtourismus« diffamierend gegen die Migration von Sinti und
Roma vom Balkan benutzt wurde. Nähme Europa Wippermanns Vorschlag an, solche Vorurteile zu ächten
– es wäre ein besserer Kontinent.
Nina Bunjevac: Vaterland. Aus dem Englischen von Axel
Wolfgang Wippermann: Niemand ist ein Zigeuner.
Halling. Avant-Verlag, Berlin 2015. 156 Seiten, schwarz-
Zur Ächtung eines europäischen Vorurteils. Edition
weiß, 24,95 Euro.
Körber-Stiftung, Hamburg 2015. 256 Seiten, 17 Euro.
Flucht in aller Welt
Train Kids
Zu Tausenden sterben derzeit Menschen auf der Flucht – in
Asien, Amerika und Europa. Staaten reagieren darauf mit Abwehr oder Hilfe, nicht selten auch mit einer Mischung aus
beidem. Die Debatte um Flüchtlinge, die Ursachen von Flucht
und die Konsequenzen verläuft mitunter hoch emotional.
Kann man da sachlich bleiben? Ja. »Schiffbruch« heißt ein
neues Buch, das allen Emotionen zum Trotz die Sachlichkeit
zum Prinzip erhebt und der verfahrenen Diskussion genau
damit eine Dimension hinzufügt, die nötig ist. Wolfgang
Grenz, ehemaliger Generalsekretär der deutschen AmnestySektion, sowie Julian Lehmann und Stefan Keßler, die als
NGO-und Thinktank-Mitarbeiter mit dem Thema Menschenrechte betraut sind, arbeiten historisch und systematisch
heraus, was Flucht und Migration mit dem Menschenrechtsschutz zu tun haben. Juristisch, politisch, ökonomisch – es
gibt kaum einen Aspekt, den die Autoren nicht berühren. Der
Schwerpunkt ihres Buches liegt auf Europa, doch ihr Blick
aufs Thema und vor allem auf die betroffenen Menschen ist
global. Ob Kriege, Hungersnöte, der Klimawandel oder andere Ursachen für Armut – »Schiffbruch« verweigert einfache
Antworten auf die schwierigen und vielfach miteinander verschränkten Aspekte von Flucht und Migration. Das Buch gerät sachlich, gerade weil es parteiisch ist – zugunsten all jener, die derzeit auf der Flucht sind.
Flüchtlingsdramen an der Grenze zwischen Mexiko und den
USA – in Europa hört man kaum etwas darüber. Noch weniger erfährt man über die Abertausenden, die von El Salvador, Guatemala, Honduras oder Nicaragua aus versuchen, in
die Vereinigten Staaten zu gelangen. Sie müssen nicht nur
die südliche Grenze Mexikos überwinden, sondern auch unbemerkt von Soldaten, Polizisten oder organisierten Banden
den gefährlichen Weg durch das riesige Land meistern. Autor
Dirk Reinhardt ist nach Mexiko gereist, um vor Ort zu recherchieren. Seine Beobachtungen und Erlebnisse verarbeitet er in einer mitreißenden Flüchtlingsgeschichte um fünf
Jugendliche, die versuchen, die mehr als zweieinhalbtausend Kilometer auf Güterzügen zu überwinden, um ihre
Eltern in den USA zu suchen. Miguel, Fernando, Emilio, Ángel und die als Junge verkleidete Jaz wollen vom Rio Suchiate
zum Rio Bravo. Was einfach klingt, ist eine lebensgefährliche
Reise, für die sich die fünf unterschiedlichen Charaktere
zusammentun. Gemeinsam versuchen sie, Hitze, Kälte,
Hunger, Durst, Angst, Repressalien und Gefahren zu trotzen.
Auf ihrem Weg treffen sie auf freundliche, hilfsbereite
Menschen, aber auch auf solche, die ihnen nach dem Leben
trachten. »Train Kids« ist ein packendes Stück Flüchtlingsliteratur, authentisch und ergreifend. Nicht nur
für Jugendliche.
Wolfgang Grenz, Julian Lehmann, Stefan Keßler: Schiff-
Dirk Reinhardt: Train Kids. Gerstenberg, Hildesheim 2015.
bruch. Das Versagen der europäischen Flüchtlingspolitik.
320 Seiten, 14,95 Euro. Ab 13 Jahren. Unterrichtsmaterial:
Knaur, München 2015. 208 Seiten, 12,99 Euro.
www.gerstenberg-verlag.de/index.php?id=203
Bücher: Maik Söhler, Marlene Zöhrer
bücher
75
Irakisches Meisterstück
Islamische Friedensklänge
Hat meine Familie weltpolitische Ambitionen? Regisseur Samir, Schweizer mit irakischer Geschichte, hat sich diese Frage
gestellt. Und als Antwort ein 3D-Meisterwerk gedreht, wie
man es selten gesehen hat: Hundert Jahre irakische Geschichte werden mit den neuesten filmischen Animationsverfahren
erzählt, im Vordergrund immer der Mensch. Die Familiensaga als eine über Generationen tradierte Poetik des Widerstands: Samir lässt seine Angehörigen zu Wort kommen, die
in alle Welt verstreut sind, weil sie immer in der freiheitlichen Opposition waren: Russland, Schweiz, Australien. Die
Familie besteht aus Akademikern, Schriftstellerinnen, Schustern – aber immer standen sie auf der Seite derer, die die Gesellschaft friedlich weiterentwickeln wollten. Den Aufstieg
der Baath-Partei, die Entwicklung des arabischen Sozialismus
und Kommunismus lässt der Film Revue passieren, anhand
seltener Aufnahmen, teils aus den dreißiger Jahren, in denen
das irakische Straßen- und Selbstbild oft moderner anmutet
als heute. »Wann ist uns nur der Bildungsanspruch abhandengekommen?«, heißt es in aller Verzweiflung. Bilder von
Haft, Folter, Flucht und Krieg durchsetzen die Erzählung. Der
Regisseur will nun auch anderen ermöglichen, ihre Erinnerungen zu veröffentlichen. »Alle eure Geschichten ergeben
zusammen die Geschichte des Irak. Es soll eine
private, subjektive Geschichte werden, die zum
Entdecken einlädt.« Dazu: www.iraqiodyssey.ch.
Wenn man seine Dreadlocks sieht, könnte man ihn für einen
Rastafari halten. Doch Cheikh Lo stammt nicht aus Jamaika,
sondern ist ein Anhänger des legendären westafrikanischen
Sufi-Scheichs Amadou Bambi (1850–1927), dessen ikonisches
Porträt sich im Senegal auf Häuserwänden, Taxifenstern und
T-Shirts findet. Cheikh Lo gehört dem Baye-Fall-Zweig seiner
Mouridiyya-Bruderschaft an, die mit ihren farbenprächtigen
Patchwork-Gewändern und massiven Gebetsperlenketten
auffallen und einen asketischen, einfachen Islam praktizieren. Ihr Ansatz verhält sich zum Steinzeit-Islam der afrikanischen Terrorsekte Boko Haram wie das Christentum eines
Franz von Assisi zu dem eines Anders Breivik. In der MbalaxMusik des Senegal verschmelzen Latin-Einflüsse mit traditionellen Griot-Gesängen, die Sabar-Handtrommel gibt den
Rhythmus vor. Auf »Balbalou« erweist sich der 60-jährige
Cheikh Lo als wahrer Magier des Mbalax und wartet mit dezenten Sabar-Beats und Melodien auf, die er mit dem zarten
Schmerz seiner zuckersüßen Stimme überzieht. Wie es sich
für eine französische Produktion gehört, finden sich auf »Balbalou« gleich mehrere Kollaborationen mit Künstlern, die in
Frankreich einen guten Namen haben, darunter die brasilianische Sängerin Flavia Coelho oder der Neo-Musette-Akkordeonist Fixi. Höhepunkt des Albums ist das Duett mit der
Wassoulou-Sängerin Oumou Sangaré aus
Mali: eine Anklage gegen all jene afrikanischen Staatschefs, die sich an die Macht putschen und ihre Länder ins Unglück stürzen.
»Iraqi Odyssey«. CH u.a. 2014. Regie: Samir.
Kinostart: 24. September 2015.
Cheikh Lo: Balbalou (Chapter Two / Indigo)
Polit-Aktivisten in der Krise
Autoritäten angreifen ist das Geschäft der »Yes Men« Andy
Bichlbaum und Mike Bonanno. Als Sprecher von Dow Chemical getarnt, verkündeten die Aktivisten einst, das Unternehmen würde alle Hinterbliebenen der Chemie-Katastrophe im
indischen Bhopal mit Milliarden entschädigen. Jetzt präsentieren sich die beiden Weltmarktführer der Anti-PR in ihrem
mittlerweile dritten Film als in die Jahre gekommene Gerechtigkeitsaktivisten: Bonanno muss an die Familie denken – da
wird man vorsichtiger. Und bei Bichlbaum lautet das Fazit:
Jude, homosexuell, Beziehung kaputt. »Arbeit ist einfacher
als Menschen«, sagt er nach beinahe zwei Jahrzehnten Guerilla-Aktivismus, mit dem die beiden Konzernen Dampf
machten. Was macht das Leben mit einem, wenn man jahrelang ein weltweit agierender Polit-Clown war? Bichlbaums
und Bonannos ergraute Schläfen leuchten beim Selbst-inder-Limousine-Fahren – die Ideale sind nicht mehr ganz so
transparent. Und erstmals droht den Aktivisten ein Gerichtsverfahren, angestrengt von der US-amerikanischen Handelskammer, in deren Namen die beiden eine Kohlenstoffsteuer
zur Rettung der Umwelt einführen wollten. Der Spuk war
schnell enttarnt. Eine erneute spektakuläre Aktion soll die
Protestwelt wieder ins Lot bringen … Ein Dokument des PolitAktivismus und eine Anregung, nach neuen Protestformen zu suchen.
»The Yes Men – Jetzt wird’s persönlich«. Regie: Laura Nix,
Wüstenblues
Zornig und rockig klingen Terakraft auf ihrem neuen Album
»Alone«. Die Band gehört zu den prominentesten Vertretern
des Wüstenblues, den die legendäre Tuareg-Rockband Tinariwen populär gemacht hat. Letztere entstand einst in Gaddafis
Ausbildungslager in Libyen als musikalischer Arm der Rebellenbewegung, die für einen eigenen Staat im Norden Malis
kämpfte. Dieser Traum schien Ende 2012 zum Greifen nah,
als Malis Zentralregierung durch einen Putsch gestürzt wurde. Doch die Tuareg wurden am Ende aufgerieben zwischen
den Islamistenmilizen und Malis Armee, die sich ausländische Truppen zur Unterstützung ins Land holte, um den Norden zurückzuerobern. Der Gitarrist Diara hat sich schon vor
Jahren von Tinariwen abgespalten, um mit der Band Terakraft eigene Wege zu gehen. Mit seinem Neffen Sanou hat er
eine Art Grunge-Spielart des Wüstenblues entwickelt, die
klingt, als sei Neil Young in der Sahara gelandet, und der
Monstergroove von Tracks wie »Karambai« (»Gemeinheit«)
ist so erfrischend wie ein Schluck Wasser in der Wüste. Als
Produzenten konnten sie den britischen Mali-Kenner Justin
Adams gewinnen, der ihnen half, ihren Ärger und ihre Enttäuschung über die politische Entwicklung in Mali zu kanalisieren. Ihr Bandname bedeutet so viel wie
»Karawane« und die Ansage ist klar: Der
Krieg ist vorbei und die Karawane rockt
weiter.
Andy Bichlbaum, Mike Bonanno. US u.a. 2014.
Kinostart: 20. August
Terakraft: Alone (Outhere Records)
Film: Jürgen Kiontke | Musik: Daniel Bax
76
amnesty Journal | 08-09/2015
Foto: Jonas Opperskalski / laif
Relikt eines einst christlich-arabischen Dorfes. Die Kirche von Iqrit.
Musik aus Ruinen
Das Album »The Iqrit Files« des arabischen
DJ-Kollektivs »Checkpoint 303« beschäftigt sich
mit der Flucht arabischer Bewohner vor der Staatsgründung Israels, mit gewaltlosem Widerstand
und Menschenrechten. Von Daniel Bax
D
as christliche Dorf Iqrit im Norden von Galiläa war
eine von mehr als 360 arabischen Siedlungen, die im
arabisch-israelischen Krieg von 1948 verlassen wurden. Mehr als eine halbe Million Menschen flohen damals in die Nachbarländer oder blieben, als Bürger zweiter Klasse, in Israel. Als »Nakba«, als »Katastrophe«, bezeichnen Palästinenser diese Fluchtbewegung vor der Staatsgründung Israels.
Was der Grund für diesen Exodus war, darüber gehen die Ansichten auseinander. Während die offizielle israelische Version
behauptet, die meisten Palästinenser hätten ihre Häuser freiwillig verlassen, weil sie auf einen Sieg der arabischen Armeen
gehofft hätten, gehen die meisten unabhängigen Historiker
heute davon aus, dass es einen gezielten Befehl zur Vertreibung
der arabischen Bewohner gegeben habe. Das christliche Iqrit wurde am Weihnachtsabend 1951, trotz
anderslautender Gerichtsbeschlüsse, auf Befehl der israelischen
Armee dem Erdboden gleichgemacht. Einen Wiederaufbau ihres
Dorfes wird seinen in Israel verbliebenen Bewohnern und deren
Nachfahren bis heute verwehrt. Nur eine griechisch-katholische
Kirche und ein Friedhof, auf dem sie bis heute ihre Toten begraben, existieren dort noch. Erst in den vergangenen Jahren haben
sich junge palästinensische Aktivisten in einem Akt zivilen Ungehorsams zusammengetan und Dörfer wie Iqrit mit Protest-
film & musik
camps besetzt, sie werden aber regelmäßig von der Polizei
drangsaliert und vertrieben. In den Ruinen von Iqrit ist das Album »The Iqrit Files« entstanden. Das arabische DJ-Kollektiv »Checkpoint 303« hat aus
traditionellen palästinensischen Weisen und aktueller Elektronik suggestive Klanglandschaften geschaffen. Die beiden Sängerinnen Wardeh Sbeid und Jihad Sbeid und der Musiker Jawaher
Shofani tragen ihre Epen und rituellen Gesänge meist zu Taufen, Hochzeiten und Beerdigungen vor. Der DJ Karim Jerbi alias
SC Mocha und seine Koproduzentin Rim Banna haben sie mit
Oud-Laute und Klavier unterlegt und mit dräuenden Dub-Effekten und fordernden Techno-Beats zu einer postmodernen Protestmusik vermischt. Hinzu kommen atmosphärische Aufnahmen und politische Statements: Samples von Eleanor Roosevelt,
die aus der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vorliest,
von Albert Einstein, der auf Englisch über gewaltlosen Widerstand referiert, oder von Nelson Mandela, der 1990 nach seiner
Entlassung aus der Haft in einer Rede auf das palästinensische
Recht auf Selbstbestimmung hinwies. Das Album erscheint auf dem norwegischen Label Kirkelig
Kulturverksted, das sich um aktuelle arabische Avantgarde-Musik verdient macht. In einer Zeit, in der die rechts- bis ultranationalistische Regierungskoalition in Jerusalem Pläne schmiedet,
wie sie kritische NGOs zum Schweigen bringen kann, und sogar
erfolgreich im Ausland interveniert, um zu verhindern, dass
eine Organisation von Ex-Soldaten wie »Breaking the Silence«
über Menschenrechtsverletzungen der israelischen Armee berichten kann, schafft es damit
ein notwendiges Stück Gegenöffentlichkeit. Checkpoint 303: The Iqrit Files.
(Kirkelig Kulturverksted / Indigo)
77
Tag für Tag werden Menschen
gefoltert, wegen ihrer Ansichten,
Hautfarbe oder Herkunft inhaftiert,
ermordet, verschleppt oder man lässt
sie »verschwinden«. amnesty
international veröffentlicht regelmäßig
an dieser Stelle drei Einzelschicksale,
um an das tägliche Unrecht zu
erinnern. Internationale Appelle
helfen, solche
Menschenrechtsverletzungen
anzuprangern und zu beenden.
Sie können mit Ihrem persönlichen
Engagement dazu beitragen, dass
Folter gestoppt, ein Todesurteil
umgewandelt oder ein Mensch aus
politischer Haft entlassen wird.
Schreiben Sie bitte, im Interesse
der Betroffenen, höflich formulierte
Briefe an die jeweils angegebenen
Behörden des Landes.
Sollten Sie eine Antwort auf Ihr
Appellschreiben erhalten, schicken
Sie bitte eine digitale Kopie an:
[email protected]
amnesty international
Zinnowitzer Straße 8, 10115 Berlin
Tel.: 030 - 42 02 48 - 0
Fax: 030 - 42 02 48 - 488
E-Mail: [email protected]
www.amnesty.de
Spendenkonto
Bank für Sozialwirtschaft
IBAN: DE 233 702050 0000 8090100
BIC: BFS WDE 33XXX
(Konto: 80 90 100, BLZ: 370 205 00)
78
Foto: Amnesty
briefe gegen
das vergessen
mexiko
Ángel colón
Der afro-honduranische Migrant Ángel Colón versuchte Anfang
2009 über Mexiko in die USA zu gelangen. Er hoffte, dort eine
Arbeit zu finden, um die medizinische Behandlung seines
krebskranken Sohnes bezahlen zu können. Im März 2009 wartete er in einem Haus in der mexikanischen Stadt Tijuana auf
eine Möglichkeit, die Grenze überqueren zu können.
Am 9. März 2009 stürmten bewaffnete Polizisten das Haus
und nahmen Ángel Colón fest. In den folgenden Tagen wurde er
gefoltert und anderweitig misshandelt. Man versetzte ihm
Schläge, zwang ihn, sich auf seinen Knien fortzubewegen, und
trat ihn. Man bedrohte ihn und stülpte ihm eine Plastiktüte
über den Kopf, bis er fast erstickte. Er musste sich nackt ausziehen und die Schuhe anderer Häftlinge mit seiner Zunge putzen. Darüber hinaus wurde er immer wieder zum Opfer rassistisch motivierter Gewalt. Nachdem Ángel Colón 16 Stunden am
Stück verhört worden war, zwang man ihn dazu, eine Erklärung
zu unterzeichnen, auf deren Grundlage man ihm die Zugehörigkeit zu einer kriminellen Bande vorwarf. Obwohl Ángel Colón
dem Richter von der Folter berichtete und auch die Erklärung
zurückzog, wurden keine Ermittlungen eingeleitet.
Die Polizei verlegte Ángel Colón in ein abgelegenes Hochsicherheitsgefängnis. Dort blieb er inhaftiert, bis die Staatsanwaltschaft die Anklage gegen ihn im Oktober 2014 fallenließ
und seine bedingungslose Freilassung veranlasste. Er hatte insgesamt mehr als fünf Jahre in Untersuchungshaft verbracht. Die
Generalstaatsanwaltschaft leitete einige Untersuchungen ein,
diese blieben jedoch zum Großteil wirkungslos. Ángel Colón hat
von der mexikanischen Regierung noch immer keine Entschädigung für die erlittenen Menschenrechtsverletzungen erhalten.
Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an die Generalstaatsanwältin von Mexiko, in denen Sie sie darum bitten, unverzüglich eine umfassende und unabhängige Untersuchung zur
Folterung von Ángel Colón durchzuführen, die Ergebnisse dieser
Untersuchung zu veröffentlichen und die Verantwortlichen vor
Gericht zu stellen.
Schreiben Sie in gutem Spanisch, Englisch oder auf Deutsch an:
Arely Gómez González, Procuradora General de la República
Procuraduría General de la República (PGR)
Reforma 211–213, Col. Cuauhtémoc, C.P. 06500
México D.F., MEXIKO
Fax: 00 52 - 55 - 53 46 09 08 (Sagen Sie »Tono de fax«)
E-Mail: [email protected], Twitter: @ArelyGomezGz
(Anrede: Dear Attorney General / Estimada Señora Procuradora /
Sehr geehrte Frau Generalstaatsanwältin)
(Standardbrief Luftpost bis 20 g: 0,80 €)
Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an:
Botschaft der Vereinigten Mexikanischen Staaten
I.E. Patricia Espinosa Cantellano
Klingelhöferstraße 3, 10785 Berlin
Fax: 030 - 26 93 23 70 - 0
E-Mail: [email protected]
amnesty Journal | 08-09/2015
Foto: Jean Pierre Aime
Foto: Sarah Eick
türkei
hakan yaman
burundi
pierre claver mbonimpa
Am 3. Juni 2013 kam Hakan Yaman auf dem Heimweg von seiner Arbeit als Busfahrer am Gezi-Park vorbei, wo gerade eine
Demonstration gegen Polizeigewalt stattfand. Eigenen Angaben
zufolge wurde er nur wenige Augenblicke später brutal von Polizisten angegriffen:
»Erst wurde ich von einem Wasserwerfer getroffen. Dann traf
mich ein Tränengaskanister am Bauch und ich fiel zu Boden.
Etwa fünf Polizisten kamen auf mich zu und schlugen immer
wieder auf meinen Kopf ein. Einer von ihnen drückte mir einen
harten Gegenstand ins Auge und quetschte mir damit das Auge
aus. Ich lag auf dem Boden, ohne mich zu bewegen. Ich hörte,
wie einer von ihnen sagte: ›Der ist fertig, wir sollten ihn endgültig erledigen.‹ Dann schleiften sie mich zehn oder 20 Meter
über den Boden und warfen mich in ein Feuer. Danach gingen
sie und ich schaffte es, mich aus den Flammen herauszurollen.«
Ein Auge hat Hakan Yaman vollständig verloren und auf
dem anderen verlor er 80 Prozent seines Sehvermögens. Zudem
erlitt er einen Schädelbruch, weitere Knochenbrüche und Verbrennungen zweiten Grades. Auch zwei Jahre nach dem brutalen Angriff auf Hakan Yaman sind die verantwortlichen Polizisten weder identifiziert noch vor Gericht gestellt worden.
Der renommierte Menschenrechtsverteidiger Pierre Claver
Mbonimpa wurde am 15. Mai 2014 festgenommen und anschließend vier Monate in Haft gehalten. Grund dafür waren
Kommentare, die er zuvor im Radio abgegeben hatte. Darin
hatte er erklärt, dass junge Männer Waffen und Uniformen
erhalten und zur Militärausbildung in die benachbarte Demokratische Republik Kongo gebracht würden.
Pierre Claver Mbonimpa wurde aus medizinischen Gründen
im September 2014 wieder aus der Haft entlassen, darf jedoch
seitdem die burundische Hauptstadt Bujumbura nicht verlassen. Da die Justizbehörden immer wieder die Termine für die
Anhörungen verschieben, ist sein Verfahren noch immer anhängig.
Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an den Präsidenten von Burundi, in denen Sie ihn darum bitten, die gegen
Pierre Claver Mbonimpa erhobenen Anklagen fallenzulassen, da
sie lediglich auf der legitimen Ausübung seiner Arbeit gründen.
Bitten Sie ihn außerdem, die Drangsalierung und Einschüchterung von Pierre Claver Mbonimpa und anderen Menschenrechtsverteidigern in Burundi zu beenden.
Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an den Staatsanwalt, in denen Sie ihre Sorge darüber zum Ausdruck bringen,
dass die Untersuchungen zur Identifizierung der Polizisten, die
für den brutalen Angriff auf Hakan Yaman verantwortlich waren,
noch immer nicht abgeschlossen wurden und bisher ergebnislos
blieben. In Verbindung mit den irreversiblen Verletzungen und
der Traumatisierung, die Hakan Yaman davongetragen hat, ist
die drohende Straflosigkeit seiner langfristigen Genesung abträglich. Fordern Sie den Staatsanwalt auf, sicherzustellen,
dass die Verantwortlichen unverzüglich ausfindig gemacht und
vor Gericht gestellt werden.
Schreiben Sie in gutem Französisch, Englisch oder auf Deutsch
an:
President of Burundi
Pierre Nkurunziza
Office of the President, Boulevard de l’Uprona
BP 1870, Bujumbura, BURUNDI
Fax: 002 57 - 22 - 24 89 08
E-Mail: [email protected]
Twitter: @BdiPresidence
(Anrede: Your Excellency / Exzellenz)
(Standardbrief Luftpost bis 20 g: 0,80 €)
Schreiben Sie in gutem Türkisch, Englisch oder auf Deutsch an:
Memur Suçlari Sorușturma Bürosu
Davut Dağ – Cumhuriyet Savcısı
Istanbul Anadolu Adalet Sarayn
Esentepe Mah.
E-5 Yan yol Cad. No:39
Kartal / Istanbul, TÜRKEI
Fax: 00 90 - 21 - 63 03 35 99
(Anrede: Dear Prosecutor / Sehr geehrter Herr Staatsanwalt)
(Standardbrief Luftpost bis 20 g: 0,80 €)
Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an:
Botschaft der Republik Burundi
S.E. Herrn Edouard Bizimana
Berliner Straße 36, 10715 Berlin
Fax: 030 - 23 45 67 20
E-Mail: [email protected]
Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an:
Botschaft der Republik Türkei
S. E. Herrn Hüseyin Avni Karslioğlu
Tiergartenstraße 19–21, 10785 Berlin
Fax: 030 - 27 59 09 15
E-Mail: [email protected]
briefe gegen das vergessen
79
In jedem Amnesty Journal werden drei Einzelschicksale mit
dem Appell veröffentlicht, solche Menschenrechtsverletzungen
zu beenden. In regelmäßigen Abständen werden wir künftig
über die Entwicklung dieser Fälle berichten, soweit neue
Informationen vorliegen. Wir starten mit Updates zu den
»Briefen gegen das Vergessen« von Januar bis Juli 2015.
Update: Die ursprünglich für den 2. oder 3. März angesetzte
Verhandlung gegen Irom Sharmila wurde auf Anfang Juni verschoben. Nachdem am 6. Juni eine Anhörung zu ihrem Fall
stattfand, ist der nächste Termin auf den 11. August verschoben
worden.
philippinen – Jerryme corre (Januar 2015)
Rückblick: Dem Syrer Ali Özdemir ist im Mai 2014 in den
Kopf geschossen worden, als er versuchte, die türkische Grenze
zu überqueren. Der damals 14-Jährige überlebte, verlor jedoch
das Augenlicht auf beiden Augen. Als er stabil genug war, erhielt Ali Özdemir ein Visum, um zu seiner Mutter nach Deutschland zu reisen.
Update: Ali befindet sich nun zusammen mit seinen beiden
Geschwistern und seinem Vater bei seiner Mutter in Deutschland. Laut seinem Vater gibt es jedoch weiterhin keine Fortschritte hinsichtlich einer Untersuchung des Falls.
türkei – ali Özdemir (märz 2015)
Rückblick: Jerryme Corre
wurde im Januar 2012 festgenommen und bezichtigt,
einen Polizisten getötet zu
haben. Als er sich weigerte,
ein »Geständnis« abzulegen,
wurde er gefoltert und mit
dem Tode bedroht. Er und
ein Vertreter der Dorfgemeinschaft sagten der Polizei,
dass sie die falsche Person
festgenommen habe.
Schließlich wurde Jerryme
Corre wegen Drogenbesitzes
angeklagt. Er befindet sich
weiterhin in Haft.
Jerryme Corre.
Update: Am 27. Mai übergab Amnesty International
auf den Philippinen Unterschriften an die dortige Polizei, die
im Rahmen des Briefmarathons für Jerryme Corre gesammelt
worden waren. Nach der Übergabe gab die Polizei Jerryme Corre
und seiner Familie bekannt, dass der Dienst für Innere Angelegenheiten der Nationalpolizei eine Untersuchung einleiten werde. Am 6. Juni fand die erste Anhörung zu dieser Untersuchung
statt, bei der Delegierte von Amnesty, Jerryme Corre selbst und
seine Rechtsbeistände anwesend waren. In der Anhörung hieß
es, dass die Untersuchung infolge von Briefen »einer Menschenrechtsorganisation« initiiert wurde.
swasiland – bhekithemba makhubu und thulani maseko
(april 2015)
Rückblick: Bhekithemba Makhubu, Herausgeber eines
Nachrichtenmagazins, und der Menschenrechtsanwalt Thulani
Maseko wurden im März 2014 in Swasiland festgenommen.
Anlass waren zwei Artikel, in denen sie Zweifel an der Unabhängigkeit und Integrität der Justiz in Swasiland äußerten. Beide
wurden wegen »Missachtung des Gerichts« verurteilt, wogegen
sie Rechtsmittel einlegten.
Update: Im März wurde Thulani Maseko drei Wochen lang in
Einzelhaft festgehalten, vermutlich wegen eines Briefes, der in
seinem Namen veröffentlicht worden war und in dem er sich für
die internationale Unterstützung bedankt hatte. Am 30. Juni
fand eine Anhörung zu dem Rechtsmittel statt. Das Gericht
ordnete daraufhin ihre sofortige Freilassung an.
dominikanische republik – Juan alberto antuan vill, liliana
nuel und yolanda alcino (april 2015)
Rückblick: Aufgrund ihrer haitianischen Abstammung wurden Juan Alberto Antuan Vill, Liliana Nuel und Yolanda Alcino
von den dominikanischen Behörden viele Jahre lang ihre Ausweisdokumente vorenthalten.
Update: Yolanda Alcino hat Ende April ihren Personalausweis und eine neue Geburtsurkunde erhalten. Sie wird nun versuchen, ihre beiden Kinder registrieren zu lassen. Auch Juan
Alberto Antuan Vill hat eine Geburtsurkunde und anschließend
einen Ausweis erhalten. Er will nun einen Reisepass beantragen
und versuchen, ein Stipendium zu bekommen, um Erziehungswissenschaften zu studieren. Im Fall von Liliana Nuel hat es
keine Veränderungen gegeben, sie hat noch immer keine Ausweisdokumente erhalten.
china – ilham tothi (februar 2015)
Rückblick: Ilham Tohti wurde 2014 in China festgenommen
und wegen »Separatismus« zu lebenslanger Haft verurteilt. Er
hatte seit Jahren den Umgang der chinesischen Regierung mit
der uigurischen Minderheit kritisiert. Im Dezember 2014 wurde
Ilham Tohti in das Gefängnis Nr. 1 der Region Xinjiang verlegt.
Dies macht es seiner Familie, die in Peking lebt, sehr schwer,
ihn zu besuchen.
Update: Der Rechtsbeistand von Ilham Tohti hat eine Verlegung seines Mandanten in ein Gefängnis in Peking beantragt.
Seiner Familie soll es so leichter gemacht werden, ihn in der
Haft zu besuchen.
indien – irom sharmila (märz 2015)
Rückblick: Die Menschenrechtsaktivistin Irom Sharmila befindet sich seit Ende 2000 aus Protest gegen ein Sondergesetz
im Hungerstreik. Kurz nach Beginn ihres Protestes wurde sie
wegen »versuchten Suizids« angeklagt. Obwohl ein Gericht im
Januar 2015 ihre Freilassung anordnete, weil »versuchter Suizid« in Indien nicht länger als Straftat betrachtet wird, wurde
sie nur einen Tag später erneut festgenommen.
80
ägypten – abrar al-anany,
menatalla moustafa und
yousra elkhateeb (mai 2015)
Foto: privat
Foto: Amnesty
briefe gegen das vergessen – updates
Al-Anany, Moustafa und Elkhateeb.
Rückblick: Im November
2013 kam es auf dem Campus der Mansoura-Universität
zu Zusammenstößen zwischen Unterstützern und
amnesty Journal | 08-09/2015
Gegnern der inzwischen verbotenen Muslimbruderschaft. Wegen
ihrer Beteiligung an den Protesten verurteilte man die beiden
Studentinnen Abrar Al-Anany und Menatalla Moustafa zu je
zwei Jahren und die Dozentin Yousra Elkhateeb zu sechs Jahren
Haft. Berichten zufolge waren die drei Frauen jedoch nicht an
den Zusammenstößen beteiligt.
Update: Etwa zur Zeit der Veröffentlichung des Briefs gegen
das Vergessen zum Fall der drei Frauen hat das oberste Gericht
Ägyptens, das Kassationsgericht, ihre Urteile aufgehoben und
eine Neuverhandlung angeordnet. Die Frauen befinden sich
jedoch weiter in Haft.
Foto: Amnesty
indonesien – filep karma
(Juni 2015)
Filep Karma.
Rückblick: Der ehemalige
Beamte Filep Karma verbüßt
derzeit eine 15-jährige Haftstrafe, weil er 2005 bei einer
Zeremonie eine papuanische
Unabhängigkeitsflagge hochgehalten haben soll. Er wurde in Haft misshandelt und
wird als gewaltloser politischer Gefangener betrachtet.
Update: Filep Karma bedankt sich bei allen, die sich für ihn
einsetzen. »Ich möchte meine Dankbarkeit gegenüber meinen
Freunden bei Amnesty International und meinen Freunden, die
diese Petition in zahlreichen Ländern unterzeichnet haben, zum
Ausdruck bringen. Ich möchte euch von ganzem Herzen danken! Ich kenne euch nicht und ihr seid dennoch so besorgt um
mich und um das, wofür ich stehe. Nochmals vielen Dank und
ich bete für euch.«
china – su changlan (Juli 2015)
Rückblick: Im Dezember 2014 wurde die Inhaftierung
von Su Changlan offiziell registriert und Anklage gegen sie
wegen »Anstiftung zum Umsturz« erhoben. Ihr droht eine
lebenslange Haftstrafe. Scheinbar steht die gegen sie erhobene Anklage in Verbindung mit ihrem Einsatz als Frauenrechtlerin und mit Online-Beiträgen, in denen sie sich solidarisch
mit den Protesten für mehr Demokratie in Hongkong gezeigt
hatte.
Update: Die Rechtsbeistände von Su Changlan erhielten
erneut zweimal die Erlaubnis sie in Haft zu besuchen. Zudem
gewährte man ihnen Einsicht in ihre Gerichtsakte. Darin befand
sich auch ein Dokument, in dem es hieß, dass im Gefängnis
mehr als 400 Briefe aus dem In- und Ausland für Su Changlan
angekommen seien.
heisses wochenende
für die menschenrechte
30.000 Besucher, bis zu 40 Grad im Schatten und Amnesty
mittendrin – auf dem 30. Summerjam, Europas ältestem Reggaefestival, informierten am 3. und 4. Juli Amnesty-Aktivisten
über das Thema Folter. Mit an Bord des Amnesty-Mobils: Die
Stop-Folter-Ausstellung. Den zahlreichen Besuchern bot sie
eine interessante, vielen zudem die erste Auseinandersetzung
mit dieser gravierenden Verletzung von Menschenrechten. Draußen bemalten Interessierte Amnesty-Taschen und unterschrieben auf einer riesigen Postkarte gegen Folter in Usbekistan. In
spektakulären Flashmobs mitten im Publikum stellten Aktionsteams die Folter mit Elektroschocks nach, diskutierten und
sammelten Unterschriften.
Groß, gelb und dank Amnesty-DJ James unüberhörbar, reihte sich am Sonntag der Amnesty-Doppeldecker in Europas größte CSD-Parade ein. Unter dem Motto »Vielfalt: Lehren. Lernen.
Leben.« zogen 137 Gruppen vor gut 800.000 Besuchern durch
Köln. Bereits ab 9 Uhr waren Amnesty-Teams mit Informationen
und Petitionen zu Menschenrechts-Verletzungen an Lesben,
Schwulen, Bi-, Trans- und Intersexuellen (LGBTI) unterwegs, im
Umzug verteilte die gut gelaunte Fußgruppe Material an Passanten und Janina von Queeramnesty hielt auf dem Straßenfest
eine Rede. Das erfolgreiche Wochenend-Fazit: Tausenden wurden die Themen Stop Folter und LGBTI*-Rechte nahegebracht,
zahllose Infomaterialien verteilt und über 2.000 Unterschriften
gesammelt. Im nächsten Jahr sind wir wieder dabei!
aktiv für amnesty
Foto: Amnesty
Mit dem Amnesty-Mobil auf dem Kölner Festival Summerjam
und der CSD-Parade unterwegs. Von Katrin Schwarz
Erfolgreicher Einsatz bei 40 Grad. Queeramnesty.
81
Fotos: Henning Schacht / Amnesty »sie war unser dunkler schmetterling«
»Wir müssen wachsam sein.« Patti Smith und Joan Baez.
Die US-amerikanische Folkmusikerin Joan Baez wurde am
21. Mai zusammen mit dem chinesischen Künstler Ai Weiwei in
Berlin mit dem »Ambassador of Conscience Award« von Amnesty International geehrt. Mit dem Preis würdigt die Organisation
Aktivisten und Künstler, die sich durch ein herausragendes,
langjähriges Engagement für die Menschenrechte auszeichnen.
Die Punk-Rock-Legende Patti Smith hielt die Laudatio für Joan
Baez, die wir im Folgenden dokumentieren.
Sie hatte langes, schwarzes Haar, einen tiefen, eindringlichen
Blick und ein Lächeln, das die Welt aufleuchten ließ. Die Kraft
und die Ernsthaftigkeit ihrer kristallklaren Stimme rissen einen
sofort mit. Im entschlossenen Alleingang betrat Joan Baez zu
einer Zeit, in der die Nachkriegsgesellschaft nach den materiellen Annehmlichkeiten einer konformistischen, konsumorientierten Mittelschicht strebte, barfuß die US-amerikanische Szene.
In den sechziger Jahren wurden junge Männer nach Vietnam
geschickt, während die jungen Frauen einer Zukunft als Hausfrauen, Friseurinnen oder Sekretärinnen entgegensahen. In den
Zimmern der Mädchen wurden Haare toupiert und Augen im Cleopatra-Stil geschminkt, und es gab keine politischen Gespräche.
Diejenigen unter uns, die sich nicht anpassen wollten, besaßen keine Identifikationsfigur, keine freigeistige Seele, die uns
versicherte, dass wir nicht allein waren. Während wir noch darum rangen, uns aus dem Verdrängungskokon der Gesellschaft
zu befreien, hatte sie, unser dunkler Schmetterling, sich bereits
aus eigener Kraft davon gelöst.
Sie war plötzlich unter uns, ohne Führungsansprüche zu erheben, doch sie ging durch ihr Beispiel voran und führte uns
auf einen neuen Weg des kreativen Ausdrucks, der gleichbedeutend war mit Engagement, Bürgerrechten und der Antikriegsbewegung. Das 15. Jahrhundert hatte seine Jeanne d‘Arc, und wir
hatten unsere Joan Baez.
Sie war unsere unprätentiöse Königin, und ich darf mich als
eine ihrer Untergebenen bezeichnen. Meine persönliche Verwandlung zu erklären, würde ewig dauern. Einfach formuliert würde ich
sagen, ich schlief und wurde geweckt. Ich fand mich selbst. Und
ich war umgeben von Tausenden. Legionen junger Leute. Junger
Frauen. Junger Männer. Die aufrecht gingen. Sich selbst fanden.
Es war eine Zeit voller Gefahren und voller Möglichkeiten,
und Joan Baez sprach uns unmittelbar an. Wir wurden von ihrer
82
Stimme geleitet. Die Lieder, die sie sang, belehrten uns über
unser Erbe, erneuerten aber unseren Blick darauf. Ein Vermächtnis von Widerstandskraft und Haltung, aber auch von
schwerem sozialem Unrecht, Diskriminierung und Armut. Wir
wurden geleitet von ihrem Einsatz, der kühn und doch von
Demut geprägt war.
Sie war die Wildblume an der Seite des mächtigen Felsens.
Joan Baez marschierte an der Seite von Martin Luther King.
Dieses hitzige junge Mädchen, das in der zweiten Klasse die
schnellste Läuferin war und sang wie ein Renaissanceengel. Ein
Mädchen, das Bewusstsein im Handumdrehen in Taten ummünzte und ihre Stimme der Tatkraft als Geschenk darbrachte.
»Singen heißt lieben«, schrieb sie 1968 in ihrem Buch »Tagesanbruch«. »Und bejahen, fliegen und hoch aufsteigen, um
in die Herzen der Menschen, die zuhören, zu schweben und ihnen zu sagen, dass Leben leben heißt. Dass Liebe fair ist. Dass
nichts ein Versprechen ist. Aber dass Schönheit existiert und
gejagt und gefunden werden muss.« Das waren ihre Worte als
junge Frau. Und wir Menschen müssen die Jäger sein, wir müssen die Raubtiere zur Strecke bringen. Wir müssen wachsam
sein, uns zusammenschließen, um Veränderung allein durch die
Macht unserer Masse zu bewirken.
Sie hat solche Gedanken initiiert, inspiriert und animiert.
Sie stand nicht schweigend da, sondern hat gewaltfrei, aber
hartnäckig, Widerstand geleistet und ist dafür ins Gefängnis
gewandert. Sie hat ihre Bekanntheit als Vehikel für sozialen
Protest eingesetzt, jedoch ebenso als Trost und Hoffnungsstrahl
für die Menschen. Sie wurde bereits mit zahlreichen Ehrungen
bedacht. Aber ich bin sicher, diese spezielle Auszeichnung von
Amnesty International, der Organisation, zu deren Gründung sie
beigetragen hat, sticht besonders hervor. Denn Joan Baez ist für
sie Samen, Gärtnerin und Blume zugleich.
Als Gandhi gebeten wurde, seine Überzeugung zu definieren, sagte er: »Ich habe einfach versucht, die ewigen Wahrheiten auf meine eigene Weise auf unser alltägliches Leben und
unsere Probleme zu übertragen.« Und so zog er in die Welt hinaus. Bewaffnet mit denselben Wahrheiten, dient Joan Baez den
Menschen seit über einem halben Jahrhundert mit ihrer Stimme, ihrem Humor und ihrer Bereitschaft, etwas zu riskieren. Mit
den Opfern, die sie gebracht hat. Und vor allem mit ihrer Liebe.
Es ist mir eine Ehre, Joan Baez den »Ambassador of Conscience Award« von Amnesty International zu überreichen.
Großer Einsatz. Der Sohn von Ai Weiwei bei der Preisverleihung.
amnesty Journal | 08-09/2015
klare aufgaben
Über die vielen Menschen, die sich für ihren Mann, den saudischen Blogger Raif Badawi eingesetzt haben, weiß Ensaf Haidar
genau Bescheid. Jetzt aber stehen mehr als 400 Amnesty-Mitglieder wirklich hinter ihr, stärken der kleinen, zierlichen Frau
den Rücken, die in der ersten Reihe steht, als alle ihre Plakate
in die Höhe halten: Freiheit für Raif und seinen Anwalt Waleed,
für Meinungsfreiheit und gegen Folter.
Und auch über Badawi hinaus diskutierte die Jahresversammlung über Meinungsfreiheit im Digitalen Zeitalter. Eine
Resolution appellierte für den Schutz von Journalistinnen und
Journalisten sowie Bloggerinnen und Bloggern in Bangladesch,
die wegen ihres Glaubens oder wegen ihres Atheismus verfolgt,
bedroht und zuletzt auch getötet wurden.
Thema war zudem auch der allgemeine Schutz der Menschenrechte im Internet angesichts von Massenüberwachung
und Onlinezensur. Thomas Drake, ehemaliger Mitarbeiter des
US-amerikanischen Geheimdienstes NSA, und Annie Machon,
ehemalige Mitarbeiterin des britischen MI5 – beide üben inzwischen dezidiert Kritik –, lieferten spannende Einblicke in den
Themenkomplex Massenüberwachung.
Einig waren sich die Mitglieder auch bei einem klaren und
expliziten: »Nein zu Rassismus«. Die Delegierten appellierten,
Rassismus, egal, ob in gewalttätiger, subtiler oder ausgrenzender Form, entgegenzutreten und sich mit Betroffenen zu solidarisieren. Ein öffentlicher Beschluss äußert große Besorgnis darüber, dass »Menschen in Deutschland rassistisch bedroht, angepöbelt und angegriffen werden, dass angesichts von Aufmärschen Asylsuchende und People of Color Angst auf der Straße
haben oder sich in Wohnungen und Unterküften einschließen.«
Gerade auch der tagtägliche und subtile Rassismus sei ein großes Problem, da er die Akzeptanz für rassistische Gewalt herstelle, sagte Marie Piper, Mitglied in der Themenkoordinationsgruppe Antirassismus.
Um auch ein nach außen sichtbares Zeichen zu setzen, verließen die Amnesty-Mitglieder am Samstagmittag das Tagungsgelände an der Messe und bildeten auf dem Dresdner Theater-
platz zusammen den Schriftzug »#NORACISM«. Amnesty-Generalsekratärin Selmin Çalışkan dankte in ihrer Ansprache für dieses Engagement. „Rassismus ist nicht nur am rechten Rand der
Gesellschaft verbreitet«, sagte Gabriele Stein, die in Dresden
neu gewählte Vorstandssprecherin und bekräftigte: »Für uns ist
klar: Der Einsatz gegen Rassismus ist eine demokratische und
menschenrechtliche Grundaufgabe.«
Neben Stein wurden auch Jessica Böhner und Mathias John
in den Vorstand gewählt. Ingrid Bausch-Gall, Martin Roger,
Nadja Wenger und Roland Vogel wurden wiedergewählt.
Foto: Sarah Eick / Amnesty
Herausragende Gäste, spannende Diskussionen und wichtige
Entscheidungen: Bei der diesjährigen Jahresversammlung
kamen Amnesty-Mitglieder aus ganz Deutschland für drei
Tage in Dresden zusammen. Von Andreas Koob
Nein zu Rassismus. Delegierte in Dresden.
aktiv für amnesty
Durch ganz unterschiedliche Veranstaltungen geben
Amnesty-Mitglieder den Opfern von Menschenrechtsverletzungen eine Stimme. Diese Aktionen vor Ort sind ein
unentbehrlicher Teil der Arbeit von Amnesty International.
Mehr Informationen darüber finden Sie auf
http://blog.amnesty.de und www.amnesty.de/kalender
impressum
Amnesty International, Sektion der
Bundesrepublik Deutschland e.V., Zinnowitzer Str. 8, 10115 Berlin, Tel.: 030 - 42 02 48 - 0
E-Mail: [email protected]
Internet: www.amnesty.de
Redaktionsanschrift: Amnesty International, Redak tion Amnesty Journal, Zinnowitzer Str. 8, 10115 Berlin, E-Mail: [email protected] (für Nachrichten an die Redaktion)
Adressänderungen bitte an:
[email protected]
Redaktion: Markus N. Beeko, Jessica
Böhner, Andreas Koob, Anton Landgraf
(V.i.S.d.P.), Katrin Schwarz
aktiv für amnesty
Mitarbeit an dieser Ausgabe: Joshua
Kwesi Aikins, Moses Akatugba, Birgit
Albrecht, Daniel Bax, Leona Binz, Selmin Çalışkan, Urs M. Fiechtner, Jana
Hauschild, Knut Henkel, Judith Hoffmann, Ruth Jüttner, Georg Kasch, Barbara Kerneck, Jürgen Kiontke, Raphael
Kreusch, Ralf Rebmann, Wera Reusch,
York Schaefer, Uta von Schrenk, Katrin
Schwarz, Patti Smith, Maik Söhler, WolfDieter Vogel, Kathrin Zeiske, Marlene
Zöhrer
Layout und Bildredaktion:
Heiko von Schrenk / schrenkwerk.de
Druck: hofmann infocom, Nürnberg
Vertrieb: Carnivora Verlagsservice, Berlin
Bankverbindung: Amnesty International,
Bank für Sozialwirtschaft IBAN: DE 233 702050 0000 8090100,
BIC: BFS WDE 33XXX (Konto: 80 90 100, BLZ: 370 205 00)
Das Amnesty Journal ist die Zeitschrift der
deutschen Sektion von Amnesty International und erscheint sechs Mal im Jahr. Der
Verkaufspreis ist im Mitgliedsbeitrag enthalten. Nichtmitglieder können das Amnesty
Journal für 30 Euro pro Jahr abonnieren.
Für unverlangt eingesandte Artikel oder Fotos übernimmt die Redaktion keine Verantwortung. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung
von Amnesty International oder der Redaktion wieder. Die Urheberrechte für Artikel
und Fotos liegen bei den Autoren, Fotografen oder beim Herausgeber. Der Nachdruck von Artikeln aus dem Amnesty Journal ist nur mit schriftlicher Genehmigung
der Redaktion erlaubt. Das gilt auch für die
Aufnahme in elektronische Datenbanken,
Mailboxen, für die Verbreitung im Internet
oder für Vervielfältigungen auf CD-Rom.
ISSN: 2199-4587 83
menschenrechte
brauchen ausdauer
Sie möchten Ihre sportlichen Aktivitäten mit einem guten Zweck verbinden?
Dann bitten Sie doch Verwandte und Bekannte bei Ihrem nächsten Wettkampf um
eine Spende zugunsten von Amnesty International. www.amnesty-in-bewegung.de