Laienrichter: Das letzte Urteil fällt das Volk

Zürcher Unterländer
Dienstag, 18. August 2015
Zürich
Lebenshelfer aus Papier
Steinmeier zu Besuch
Ein neues Buch könnte den Zugang
zu Trinkwasser weltweit verbessern,
dank eines speziellen Papiers. Tests
verliefen verheissungsvoll. seite 28
Dem deutschen Aussenminister sind
die Beziehungen der Schweiz zur EU
«persönlich wichtig». Europa habe
zurzeit aber andere Sorgen. seite 18
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«Der Staat bietet nicht genügend Hilfe»
flüchtlinge EVP-Kantonsrat Gerhard Fischer bringt seit
Jahren immer wieder Flüchtlinge auf seinem Bauernhof
unter. Ein Erfahrungsbericht.
Projekt «Flucht.Punkt» leitet.
«Syrer und Eritreer erhalten derzeit schnell die vorläufige Aufnahme.» Zuletzt hatte Fischer vor
rund zwei Jahren einer iranischen Flüchtlingsfamilie geholfen. Er setzte sich dafür ein, dass
deren Sohn eine Lehre beginnen
konnte. Was folgte, war laut Fischer eine «Odyssee» durch die
Ämter. Doch letztlich klappte es.
Die Bilder von Flüchtlingen, die
auf der Flucht übers Mittelmeer
ums Überleben kämpfen, sind fast
alltäglich. Ebenso das Grundrauschen der politischen Debatte
darüber. Eine solche flammte
auch gestern im Zürcher Kantonsrat auf, als die bürgerliche Mehrheit ein SP-Postulat versenkte, das
den Kanton zu Hilfeleistungen
aufgerufen hätte (siehe Kasten).
Dabei meldete sich einer zu Wort,
der seit Jahren privat Hilfe für
Flüchtlinge leistet, indem er sie
bei sich zu Hause unterbringt:
EVP-Kantonsrat Gerhard Fischer.
«In den Kriegsgebieten ist
kaum noch direkte Hilfe möglich», sagt Fischer. «Deshalb haben meine Frau und ich uns bereit
erklärt, Menschen bei uns unterzubringen.» Er wandte sich an die
Schweizerische Flüchtlingshilfe
(SFH), die kürzlich ein entsprechendes Projekt lanciert hat.
Über 500 private Angebote
Das Projekt für Privatunterbringung von Flüchtlingen findet laut
SFH-Sprecher Stefan Frey regen
Anklang: «Mittlerweile haben
sich über 500 Personen gemeldet,
die Unterkünfte anbieten wollen.
Im ersten Halbjahr dieses Jahres
waren es so viele wie im gesamten
Vorjahr.» Das SFH-Projekt ist in
den Kantonen Aargau und Waadt
angelaufen, auch der Kanton
Bern hat grünes Licht gegeben.
Eine Zusammenarbeit mit dem
Kanton Zürich ist bisher nicht zustande gekommen. Deshalb verwies die SFH Fischer an die Reformierte Landeskirche des Kantons Zürich, die mit ihrem Projekt
«Flucht.Punkt» ähnliche Ziele
verfolgt. «Dort kam zum Ausdruck, dass sie eher Plätze für
Flüchtlinge suchen, deren Verfahren schon weiter fortgeschritten ist», sagt Fischer.
Infrage kommen private Unterbringungen im Kanton Zürich
nur für vorläufig aufgenommene
und anerkannte Flüchtlinge, bestätigt Gabriela Bregenzer, die das
Landwirt Gerhard Fischer daheim in Bäretswil, wo er unter anderem Flüchtlinge aus Sri Lanka und dem Libanon aufgenommen hat.
Imre Mesterhazy
FLüchtLinGSPoLitiK
Kantonsrat lehnt humanitäre Hilfe ab
Die dramatische Situation der
Flüchtlinge war gestern auch
thema im Zürcher Kantonsrat.
Die Mehrheit im Kantonsparlament hat sich gestern dagegen
ausgesprochen, angesichts des
Flüchtlingselends einen zusätzlichen humanitären Beitrag zu
leisten. Die Räte lehnten mit 86
gegen 80 Stimmen ein dringliches Postulat der SP ab. Gemäss
dem Vorstoss sollte der Regierungsrat prüfen, wie er sich für
die humanitäre Hilfe für Flüchtlinge einsetzen kann. Denkbar sei
einerseits, mit einem kantonalen
Beitrag Hilfe vor Ort zu leisten
oder sich beim Bund dafür einzusetzen, damit gezielt mehr
Flüchtlingen geholfen werden
könne, sagte Postulantin Céline
Widmer (SP, Zürich). Die
Flüchtlingssituation sei dramatisch, betonte Widmer. Auf dem
Mittelmeer spielten sich erschütternde Szenen ab, die niemanden kaltlassen dürften. Es
bestehe Handlungsbedarf auf
allen Ebenen. Nötig sei schnelle
und unbürokratische Hilfe.
Gegen den Vorstoss votierten
SVP und FDP. Barbara Steinemann (SVP, Regensdorf ) sprach
von Wirtschaftsflüchtlingen,
welche die Schweiz missbrauchten. Die Flüchtlinge hätten sich
selbst auf den langen Weg gemacht, um ihr Heil in Europa zu
suchen. Je mehr Rettungsboote
ins Mittelmeer geschickt würden, desto mehr Flüchtlinge
nutzten die Chance. Die SVP sei
für ein «geordnetes Einwanderungsrecht» und nicht bereit, auf
der Mitleidswelle mitzureiten.
Auch die FDP wollte nichts
wissen von einem zusätzlichen
humanitären Beitrag – allerdings aus einem andern Grund,
wie Hans-Jakob Boesch (Zürich)
betonte. Die Flüchtlingspolitik
liege in der Kompetenz des Bundes. Der Kanton Zürich habe bereits signalisiert, dass er bereit
sei, einen zusätzlichen Beitrag
zu leisten. Das Postulat sei eine
Zwängerei und führe zu Doppelspurigkeiten. Boesch warnte
davor, «in blinden Aktivismus»
zu verfallen. Sicherheitsdirektor
Mario Fehr (SP) wies vergeblich
darauf hin, dass mit der Überweisung des Postulates der Regierungsrat lediglich die Möglichkeit
habe, sich Gedanken zu machen,
ob er einen Beitrag für die Hilfe
vor Ort leisten wolle, wie er das
bereits 2012 im Fall von Nepal
getan habe.
Mario Fehr wies zudem vehement den Vorwurf der SVP zurück, es bestehe ein «Flüchtlingschaos». Der Kanton Zürich
habe sich rechtzeitig auf die
Situation vorbereitet. «Wir
erbringen die Leistungen ohne
grosses Geschrei.» Darüber
werde jedoch in der Öffentlichkeit kaum gesprochen. sda
Laienrichter: Das letzte Urteil fällt das Volk
Kantonsrat Die SVP
ergreift das Referendum
gegen einen Entscheid des
Kantonsrats. Dieser will keine
Laienrichter mehr an die
Bezirksgerichte zulassen.
An Zürcher Bezirksgerichten soll
es mittelfristig keine Laienrichter
mehr geben. Der Kantonsrat hat
gestern mit 94 gegen 67 Stimmen
eine entsprechende parlamentarische Initiative gutgeheissen.
Eingereicht hatten den Vorstoss SP, CVP, GLP und Grüne.
Mit einer Anpassung des Gerichts- und Behördenorganisationsgesetzes (GOG) sollen künftig nur noch Bezirksrichter gewählt werden, die ein juristisches
Studium abgeschlossen haben. In
einer Übergangsklausel wird aber
festgehalten, dass bisherige Laienrichter wiedergewählt werden
können. Wer bereits als Laienrich-
ter tätig ist, kann bei den nächsten
Wahlen nochmals antreten.
Die Schlussabstimmung zum
GOG findet in etwa vier Wochen
statt. Die SVP hat aber bereits das
Behördenreferendum angekündigt. Damit wird das Volk an der
Urne über die Abschaffung der
Laienrichter entscheiden.
«Häufig überfordert»
Davor gab die SP in der Debatte zu
bedenken, dass der Kanton Zürich als einziger grösserer Kanton
noch Laienrichter am Einzelgericht einsetze. So führte Davide
Loss (SP, Adliswil) aus, Laienrichter hätten sich an den Landgerichten bewährt, solange sie zur
Hauptsache in einem Kollegialgericht, meist einem Dreiergremium, eingesetzt wurden. Heute
würden nur noch 3,5 Prozent aller Verfahren durch Kollegialgerichte behandelt. In allen übrigen
Fällen seien Einzelrichter ohne
juristische Ausbildung häufig
überfordert von der zunehmenden Komplexität. Verschiedene
Votanten wiesen darauf hin,
dass Laienrichter Anwälten oder
Staatsanwälten gegenübersitzen,
die ihnen fachlich überlegen seien.
Auch für Justizdirektorin
Jacqueline Fehr (SP) ist entscheidend, dass die meisten Verfahren
durch den Einzelrichter behandelt würden. Die Parteien hätten
Anspruch auf Richter, die in der
Lage seien, eigenverantwortlich
Urteile zu fällen.
Gegen die Abschaffung von
Laienrichtern sprachen sich SVP,
EVP und EDU sowie einzelne
GLP-Mitglieder aus. Laienrichter
seien beim Volk beliebt und hätten sich bewährt, zeigte sich Claudio Schmid (SVP, Bülach) überzeugt. Qualitativ werde die Rechtsprechung nicht besser, wenn
Juristen unter sich blieben. Die
dritte Staatsgewalt dürfe nicht
einer einzelnen Berufsgruppe
vorbehalten sein.
«Grosse Akzeptanz»
Für Hans-Peter Amrein (SVP,
Küsnacht) kommt die Abschaffung der Laienrichter gar einer
«schleichenden Entmachtung der
Bürger» gleich. Auch Hans Egli
(EDU, Steinmaur) sagte, dass
nicht mehr Urteile von Laienrichtern ans Obergericht gezogen
würden. Gerade in ländlichen Regionen geniesse die Rechtsprechung durch Laienrichter grosse
Akzeptanz. Beleg dafür sei die
kürzliche Wahl in Bülach, wo die
Stimmberechtigten einen Laien
einem Juristen vorzogen.
Im Kanton Zürich sind derzeit
19 Laienrichter an meist kleineren Bezirksgerichten tätig. In
Teilzeitpensen besetzen sie total
rund 650 Stellenprozente. In Andelfingen, wo gleich vier Laienrichter zu je 20 Prozent beschäftigt sind, würde eine Abschaffung
den Bezirk vor Herausforderungen stellen, sagt Gerichtspräsident Lorenz Schreiber: «Es dürfte
schwierig werden, Berufsrichter
zu finden, welche ein 20-ProzentPensum annehmen.» Zusammenfassen liessen sich die Pensen
nicht, weil man für ein tragfähiges
Kollegialgericht genügend Richter und Ersatzrichter stellen müsse. Im Übrigen sei eine Professionalisierung unweigerlich mit höheren Kosten verbunden.
Im Fall von Andelfingen habe
sich das Team aus zwei Berufsund vier Laienrichtern sehr gut
eingespielt, sagt Schreiber weiter.
«In unserem Bezirk können wir
keine Mängel im System erkennen, die eine Umstellung zwingend machen würde.»
sda/jig
«Das Elend nimmt mich mit»
Schon Ende der 1980er-Jahre
brachte Fischer auf seinem Bäretswiler Bauernhof Flüchtlinge
aus Sri Lanka und dem Libanon
unter. Einer von ihnen führt heute das renommierte libanesische
Restaurant Cèdre in Zürich. Fischer ist sich bewusst, dass Asylsuchende in einem rechtlichen
Graubereich leben, solange ihre
Anerkennung als Flüchtlinge aussteht, und betont: «Ich will nicht
gegen Gesetze verstossen. Die Gesetze sollen für alle gelten.» Die
kulturellen Unterschiede und der
Fluchthintergrund seiner Schützlinge hätten bisweilen auch für
Schwierigkeiten gesorgt. «Aber im
Grossen und Ganzen war es eine
gute, bereichernde Erfahrung.»
Fischer selbst stammt aus armen Verhältnissen. Der 64-Jährige hat zehn Kinder aus zwei Ehen
grossgezogen. «Wir haben in der
Familie immer wieder randständige Menschen aufgenommen», sagt
er. «Manchmal verzogen meine
Kinder das Gesicht, weil sie etwa
an Weihnachten fanden: Jetzt sind
wir dran. Inzwischen setzen sie
sich selbst für Randständige ein.»
Für Fischer ist angesichts der
heutigen Flüchtlingsdramen klar:
«Leider genügt es nicht, was der
Staat an Hilfeleistungen anbietet.» Seine Motivation zu helfen
sei auch in seiner christlichen
Haltung begründet. «Das Elend
nimmt mich mit», sagt er. «Viele
verschliessen die Augen davor.»
Fischer ist aber auch klar, dass
nur mit einer Unterkunft noch
wenig geholfen ist. Er habe den
Flüchtlingen daher auch Sprachkurse und Arbeitseinsätze vermittelt. Beides ist auch aus Sicht
der Schweizerischen Flüchtlingshilfe wichtig, um Flüchtlingen zu
Matthias Scharrer
helfen.
Fehr muss
sich erklären
staatstrojaner Der Zürcher
Sicherheitsdirektor Mario Fehr
(SP) muss den Kauf der umstrittenen Überwachungssoftware Galileo gegenüber dem Kantonsparlament rechtfertigen. Drei Kantonsräte haben gestern eine Interpellation zum Thema Staatstrojaner
eingereicht. In ihrem Vorstoss
wollen Markus Bischoff (AL, Zürich), Beat Bloch (CSP, Zürich) und
Jörg Mäder (GLP, Opfikon) unter
anderem wissen, ob der Regierungsrat die gesetzlichen Grundlagen für den Einsatz von Staatstrojanern als genügend erachtet.
In zwei Fraktionserklärungen
musste sich Fehr harsche Kritik
gefallen lassen. Bischoff forderte
die Sicherheitsdirektion und die
Kantonspolizei auf, sich an die
Grundregeln der Rechtsstaatlichkeit zu halten und die Grundrechte aller Bürger zu schützen. sda