Kreativität fällt nicht vom Himmel Wie die Förderung kreativer Kompetenzen gelingt Gabi Scherzer Kreativität bezeichnet sowohl einen Denkprozess als auch dessen Umsetzung, von der Idee zu einem sichtbaren Ergebnis. Hierzu bedarf es kreativer Fähigkeiten, die in der Welt der Kunst, Wissenschaft und Gesellschaft aber auch in der persönlichen Alltagsbewältigung notwendig sind. Was aber sind kreative Fähigkeiten und was bedeuten sie für eine kreative Persönlichkeitsbildung in der Kita? Manfred Spitzer, ein bedeutender Neurologe, schreibt in seinem Buch „Das (un)soziale Gehirn“: „Der Handwerker wird kreativ, wenn das passende Teil oder das richtige Werkzeug fehlt. Er weiß dabei, worauf es ankommt, kennt das Material ebenso wie das zu lösende Problem und verwendet sein Expertenwissen und Können, um eine Aufgabe auf eine andere, neue Art kreativ zu lösen“ (Spitzer 2013, S. 19). Überträgt man dieses Zitat auf die Lebenswelt eines Kindes, lassen sich die wesentlichen Merkmale kreativen Verhaltens ableiten. Zunächst hat das Kind ein konkretes Problem oder eine Aufgabe und ist motiviert, diese zu lösen. Die dafür notwendige intrinsische Motivation wird auch als „Motor der Neugierde“ bezeichnet. Aufgrund dieser vom Kind ausgehenden Motivation wird das Problem nicht delegiert, sondern erfolgs- und zielorientiert in einer spontanen und flexiblen Art und Weise bearbeitet. Zur Lösung dieses Problems bedarf es Expertenwissens – das Kind kennt das zur Verfügung stehende Material und ist geübt im Umgang damit. Fehlende Informationen müssen zunächst beschafft werden. Dabei sind auch Luxusinformationen, also solche, die man vielleicht gar nicht direkt braucht, die aber bei späteren Gelegenheiten, bei neuen Problemlösungen dienlich sein werden, von großer Bedeutung. Unkonventionell, fantasievoll und mutig experimentiert das Kind mit vorhandenem, bekanntem Material und kreiert aus bestehenden Wissenselementen eine neue Lösung. Hier ist Querdenken gefragt! Dieser Prozess geht nicht ohne Konflikt- und Frustrationstoleranz, Kritikfähigkeit und Durchhaltevermögen. Kreatives Verhalten heißt also, sich einem Problem selbstbewusst und aus eigenem Antrieb zu stellen, es neugierig als Herausforderung anzunehmen, sich zielgerichtet Informationen und Kenntnisse zu beschaffen, mutig neue Wege und Lösungsmöglichkeiten zu beschreiten und selbstkritisch durchzuhalten, bis ein persönliches Ziel erreicht ist. Im pädagogischen Alltag kommt den Pädagogen/innen hierbei die Aufgabe einer kreativen Wegbegleitung zu. Das bedeutet, durch die Raumgestaltung Bildungsräume für das Kind zu schaffen, die auf die Entwicklung der Kreativität positiven Einfluss nehmen. Raum- und Materialgestaltung Zunächst sollen die Raumgestaltung und das Materialangebot im Sinne eines kreativen Bildungsraumes betrachtet werden. Montessori spricht hier von der vorbereiteten Umgebung. In der Reggio-Pädagogik schreibt man dem Raum sogar die Funktion eines 3. Erziehers zu. Der direkte Einfluss des Raumes und seiner Gestaltung auf die darin stattfindenden Prozesse muss deshalb auch bei der Kreativitätsförderung genauer betrachtet werden. Im Vorfeld ist zu klären: Wo befinden sich wahrnehmungsfördernde Elemente wie ein Spiegel zur Selbstwahrnehmung oder ein Podest für den Blick nach draußen? Wo können die Kinder ihren Fragen nachgehen und sich informieren? Sind Fachbücher, PC oder anderes Informationsmaterial vorhanden? Bestehen Gesprächsstrukturen, bei denen gefragt, nachgedacht, philosophiert wird? Wo können die Kinder forschen und experimentieren? Gibt es ausreichend Platz, ihre Gedanken auch in großen Formen/Objekten auszudrücken? Ist eine Werkstatt oder ein Forscherbereich vorhanden? Wo hat das Kind Platz, seine Entdeckungen zu präsentieren? Wo kann das Kind sich zurückziehen und seiner Fantasie nachgehen? Interessante Erkenntnisse aus dem Bereich der Wohnkultur können auf die Raumgestaltung von sozialen Einrichtungen übertragen werden (vgl. Franz; Vollmert 2009). Aus der Farbpsychologie haben wir die Erkenntnis über die Wirkung von einzelnen Farben, z. B. aktiviert Rot den Organismus und Orange fördert die Kommunikation. Weniger ist mehr – sowohl bezüglich der Farb- und Wandgestaltung als auch beim Anbieten von Material. Zu viel Farbe, Bilder, Spielzeug sorgen für eine Reizüberflutung, welche die eigene Kreativität der Kinder lähmt. Dann ist keine Luft mehr zum Atmen, kein Raum für Neues vorhanden. Eine angenehme Beleuchtung ist wichtig – möglichst Tageslicht. Die Akustik im Raum sollte stimmen. Zu laute Räume behindern eine kreative Spiel- und Lernatmosphäre. Gute Luft ist wichtig, daher ausreichend lüften. Wärme trägt zum Wohlbefinden bei (Vorsicht, überheizte Räume sind auch unangenehm). Die Beschaffenheit der Möbel und Spielsachen – ob Holz oder Plastik – hat großen Einfluss auf die Raumatmosphäre und das Werteempfinden. Achten Sie möglichst auch auf flexibles Mobiliar, welches die Kinder je nach Bedarf umstellen können. Um ausreichend Freiraum zu schaffen, sollte sowohl bei der Einrichtung wie beim Materialangebot immer ein ausgewogenes Spiel von Gegensätzen, eine Balance von gegensätzlichen Kräften erreicht werden, beispielsweise zwischen Nähe und Distanz, Einfachheit und Vielfalt, Inspiration und Wiederholung sowie Logik und Fantasie. Driftet ein kreativer Prozess zu sehr in die Fantasie ab, bleibt ein Ergebnis aus, wohingegen zu viel Logik und Ergebnisorientiertheit die Kreativität hemmt. Des Weiteren empfiehlt es sich darauf zu achten, dass das Material zum Experimentieren, Gestalten, Kombinieren oder Bewegen einlädt und dabei interessante Sinneserfahrungen mit dem Material gemacht werden können. Naturmaterial, aber auch ganz ungewohntes Material wie beispielsweise ein Schlauch aus dem Baumarkt, hat immer einen hohen Aufforderungscharakter. Dennoch sollte keine Reizüberflutung eintreten. Wenn ein Sättigungseffekt eintritt, kann man wieder für Abwechslung sorgen und beispielsweise ein Material erset-zen. Wichtig ist ein strukturiertes, übersichtliches Angebot. Sowohl Werkzeug als auch Material hat seinen festen Platz. Damit fällt Neues auf und zieht an. Bei der Auswahl von Material und Werkzeug sollten die Fachkräfte auch immer darauf achten, womit sich die Kinder gerne beschäftigen und welche Dinge sie gerne nutzen. Beobachten und unterstützen Begleiten im kreativen Prozess heißt zuerst einmal hinzuhören und hinzuschauen, was die Kinder eigentlich bewegt und welches Interesse sie mit ihrem Tun verfolgen. Aktiv zu beobachten bedeutet aber auch, als Gesprächspartner/in, Helfer/in und Partner/in in pädagogischen Prozessen bereitzustehen, Fragen zum Weiterdenken zu stellen oder Impulse zu setzen. Durch Reflexionsfragen können die Kinder zu eigenen Erklärungsversuchen und zum Nachforschen angeregt werden. Die innere Neugierde und die Lust am Forschen und Bewegen werden als Motor für Lernen begriffen. Aktiv beobachten steht nicht nur am Anfang kreativer Prozesse, sondern ist permanent als Wegbegleitung gefragt. Dabei ist eine Sprachkultur der Wertschätzung, des Ermutigens, Lobens und konstruktiver Kritik sehr wichtig. Im aktiven Beobachten nimmt die Fachkraft auch mögliche Wegkreuzungen wahr, bleibt aber offen für die Entscheidung der Kinder und kann bei Stagnation oder Sackgassen vorsichtig neue Impulse setzen. Erkunden und Experimentieren Das freie Erkunden und Experimentieren sind das Herzstück des kreativen Prozesses. Diese Phase kann nicht übersprungen oder ersetzt werden. Darf das Kind frei experimentieren – ohne Erklärungsnot und Produktorientierung –, werden weiterführende Ideen geweckt und führen direkt zur Gestaltung und Umsetzung der im experimentellen Spiel entstandenen Erfahrungen. Auch bei Misserfolgen hat das Experimentieren seinen eigenen Wert. Die gewonnenen Erfahrungen können zu einem späteren Zeitpunkt mit anderen Dingen kreativ verknüpft werden. Während des kreativen Prozesses sollte die Fachkraft lediglich die Rahmenbedingungen gestalten. Die Regeln der Einrichtungen und im Spielraum sollten genug Freiraum bieten, um ein offenes Experimentieren zu ermöglichen. Auch hierbei sollte auf eine Ausgewogenheit zwischen Struktur und Freiheit geachtet werden. Kinderfragen und Fantasie müssen Raum haben! Hierzu müssen auch eine entsprechende Gesprächskultur und ein offener und toleranter Umgang miteinander gepflegt werden. Herrscht keine Atmosphäre des Vertrauens, in der positive Wertschätzung, Anerkennung der unterschiedlichen Bedürfnisse und Offenheit gegenüber Neuem Usus sind, wird die Kreativität gebremst. Doch auch im kreativen Prozess können Probleme auftauchen. Diese Krisen bzw. sensiblen Phasen gilt es aufmerksam im Hintergrund zu verfolgen. Gegebenenfalls kann mit entsprechendem Material unterstützt, weiterführende Fragen gestellt oder die Wahrnehmung der Kinder für bestimmte Zusammenhänge sensibilisiert werden. Krisen sind Chancen der Weiterentwicklung. Für jedes Problem gibt es verschiedenste Lösungsmöglichkeiten, die man zwar gemeinsam sammeln kann, aber dem Kind die Entscheidung überlassen sollte. Vorsicht: keine Manipulation! Wichtig ist ein für das Kind vollendetes und zufriedenstellendes Ergebnis. Fazit Erfolgreich angewandte, kreative Fähigkeiten verhelfen Kindern nicht nur zu einem hohen Maß an Zufriedenheit, sondern stärken das Selbstbewusstsein und sind somit eine wichtige Komponente in einer gesunden Persönlichkeitsentwicklung. Diese Fähigkeiten müssen jedoch gefördert und trainiert werden. Bettina Eggers (1996, S. 124) vergleicht Kreativität sogar mit einem Muskel, den jeder trainieren muss, damit er nicht verkümmert. Um kreative Bildungsprozesse im Kindergarten zu ermöglichen, muss zunächst auf ein förderliches Umfeld geachtet werden. Hierzu zählen insbesondere die Raumgestaltung als auch die Auswahl an zu kreativem Schaffen einladenden Materialien. Das aktive Beobachten und Wahrnehmen der Wünsche von Kindern ist ein Schlüssel zum Initiieren von kreativen Projekten und Lernprozessen, als deren Zentrum das ergebnisoffene Experimentieren gilt. Die wahre Kunst in der Begleitung kreativer Prozesse liegt jedoch in der geduldigen Unterstützung aus dem Hintergrund, die im richtigen Moment Impulse setzt und bei Bedarf Rahmenbedingungen verändert, ohne dabei zu direktiv zu sein. Zu Recht spricht man auch in diesem Zusammenhang von „Hebammenkunst“, da man dem/r Künstler/in hilft, sein/ihr Werk in die Welt zu bringen. Literatur: Egger, Bettina (1996): Malen als Lernhilfe. Malen und bildnerisches Gestalten mit verschiedenen Materialien. 4. Auflage. Bern: Zytglogge Verlag Franz, Margit; Vollmert, Margit (2009): Raumgestaltung in der Kita. In diesen Räumen fühlen sich Kinder wohl. 4. Auflage. München: Don Bosco Medien GmbH. Scherzer, Gabi (2015): 5 Minuten Kreativität im Kindergarten. 3. Auflage. München: Don Bosco Medien GmbH. Spitzer, Manfred (2013): Das (un)soziale Gehirn. Wie wir imitieren, kommunizieren und korrumpieren. Stuttgart: Wissen Leben. Vita Gabi Scherzer ist Kunst- und Religionspädagogin. Aus ihrer jahrelangen Erfahrung als Lehrerin an der Fachakademie in Regensburg und Schwandorf und in verschiedenen Kunstprojekten in sozialen Einrichtungen entwickelt sie Bücher, hält Fortbildungen und malt Bilder. Erschienen in: ‚kindergarten heute’, Ausgabe 11-12/2015, S. 14-19. Alle Rechte vorbehalten. Copyright © Verlag Herder, Freiburg. www.kindergarten-heute.de ----------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------- ----------Anzeige ‚kindergarten heute’ hält SIE fachlich und beruflich auf dem Laufenden! ‚kindergarten heute’ im Abonnement Als Erzieherin bewältigen Sie täglich die unterschiedlichen Anforderungen. ‚kindergarten heute’ unterstützt Sie in Ihrer pädagogischen Arbeit. Sie ist die unabhängige, marktführende Fachzeitschrift für Bildung, Erziehung und Betreuung in Deutschland. 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