Johannes Ranefeld „Caput Nili . . .“ Ursprünge des Ubw, des Infantil

Johannes Ranefeld
„Caput Nili . . .“
Ursprünge des Ubw, des Infantil-Sexuellen, des Sexualverbrechens
1. Wegbeschreibung
Von der Suche nach dem ätiologischen Ursprung der Neurosen, dem
„Caput Nili der Neuropathologie“ (Freud) hin zur Suche nach den Quellen des Ubw, des Infantil-Sexuellen. Oder: Von der „speziellen“ Verführungstheorie Freuds zur „Allgemeinen Verführungstheorie“ von Jean
Laplanche. Auf diesem Weg wird sich zeigen, dass das Sexualverbrechen, das Unerhörte, das Unfassbare, das Grauenhafte, das Fremde, seinen Ausgang nimmt von der anthropologischen Grundsituation des Menschen; dass das Sexualverbrechen einen unheimlich heimlichen und heimeligen Ursprung hat.
2. „Verführungstheorie“
Der Begriff bezeichnet ursprünglich Freuds Theorie der Neurosen zwischen 1895–1897; besagt, dass Hysterien, Zwangsneurosen, Phobien und
Paranoia durch reale sexuelle Traumatisierung in der Kindheit verursacht
sind. Seine Theorie nimmt Bezug auf die Zweizeitigkeit des Ursprungs
menschlicher Sexualität, formuliert das Prinzip der Zweizeitigkeit des
Traumas und das Prinzip der Nachträglichkeit. Infantile Sexualerlebnisse,
deren sexueller Charakter vom unreifen Kind zunächst nicht begriffen
werden, werden durch spätere Ereignisse wiedererweckt und wirken nachträglich traumatisch. Widerruf der Theorie durch Freud im Brief an Fließ
vom 21.9.1897.
Wiederaufnahme und „fulminante Radikalisierung“ (Ehlert-Balzer 2002,
783) der freudschen („speziellen“) Verführungstheorie durch J. Laplanche,
formuliert als „Allgemeine Verführungstheorie“.
Im Folgenden werde ich Positionen der Theorie benennen, in Schritten
begründen und die Perspektiven aufzeigen, die eine Annährung an das,
was man ein Sexualverbrechen nennt, ermöglichen.
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3. Positionen
3.1. Laplanche bestreitet die Existenz eines angeborenen Es (1993/1999,
1213–1246). Wenn man zwischen Es und Ubw differenzieren will, ist Es
das dissoziierte Terrain des Infantil-Sexuellen in Folge der „Urverdrängung“. Ansonsten ist Es = Ubw.
3.2. „Das Herz des Ubw ist das Infantil-Sexuelle (Laplanche 2001/04,
29). Man holt es sich „wie eine Krankheit“ (A. Tabucchi 1991/2002, 18)
in der Kinderstube.
3.3. Infantil ist nicht kindlich, tut sich nicht kund als „Sprache der Zärtlichkeit“ (Ferenczi 1933, 303). Im Sinne der „Drei Abhandlungen“ ist das
Infantile polymorph-pervers.
Das Infantil-Sexuelle (Laplanche 2002/04, 38) geht über Genitale,
Geschlechtsunterschied und Generationen hinaus, ist eine durch Botschaften vermittelte und an Phantasien gebundene, sehr bewegliche Sexualität,
was Ziel und Objekt betrifft: Ökonomisch folgt sie nicht systematisch der
Tendenz zur Entspannung, ihr eigen ist ebenso Erregungssuche und Spannungserhöhung, eine „Lust haben auf . . .“, ein Reizhunger. In der Abreaktion tendiert sie zum Null- oder Nirwana-Prinzip, nicht zum Konstanz-Prinzip. Ist also „Feind“ der konstanten Besetzung, „Feind“ des IchSelbst.
3.4. Es = Ubw = Infantil-Sexuelles ist nicht angeboren, entsteht auch
nicht endogen autonom, sondern taucht wie die Phantasie innerhalb eines
Dialogs zwischen dem Erwachsenen und Kind auf, wobei die ursprüngliche sexuelle Initiative vom Erwachsenen ausgeht; eine Initiative, deren
Medium die Botschaft ist (Laplanche 2002/04, 35).
3.5. So gesehen kommt „das“ Neugeborene tatsächlich „unschuldig“
zur Welt und wird, kaum hat es den Muttermund passiert, im Dialog mit
Erwachsenen „sexualisiert“ (Aichhorn 2004, 41).
Dieser ursprüngliche Dialog hat Funktionen: Nähren, Pflegen, Kosen,
Erziehen.
Aber: Frau Mutter ist nicht asexuell. Der Dialog Mutter-Kind wird „durch
eine Art störendes Nebengeräusch korrumpiert“, durch „die Einmischung
des infantilen Ubw des Erwachsenen in dem Maße, wie die Situation
zwischen Erwachsenem und Kind dazu angetan ist, die ubw infantilen
Triebregungen des Erwachsenen zu reaktivieren“ (Laplanche 2001/21).
Alle Funktionen des Erwachsenen sind so von Infantil-Sexuellem durchwachsen. Ich erinnere an das allgemeine Prinzip der Anlehnung des Be-