„Wenn ihr mir die Freiheit nehmt, mich zu ver

WISSENSCHAFTLICHE ARTIKEL 10 „Wenn ihr mir die Freiheit nehmt, mich zu verschleiern, unterdrückt ihr mich“ – Zur Reproduktion orientalistischer Stereotype am Beispiel des Kopftuches in der Zeitschrift EMMA Verena Hucke Der Beitrag ist im Rahmen der Veranstaltung „Interkulturelle Kommunikation, Ethik und Globalisierung -­‐ Arabischer Frühling versus Cybermobbing: das Web 2.0 zwischen Selbst-­‐ und Fremdbestimmung“ von Dr. David Kergel im Winter-­‐
semester 2013/2014 an der Fakultät I, Bildungs-­‐und Sozialwissenschaften entstanden. Es richtete sich an Studierende im Bachelorstudiengang Pädagogik. Der Artikel geht der Frage nach, ob in der feministischen Zeitschrift EMMA orientalistische Ste-­‐
reotype reproduziert werden. Grundlage für die Analyse sind Edward Saids Theorie des Orienta-­‐
lismus und die Perspektive des Neo-­‐Orientalismus. Analysiert werden Textauszüge aus den im Jahr 2013 erschienenen Ausgaben. Das Ausmaß an Stereotypisierungen, Homogenisierungen und Überspitzungen wird an diesen sehr deutlich und lässt die Schlussfolgerung zu, dass eine Reflexi-­‐
on der eigenen Verstrickung in Machtstrukturen bei den Autor_innen nicht gegeben ist. Dies wird abschließend problematisiert und in den Zusammenhang eines feministischen Diskurses um Selbstaffirmation, Macht und Privilegien gestellt. 1
Einleitung Die Zeitschrift EMMA ist ein Medium feministischer Auseinandersetzungen und prägt richtungsgebend, wie feministische Diskurse gesellschaftlich wahrgenommen werden. Einer der wiederkehrenden thematischen Schwerpunkte der Zeitschrift ist die vermeintli-­‐
che Unterdrückung muslimischer Frauen durch den Islam1 -­‐ materialisiert im Kopftuch. Die Auseinandersetzung mit dem Islam steht, so Daniela Marx (2009, S. 103), immer in einer engen Beziehung zu der eigenen feministischen Positionierung, fordert diese heraus und konstruiert sie. Im Anschluss an Marx soll dieser Artikel mit Hilfe von Edward Saids Orientalismus-­‐Theorie eine mehrheitsfeministische Perspektive herausfordern. Ganz konkret wird die Frage gestellt, inwiefern sich in der Zeitschrift EMMA Reproduktionen orientalistischer Stereotype wiederfinden. Zu Beginn steht Edward Saids Theorie des Orientalismus im Fokus. Anschließend wird über den Theorieansatz des Neo-­‐Orientalismus eine Brücke zu aktuellen Debatten ge-­‐
schlagen. Der Diskurs um das Kopftuch dient als Ausgangspunkt für die Analyse anhand von Saids Theorie und der Perspektive des Neo-­‐Orientalismus. Abschließend wird im Fazit verdeutlicht, warum diese Stereotypisierung gerade in feministischen Diskursen problematisch sein und was dies für die eigene feministische Positionierung bedeuten kann. 1
Termini, wie der Islam, der Orient, der Okzident, der Westen etc. stellen Homogenisierungen und Verkürzungen dar, die als (nicht nur diskursiv hergestellte) Konstruktionen verstanden werden. Hucke: „Wenn ihr mir die Freiheit nehmt, mich zu verschleiern, unterdrückt ihr mich“ „forsch!“ – Studentisches Online-­‐Journal der Universität Oldenburg 2/2015 WISSENSCHAFTLICHE ARTIKEL 11 2
Orientalismus nach Said Edward Saids Theorie des Orientalismus, aus seiner wohl bedeutendsten und zu den Schlüsselwerken der postkolonialen Theorie gehörenden Arbeit Orientalism (1978), bildet die theoretische Grundlage dieses Artikels. Said bezeichnete in seinem Werk die europäi-­‐
schen Vorstellungen über den nahen und fernen Osten sowie die Konstruktion eines Un-­‐
terschiedes zwischen Orient und Okzident als „Orientalismus“ und zeichnete im Rück-­‐
griff auf die Foucault’schen Diskursanalyse nach, wie der koloniale Diskurs die Kolonisier-­‐
ten und die Kolonisator_innen gleichermaßen produziert(e) (Castro Varela & Dhawan, 2005, S. 30-­‐32). Dabei konzentrierte Said sich vor allem auf die Konstruktion des Orients durch Europa und die damit verbundenen Repräsentationspolitiken. Er nahm die Koloni-­‐
sator_innen in den Fokus der Betrachtung und kam zu dem Ergebnis, dass der Diskurs um den Orient vornehmlich der Legitimierung von Gewalt und Macht zur Sicherung ko-­‐
lonialer Herrschaft diente. Der Orientalismus als akademische Disziplin sollte den Orient entdecken und für den Westen begreifbar machen (Castro Varela & Dhawan, 2005, S. 141). Dieses Entdecken und Begreifbarmachen waren Machtstrategien. Der Orientalismus begründete sich auf einer imaginierten Differenz zwischen Orient und Okzident. Im Orient lebende Menschen wurden als Antagonismus zu Europa und seinen Bürger_innen konstruiert (Dietze, 2009, S. 232). Der Orient wurde durch die Vorstellung eines guten Orients, repräsentiert durch Indien, und eines schlechten Orients, repräsentiert durch Asien, Nordafrika und den Is-­‐
lam, insgesamt polarisiert. Die vermeintlich gute Hälfte wurde exotisiert und die ver-­‐
meintlich schlechte Hälfte durch rassifizierende Zuschreibungen als bedrohlich stigmati-­‐
siert (Castro Varela & Dhawan, 2005, S. 141). Die im Orient lebenden Menschen wurden über stereotype Darstellungen des Orients als feminin, irrational und primitiv genau dort verortet, um durch ein Konglomerat von Macht, Gewalt und Repräsentationen in der Pro-­‐
duktion eines positiv besetzten, kolonialen Selbst zu münden. Dieses wurde als maskulin, rational und fortschrittlich gedacht. Mit der Dichotomisierung von Orient und Okzident ging eine Abwertung des Orients und gleichzeitig eine Aufwertung des Okzidents einher. Darüber hinaus kam den Arbeiten der Orientalist_innen eine höhere Bedeutung zu als den ‘Objekten‘, über die sie sprachen (Castro Varela & Dhawan, 2005, S. 36). Die, über die gesprochen wurde, sprachen selber nicht oder wurden nicht gehört. Die Geschlechterdimension, so wurde Said vorgeworfen, ließ er außer Acht und formu-­‐
lierte erst später, dass der koloniale Diskurs zwar ein vergeschlechtlichter sei, sich jedoch der Orientalismus nur auf den männlichen Orientalen bezog (Castro-­‐Varela & Dhawan, 2005, S. 43-­‐44). Anne McClintock (1995) argumentierte im Gegensatz zu Said, dass der Orient immer als ein Ort verbotener sexueller Praktiken imaginiert wurde, in welchem der Frau eine passive, schweigsame und willige Position zugewiesen wurde und dass er dadurch das Bild der passiven Frau stabilisiert, die weder als Täterin noch als Betroffene in den kolonialen Diskurs involviert ist. Hucke: „Wenn ihr mir die Freiheit nehmt, mich zu verschleiern, unterdrückt ihr mich“ „forsch!“ – Studentisches Online-­‐Journal der Universität Oldenburg 2/2015 WISSENSCHAFTLICHE ARTIKEL 12 3
Neo-­‐Orientalismus Gabriele Dietze (2009, S. 234) merkt an, dass Saids Überlegungen zur Polarisierung von Orient und Okzident und der damit einhergehenden Stereotypisierungen für die Analyse derzeitiger rassistischer Gewalt und Diskriminierung nicht vollständig wirksam gemacht werden können, da heute stärker Ängste um vermeintliche Bedrohungen von außen und Ängste vor parallelen Lebensführungen im Inneren von Bedeutung sind. Diese Bedrohun-­‐
gen werden anhand des Islams konstruiert. Es ergibt sich hierbei die Frage, wie dieses Umdenken zu einer vermeintlich muslimischen Gefahr entstanden ist. Hier stellt Dietze (2009, S. 234) die Hypothese auf, dass sich Deutschland und Europa aufgrund des Zu-­‐
sammenbruchs des sogenannten Ostblocks in einem Prozess der Herausbildung einer neuen kollektiven Identität befanden, da sich der Westen vorher in Abgrenzung zum so-­‐
genannten Ostblock definierte. Polarisierungen, wie Sozialismus vs. Kapitalismus, waren dabei unabdingbar. Mit dem Zusammenbruch des Ostblocks fiel die Möglichkeit weg, sich durch Abgrenzung von diesem zu definieren. Es entstand eine, wie Dietze es nennt, „Identitätsleerstelle“ (2009, S. 234). Diese wurde mit der europäischen Identität eines christlichen Abendlandes gefüllt und bringt die oder den orientalische_n Andere_n her-­‐
vor, um sich dann von dieser, als anders markierten Position abzugrenzen. Nicht mehr der Ostblock ermöglicht es dem Westen als zivilisationsüberlegenes Abendland zu gelten, sondern das orientalische Andere in der Imagination von Terrorist_innen und Is-­‐
lamist_innen. Die stereotypen Vorstellungen im Neo-­‐Orientalismus unterscheiden sich u.a. dahingehend vom klassischen Orientalismus, als dass ‚der Orientale’ nach Said als feminisierter Haremsherr mit unterwürfigen und willigen Gespielinnen imaginiert wurde. Diese Imagination diente dazu, in einer Abgrenzung von dieser, eine okzidentale weiße Männlichkeit und züchtige Weiblichkeit zu konstruieren. Im Neo-­‐Orientalismus wird ‚der Orientale’ als Terrorist und Patriarch und ‚die Orientalin’ als traditionell und durch Kopf-­‐
tuch, Zwangsheirat und Ehrenmord unterdrückt imaginiert (Dietze, 2009, S. 236-­‐237). 4
Das Kopftuch als Symbol der Unterdrückung Das Kopftuch hat verschiedene Bedeutungen; die Debatten um das Kopftuch beschäftigen sich jedoch nur im geringen Maße mit dieser Diversität. So bedeutet das Kopftuch mehr als nur die Bedeckung der Haare durch ein Stück Stoff. Viele bedeckte Frauen verstehen darunter einen islamisch begründeten Kleidungsstil, dessen Zweck die Bedeckung aller Körperteile bis auf die Hände, die Füße und das Gesicht beinhaltet (Brown, 2009, S. 438). Über die Beschaffenheit des Kopftuches gibt der Koran keine eindeutigen Hinweise, daher bildeten sich diverse Formen der Bedeckung heraus. Innerhalb der Mehrheitsgesellschaft, die von Rommelspacher (1995, S.159) als „Domi-­‐
nanzkultur“ bewertet wurde, wird das Kopftuch als Symbol islamischer Religiosität, als Ausdruck einer spezifischen Zugehörigkeit oder als Sinnbild eines patriarchalen Ge-­‐
schlechterverhältnisses gesehen (Rommelspacher, 2007, S. 249). Diese verkürzten Bedeu-­‐
tungen werden durch eine hegemoniale Position zugeschrieben, welche das Kopftuch als Gefäß imaginiert und mit eigenen Bedeutungen füllt. Die unterschiedlichen Positionen und Perspektiven der bedeckten Frauen werden unsichtbar gemacht und ihre Stimmen werden nicht gehört. Dies lässt sich auf die den Diskursen innewohnende Machtasym-­‐
Hucke: „Wenn ihr mir die Freiheit nehmt, mich zu verschleiern, unterdrückt ihr mich“ „forsch!“ – Studentisches Online-­‐Journal der Universität Oldenburg 2/2015 WISSENSCHAFTLICHE ARTIKEL 13 metrie zwischen der marginalisierten Position der bedeckten Frauen und der hegemonia-­‐
len Position der Angehörigen der Dominanzkultur zurückführen. 5
Signifikante Stereotypisierungen anhand beispielhafter Aus-­‐
züge der EMMA Dieser Artikel beschränkt sich auf die Zeitschrift EMMA, einem landesweit und langjährig erscheinenden Printmedium mit feministischen Selbstverständnis, welches von Beginn an ein zwischen feministischen Gruppen umstrittenes Projekt war. Im Fokus dieses Artikels liegen die vier erschienen Ausgaben aus dem Jahr 2013. Die Auswahl der untersuchten Artikel erfolgte auf der Grundlage der Inhaltsverzeichnisse der jeweiligen Ausgaben. Arti-­‐
kel, die aufgrund ihres Titels eine Thematisierung ‚der Kopftuchdebatte‘ vermuten ließen, wurden ausgewählt. Dies beinhaltete auch Artikel, welche die Gruppierung FEMEN2 oder migrationspolitische Themen behandelten. In den folgenden Abschnitten wird der Frage nachgegangen, inwiefern sich orientalisti-­‐
sche Stereotype in der EMMA wiederfinden. Anhand beispielhafter Auszüge aus den Arti-­‐
keln werden die Artikel unter Verwendung von Saids Theorie des Orientalismus und der Perspektive des Neo-­‐Orientalismus auf signifikante Stereotypisierungen hin überprüft. 5.1 Die imaginierte Differenz zwischen Orient und Okzident und die Unterdrückung der Frau Die von Said (1978) beschriebene konstruierte Differenz zwischen Orient und Okzident spiegelt sich auch in den Artikeln der EMMA wider. In folgenden Auszügen lässt sich er-­‐
kennen, dass der Westen als rational und fortschrittlich und der Orient als irrational und primitiv imaginiert werden. Die Fortschrittlichkeit des Westens wird vor allem durch die Abgrenzung zu der vermeintlichen Unterdrückung der Frau im Orient produziert.
„Sie hat mit ihrem Körpereinsatz gegen die Entrechtung der Frauen durch Burka und Scharia auch einen veritablen Skandal ausgelöst“ („Krieg gegen Frauen“, 2013, S. 33). Der Protest gegen die Verschleierung von Frauen wird thematisiert. Die Art und Weise, in der der oder die Autor_in diese Thematik anspricht, lässt auf die Vorstellung schließen, dass alle Frauen, die eine Burka tragen, entrechtet würden. Der Orient wird als patriarchal und Frauen unterdrückend imaginiert. Die Fortschrittlichkeit des Westens wird hier nicht explizit benannt, aber in Abgrenzung zum als patriarchal imaginierten Orient mitgedacht. „Es ging um Frauen in islamistisch beherrschten Ländern (…). Es ging um Protest gegen die islamischen Fundamentalisten, die im Namen der Religion Frauen zwangsverschleiern, entrechten und ins Haus trei-­‐
ben, freiheitlich gesinnte Männer auf die Knie zwingen und jede Art von Kunst, Kultur und Lebensfreude verbieten“ („Krieg unter Frauen“, 2013, S. 37). 2
FEMEN ist eine zunächst in der Ukraine entstandene, sich als feministisch verstehende Gruppierung. Die Gruppierung und ihre Aktionen (bspw. Protest durch nackte, mit Parolen bemalte Oberkörper) wurden weltweit medial rezipiert. Kritisiert wird die Gruppierung immer wieder für ihr pauschalisierendes Bild von muslimischen Frauen als durch ihre Religion unterdrückt und hilflos. Hucke: „Wenn ihr mir die Freiheit nehmt, mich zu verschleiern, unterdrückt ihr mich“ „forsch!“ – Studentisches Online-­‐Journal der Universität Oldenburg 2/2015 WISSENSCHAFTLICHE ARTIKEL 14 In diesem Auszug wird die von Said beschriebene imaginierte Differenz zwischen Orient und Okzident deutlich. Die Frau wird als durch die Religion und islamische Fundamenta-­‐
listen unterdrückt imaginiert. Auch freiheitlich gesinnte Männer werden beschrieben, die jedoch ebenso unterdrückt werden. Die im Neo-­‐Orientalismus beschriebene Imagination des Mannes als islamischer Terrorist und Patriarch erfährt hier einen Bruch mit der Ein-­‐
führung des freiheitlich gesinnten Mannes. Nach Said wird dieser Bruch jedoch nicht als Widerspruch begriffen, sondern als Beleg für die Irrationalität des Orients. „Das Signal ist eindeutig: Mädchen und Frauen sind nicht wie ihre Brüder und Väter (…), sie sind nicht frei, ihre Körper gehören nicht ihnen, sondern ihren Vätern, Brüdern, Ehemännern. Vor allem aber: Sie sind ‚anders’. Anders als ihre Tischnachbarin in der Schule. Sie sind und bleiben Fremde“ (Schwarzer, 2013, S. 61). Das Kopftuch wird hier als Sinnbild für die Unterdrückung und die Unfreiheit der Frau begriffen. Es dient als Symbol für die Andersartigkeit der Frauen und Mädchen -­‐ sowohl anders im Sinne einer Geschlechterdifferenz, als auch in Abgrenzung zur okzidentalen Frau. Der Mann wird erneut als Patriarch und Unterdrücker vorgestellt. „Ich bin keine Muslimin. Ich komme aus einer islamischen Familie und habe die Nase voll von Religionen an sich. Da gibt es für Frauen zu viele Zwänge. Von meinen Einstellungen komme ich dem Christentum sehr nahe“ (Karpa, 2013, S. 77). Hier wird ein fortschrittliches christliches Selbst durch die Abgrenzung zum Islam, der den Frauen vermeintlich viele Zwänge auferlegt, produziert. Im folgenden Auszug wird dieses positive Selbst erneut produziert. Der Westen wird als emanzipiert und fortschritt-­‐
lich im Antagonismus zum Orient gedacht. „Mit dieser Art falscher Toleranz lassen wir nicht nur unsere (…) Werte der Gleichheit und Emanzipation, sondern auch die muslimischen Kinder im Stich: sowohl die verschleierten Mädchen, die sich dem elterli-­‐
chen Gebot beugen müssen, als auch die unverschleierten – die von den artigen Mädchen als unartig, ja sündig beschimpft werden“ (Schwarzer, 2013, S. 61). 5.2 Neo-­‐Orientalismus: Die Konstruktion einer Bedrohung Im Neo-­‐Orientalismus wird eine Bedrohung konstruiert, die sowohl von außen und als auch von innen her wirkt (Dietze, 2009, S. 234). Auch die Perspektive des Neo-­‐
Orientalismus findet sich in den Artikeln der EMMA wieder. „Die Muslime sind in zwei große Gruppen geteilt. Die eine Hälfte hat sich schon immer europäisch und säkular gesehen. Und die andere Hälfte will hier auf dem Ticket der Religionsfreiheit ihre Traditionen le-­‐
ben“ (Schwarzer & Louis, 2013, S. 50). In diesem Auszug lässt sich deutlich die Unterteilung in die guten (sich als europäisch und säkular verstehenden) und die bösen (ihre Traditionen lebenden) Oriental_innen erkennen. Dieser Auszug impliziert die Vorstellung einer Bedrohung des Okzidents im Inneren durch parallele Lebensführungen. Die alltägliche Präsenz christlicher Traditionen im Westen wird verschwiegen. Die beiden folgenden Auszüge spitzen die vorherige Per-­‐
spektive durch die Imagination einer massiven Bedrohung des Okzidents durch Is-­‐
lamist_innen im Inneren, die die Religionsfreiheit und das Kopftuch nutzen, um ihre Ide-­‐
ologie und Politik durchzusetzen, zu.
„Nicht zufällig steht das Kopftuch auf Platz 1 der Agenda der Islamisten. Schon lange haben sie gelernt, auf der Klaviatur der Freiheiten eines Rechtsstaates behende [sic] zu spielen und so im Namen von ‚Toleranz’ und ‚Glaubensfreiheit’ ihre ideologischen Interessen durchzusetzen“ (Schwarzer, 2013, S. 61). Hucke: „Wenn ihr mir die Freiheit nehmt, mich zu verschleiern, unterdrückt ihr mich“ „forsch!“ – Studentisches Online-­‐Journal der Universität Oldenburg 2/2015 WISSENSCHAFTLICHE ARTIKEL 15 „Die zirka vier Millionen in Deutschland lebenden Musliminnen und Muslime interpretieren die Sharia unterschiedlich […]. Für die AlevitInnen […] gilt unabhängig von ihrer möglichen inneren Glaubenshal-­‐
tung, dass sie nicht nach Sharia-­‐Normen leben und auch nicht leben wollen und oftmals froh sind, in Deutschland der religiösen Fremdbestimmung zu entkommen. Doch eine Minderheit von Fanatikern träumt von der totalen Islamisierung Europas und damit der mittelfristigen Einführung der Sharia: von der Kopftuchpflicht bis zur Anwendung von Körperstrafen“ (Breuer, 2013, S. 80). Breuer zeichnet ein Bedrohungsszenario, in welchem mittelfristig die demokratischen Gesetze außer Kraft gesetzt werden, um die Sharia einzuführen. Im folgenden Auszug wird von Schwarzer und Louis (2013, S. 50-­‐51) die Bedrohung von außen entworfen. Das Kopftuch wird hier als politisches Symbol und als Zeichen der Macht begriffen und die persönliche Entscheidung der einzelnen Person für das Tragen eines Kopftuches unsicht-­‐
bar gemacht. „Mitte der 80er kam ich dann in Köln zum ersten Mal an einer Demo vorbei, wo Frauen ein Schild hoch-­‐
hielten: ‚Mein Kopftuch ist meine Ehre!’ Wenn bestimmte Gruppen sich heute nicht auf unsere Gesell-­‐
schaft einlassen, dann muss man ganz klar sagen: Das ist von bestimmten Kreisen, nämlich dem politi-­‐
schen Islam, genauso gewollt! Die wollen in den westlichen europäischen Ländern ein ‚Bollwerk’ errichten – und sie wollen das Kopftuch als Zeichen ihrer Macht und ihres Einflusses“ (Schwarzer & Louis, 2013, 50-­‐
51). „Das ist eine Minderheit! Aber über deren Rechte wird gesprochen: Warum darf die arme Frau nicht Leh-­‐
rerin werden? Dass es eine Mehrheit der Muslime gibt, die das Kopftuch auch ablehnen, weil es ein be-­‐
stimmtes Gesellschafts-­‐ und Geschlechterbild symbolisiert, davon ist nie die Rede. Hinzu kommt, dass es keine Selbstkritik bei den Muslimen gibt. Wer ausschert, wird nicht öffentlich gestützt. Da halten auch die Liberalen, die eigentlich gegen das Kopftuch sind, mit den Islamverbänden zusammen. Denen ist die ge-­‐
meinsame Front gegen die Deutschen wichtiger als die Kritik in den eigenen Reihen“ (Schwarzer & Louis, 2013, S. 53). Die Debatte um das Kopftuch wird darauf verkürzt, dass es lediglich um die Rechte einer Minderheit geht und die Mehrheit der Muslim_innen das Kopftuch ablehnt. Es wird ein Bedrohungsszenario entworfen, in dem den liberalen Muslim_innen eine gemeinsame Front mit den Islamverbänden gegen die Deutschen wichtiger sei als die Kritik innerhalb der eigenen Glaubensgemeinschaft. 6
Fazit In dem vorherigen Abschnitt wurde deutlich, dass orientalistische Stereotypisierungen innerhalb der EMMA reproduziert und zugespitzt werden. Diese Stereotypisierungen sind zu problematisieren – im besonderen Maße innerhalb eines feministischen Diskurses. Als vermeintliche Essenz des Islams führten die Autor_innen der EMMA das patriarchale Geschlechterverhältnis an. Diese patriarchale Struktur wird als Begründung für die Ab-­‐
lehnung des Islams genutzt und dieser dem partnerschaftlich und gleichberechtigt vorge-­‐
stellten Okzident gegenübergestellt. Diese Polarisierung erweist sich bei genauerer Be-­‐
trachtung als Imagination. Monika Schröttle (2006, S. 27) zog in ihrer Untersuchung zu Gewalt gegen Frauen in Deutschland folgendes Resümee: „Weder lebt die Mehrheit der Frauen türkischer Herkunft in extrem traditionellen und gewaltbelasteten Paarbeziehun-­‐
gen, noch die Mehrheit der Frauen deutscher Herkunft in modernen, gewaltfreien, durch eine gleichwertige Aufgabenteilung geprägte Paarbeziehungen“. Die eigentliche Funktion der Vorstellung des Islams als ein homogenes, rückständiges, patriarchales und gewalttä-­‐
tiges Gebilde ist, in Abgrenzung zu diesem, die Produktion eines modernen okzidentalen Selbst und die scheinbar notwendige Verteidigung westlicher Werte, wie Gleichberechti-­‐
Hucke: „Wenn ihr mir die Freiheit nehmt, mich zu verschleiern, unterdrückt ihr mich“ „forsch!“ – Studentisches Online-­‐Journal der Universität Oldenburg 2/2015 WISSENSCHAFTLICHE ARTIKEL 16 gung und Meinungsfreiheit. Muslimische Frauen werden nicht gehört, es sei denn, sie treten als Erfahrungsexpertinnen auf und bestätigen die Unterdrückung der muslimi-­‐
schen Frau durch den muslimischen Mann (Marx, 2009, S. 110). Ferner dient die Dichotomisierung in Orient und Okzident auch der Selbstaffirmation weißer Feminist_innen und der Wahrung ihrer Interessen (Rommelspacher, 2007, S. 256-­‐
257). Die eigene privilegierte Position und Mittäter_innenschaft innerhalb einer von Ras-­‐
sismus strukturierten Gesellschaft wird, durch die Markierung von Sexismus und Patriar-­‐
chat als orientalisch, negiert (Attia, 2007, S. 14). Die Geschlechterhierarchie wird durch eine ethnische Hierarchie kompensiert (Rommelspacher, 2007, S. 260), denn nicht nur der weiße hegemoniale Mann profitiert von orientalistischen Stereotypen, sondern durch die Vorstellung einer unterdrückten, bedeckten Frau wird auch eine Hegemonie weißer Frauen geschaffen. Die eigene Emanzipation wird aufgewertet, und um sich als Vorrei-­‐
ter_innen einer globalen Frauenbewegung verstehen zu können, werden andere Kulturen als Vorstufe der eigenen gesehen und deren Angleichung wird zur obersten Pflicht (Rommelspacher, 2007, S. 260). Die eigene Emanzipation benötigt die Abgrenzung von der Rückständigkeit der bedeckten Frau (Lutz, 1993). Bedeckten Frauen wird dabei der eigene Subjektstatus abgesprochen, und ihre eigenen Sichtweisen auf das Kopftuch und das eigene Verständnis von Feminismus und Emanzipation werden negiert (Marx, 2009, S. 108-­‐109). 7
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