Grundlagen der Speziellen Relativitätstheorie

Kurzskript:
Grundlagen der Speziellen
Relativitätstheorie Die Lorentztransformation
Sascha Vogel
— Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen,
durch die sie entstanden sind.
Albert Einstein
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Warum Relativitätstheorie?
Stellen Sie sich vor, Sie stehen an einem Bahnhof und ein Zug fährt mit
hoher Geschwindigkeit an Ihnen vorbei. Sind die Gesetze der Physik gleich
für die Person im Zug und außerhalb des Zugs? Kann man die Phänomene,
welche im Zug passieren auch aus der Sichtweise einer Person am Bahnsteig
beschreiben?
Die Spezielle Relativitätstheorie beschäftigt sich zunächst mit dieser
scheinbar sehr einfachen Frage - wie beschreibe ich Physik in sich relativ
zueinander bewegenden Systemen? Da diese Frage allerdings erst trivial und
schon längst beantwortet scheint, bei genauerem Hinschauen jedoch sehr
fundamental für die Moderne Physik ist, wird sie in diesem kurzem Skript
motiviert und in Ansätzen beantwortet.
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vZug = 300 km/h
0 km/h
300 km/h
Abbildung 1.1: Zug, Fahrgast in Ruhe und Beobachter am Bahngleis
Schauen wir uns hierfür erst ein Beispiel an. Wie in Bild 1.1 skizziert
fährt ein Zug mit 300 km/h an einem Beobachter am Bahngleis vorbei. In
der Bahn steht ein Fahrgast. Was sind die Geschwindigkeiten aus Sicht der
jeweiligen Personen? Aus Sicht des Fahrgastes bewegt sich dieser gar nicht,
die Geschwindigkeit beträgt also 0 km/h. Aus Sicht des Beobachters bewegt
sich der Fahrgast mit 300 km/h.
Betrachten wir nun einen im Zug laufenden Fahrgast, sagen wir mit 5
km/h in Fahrtrichtung (vgl. Abbildung 1.2). Nun beobachtet der Fahrgast
eine eigene Geschwindigkeit von 5 km/h, aus Sicht des Beobachters am Bahnsteig bewegt er sich mit 305 km/h. Die Geschwindigkeiten addieren sich.
Nun machen wir das gleiche Experiment, im Zug bewegt sich aber keine Person, sondern es wird ein Lichtstrahl ausgesendet und wir wollen die
Geschwindigkeit des Lichtstrahls messen. Dies ist in Abbildung 1.3 skizziert.
Aus der Erfahrung, die wir in den vorangegangen Beispielen gemacht haben
erwarten wir aus der Sicht des Beobachters eine Geschwindigkeit von c +
300 km/h, wobei wir mit c hier die Lichtgeschwindigkeit bezeichnen. Aus der
Sicht des Fahrgastes sollte der Lichtstrahl die Geschwindigkeit c haben.
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KAPITEL 1. WARUM RELATIVITÄTSTHEORIE?
vZug = 300 km/h
vPerson = 5 km/h
5 km/h
305 km/h
Abbildung 1.2: Zug, Fahrgast in Ruhe und Beobachter am Bahngleis
vZug = 300 km/h
c
c
Abbildung 1.3: Zug, ausgesandter Lichtstrahl und Beobachter am Bahngleis
Doch was wir tatsächlich messen ist, dass die Geschwindigkeit aus beiden
Systemen genau gleich gemessen wird und exakt die Lichtgeschwindigkeit c
beträgt! Dies ist zunächst erstmal sehr unerwartet und sollte genauer betrachtet werden.
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y
y
v
System S
System S’
x
x
Abbildung 1.4: Die sich relativ zueinander bewegenden Systeme S und S’
Abstrahieren wir das Problem etwas. Im Folgenden wollen wir von zwei
Systemen ausgehen: S, das sogenannte Ruhesystem und S’, das sogenannte
bewegte System (vgl. Abbildung 1.4). Hier muss auf jeden Fall angemerkt
werden, dass diese Sichtweise nicht absolut ist. Auch wenn wir auf der Erde
scheinbar ruhen, bewegen wir uns doch mit rund 30 km/s um die Sonne.
Und auch die Sonne bewegt sich mit ca. 240 km/s um das Zentrum unserer
Galaxie. (Experimentelle) Versuche ein absolutes Ruhesystem zu finden
(den “Äther”) scheiterten und waren unter anderem Anlass sich mit den
folgenden Fragestellungen zu befassen.
Übung: Finden Sie einige Beispiele aus der Lebenswelt von
Schülerinnen und Schülern, in denen man zwei sich relativ zueinander bewegte Systeme beschreibt.
Nehmen wir nun an, dass sich S’ mit einer Geschwindigkeit v relativ zum
System S bewegt. Um das Ganze etwas zu vereinfachen, nehmen wir an,
dass sich die Bewegung ausschliesslich in x-Richtung abspielt und y und z
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KAPITEL 1. WARUM RELATIVITÄTSTHEORIE?
vollkommen unberührt bleiben. Selbstverständlich kann die Ableitung auch
vollständig dreidimensional durchgeführt werden, für den Einstieg ist es
jedoch einfacher sich das Problem in einer Richtung zu verdeutlichen.
Übung: Nachdem Sie den Ansatz in eine Richtung verstanden haben,
versuchen Sie die Rechnung in mehreren Dimensionen.
Wollen wir nun einen Punkt in S’ betrachtet aus S beschreiben, müssen
wir die Koordinaten neu berechnen. In der Klassischen Mechanik wird dieses
Problem durch die Galilei-Transformation gelöst, welche auch für viele Jahre
erfolgreich angewendet wurde. Die Gleichungen sehen dann folgendermaßen
aus:
x0 = x − vt
(1.1)
y0 = y
(1.2)
z0 = z
(1.3)
t0 = t
(1.4)
Es scheint zunächst überflüssig die Zeit explizit zu erwähnen, wir wollen
sie aber für unseren allgemeinen Ansatz mitbetrachten. Auch wenn diese
Transformationen jahrhundertelang wunderbar in der Klassischen Mechanik
funktioniert haben, haben sie doch zwei Probleme.
1. Es sind theoretisch unendliche Geschwindigkeiten möglich.
2. Diese Transformationen funktionieren nicht in der Elektrodynamik.
Schauen wir uns zunächst den ersten Punkt genauer an. Stellen wir
uns vor, dass wir am Bahngleis stehen und ein Zug mit 300 km/h fährt
an uns vorbei. Dieser hat zu uns eine Relativgeschwindigkeit von 300
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km/h. Wenn sich nun ein etwas kleinerer Zug in dem Zug in die gleiche
Richtung bewegt, sagen wir auch mit 300 km/h, dann hat dieser eine
Relativgeschwindigkeit zum Bahngleis von 600 km/h. Dieses Spiel kann man
nun beliebig lang durchführen und abgesehen von bautechnischen Problemen
soviele Züge ineinander fahren zu lassen, gibt es keine Grenze. Man kann
also Beispiele konstruieren mit theoretisch unendlichen Geschwindigkeiten.
Dies scheint erstmal kein Problem zu sein, steht allerdings in Widerspruch
zu experimentellen Beobachtungen, zum Beispiel an Teilchenbeschleunigern
oder auch in der Astrophysik. Hier ist insbesondere das Michelson-Morley
Experiment zu nennen, eine anschauliche Erklärung hierzu finden Sie in den
Literaturempfehlungen auf der Webseite zur Vorlesung.
Der zweite Punkt ist historisch noch fundamentaler und motivierte
auch Einsteins Arbeit 1905 “Zur Elektrodynamik bewegter Körper”,
die als Grundlage der Speziellen Relativitätstheorie gilt. Für die MaxwellGleichungen, welche schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts experimentell hervorragend getestet waren, funktionierte die Galilei-Transformation schlicht
nicht. Für die Klassische Mechanik jedoch war die Galilei-Transformation
genauso getestet und beschrieb die experimentellen Beobachtungen. Dies veranlasste Einstein dazu, sich grundlegend mit diesem Problem zu beschäftigen.
Hierfür wurden 2 Postulate aufgestellt.
1. Alle Inertialsysteme sind zur Beschreibung physikalischer Probleme
gleichberechtigt.
2. Die Lichtgeschwindigkeit ist in jedem Inertialsystem gleich.
Was ist also ein Inertialsystem?
Ein Inertialsystem ist ein Bezugssystem, in dem die Bewegungsgleichungen forminvariant sind. Anders ausgedrückt - Inertialsysteme bewegen sich
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KAPITEL 1. WARUM RELATIVITÄTSTHEORIE?
geradlinig und gleichförmig relativ zueinander. Man kann an der Physik nicht
unterscheiden, welches System sich gerade bewegt.
Als Beispiel soll wieder der Zug dienen. Stellen Sie sich vor, dass Sie in
einem Zug mit 300 km/h reisen. Eigentlich ist es doch sehr verwunderlich,
dass man in Ruhe seinen Kaffee trinken kann, obwohl sich dieser auch mit
300 km/h bewegt. Da Sie aber die gleiche Geschwindigkeit haben, merken
Sie nicht, dass sich der Kaffee bewegt - die Physik ist genau die selbe, als
wenn Sie im Café sitzen. Anders ausgedrückt - wenn Sie sich geradlinig
gleichförmig bewegen können Sie keinen Unterschied in der Physik feststellen
im Vergleich zum sogenannten Ruhesystem.
Die Unterschiede zwischen den Systemen merken Sie erst, wenn die Systeme
beschleunigen oder abbremsen - dies kann man sich wieder hervorragend am
Beispiel Kaffee verdeutlichen.
Übung: Konstruieren Sie andere Beispiele, insbesondere aus der Lebenswelt von Schülerinnen und Schülern, an denen man die NichtUnterscheidbarkeit der Physik in Inertialsystemen anschaulich machen
kann.
Das zweite Postulat ist eine Folge aus experimentellen Beobachtungen,
hier auch insbesondere wieder aus dem Michelson-Morley-Experiment. Dies
ist zunächst sehr kontra-intuitiv und verwunderte auch die damalige Fachwelt. Anschaulich gesprochen bedeutet dies, dass Sie die Lichtgeschwindigkeit
am Bahngleis messen können und es keinen Unterschied macht ob sich die
Lichtquelle im sich bewegenden Zug befindet oder direkt neben Ihnen am
Gleis. Die Auswirkungen schauen wir uns nun im Folgenden an.
Wie konkret muss nun die Transformation aussehen, welche die beiden
Postulate einhält?
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Aus dem ersten Postulat folgt, dass es sich um eine lineare Transformation
handeln muss, da man sonst die Physik in den Bezugssysteme unterscheiden
könnte.
Übung: Warum gilt diese Aussage? Diskutieren Sie mit ihren Mitstudierenden.
Der allgemeinste Ansatz, den man wählen kann ist folgender:
x0 = Ax + Bt
(1.5)
y0 = y
(1.6)
z0 = z
(1.7)
t0 = Cx + Dt
(1.8)
Hier ist insbesondere die letzte Gleichung bemerkenswert, da wir die Zeit
komplett gleichberechtigt mitbetrachten.
Aus Postulat 2 wissen wir noch mehr. Wenn sich die Lichtgeschwindigkeit in jedem Inertialsystem gleich ausbreitet, bedeutet dies, dass der Betrag
gleich ist, jedoch auch die Ausbreitung in alle Richtungen. Das heisst Licht
breitet sich isotrop aus - eine Kugelwelle sieht also in beiden Systemen folgendermaßen aus:
x2 + y 2 + z 2 = c2 t2
(1.9)
x02 + y 02 + z 02 = c2 t02
(1.10)
Hier ist c die Lichtgeschwindigkeit und nach Postulat 2 in beiden Systemen gleich. Diese beiden Gleichungen kann man gleichsetzen und erhält:
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KAPITEL 1. WARUM RELATIVITÄTSTHEORIE?
x2 + y 2 + z 2 − c2 t2 = x02 + y 02 + z 02 − c2 t02
(1.11)
Mit y 0 = y und z 0 = z folgt:
x2 − c2 t2 = x02 − c2 t02
(1.12)
Hier setzen wir nun den allgemeinen Ansatz ein, den wir in 1.5 bis 1.8
gemacht haben und erhalten:
x2 − c2 t2 = (Ax + Bt)2 − c2 (Cx + Dt)2
(1.13)
Mit Hilfe der binomischen Formeln und nach sortieren der Termine erhalten wir (selbst rechnen!):
x2 (A2 − c2 C 2 − 1) + xt(2AB − 2c2 CD) + t2 (B 2 − c2 D2 + c2 ) = 0
(1.14)
Diese Gleichungen müssen nun für alle Orte und Zeiten erfüllt sein, dass
heißt für alle x und t gelten. Dies kann nur erfüllt sein, wenn alle Terme in
den Klammern verschwinden. Konkret heißt das:
A2 − c2 C 2 − 1 = 0
(1.15)
2AB − 2c2 CD = 0
(1.16)
B 2 − c2 D 2 + c2 = 0
(1.17)
Jetzt haben wir 3 Gleichungen und 4 Unbekannte, bisher ist es also nicht
lösbar. Wir brauchen noch eine Gleichung um das Gleichungssystem zu schließen.
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Übung: Bevor wir fortfahren, denken Sie selbst kurz nach - welche
Gleichung kann man nutzen um das System zu schließen?
Die gesuchte Gleichung findet sich, wenn man die Ursprünge der Systeme
betrachtet - bei Überlappung gilt in S’: x0 = 0, in S gilt: x = vt. Wenn man
dies in den allgemeinen Ansatz einsetzt, folgt:
0 = Avt + Bt
B = −Av
(1.18)
(1.19)
Nun haben wir 4 Gleichungen für 4 Unbekannte, man kann das System
also lösen.
Übung: Lösen Sie dieses Gleichungssystem und finden Sie die Ausdrücke für A, B, C und D. Es wirkt auf den ersten Blick abschreckend,
ist aber ohne größere Probleme zu lösen.
Nachdem Sie das Gleichungssystem gelöst haben, erhalten wir die neue
Transformation, welche als die Lorentztransformation bekannt ist:
1
x0 = q
1−
(x − vt)
(1.20)
v2
c2
y0 = y
(1.21)
z0 = z
(1.22)
1
t0 = q
1−
v2
c2
Mit den üblichen Abkürzungen
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v
− 2x + t
c
(1.23)
KAPITEL 1. WARUM RELATIVITÄTSTHEORIE?
β=
v
c
(1.24)
und
1
γ=p
1 − β2
(1.25)
folgt dann die Lorentztransformation als:
x0 = γ (x − vt)
(1.26)
y0 = y
(1.27)
z0 = z
(1.28)
t0
β
= γ − x+t
c
(1.29)
Lassen Sie uns kurz überlegen was dies bedeutet:
1. Die absolute Zeit ist im Rahmen dieser Überlegungen nicht mehr gültig.
Dies wird weitreichende Konsequenzen haben.
2. Für v c, d.h. β 1 gilt x0 = x − vt und t’ = t. Die Lorentztransformation geht also für kleine Geschwindigkeiten in die Galileitransformation über. Dies erklärt, warum diese in der Klassischen Mechanik so
gut funktionieren und man im Alltag die Galilei-Transformation ohne
Probleme nutzen kann.
3. Wenn v größer als c wird, kann man die Lorentztransformation nicht
mehr sinnvoll nutzen, da wir imaginäre Terme bekommen.
Die genauen (und vor allem weitreichenden) Konsequenzen dieser Beobachtungen werden im nächsten Kapitel diskutiert.
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