C hristian Tiede | Predigt zum ge m einsam en G ottesdienst am Reform ationstag 2015 St. M ichael Bautzen Matthäus 5, 3-10 „Selig sind, die arm sind im Geist; denn ihrer ist das Himmelreich.“ Liebe Gemeinde, so heißt es gleich am Beginn des Evangeliums für den Reformationstag. Die Seligpreisungen aus der Bergpredigt Jesu sind einer der bekanntesten Texte aus dem Neuen Testament. Man könnte sie das Hohelied der Behutsamkeit nennen auf der Suche nach einem gelingenden Leben. Denn sie üben sich in leisen aber gleichwohl klaren Tönen: die Armen im Geist werden besungen. Die Sanftmütigen. Die Barmherzigen. Die Friedfertigen. Sie werden Kinder Gottes heißen. Da erscheint es geradezu paradox, dass die Erkennungsmelodie des Reformationstages mit einem revolutionären Pathos daherkommt, in dessen Text die Waffen klirren, und dessen Reihen fest geschlossen sind: „Ein feste Burg ist unser Gott, ein gute Wehr und Waffen.“ Ein feste Burg: da denkt man an drinnen und draußen. An die Abwehr der Feinde an ihren Mauern. An Sicherheit in einer als bedrohlich empfundenen Umwelt, die voll Teufeln ist. An die Möglichkeit, die Brücke hochzuziehen und das Tor zu schließen. Daran, dass ein Fremder erst anklopfen muss und ob er hereingelassen wird, ist nicht gewiss. Es ist das Wesen einer Burg, dass sie machtvoll erscheint, dass ihre Mauern fest gefügt sind und dass man schon von Weitem vor ihr zurückschreckt. Ein feste Burg: das sind natürlich Lebensentwürfe, die Sicherheit gewähren. Das sind Traditionen, in denen jemand aufwächst und innerhalb derer sich das eigene Leben bewegt. Es ist der Glaube, der festen Halt gewähren kann. Der Sicherheit andeutet, weil er Antworten weiß auf das, was Gut ist und Böse, der eine Erzählung davon hat, wie das Leben bei Gott gelingen kann. Selig sind, die arm sind im Geist. Was heißt das ist am Reformationstag? Wie ist das mit den Mauern, die so fest sind in der Burg? Das Jahr 2015 wird wahrscheinlich als das Jahr im Gedächtnis bleiben, in dem Mauern gebröckelt haben. In dem wir nicht mehr die Augen verschließen konnten, vor den Konflikten in dieser Welt; weil sich Menschen auf den Weg gemacht haben und einen Weg gefunden haben durch die Mauern. Es werden die Bilder im Gedächtnis bleiben, von unsäglichen Strapazen, welche Menschen auf sich genommen haben, bevor sie plötzlich vor unserer Tür standen. 1 C hristian Tiede | Predigt zum ge m einsam en G ottesdienst am Reform ationstag 2015 St. M ichael Bautzen Vielleicht bleibt das Jahr auch im Gedächtnis als das Jahr, in dem sich so Viele engagiert haben: um die Menschen willkommen zu heißen, die nach langer Odyssee hier angekommen sind. Die geholfen haben, nicht, weil es von ihnen verlangt wurde, sondern aus Barmherzigkeit, voller Sanftmut und weil sie davon überzeugt waren, dass Menschen aus unterschiedlichen Ländern, aus unterschiedlichen Kulturen und mit unterschiedlichen Religionen friedlich miteinander leben können. Die geholfen haben, weil sie Menschen gesehen haben und nicht „Wirtschaftsflüchtlinge“ oder „Scheinasylanten“ oder gar „Asylbetrüger“. Anderseits wird das Jahr 2015 wohl auch im Gedächtnis bleiben, als das Jahr, in dem öffentliche Sprache verroht ist, in dem Grenzen gefallen sind, die bisher als selbstverständlich galten: Grenzen des menschlichen Anstandes. Grenzen welche die Würde anderer Menschen gewähren sollen. Mit welcher Verachtung Menschen öffentlich an den Pranger gestellt wurden und werden, weil man sie verantwortlich macht für was auch immer, ist erschreckend. Mit wie viel Hohn, mit welcher Brutalität abweichende Meinungen überzogen werden, mit welcher Wut gleichzeitig behauptet wird, die eigene Meinung werde unterdrückt, macht sprachlos. Mit welchem Hochmut erklärt wird, das christliche Abendland zu retten, und sich im selben Atemzug nicht darum zu scheren, dass ein Text wie die Seligpreisungen zu den christlichen Urtexten gehören, ist schon ein starkes Stück. Selig sind, die arm sind im Geist. Selig sind die Sanftmütigen. Selig sind die Barmherzigen. Selig sind die Friedfertigen. Belächelt wurden die Seligpreisungen oft genug. Der Altbundekanzler Helmut Schmidt hat einmal gesagt, man könne mit ihnen keine Politik machen. Ist es jetzt so, dass ihre Sprache, ihre Sanftmut, ihre Behutsamkeit den schrillen Tönen zum Opfer gefallen ist? Bedarf es also eher einer festen Burg, bedarf es gewissermaßen einer angemessenen rhetorischen Waffenrüstung, um deutlich gehört zu werden? Um öffentlich mithalten zu können? Und um in aller Klarheit deutlich zu machen, worin die christliche Botschaft besteht? Die Armen im Geist. Das meint nicht etwa eine besondere Schlichtheit des Denkens. Oder eine besonders ausgeprägte - und mitunter als christliche Tugend angenommene Zurückhaltung bei wichtigen gesellschaftlichen Debatten. Im griechischen Wort für Geist „Pneuma“ - steckt das gleiche Wort welches wir verwenden, wenn es im Deutschen um das Erzeugen von Luftdruck geht. Früher hat man gesagt, am Fahrrad ist der Pneu geplatzt, wenn man zu viel Druck auf den Reifen gelegt hat. „Lass mal Luft ab“, sagen wir, wenn jemand sich nicht so aufblähen soll. Auf allen Seiten Luft abzulassen und nicht permanent unter Hochdruck aufeinander einzureden, ist enorm wichtig. Denn wir müssen uns nicht aufblasen. 2 C hristian Tiede | Predigt zum ge m einsam en G ottesdienst am Reform ationstag 2015 St. M ichael Bautzen Die Grunderkenntnis Martin Luthers ist das, was wir die Rechtfertigung des Menschen nennen. Damit drücken wir zum einen aus, dass es uns als Menschen nicht gelingen wird, uns so aufzublasen, dass wir damit irgendetwas vor Gott bewirken. Die Luft ist raus. Wir sind auf Gottes Gnade angewiesen, darauf, dass er uns nicht aufbläst sondern seinen Geist einhaucht und uns so wieder aufrichtet. Anderseits dürfen wir uns gewiss sein, dass Gott uns aufrichten wird, dass wir vor Gott immer aufrecht dastehen. Das ist unsere sichere Burg. Es ist eine andere Paradoxie, dass es gerade ein muslimischer Schriftsteller ist, dem es wie keinem anderen gelingt, das christliche Abendland zu erklären, der seine Bewunderung (muss man sagen: trotz allem?) aufschreibt für die christliche Bildsprache, für die abendländische christliche Kultur. Der Deutsch-Iraner Navid Kermani hat in der vergangenen Woche eine tief berührende und hoch aktuelle Rede gehalten, als ihm der Friedenspreis des deutschen Buchhandels verliehen wurde. Er hat davon gesprochen, dass sich die Liebe zur eigenen Kultur vor allem in der Selbstkritik erweist, im Hadern an der eigenen Kultur und im Zweifel. Lieben kann man nur den anderen, die andere Kultur, den anderen Menschen. Die Fähigkeit zur Kritik an der eigenen Gemeinschaft und die Verteidigung der anderen Gemeinschaft aber, ist der Maßstab jeder Intellektualität. Auch das hat mit Rechtfertigung zu tun: wenn wir es nicht nötig haben, uns selbst ins rechte Licht zu rücken, sind wir umso freier, andere Menschen in dieses Licht zu rücken. Selig sind, die arm sind im Geist. Und dann: Selig sind die Sanftmütigen. Selig sind die Barmherzigen. Selig sind die Friedfertigen. Amen 3
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