Jessica Bauer Thomas Mann und Stefan Zweig X Epubli Verlag GmbH Berlin Dezember 2015 © Autorenfoto Stefan Zweig: mit freundlicher Genehmigung des Stefan Zweig Centre Salzburg. Inhalt: I. Seite: Einleitung ..................................................................................... 5 1. Exil, Emigration, Exilerfahrung und Exilliteratur ...................... 12 2. Forschungsstand.............................................................................. 23 3. Vorgehensweise und Methode ....................................................... 31 II. Die kulturelle Prägung und die Weltauffassung .......................... 48 1. Thomas Mann: die Prägung durch das Kaiserreich ................... 48 1.1Die Zeit der machtgeschützten Innerlichkeit ............................... 48 1.2Der Erste Weltkrieg ........................................................................ 56 1.3Die „Betrachtungen eines Unpolitischen ...................................... 64 1.4Die politischen Ansichten in der Weimarer Republik .............. 78 1.4.1 Die politische Katharsis und Wandlung zum Demokraten78 1.5„Von deutscher Republik“ (1922) ................................................. 94 1.6Belletristische Werke der 1920er Jahre: „Der Zauberberg“ (1924) .............................................................................................. 102 1.7Thomas Mann in den Jahren 1925-1930 .................................... 112 2. Stefan Zweig: Der österreichisch-ungarische Vielvölkerstaat . 122 2.1„Die Welt der Sicherheit .............................................................. 122 2.2„Die Welt der Sicherheit“: ein verklärtes Weltbild? Die Kritik am Weltbild Zweigs ...................................................................... 135 2.3Stefan Zweig als unpolitischer Autor…………………………..145 2.4Die jüdische Lebenserfahrungswelt und die Negierung des Antisemitismus…………………………………………………..152 2.5Der Erste Weltkrieg ...................................................................... 161 2.6Salzburg ......................................................................................... 168 2 III. Die erste Phase des Exils: das Dasein auf eine neue Basis stellen ................................................................................................................... 178 1. Thomas Mann 1933-1938: Südfrankreich und die Schweiz ..... 178 1.1Der Weg in das Exil ...................................................................... 178 1.2Südfrankreich: Sanary-sur-Mer ................................................. 192 1.3Das Exil in der Schweiz: Küsnacht ............................................. 197 1.4Das Bekenntnis zur Emigration................................................... 202 1.5Die Beziehungen zu den USA ....................................................... 208 1.6Die familiäre Situation .................................................................. 219 2. Stefan Zweig 1933-1940: London ................................................ 224 2.1Der Weg in das Exil ...................................................................... 224 2.2Die Exilsituation: London ............................................................ 236 2.3Das Exil im Exil ............................................................................. 246 2.4Die familiäre Situation .................................................................. 253 2.5Belletristik der 1930er Jahre: Schreiben vor dem Exilhintergrund ............................................................................. 256 IV. Die zweite Phase des Exils: die Abkehr von Europa .................... 264 1. Thomas Mann 1938-1945: Princeton und Pacific Palisades ..... 264 1.1Die privilegierte Stellung: der Repräsentant der Exilschriftsteller ......................................................................................................... 264 1.2Princeton ........................................................................................ 269 1.3Pacific Palisades ............................................................................ 272 1.4Amerikanisierung und Akkulturation ........................................ 278 1.5Das literarische Wirken: die Umsetzung der Exilerfahrung in das belletristische Werk ............................................................... 288 3 2. Stefan Zweig 1940-1942: USA und Südamerika………………293 2.1New York - Rio de Janeiro- New York- Petrópolis ................... 293 2.2Petrópolis ....................................................................................... 305 2.3Die Welt von Gestern als Exilautobiographie.............................. 311 2.4Der Freitod im Exil ....................................................................... 317 V. Die Briefkorrespondenz zwischen Thomas Mann und Stefan Zweig ................................................................................................... 333 VI. Resümee ....................................................................................... 345 VII. Literaturverzeichnis................................................................... 352 1. Zu Thomas Mann..................................................................... 352 1.1Quellen ...................................................................................... 352 1.2Forschungsliteratur ................................................................. 355 2. Zu Stefan Zweig ....................................................................... 362 2.1 Quellen ..................................................................................... 362 2.2 Forschungsliteratur ................................................................ 364 3. Allgemeine Literatur ................................................................ 368 3.1 Quellen ..................................................................................... 368 3.2 Forschungsliteratur ................................................................ 369 4.Internetquellen ........................................................................... 371 4 I. Einleitung Mit der „Machtübernahme“1 Hitlers am 30. Januar 1933 in Deutschland wird eine zwölf Jahre andauernde Diktatur errichtet, die sich auf die Fundamente einer rassistischen und totalitären Ideologie stützt. Die Herrschaft der Nationalsozialisten zerstört die 1918 gegründete und kaum gefestigte Republik, und sie treibt, sofern sie nicht verhaftet, ermordet oder ihrer Existenzen beraubt sind, den Großteil der sich als ihre politische Gegner verstehenden Deutschen ins Exil. Von den Hunderttausenden, die während der Zeit des Nationalsozialismus aus Deutschland flüchten und auswandern, umfasst der Exodus der Kultur mehr als 5.500 Menschen. Etwa die Hälfte von ihnen sind Schriftsteller.2 Der Entschluss, ins Exil3 zu gehen, beinhaltet den Verlust des soziokulturellen, persönlichen und sprachlichen Umfelds. Er erweist sich daher als eine besondere und schwierige Herausforderung für jeden Einzelnen, sich in einem fremden 1 Au h e i deuts he Spra hge rau h is heute ü er iege d der Begriff „Ma htergreifu g“ für die Übertragung der Regierungsgewalt in Deutschland auf die Nationalsozialisten unter Adolf Hitler und die anschließende Umwandlung der Demokratie in eine Diktatur im Jahr 1933 bezeichnet wird, so soll hier der eutralere Begriff „Ma htü er ah e“ s o : „Ma htü ertragu g“, „Ma htü erga e“ e utzt erde , der si h seit de er Jahre teil eise dur hgesetzt hat. Der Begriff „Ma htergreifu g“ wurde in der Zeit des Nationalsozialismus durch die Propaganda der NSDAP geprägt. Er suggeriert, dass die NSDAP dem frei gewählten Parlament und dem von diesem eingesetzten Rechtsstaat die Macht gegen deren Willen ausschließlich mit illegalen Mitteln weggenommen hätte. Der Begriff „Ma htü ertragu g“ erdeutli ht, dass die )usti u g zur Politik der NSDAP i der deutschen Gesellschaft weit verbreitet war und dass vor allem die bürgerlichen Parteien und Institutionen legale Möglichkeiten, eine Ermächtigung zu verhindern, nicht genutzt haben. 2 Vgl. Silke Schulenburg, Verbannt ins Paradies. Die Hintergründe der Flucht deutschsprachiger Autoren ins kalifornische Exil während des Dritten Reiches, in: Silke Schulenburg (Hrsg.), Pacific Palisades: Wege deutschsprachiger Schriftsteller ins kalifornische Exil 1932-1941. Hamburg 2006, S. 8-29 (9). 3 Vgl. zu einer genauen Definition von Exil und Emigration die Ausführungen in Kapitel 3. 5 Land, fern der Heimat – sei es auf dem europäischen Kontinent, in den USA oder Übersee – einen neuen Lebensraum und eine neue Lebensperspektive zu schaffen. Einer der prominentesten Vertreter und Repräsentanten der Schriftsteller im Exil ist Thomas Mann, der kurz nach der „Machtübertragung“ 1933 von einer Vortragsreise nicht nach Deutschland zurückkehrt. Unvorhergesehen4 wählt er das Exil zunächst über einige Zwischenstationen im südfranzösischen Sanary-sur-Mer, Küsnacht in der Schweiz, schließlich in den USA in Princeton und dem kalifornischen Pacific Palisades. Im Jahr 1933 genießt Thomas Mann in Deutschland eine privilegierte Stellung und befindet sich dem Anschein nach auf dem Höhepunkt seines schriftstellerischen Schaffens und Wirkens, nachdem er bereits 1929 mit dem Nobelpreis für seinen Roman Buddenbrooks ausgezeichnet wurde. Thomas Mann ist zunächst nicht bereit, Deutschland zu verlassen; zudem ist er nicht von einer dauerhaften Herrschaft der Nationalsozialisten überzeugt, so dass er den Exilaufenthalt anfangs lediglich als einen schnell vorübergehenden Zustand betrachtet. Einem ähnlichen Schicksal sieht sich der österreichische Autor Stefan Zweig ausgesetzt. Bereits zu Lebzeiten ist er einer der 4 Thomas Mann befindet sich im Februar 1933 in der Schweiz zur Erholung nach einer Vortragsreise, wo er ausdrücklich von seiner Tochter Erika davor gewarnt wird, nicht nach Deutschland zurückzukehren. Nachdem sich die politische Situation infolge des Reichstagsbrands am 27. Februar 1933 entscheidend verändert und eine damit ausgehende Verfolgung von Regimekritikern einsetzt, ist das Leben von Thomas Mann in akuter Gefahr. Resultierend aus diesen Ereignissen wird Mann von seinem Exilschicksal regelrecht überrascht. Vgl. hierzu auch: Angelika Abel, Thomas Mann im Exil. Zum zeitgeschichtlichen Hintergrund der Emigration. München 2003. 6 meistübersetzten Autoren deutscher Sprache weltweit. Werke wie Sternstunden der Menschheit und Marie Antoinette. Bildnis eines mittleren Charakters haben seinen Weltruhm begründet. Im Jahr 1938 wird Zweig mit dem deutschen Einmarsch in Österreich seine Staatsbürgerschaft entzogen. Über einen längeren Aufenthalt in London, von 1933-1940, gelangt er ins Exil nach Brasilien, wo er, von Depressionen heimgesucht, 1942 Suizid begeht. Trotz aller Unterschiede der beiden Charaktere und Lebenswege ist Thomas Mann und Stefan Zweig gemein, dass sie sich, unter anderem aufgrund ihres immensen schriftstellerischen Erfolgs, zu Beginn der nationalsozialistischen Diktatur in Deutschland als Repräsentanten der deutschen Kultur und des deutschen Geisteslebens verstehen. Durch die nationalsozialistische Herrschaft wird der von Mann und Zweig bis dato unbestrittene Anspruch, Träger des deutschen Geisteslebens zu sein, aufgehoben. Zudem gehören beide Autoren derselben Generation an (Mann Jahrgang 1875, Zweig Jahrgang 1881), so dass ihre Sozialisierung vor dem Hintergrund des Wilhelminismus beziehungsweise der österreichisch-ungarischen Monarchie stattfindet und beide von Geburt an eine privilegierte gesellschaftliche Stellung genießen, die durch das Jahr 1933 eine Zäsur erfährt, indem sie mit den Herausforderungen des Exils konfrontiert sind. Eine persönliche Begegnung zwischen Thomas Mann und Stefan Zweig hat im Laufe ihres Lebens weniger als ein Dutzend Mal 7 stattgefunden. Beide Schriftsteller haben jedoch durch einen fast drei Jahrzehnte währenden Briefwechsel, von 1911-1940, miteinander korrespondiert.5 Signifikant am Briefwechsel zwischen Mann und Zweig ist, dass dieser in den ersten zwei Jahrzehnten, von 1911-1933, durch einen unverbindlichen, distanzierten Tonfall charakterisiert ist. Der Briefwechsel der ersten zwei Jahrzehnte beschränkt sich auf den Austausch von Glückwünschen zu aktuellen Publikationen und das Alltagsgeschäft als Schriftsteller findet Erwähnung.6 Die anfängliche Korrespondenz von Mann und Zweig findet nicht auf Augenhöhe statt: Mann tritt als Großschriftsteller auf, der dezent Anteil nimmt am schriftstellerischen Wirken seines jüngeren Kollegen. Bei Zweig hingegen ist eine schwärmerische und devot anmutende Begeisterung gegenüber dem Leben und Werk seines hochverehrten Kollegen festzustellen.7 Mit dem Jahr 1933, dem Beginn des Exils der beiden Literaten, findet eine Veränderung innerhalb des Briefwechsels statt. Die Kommunikation wird auf beiden Seiten verbindlicher und persönlicher. Ausgelöst durch die Konfrontation mit dem Exil nähern sich beide Autoren in ihrem Briefwechsel einander an. Mann und Zweig sind fortan Schicksalsgenossen und tauschen sich innerhalb ihrer Briefkorrespondenz über die schwierigen 5 Erstaunlicherweise ist der Briefwechsel zwischen Thomas Mann und Stefan Zweig von der Literaturwissenschaft weitestgehend unbeachtet geblieben. Vgl. hierzu: Klaus W. Jonas, Stefan Zweig und Thomas Mann: Versuch einer Dokumentation, in: Modern Austrian Literature. Journal of the International Arthur Schnitzler Research Association. Vol. 14, Nos. 3/4, 1981, Special Stefan Zweig Issue, S. 99-135. 6 Vgl. ebd., S. 103. 7 Vgl. ebd., S. 100. 8 Bedingungen des Exildaseins aus, welchen sie ausgesetzt sind und geben teilweise Auskunft über die jeweilige physische Verfassung: Emigration bedingt eine Verschiebung des Gleichgewichts, sie ist eine Gleichgewichtsstörung, weil der einzelne plötzlich nicht mehr dasselbe Gewicht im Sinne der Geltung hat wie vordem; das führt dann epidemisch zu seelischen Verstörungen.8 Durch die Briefkorrespondenz kann eine Verbindung der Lebenswege von Thomas Mann und Stefan Zweig konstatiert werden, die bislang von der Literaturwissenschaft weitestgehend unberücksichtigt geblieben ist. Resultierend daraus lässt sich ein neuer Forschungsansatz in der Beziehung zwischen Mann und Zweig herleiten, der eine neue Perspektive auf die persönliche Beziehung der beiden Schriftsteller zulässt. Zudem kann durch die Interpretation der Briefkorrespondenz nicht nur die persönliche Beziehung von zwei bedeutenden Geistesgrößen des 20. Jahrhunderts dargestellt, sondern auch ein Einblick in die gesamte Tragik des Exildaseins gegeben werden, da sich diese in der Korrespondenz widerspiegelt. Darüber hinaus findet innerhalb des Briefwechsels, durch den Ausnahmezustand der Exilierung und den beide Personen gleichermaßen betreffenden Erlebnishorizont, eine Annäherung 8 Ebd., S. 127, Stefan Zweig in einem Brief an Thomas Mann vom 29. Juli 1940. 9 der Briefpartner statt, wie sie vor der nationalsozialistischen „Machtübernahme“ nicht denkbar gewesen wäre.9 Das Sachbuch soll vornehmlich den Umgang der beiden Literaten mit dem Exil zum Untersuchungsgegenstand haben. Folglich soll der Frage nachgegangen werden, wie sich Thomas Mann und Stefan Zweig den psychischen und physischen Belastungen des Exils stellen und wie sie als Träger des deutschen Geisteslebens mit dem Sprach-, Kultur- und Heimatverlust umgehen. Des Weiteren soll erläutert werden, inwieweit sie – vor dem Hintergrund der Frage, inwiefern eine Akkulturation an das Exilland stattgefunden hat – in der Lage sind, sich in die neuen Lebensverhältnisse des Exils einzugliedern.10 Ferner soll berücksichtigt werden, inwieweit und unter welchen Umständen das schriftstellerische Wirken im Exil fortgeführt werden kann. Zwei verschiedene Charakteristiken im Umgang mit dem Exil sind festzustellen. So scheint Thomas Mann, nach einer anfänglich schwierigen und depressiven Phase, den Herausforderungen des Exils vermehrt gewachsen zu sein. Mann wird während seines Exilaufenthalts in den USA zunehmend politisiert und entwickelt sich, aufgrund seiner politischen Essays und Radioansprachen, zu einem NS-Gegner. 9 Thomas Mann und Stefan Zweig tauschen sich in ihrer Briefkorrespondenz u.a. über Schreibblockaden aus, die im Zuge der Exilierung entstanden sind. 10 „Akkulturatio ist ei u terschiedlich weit gehender Annäherungs- oder Angleichungsprozeß, der aber Personen und Gruppen, die ihn aufgrund von Kulturkontakten mit anderen ethnischen Gruppen dur hlaufe , i ei er separate kulturelle E iste z eläßt“, Friedri h He k a , Eth is he Minderheiten, Volk und Nation. Soziologie inter-ethnischer Beziehungen. Stuttgart 1992, S. 169. 10 Thomas Mann fällt es nicht schwer, sich in den USA einzugewöhnen, und mit seinem Engagement als aktiver Gegner von Nazideutschland kann er seinen Ruhm als Schriftsteller weltweit etablieren und darüber hinaus um einen moralischen Aspekt erweitern. Demgegenüber verlaufen die Exiljahre von Stefan Zweig in eine gegensätzliche Richtung. Er leidet vermehrt unter Depressionen, schreibt und vollendet seine Autobiographie Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers in Brasilien, die man als Abschied von der Welt interpretieren kann. Die Jahre des Exils sind bei Zweig – im Gegensatz zu Mann – von Hoffnungslosigkeit geprägt: Mann glaubt fortwährend an die Möglichkeit der Beendigung der Herrschaft der Nationalsozialisten. Das Sachbuch soll die differente Identitätskonstruktion von Mann und Zweig im Exil untersuchen und vergleichen sowie der Frage nachgehen, worauf sich diese Auseinandersetzung zurückführen lässt. 11 unterschiedliche 1. Exil, Emigration, Exilerfahrung und Exilliteratur In einem ersten Schritt sollen die Begriffe „Exil“, „Emigration“, „Exilliteratur“ und „Exilerfahrung“ definiert werden, da nur aufgrund von einer eindeutig gesicherten Terminologie eine gewinnbringende Untersuchung durchgeführt werden kann. Das lateinische Wort „exilium“ bezeichnet die Abwesenheit eines Menschen oder einer Volksgruppe aus der eigenen Heimat aufgrund dortiger Verbannung, Vertreibung, Ausbürgerung, religiöser oder politischer Verfolgung. Im Unterschied zur Emigration, die den Tatbestand jeglicher Auswanderung umfasst, geht die Erfahrung des Exils stets mit Einschränkungen und Beschneidungen des Individuums einher. Exil ist der unfreiwillige Verlust sprachlicher, sozialer und kultureller Wurzeln.11 Fälschlicherweise wird der Begriff „Exil“ oft synonym mit dem Begriff „Emigration“ gebraucht, der eine freiwillige Auswanderung impliziert. Zudem ist festzustellen, dass das Exil eine historische Erfahrung seit der Antike ist und keine spezifische Erscheinung des Nationalsozialismus darstellt. Dennoch nimmt im 20. Jahrhundert die Flucht ein bislang unbekanntes Ausmaß ein. Klaus Mann macht in seiner Autobiographie Der Wendepunkt darauf aufmerksam, dass eine Nation noch nie so viele literarische 11 Vgl. http://www.woxikon.de/wort/exil.php. 12 Repräsentanten eingebüßt hat wie die deutsche im 20. Jahrhundert.12 Bertolt Brecht weist in seinem Gedicht Die Auswanderung der Dichter auf seine Nachfolge von berühmten exilierten Dichtern wie unter anderen Homer, Dante, Li-Po, Shakespeare und Heine hin.13 Ebenso lehnt Bertolt Brecht in seinem Gedicht Über die Bezeichnung Emigrant den Begriff „Emigrant“ ab, da in diesem der Zwang zur Flucht nicht gegeben ist, wie dies im Exilbegriff der Fall ist: Immer fand ich den Namen falsch, den man uns gab: Emigranten. Das heißt doch Auswanderer. Aber wir Wanderten doch nicht aus, nach freiem Entschluß Wählend ein anderes Land. Wanderten wir doch auch nicht Ein in ein Land, dort zu bleiben, womöglich für immer. Sondern wir flohen. Vertriebene sind wir, Verbannte. Und kein Heim, ein Exil soll das Land sein, das uns da aufnahm.14 12 Vgl. Klaus Mann, Der Wendepunkt. Ein Lebensbericht. Erweiterte Neuausgabe. Frankfurt/Main 2006, S. 406. 13 Bertolt Brecht, Gedichte 1933-1938, in: Gedichte von Bertolt Brecht in einem Band. Frankfurt/Main 1995, S. 495. 14 Bertolt Brecht, Über die Bezeichnung Emigranten, in: Ders., Gesammelte Werke. 8 Bde. Hrsg. v. Elisabeth Hauptmann. Bd. 4: Gedichte. Frankfurt/Main 1967, S. 718. 13 Neben Bertolt Brecht lehnen auch viele andere deutsche Autoren den Terminus „Emigration“ für ihre Flucht aus Deutschland ab, da er droht, ihre schwierige Lebenssituation zu verharmlosen.15 Obwohl zwischen den Begriffen „Exil“ und „Emigration“ differenziert werden muss, sind partielle Überlagerungen möglich. Ausgehend von der Überlegung, dass sich Motive und Lebenspläne ändern können und der Frage, inwieweit man sein Leben außerhalb Deutschlands vorausplanen konnte, können sich die Termini „Exil“ und „Emigration“ überschneiden. Ferner ergibt sich die weitere Lebensplanung häufig erst in direkter Auseinandersetzung mit der Gesellschaft, Kultur und dem Alltag im Ausland.16 Thomas Mann ist der Gruppe der Exilierten zuzuordnen, indem bei ihm der äußere Zwang zur Flucht nach der nationalsozialistischen „Machtübernahme“ 1933 vorhanden ist. Thomas Mann wird von seiner Tochter Erika direkt nach der nationalsozialistischen „Machtübernahme“ ausdrücklich davor gewarnt, nach seiner Vortragsreise in der Schweiz nicht nach Deutschland zurückzukehren, da davon ausgegangen werden musste, dass sein Leben akut bedroht sei.17 15 Vgl. Robert Krause, Lebensgeschichten aus der Fremde. Autobiografien deutschsprachiger emigrierter SchriftstellerInnen als Beispiele literarischer Akkulturation nach 1933. München 2010, S. 14. 16 Vgl. ebd., S. 17. 17 Begleitet ist der Anfang seiner Exilierung von der Vorstellung, schnell wieder nach Deutschland zurückkehren zu können. Dass Thomas Mann jedoch sein restliches Leben im Exil verbringen würde – von dieser Vorstellung ist er zu diesem Zeitpunkt weit entfernt. 14 Für Stefan Zweig hingegen besteht 1933 kein Zwang ins Exil zu gehen, da er – wenngleich eine Durchsuchung seines Hauses auf dem Kapuzinerberg in Salzburg wegen angeblich illegalen Waffenbesitzes stattgefunden hat – zu diesem Zeitpunkt noch nicht von den Nationalsozialisten in Österreich verfolgt wurde. Vielmehr emigriert Zweig im Jahr 1933 nach England, um der sich erst anbahnenden politischen Gefahr zu entkommen und um konzentriert arbeiten zu können. In den Jahren von 1933-1939 kann Zweig, so oft er möchte, ungehindert seine Familie und Freunde in Österreich besuchen. Das eigentliche Exil von Zweig beginnt erst mit der Verfolgung durch die Nationalsozialisten, dem Entzug seiner österreichischen Staatsbürgerschaft und mit dem Ausbruch des 2. Weltkriegs, so dass er den Entschluss fasst, nach Südamerika zu exilieren. Stefan Zweig ist, im Unterschied zu Thomas Mann, zunächst in den Jahren von 1934-1939 Emigrant und ab dem Jahr 1939 Exilierter – ein Umstand, weshalb Zweig die verbrachten Jahre in England als „Halbexil“18 bezeichnet hat. In seinen Studien zur Exilliteratur erweitert Hans-Albert Walter die Unterscheidung zwischen Exilierten und Emigranten, indem er zwischen politisch Exilierten und der „rassisch“ bedingten jüdischen Massenemigration differenziert.19 Zudem können die 18 Stefan Zweig, Die Welt von Gestern, S. 443. Vgl. Hans-Albert Walter, Bedrohung und Verfolgung bis 1933. Deutsche Exilliteratur 1933-1950. Darmstadt/Neuwied 1972, S. 197-208. 19 15 Erkenntnisse Walters um folgende Phasen der Exilierung ergänzt werden: So gilt es zunächst einmal, die später unter verschiedenen Bedingungen und mit anderen Resultaten stattfindende jüdische Massenflucht vom eigentlichen Exil zu trennen. Für die verbleibende relativ kleine Zahl der literarisch-künstlerischen Exilanten zeichnen sich sodann zwei Gruppen ab: jener, numerisch stärkere Teil der Exilanten, der aus politischen Gründen unmittelbar nach der Machtergreifung durch Hitler floh; und jene (Spät)Exilanten, die 1939/1940 aus moralischen, künstlerischen und religiösen Gründen aus Deutschland weggingen.20 Thomas Mann und Stefan Zweig gehören der Gruppe der politisch motivierten Exilierten beziehungsweise der Emigranten an.21 Der Entschluss von Thomas Mann, ins Exil zu gehen, ist parallel zu der akuten Lebensgefahr, der er 1933 ausgesetzt ist, ebenfalls politisch motiviert. Mann hat sich bereits in der kritischen Umbruchphase der Weimarer Republik mehr denn je politisch engagiert für die Demokratie und gegen den Nationalsozialismus. Je mehr er sich dabei den politischen Gefahren bewusst wird, die von dem aufkommenden Nationalsozialismus ausgehen, desto stärker entwickelt er sich bereits Ende der 1920er-Jahre zum NS-Gegner.22 Obwohl Mann 20 Alexander Stephan, Die deutsche Exilliteratur 1933-1945. Eine Einführung. München 1979, S. 40. Ale a der Stepha differe ziert hier i ht z is he de Ter i i „E il“ u d „E igratio “. Vgl. hierzu u.a. Die ‘ede o Tho as Ma , „Deuts he A spra he. Ei Appell a die Ver u ft“ a Oktober 1930 in Berlin. 21 22 16 . frühzeitig das gefährliche Potential der nationalsozialistischen Bewegung erkennt, dennoch sieht er diese Bewegung lediglich unter politisch-sozialen Aspekten. Dem Antisemitismus, einem elementaren Bestandteil der nationalsozialistischen Propaganda, schenkt er anfangs keinerlei Beachtung, obwohl seine Ehefrau Katia Mann (geb. Pringsheim) jüdischer Abstammung ist. Vergleichbar mit Thomas Mann nimmt auch Stefan Zweig frühzeitig die Gefahren wahr, die vom aufkeimenden Austrofaschismus ausgehen, so dass sich seine Emigration nach London unter anderem Motivation erklären lässt. auch aufgrund einer politischen 23 Des Weiteren kann unter dem Exilbegriff, laut Elisabeth Bronfen, ein sich Befinden zwischen zwei Kulturen verstanden werden: im Sinne eines dritten Bereichs – zwischen einem ursprünglich verlorenen und einem sekundär erworbenen Ort, zwischen Bekanntem und Fremdem, zwischen einer Vergangenheit, die sich als solche durch den Verlust des Heimatortes als unwiderruflich verloren abzeichnet und einer Zukunft, die auf irgendeine Weise auf das Verlorene Bezug nimmt.24 Nach heutigem Forschungsstand wird das Exil als eine Situation der „kontinuierlichen Identifikationskrise“25 verstanden, welche 23 Vgl. Stefan Zweig, Die Welt von Gestern, S. 427. 24 Elisabeth Bronfen, Entortung und Identität: Ein Thema der modernen Exilliteratur, in: The Germanic Review LXIX Nr. 2 (Spring 1994) , S. 70-78 (71). 25 Hilde Domin, Exilerfahrung – Untersuchungen zur Verhaltenstypik, in: Frankfurter Hefte 29 (1974), S. 185-192 (192). 17 zu einer permanenten Infragestellung des eigenen Lebens zwingt, die die Wahrnehmung und Verarbeitung der Wirklichkeit erschwert. Hierin ist das verbindende Element der Exilanten zu sehen.26 Unter Exilerfahrung versteht man den ganzen Komplex des Exilerlebnisses als einschneidende schriftstellerisch-künstlerische, existentiell-persönliche, berufliche und politische Erfahrung des Autors, die zu einer entfremdeten Identität und zur bleibenden Zerstörung seines bisherigen Lebenszusammenhangs führt.27 Des Weiteren können vom Exil als Realität keine weiteren Rückschlüsse auf die individuelle Reaktion eines Autors auf die Exilierung hergeleitet werden und auch über die jeweiligen Literarisierungen kann keine Aussage getroffen werden. Vielmehr ist es abhängig von der Persönlichkeit des Autors, ob und in welcher Form Exilerfahrungen literarisch umgesetzt werden.28 Schlussfolgernd aus dieser Erkenntnis lässt sich die These aufstellen, dass es im Exil keine allgemeinverbindlichen Kriterien für den literarischen Erfolg oder Misserfolg eines Autors geben kann. Gleichfalls wie für einen Autor, der nicht dem Zustand des Exils oder der Emigration ausgesetzt ist, allgemeingültige Kriterien für eine Erfolg versprechende literarische Produktion zu 26 Vgl. Klaus Ulrich Werner, Dichter-Exil und Dichter-Roman. Studien zur verdeckten Exilthematik in der deutschen Exilliteratur 1933-1945. Frankfurt/Main u.a. 1987, S. 2. 27 Vgl. ebd. Vergleiche hierzu auch eine ausführliche Zusammenfassung in Kapitel 5: Vorgehensweise und Methode. 28 Vgl. Bettina Engelmann, Poetik des Exils. Die Modernität der deutschsprachigen Exilliteratur. Tübingen 2001, S. 5. 18 nennen wären. Vielmehr erscheint die Lebenszäsur Exil und Emigration zu komplex, um aufgrund dieser ernsthafte Aussagen über Mittel zum literarischen Erfolg eines Schriftstellers treffen zu können. Unter Exilliteratur wird seit den 1930er-Jahren die Literatur von Autoren verstanden, die vor Hitler und seinem Regime ins Ausland geflüchtet sind und unter den erschwerten Bedingungen im Exil weiter produzierten.29 Bis in die 1960er-Jahre ging man in der Exilforschung davon aus, dass man unter Exilliteratur nicht nur die Literatur der Jahre 1933-1960 von exilierten Autoren zu fassen hat, sondern mit dem Begriff „Exilliteratur“ verband man auch die Erwartung, dass sich die extreme, existentielle Erfahrung des Exils und die Entstehungsbedingungen dieser Literatur in ähnlicher Form in den Werken niederschlagen sollten.30 Ausgehend von dieser Erwartung waren lange Zeit Texte von großem Interesse, die das Exil thematisieren und zum Beispiel als Zeitroman Auskunft über die Probleme des Exils geben.31 Innerhalb der Exilforschung wurden lange Zeit die Texte vernachlässigt, die fern von der Tagesaktualität zu sein schienen. Die Frage nach transponierter Exilproblematik in solchen Texten, 29 Vgl. Andreas Dybowski, Endstation, Wartesaal oder Schatzkammer für die Zukunft. Die deutsche Exilliteratur und ihre Wirkung und Bewertung in der westdeutschen Nachkriegsrepublik. Frankfurt/Main u.a. 1989, S. 60ff. (Europäische Hochschulschriften: Reihe 1, Deutsche Sprache und Literatur; Bd. 1138). 30 Vgl. Klaus Ulrich Werner, Dichter-Exil und Dichter-Roman, S. 7. 31 Vgl. hierzu u.a. auch: Anna Seghers, Transit. Mit einem Nachwort von Sonja Hilzinger. Berlin 2005 und Klaus Mann, Der Vulkan. Roman unter Emigranten. Mit einem Nachwort von Michael Töteberg. Reinbek bei Hamburg 2006. 19 die Exil und Zeitgeschichte nicht zum Thema haben, blieb lange unberücksichtigt.32 Von elementarer Bedeutung werden in der Exilforschung seit den späten 1980er- und frühen 1990er-Jahren jedoch auch die Texte, die die Exilerfahrung nicht explizit zum Gegenstand haben. Zudem wird untersucht, wie sich in diesen Texten dennoch die Frage nach transponierter Exilproblematik stellt. Ferner wird erforscht, wie sich die Erfahrung des Exils auch auf scheinbar zeitentrückte Texte auswirkte.33 Nach neuestem Erkenntnisstand sind nicht nur die kritische Publizistik oder Zeitromane mit expliziter antifaschistischer Intention literarische Verarbeitungsweisen von Exilerfahrung. Auch historische Romane, scheinbar zeitabgewandte Themen und Stoffe können dem Autor bei der ästhetischen Verarbeitung einer persönlichen Problematik dienen sowie eine verdeckt aktuelle Aussage transportieren.34 Im Gegensatz zu anderen Literaturepochen ist die Exilliteratur nicht von einem bestimmten philosophischen oder künstlerischen Programm bestimmt; die Heterogenität des Exils kommt in einer unterschiedlichen Literaturproduktion zum Ausdruck.35 32 Vgl. Klaus Ulrich Werner, Dichter-Exil und Dichter-Roman, S. IX. Vgl. Wulf Köpke/Michael Winkler (Hrsg.), Exilliteratur 1933-1945. Darmstadt 1989, S. 9. Vgl. Klaus Ulrich Werner, Dichter-Exil und Dichter-Roman, S. 2. 35 Vgl. Simela Delianidou, Transformative – transitäre – transgressive Identitätsmodelle. Autothematische Exilliteratur zwischen Moderne und Postmoderne. Würzburg 2010, S. 18. 33 34 20 Unter Exilliteratur können demnach alle Texte verstanden werden, die von einem exilierten Autor verfasst worden sind, unabhängig von Inhalt und Form.36 Ferner hat Hermand Exilliteratur in drei Gruppen unterteilt: Diese kann demnach eskapistischer, als „ein Konglomerat von kulturbewusst-humanistischer resignierendund aktiv- 37 antifaschistischer Strömungen“ bezeichnet werden. Weder Thomas Mann noch Stefan Zweig haben während ihrer Exilierung Literatur verfasst, die das Exil explizit thematisiert. Während bei Thomas Mann während der Exiljahre auf dem Gebiet der politischen Essayistik eine umfangreiche Auseinandersetzung mit dem Exil und dem Nationalsozialismus stattfindet,38 bleibt diese explizite Auseinandersetzung in seinen belletristischen Werken jedoch vollkommen aus. Thomas Mann ist, nach Hermand, als Verfasser der JosephTetralogie und des Romans Lotte in Weimar zur Gruppe der kulturbewusst-humanistischen Schriftsteller zu zählen, während Stefan Zweig als Verfasser von historischen Biographien, wie unter anderem Maria Stuart und der (Exil-)Autobiographie Die Welt von Gestern, der Gruppe der resignierend-eskapistischen Exilschriftsteller angehört. 36 Vgl. Klaus Ulrich Werner, Dichter-Exil und Dichter-Roman, S. 10. Jost Hermand, Zur deutschen Exilliteratur zwischen 1933 und 1950, in: Theo Buck/Dietrich Steinbach (Hrsg.), Tendenzen der deutschen Literatur zwischen 1918 und 1945. Weimarer Republik. Drittes Reich. Exil. Stuttgart 1985, S. 73-89 zit. nach Simela Delianidou, Transformative – transitäre – transgressive Identitätsmodelle, S. 18. 38 Vgl. Katharina Blaschke, Eine Familie gegen die Diktatur. Die Familie Mann und ihr journalistisches Engagement gegen das nationalsozialistische Deutschland. Marburg 2010, S. 102ff. 37 21 Inwiefern sich bei Thomas Mann und Stefan Zweig die Erfahrung des Exils – wenn nicht explizit, so doch indirekt – in ihren literarischen Werken widerspiegelt, soll anhand der Romane Lotte in Weimar von Mann sowie der Schachnovelle und der (Exil-) Autobiographie von Zweig untersucht werden.39 39 Vgl. hierzu bezüglich Thomas Mann auch: Guy Stern, Exilliteratur: Unterkategorie oder Fehlbezeichnung?, in: Wulf Köpke/Michael Winkler (Hrsg.), Exilliteratur 1933-1945, S. 44-61 und Maria Giebel, Erzählen im Exil. Eine Studie zu Thomas Manns Roman Joseph und seine Brüder. Frankfurt/Main u.a. 2001. Bezüglich Stefan Zweig: Wei Hu, Auf der Suche nach der verlorenen Welt. Die kulturelle und poetische Konstruktion autobiographischer Texte im Exil. Am Beispiel von Stefan Zweig, Heinrich Mann und Alfred Döblin. München 2006. 22 2. Forschungsstand Bislang liegt keine wissenschaftliche Auseinandersetzung vor, die sich mit dem Vergleich der Exiljahre von Thomas Mann und Stefan Zweig beschäftigt. Aufgrund dieser Tatsache erscheint es interessant und lohnend, ein Sachbuch zu verfassen, das den Vergleich der Auseinandersetzung mit dem Exil der beiden Autoren zum Untersuchungsgegenstand hat. Eine zentrale Bedeutung wird dem Briefwechsel zwischen Thomas Mann und Stefan Zweig zukommen, der sich auf den Zeitraum von 1911-1940 erstreckt und bislang von der gängigen Literaturwissenschaft weitestgehend unbeachtet geblieben ist.40 Ungeachtet der Tatsache, dass Thomas Mann und Stefan Zweig engeren Kontakt pflegten, als bislang von der gängigen Literaturwissenschaft angenommen, kann anhand des Briefwechsels ein Aufschluss über die Exilsituation der beiden Autoren gegeben werden. Darüber hinaus kann ein direkter Vergleich der beiden Lebenswege und der Identitätskonstruktion im Exil hergestellt werden. Innerhalb des Briefwechsels von Mann und Zweig ist zu berücksichtigen, dass die Briefe Zweigs, die den Zeitraum von 1911-1933 betreffen, größtenteils verschollen sind. Resultierend daraus können lediglich aus den vorhandenen Antwortbriefen von 40 Vgl. Klaus W. Jonas, Stefan Zweig und Thomas Mann: Versuch einer Dokumentation, S. 99-135. 23 Thomas Mann an Zweig Rückschlüsse auf die verschollenen Briefe Zweigs gezogen werden. Die Briefe, die den Zeitraum der Exilierung betreffen, sind weitestgehend erhalten, so dass durch diese ein ausreichender Überblick der Jahre 1933-1940 gewährleistet ist. Innerhalb der Thomas-Mann-Forschung liegt eine umfangreiche Auseinandersetzung mit den Exiljahren vor. Angesichts der Fülle an wissenschaftlichen Auseinandersetzungen soll hier lediglich die Forschungsliteratur erwähnt werden, die für die Arbeit von zentraler Bedeutung sein wird. Schneider-Philipp hat die Literarisierung des Exilerlebnisses im Spätwerk von Thomas Mann explizit zum Gegenstand einer ausführlichen Studie gemacht. In „Überall heimisch und nirgends“41 behandelt sie nicht nur Manns gesamtes spätes Erzählwerk motivgeschichtlich, sondern stellt auch Vergleiche mit dem Frühwerk sowie den Romanen anderer Exilautoren an. Abel beschränkt sich in ihrer Arbeit „Thomas Mann im Exil“42 weitgehend auf die Rekapitulation der Fakten zum Exil Thomas Manns, die sie in zeithistorische Kontexte einordnet. Schöll beschäftigt sich in ihrer Studie „Joseph im Exil“43 mit der Identitätskonstruktion in Thomas Manns Exiltagebüchern und briefen sowie im Roman „Joseph und seine Brüder“. Besonderes 41 Sybille Schneider-Philipp, Überall heimisch und nirgends: Thomas Mann – Spätwerk und Exil. Bonn 2001. 42 Angelika Abel, Thomas Mann im Exil. Zum zeitgeschichtlichen Hintergrund der Emigration. München 2003. 43 Julia Schöll, Joseph im Exil. Zur Identitätskonstruktion in Thomas Manns Exil-Tagebüchern und -Briefen sowie im Roman Joseph und seine Brüder. Würzburg 2004. 24 Augenmerk wird bei dieser Arbeit darauf gelegt, die Exilbriefe und Exiltagebücher nicht als bloße Faktenberichte, sondern als bewusst gestaltete Medien der Identitätskonstruktion im Gegensatz zur Arbeit Abels zu lesen. Daneben liefert Assmann einen wichtigen Ansatzpunkt für die Auseinandersetzung mit dem Exil als essentieller Fremdheitserfahrung und die Rekonstruktion der kulturellen Identität innerhalb dieses Kontextes. Assmann setzt sich mit Thomas Mann als kulturhistorischem Autor auseinander und deckt direkte Bezüge zwischen der Exilerfahrung Manns zu der von ihm verfassten Literatur während des Exils auf.44 Zudem finden sich renommierte Werke innerhalb des wissenschaftlichen Diskurses mit Thomas Mann, die einen Überblick über das Leben Manns liefern. An erster Stelle sei hier auf das von Koopmann herausgegebene Thomas-Mann-Handbuch verwiesen, wobei insbesondere die Kapitel zum Exil Thomas Manns in der Schweiz in meiner Arbeit berücksichtigt werden sollen.45 Ebenso von zentraler Bedeutung werden die Biographie von de Mendelssohn und der von Kurzke publizierte Lebensabriss für die Untersuchung sein.46 44 Jan Assmann, Zitathaftes Leben. Thomas Mann und die Phänomenologie der kulturellen Erinnerung, in: Thomas Mann Jahrbuch, Bd. 6 (1993), S. 133-158. Helmut Koopmann (Hrsg.), Thomas-Mann-Handbuch. 3., aktualisierte Auflage. Frankfurt/Main 2005. 46 Peter de Mendelssohn, Der Zauberer. Das Leben des deutschen Schriftstellers Thomas Mann. Bd.I: Erster Teil: 1875-1918. Frankfurt/Main 1975 u. Bd.II: Jahre der Schwebe: 1819 u. 1933. Frankfurt/Main 1992 sowie Herrmann Kurzke, Thomas Mann. Das Leben als Kunstwerk. Eine Biographie. München 2001. 45 25 Darüber hinaus soll den Primärquellen, den Tagebuchaufzeichnungen von Thomas Mann und seinem umfangreichen Briefwechsel große Bedeutung beigemessen werden.47 Im Gegensatz zu Thomas Mann ist Stefan Zweig in der deutschen Literaturwissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg vernachlässigt worden. Die wissenschaftliche Vernachlässigung erstaunt angesichts seines immensen schriftstellerischen Erfolgs und der Tatsache, dass er bis heute einer der meistübersetzten Autoren deutscher Sprache weltweit ist.48 Im Gegensatz zur deutschen Literaturwissenschaft gibt es in der ausländischen Literaturwissenschaft, insbesondere amerikanischen, ein reges Interesse am Œvre Zweigs. in der 49 Die Gründe für Zweigs Missachtung in der deutschen Literaturwissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg sind zum einen in seiner passiven Haltung während der Zeit des Nationalsozialismus zu finden, die zu einer Fehlinterpretation in der gängigen Literaturwissenschaft führte. Die ausbleibende politische Stellungnahme von Zweig gegen das Naziregime führte zu der falschen Annahme, dass er mit den Nazis kooperiert habe, so dass ihm „Anbiederung an den Faschismus“ 50 vorgeworfen wurde. Angesichts seiner Zugehörigkeit zum Judentum sowie der 47 Thomas Mann: Tagebücher. Hrsg. v. Peter de Mendelssohn sowie Thomas Mann: Tagebücher. Hrsg. v. Inge Jens. 48 Vgl. Guo-Qiang Ren, Am Ende der Missachtung? Studie über die Stefan-Zweig-Rezeption in der deutschen Literaturwissenschaft nach 1945. Aachen 1996, S. 2. 49 Vgl. ebd., S. 3. 50 Vgl. ebd., S. 4. 26 Tatsache, dass er von den Nazis verfolgt wurde, ist dieser Vorwurf haltlos. Paradoxerweise hält sich dieser Vorwurf in der gängigen deutschen Literaturwissenschaft bis heute und wurde bisher nicht kritisch hinterfragt. Resultierend daraus ist eine wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Œvre Zweigs scheinbar nicht legitimiert, da in der deutschen Literaturwissenschaft oftmals das politische Handeln eines Autors die Beschäftigung mit diesem legitimiert oder aber, wie im Fall Zweigs, missbräuchlich nicht legitimiert.51 Zum anderen steht Zweig seit jeher unter dem Verdacht, als Bestsellerautor ein Verfasser von Trivialliteratur zu sein, so dass er aufgrund dessen innerhalb des wissenschaftlichen Diskurses keine Anerkennung genießt. Das Stigma des Autors („Trivialliteratur“) lässt sich jedoch nicht halten, da dieses sich auf eine gemutmaßte Unvereinbarkeit von Popularität und Qualität, von Auflagenstärke und ästhetischem Gehalt bezieht. Die gängige Zweig-Kritik berücksichtigt nicht, dass neben der psychoanalytischen Darstellungsweise und dem Unterhaltungseffekt, die die Werke Zweigs aufweisen, auch andere Faktoren am Erfolg beteiligt sein müssen.52 Zudem wird die Fähigkeit von Zweig, komplexe Sachverhalte einer breiten Öffentlichkeit verständlich zu machen, wie sich zum Beispiel an den Biographien Marie Antoinette und Maria Stuart erkennen lässt, vorschnell der Kritik des Trivialen ausgesetzt. 51 Vgl. ebd. Vgl. zu Zweigs künstlerisch-ästhetischer Konzeption der Novellistik: Guo-Qiang Ren, Am Ende der Missachtung?, S. 135ff. 52 27 Als Standardwerk auf dem Gebiet der Zweig-Biographie kann die von dem Briten Prater verfasste Biographie „European of Yesterday“ betrachtet werden, in der der Autor unter anderem für eine gerechte Bewertung Zweigs – bezogen auf dessen Leben und Werk – in der deutschen Literaturwissenschaft plädiert.53 Darüber hinaus lässt die späte Übersetzung von Praters Werk ins Deutsche das mangelnde Interesse an der Vita Zweigs im deutschsprachigen Raum erkennen,54 so dass Stefan Zweig in Deutschland als der „bekannteste unbekannteste Dichter“55 bezeichnet werden kann. Im Gegensatz dazu steht die Anerkennung, die Zweig im Ausland genießt: Noch heute ist er einer der meistgelesenen deutschsprachigen Dichter, und er gehört zu den populärsten Dichtern auf allen Kontinenten.56 In der deutschen Exilliteraturgeschichte wird Zweig entweder völlig übergangen oder scharf verurteilt.57 Insgesamt ist der Zeitraum seiner Exilierung nicht ausreichend erforscht. Innerhalb des wissenschaftlichen Diskurses, der sich explizit mit den Exiljahren von Zweig auseinandersetzt, soll insbesondere auf die Dissertation von Hu („Auf der Suche nach der verlorenen 53 Vgl. Donald A. Prater, European of Yesterday. Oxford University. Press 1972. Donald A. Prater, Stefan Zweig, Das Leben eines Ungeduldigen. München/Wien 1981. Ebd., S. 2. Eine gegensätzliche Entwicklung findet in Deutschland in der Zweig-Rezeption im literaturwissenschaftlichen Bereich und im Verlagsbereich statt. Ignoriert die deutsche Literaturwissenschaft Stefan Zweig weitestgehend, so hat Anfang der 1980er-Jahre der S. Fischer Verlag anlässlich des 100. Geburtstags von Zweig, ohne die Vermittlung von meinungsbildenden Philologen, seine Werke erneut publiziert, die sich größter Beliebtheit beim deutschen Lesepublikum erfreuen. 56 Vgl. ebd., S. 2. 57 Vgl. Hans-Albert Walter, Deutsche Exilliteratur 1933-1950. Darmstadt/Neuwied 1972, S. 96 sowie Alexander Stephan, Die deutsche Exilliteratur 1933-1945. München 1979, S. 28. 54 55 28 Welt“58) verwiesen werden, die Zweigs Autobiographie Der Welt von Gestern einen angemessenen Stellenwert einräumt und zudem neue Interpretationen innerhalb des Spannungsfeldes Exil und Autobiographie liefert – ebenso wie der Aufsatz „Die Welt von Gestern als Exilliteratur“ von Gelber.59 Hingegen sind die Exiljahre Zweigs in London, die den Zeitraum von 1934-1940 betreffen, in der Wissenschaft vernachlässigt worden. Erwähnenswert wäre hier lediglich Dove60, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, die in London verbrachten Jahre zu skizzieren; jedoch kann hier von keiner wissenschaftlichkritischen Auseinandersetzung gesprochen werden. Für die Exiljahre 1940-1942 in Brasilien findet sich eine größere Auswahl an wissenschaftlichen Publikationen. Zu nennen wären vornehmlich die Arbeiten von Furtado Kestler und Pooth, in denen das Brasilienbild von Zweig und die Exiljahre in Brasilien kritisch reflektiert werden.61 In jüngster Vergangenheit sind einige Biographien über Stefan Zweig veröffentlicht worden. Diese skizzieren die Exiljahre allerdings nur, ohne sie als eigenständige, in sich abgeschlossene 58 Wei Hu, Auf der Suche nach der verlorenen Welt. Die kulturelle und poetische Konstruktion autobiographischer Texte im Exil. Am Beispiel von Stefan Zweig, Heinrich Mann und Alfred Döblin. München 2006. 59 Mark H. Gelber, Die Welt von Gestern als Exilliteratur, in: Mark H. Gelber/Klaus Zelewitz (Hrsg.), Stefan Zweig: Exil und Suche nach dem Weltfrieden. Riverside 1995, S. 148-163. 60 ‘i hard Do e, „Fre d ist die Stadt u d leer …“ Fü f deuts he u d österrei his he S hriftsteller i Londoner Exil 1933-1945. Berlin 2004. 61 Izabela Maria Furtado Kestler, Die Exilliteratur und das Exil der deutschsprachigen Schriftsteller und Publizisten in Brasilien. Frankfurt/Main u.a. 1992 sowie Xenia Pooth, Der Blick auf das Fremde. Stefan Zweigs Brasilien. Ein Land der Zukunft. Marburg 2005. 29 Lebensphase zu begreifen und lassen der Exilierung nicht den ihr angemessenen Stellenwert zukommen.62 Bei der Auseinandersetzung mit Zweig soll vornehmlich auf Primärquellen, auf seine Tagebuchaufzeichnungen und auf die umfangreiche Briefkorrespondenz Bezug genommen werden, die einen guten Überblick der Exiljahre bieten. Insbesondere soll hierbei der Briefwechsel mit seiner ersten Ehefrau Friderike berücksichtigt werden.63 62 Vgl. Oliver Matuschek, Stefan Zweig: Drei Leben-eine Biographie. Frankfurt/Main 2006. Knut Beck/Jeffrey B. Berlin (Hrsg.), Stefan Zweig: Briefe 1932-1942. Frankfurt/Main 2005 sowie Jeffrey B. Berlin/Gert Kerschbaumer (Hrsg.), Stefan Zweig - Friderike Zweig «Wenn einen Augenblick die Wolken weichen». Briefwechsel 1912-1942. Frankfurt/Main 2006. 63 30 3. Vorgehensweise und Methode Das Sachbuch gliedert sich in drei Hauptkapitel. Im ersten Hauptkapitel soll die kulturelle Prägung und die damit verbundene Weltanschauung von Thomas Mann und Stefan Zweig interpretiert werden. Ferner sollen ihr Bezug zu Kunst, Kultur, Literatur, Politik und zum Judentum sowie die jeweilige Sozialisierung und die familiären Verhältnisse bis zur „Machtübernahme“ im Jahr 1933 dargestellt werden. Diese Darstellung schafft die Voraussetzung, um die unterschiedlichen Entscheidungsprozesse und Motivationen im Exil nachvollziehen zu können, indem sich die jeweilige Sozialisierung als entscheidender Impuls für die spätere Lebensgestaltung der Exiljahre erweist. In diesem Kapitel soll zu Thomas Mann vornehmlich die Forschungsliteratur 64 Handbuch“) , von Kurzke Koopmann („Thomas Mann. („Thomas-MannDas Leben als 65 Kunstwerk“) , Gut („Thomas Manns Idee einer deutschen Kultur“)66, Sontheimer („Thomas Mann als politischer 67 Schriftsteller“) , Görtemaker („Thomas Mann und die Politik“)68 und Harpprecht („Thomas Mann. Eine Biographie“)69 berücksichtigt werden. 64 Helmut Koopmann (Hrsg.), Thomas-Mann-Handbuch. Herrmann Kurzke, Thomas Mann. Das Leben als Kunstwerk. Philipp Gut, Thomas Manns Idee einer deutschen Kultur. Frankfurt/Main 2008. 67 Kurt Sontheimer, Thomas Mann als politischer Schriftsteller, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte. 1958, 6 Jg., H.1 (Januar), S. 1-44. 68 Manfred Görtemaker, Thomas Mann und die Politik. Frankfurt/Main 2005. 69 Klaus Harpprecht, Thomas Mann. Eine Biographie. Reinbek bei Hamburg 1995. 65 66 31 Bezüglich Stefan Zweig sollen insbesondere die wissenschaftlichen Auseinandersetzungen von Prater („Stefan Zweig und die Welt von Gestern“)70, Chédin („Das ‚Geheim Tragische des Daseins‘ “)71, Hu („Auf der Suche nach der verlorenen Welt“)72, Henze („Jüdischer Kulturpessimismus und das Bild des Alten Österreich im Werk Stefan Zweigs und Joseph Roths“)73, Matuschek („Stefan Zweig: Drei Leben – eine Biographie“)74, Scheible („Literarischer Jugendstil in Wien“)75, Leser („Der zeitgeschichtliche Hintergrund des Werkes von Stefan Zweig“)76 und Rovagnati („ ‚Umwege auf dem Wege zu mir selbst‘: Zu Leben und Werk Stefan Zweigs“)77 herangezogen werden. Die zwei weiteren Hauptkapitel befassen sich mit den Exiljahren von Thomas Mann und Stefan Zweig, die die Jahre 1933-1945 (bei Mann) beziehungsweise bis 1942 (bei Zweig) umfassen. Im zweiten Hauptkapitel, „Das Dasein auf eine neue Basis stellen“, sollen die Exiljahre in Europa näher untersucht werden. Insbesondere sollen der Heimatverlust, 70 die notwendige Donald A. Prater, Stefan Zweig und die Welt von Gestern. Wiener Vorlesungen im Rathaus Hrsg. v. der Kulturabteilung der Stadt Wien. Wien 1995. Bd. 30. 71 Renate A. Chédi , Das ‚Gehei Tragis he des Dasei s : Stefa ) eigs „Die Welt o gester “ – Erinnerungen eines Europäers. Würzburg 1996. 72 Wei Hu, Auf der Suche nach der verlorenen Welt. 73 Volker Henze, Jüdischer Kulturpessimismus und das Bild des Alten Österreich im Werk Stefan Zweigs und Joseph Roths. Heidelberg 1988. 74 Oliver Matuschek, Stefan Zweig: Drei Leben – eine Biographie. 75 Hartmut Scheible, Literarischer Jugendstil in Wien. München/Zürich 1984. (=Artemis-Einführungen Bd. 12) 76 Norbert Leser, Der zeitgeschichtliche Hintergrund des Werkes von Stefan Zweig, in: Mark H. Gelber (Hrsg.), Stefan Zweig heute. Frankfurt/Main u.a. 1987, S. 10-24. 77 Ga riella ‘o ag ati, „U ege auf de Wege zu ir sel st“: )u Le e u d Werk Stefa ) eigs. Bo 1998. 32 Neusituierung, die Fortsetzung des schriftstellerischen Wirkens, der Bezug zur deutschen Emigration und die familiären Gegebenheiten von Mann und Zweig dargestellt werden. Innerhalb der Untersuchung sollen der umfangreiche Briefwechsel und die Tagebuchaufzeichnungen von Thomas Mann und Stefan Zweig während der Exiljahre besondere Berücksichtigung erfahren. Bei Thomas Mann fungieren zu Anfang des Exils seine Tagebuchaufzeichnungen und Briefe als zwei Medien, die unterschiedliche Bedürfnisse befriedigen. In den Tagebüchern offenbart sich der schmerzhafte Schock des Heimatverlustes sowie der Versuch, diesen Verlust zu kompensieren. Ebenso kann innerhalb des Mediums Tagebuch die emotionale Ambivalenz, die sich in dem Heimweh nach Deutschland und dem Wunsch nach einer notwendigen Ablösung von Deutschland manifestiert, offen dargestellt werden. Die Tagebücher Manns der Jahre 1933-1936 sind Spiegel des Schocks, den das Exil auslöst, da Thomas Mann sich zunächst nicht mit der Trennung von Deutschland abfinden kann. Seine Bindung an Deutschland ist von großer emotionaler wie politischer Ambivalenz geprägt. Zudem ist sein nationales Zugehörigkeitsgefühl erschüttert und damit auch das Selbstverständnis der eigenen Person, das sich essentiell auf jenes bezog. In den Tagebüchern entwickelt sich allmählich die Strategie der frühen Exiljahre, welche als 33 Selbststilisierung zur Ausnahmeerscheinung bezeichnet werden kann. Ferner besteht die Strategie darin, den verlorenen Status zu kompensieren, indem Thomas Mann der eigenen Person etwas „einsam Ragendes“78 zuschreibt. Insbesondere in den Briefen der frühen Exiljahre zeigt sich das Beharren auf der eigenen Besonderheit schon früher, indem Thomas Mann als öffentliche Person im Exil in der Schweiz von Anfang an Anspruch auf eine privilegierte Rolle erhebt.79 Die Briefe demonstrieren auch nach außen die Überzeugung, ein besserer Deutscher zu sein als die nationalsozialistischen Machthaber. Aus dieser Überzeugung heraus lässt sich das Überlegenheitsgefühl von Mann gegenüber seinen Zeitgenossen, sowohl gegenüber den in Deutschland Zurückgebliebenen als auch gegenüber den Mitexilanten, denen er vor allem im Tagebuch Geringschätzung entgegenbringt, ableiten. Das Bewusstsein, etwas Besonderes zu sein, wird in Briefen nach außen kommuniziert. Im Tagebuch jedoch zeigt sich, dass dieses Selbstbewusstsein im Exil erst mühsam erarbeitet werden muss. 80 Thomas Mann ist im Exil zum ersten Mal gezwungen, für die öffentliche Anerkennung zu arbeiten, die ihm im vertrauten Umfeld dem Anschein nach mühelos zufiel. Am Anfang der Exilierung vertritt Mann eine ambivalente Haltung, da er nicht eindeutig von der alten Heimat geschieden ist. Hierbei spielen materielle Bindungen eine zentrale Rolle. So 78 79 80 Thomas Mann: Tagebuch vom 31.01.1935. Vgl. Thomas Mann: Briefe 1889-1936. Hrsg. v. Erika Mann. Frankfurt/Main 1961. Bd. 1. Vgl. Thomas Mann: Tagebücher 1933-1934. Hrsg. v. Peter de Mendelssohn. Frankfurt/Main 1977. 34 wertet Mann einerseits den Verlust des Münchner Hauses und großer Geldmengen als ein Freikaufen von Deutschland, andererseits hilft die Wiedergewinnung von Mobiliar, Bibliothek und vertrauten Kunstgegenständen aus Deutschland, das Heimatgefühl im Exil neu zu inszenieren. Geprägt ist die erste Zeit des Exils bei Thomas Mann von dem Bemühen, sich eine neue Lebensbasis zu schaffen und den verlorenen materiellen Status wiederherzustellen, um dadurch die Unsicherheit der neuen Lebenssituation kompensieren zu können. Nach dem „Exilschock“ sowie dem Heimat- und Identitätsverlust sind dies erste Versuche der Stabilisierung. Gleichzeitig verhindert das Hoffen auf die Rückgewinnung des Besitzes aus Deutschland eine emotionale Ablösung von der alten Heimat, von welcher sich Mann gleichzeitig auf politischer Ebene, im Tagebuch und in Briefen, deutlich distanziert. Thomas Mann versucht zu Beginn der Exiljahre seine erschütterte Identität wiederherzustellen, indem er sich auf seinen Status als Nationalschriftsteller in Deutschland beruft, den er vor der nationalsozialistischen „Machtübernahme“ inne hatte und erhebt sich in den ersten Exiljahren in der Schweiz zu einer einsamen Ausnahmeerscheinung. Mann besteht auf dem eigenen „besseren“ Deutschtum, nicht nur gegenüber den Nationalsozialisten, sondern auch gegenüber den Mitexilanten. Die Aufgabe von Mann besteht in den Jahren nach 1933 zunächst darin, sich in der Fremde neu zu entwerfen. Anstelle des Ruhmes zu Hause sollte ein neuer Ausnahmestatus treten. 35 Nach Überwindung der ersten Depressionsphase, die mit einem Rückzug ins Private einhergeht und öffentlichem Schweigen, entwirft Mann für sich eine neue öffentliche Rolle, die des politischen Repräsentanten. In den Tagebüchern und Briefen zeigt sich bereits während der ersten Exiljahre die Begeisterung des Exilanten von den USA, die sich aus der Tatsache ableiten lässt, dass die Aufmerksamkeit, die ihm Amerika bietet, den Ruhm der alten Heimat um ein Vielfaches übertrifft. Es ist jedoch vornehmlich die Rolle des politischen Repräsentanten, die Amerika ihm bereitstellt – und nicht die eines Ausnahmekünstlers. Thomas Mann akzeptiert die ihm angebotene Rolle, er akzeptiert die „Verweltlichung“. Die politische Funktion, die Mann ab 1936 übernimmt ist lange vorbereitet. Im Tagebuch wird die Möglichkeit des „Politikums“ zur moralischen Selbstrettung bereits ab 1934 artikuliert. Die Rolle des politischen Repräsentanten verspricht neues Prestige und einen neuen Repräsentationsanspruch, indem die bisherigen Erfolge in den USA materielle Sicherheit wie öffentliche Anerkennung verheißen. Nachdem Manns Verleger Bermann Fischer zum Jahreswechsel 1935/36 aus Deutschland emigriert, sind die letzten Hindernisse beseitigt, die der politischen Stellungnahme bis zu diesem Zeitpunkt im Weg standen.81 81 So wollte Thomas Mann nicht auf die deutsche Leserschaft verzichten und scheute sich u.a. aus diesem Grund vor einer öffentlichen politischen Stellungnahme. 36 Bevor Thomas Mann die Rolle des politischen Repräsentanten annehmen kann, muss er sich zunächst in einer deutlichen Stellungnahme zu Rationalität, Demokratie und Aufklärung bekennen. Er muss sich der eigenen antifaschistischen Position versichern, bevor er zum Mittler werden kann. In privaten Briefen sowie in einem Brief an die Neue Zürcher Zeitung muss Mann sich erst eindeutig auf die Seite der Nazi-Gegner stellen, bevor er den neuen Identitätsentwurf verwirklichen kann. Zu Beginn der Exiljahre hält Mann noch Distanz sowohl zum Gastland als auch zur Exilgemeinde aufrecht. Er versucht anfangs beiden Welten, Deutschland und dem Exilland, verbunden zu bleiben. Zudem macht sich seine Zerrissenheit und Unsicherheit dadurch bemerkbar, dass er im engen Kontakt zu Emigrantenkreisen steht und sich dennoch nicht zur Emigration bekennt. Erst Ende des Jahres 1936 ist seine Identität dahingehend stabilisiert, dass sich Mann in einer eindeutigen politischen Stellungnahme zur Welt der Ratio bekennen kann. Erst nachdem der neue Selbstentwurf in den Medien stabilisiert ist, kann Mann öffentlich eine antifaschistische Haltung beziehen und der Irrationalität in Deutschland eine Absage erteilen, welche auch den endgültigen Verzicht der deutschen Leserschaft bedeutet. Bereits im Jahr 1934 emigriert Stefan Zweig nach London, da er dem aufkommenden Austrofaschismus und der damit einhergehenden bedrückenden politischen Situation in Österreich entkommen will. 37 Zudem erhofft sich Zweig durch die Emigration mehr Muße für die schriftstellerische Betätigung zu finden, so dass er in London in Ruhe seine Arbeit an Maria Stuart fortzusetzen hofft. Bezüglich seines Privatlebens lässt sich seine Emigration auch als Flucht interpretieren, da seine erste Ehe mit Friderike Zweig gescheitert ist, er jedoch nicht zu einer endgültigen Trennung bereit ist. Zweig scheut eine Auseinandersetzung mit seiner Ehefrau, so dass er allein nach London emigriert. Seit jeher pflegt Zweig einen kosmopolitischen Lebensstil, wodurch er auch London kennt. Dennoch stellt das Leben in der riesigen Metropole London einen großen Kontrast zum bisherigen Wohnort in Salzburg dar. Die Anonymität und Ruhe, die sich Zweig von einem Leben in London gewünscht hat, um konzentriert arbeiten zu können, entwickelt sich im Laufe der Zeit zu einer Belastung. Außerdem muss Zweig feststellen, dass man eine Stadt mit völlig anderen Augen betrachtet, wenn man nicht als Gast kommt, sondern in ihr lebt.82 Das gesellschaftliche Leben von Stefan Zweig in London ist sehr beengt, so dass er bis auf Kontakte zu Sigmund Freud, John Drinkwater und Hugh Walpole völlig zurückgezogen lebt. Bis zum Ausbruch des 2. Weltkrieges reist Zweig weiterhin sehr viel, wobei seine Reisen ihn unter anderem in die USA und nach Südamerika führen. In Brasilien werden ihm größte Bewunderung 82 35 Vgl. Stefan Zweig, Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers. Frankfurt/Main 2005 , S . 441. 38 und Sympathie entgegengebracht; er ist dort als weltberühmter Autor bekannt und wird hoch geschätzt. So sehr Zweig die Wertschätzung und Aufmerksamkeit genießt, die ihm in Brasilien zuteil wird, so zeigt sich in seinen Tagebuchaufzeichnungen bereits im Jahr 1936 seine zunehmende Angst vor öffentlichen Auftritten und eine Scheu vor der Gesellschaft.83 Die Tagebuchaufzeichnungen von Zweigs erster Brasilienreise 1936 zeugen von einer großen Begeisterung und Faszination, die das Land auf den Autor ausübt. Ferner sind die Aufzeichnungen von seinem Brasilienaufenthalt von einem regelrechten Hochgefühl geprägt; so bezeichnet er beispielsweise das Ankommen in Rio de Janeiro als Ankunft Paradies.84 Im Jahr 1939, mit dem Ausbruch des 2. Weltkrieges, verschlechtert sich die politische Atmosphäre in England zunehmend. Zweig fühlt sich vermehrt von der englischen Gesellschaft diskriminiert, unter anderem aufgrund der Tatsache, dass er deutschsprachig ist und die Engländer nicht mehr zwischen Österreichern und Deutschen differenzieren.85 Im Tagebuch sieht Zweig bereits zu diesem Zeitpunkt den Untergang Europas bevorstehen. Er stellt sich die Frage nach dem noch zu verbleibenden Lebenssinn, welche begleitet ist von 83 84 85 Vgl. Stefan Zweig: Tagebücher. Hrsg. v. Knut Beck. Frankfurt/Main 1988, S. 379. Vgl. ebd., S. 399. Vgl. ebd., S. 446. 39 Depressionen und latenten Schaffenskraft beeinträchtigen. Suizidgedanken, die seine 86 Bemerkenswert bei der Auseinandersetzung mit Stefan Zweig ist, dass bei ihm Anfang der 1930er-Jahre kein Zwang zur Emigration besteht, da er zu diesem Zeitpunkt in Österreich als ein Autor von hohem Rang gewürdigt wird. Der Entschluss, seinen Lebensmittelpunkt nach England zu verlegen, resultiert bei Zweig vielmehr aus einem inneren Gefühl der Angst vor dem aufkommenden Austrofaschismus als aus einer dringenden Notwendigkeit, Österreich verlassen zu müssen. Während der ersten Jahre in London, von 1934 bis 1939, kann Zweig sooft er möchte seine Familie und Freunde ungehindert in Österreich und der restlichen Welt besuchen. Er ist nicht an einen geographischen Standort gebunden, so dass er die Zeitspanne von 1934-1939 als „Halbexil“ bezeichnet.87 Sein eigentliches Exil beginnt mit der Annexion Österreichs und Ausbruch des 2. Weltkrieges. Von diesem Zeitpunkt an kann Zweig nicht mehr ungehindert reisen, er verliert seine österreichische Staatsbürgerschaft, seine Bücher werden verboten. Resultierend aus diesen bedeutenden Veränderungen wird Zweig zunehmend depressiv und suizidal, schriftstellerische Produktion gefährdet ist. 86 87 Vgl. Stefan Zweig: Tagebücher, S. 449. Vgl. Stefan Zweig, Die Welt von Gestern, S. 443. 40 so dass seine Das dritte Hauptkapitel, „Die Abkehr von Europa“, beschäftigt sich mit der für beide Literaten unausweichlichen Situation, in der sie - aufgrund der sich zuspitzenden politischen Lage und der drohenden Kriegsgefahr – gezwungen sind, ihr europäisches Exil zu verlassen. In diesem Kapitel, welches den Zeitraum des 2. Weltkrieges umfasst, soll bei Thomas Mann vornehmlich seine voranschreitende Politisierung in den USA, sein Engagement als NS-Gegner und seine Rolle als Oberhaupt der Emigration sowie die Fortsetzung seines schriftstellerischen Wirkens dargestellt werden. Ab dem Jahr 1940 entwickelt Mann ein auf die USA zugeschnittenes Identitätskonzept, welches sein neues politisches Repräsentantentum und seine Mittlerrolle innerhalb der vornehmlich auf Exilgemeine beinhaltet. Für das neue Identitätskonzept, das Außenwirkung ausgerichtet ist, wirken die Briefe weiterhin unterstützend.88 Die Tagebücher fungieren hingegen fortan primär als Chronik und sind ein Ort der politischen Faktenanalyse. Gelegentlich wird im Tagebuch Heimweh bekundet. Heimat ist jedoch jetzt nicht mehr Deutschland, sondern das ehemalige Exilland Schweiz. Von Deutschland wird fortan lediglich mit einer Art mitleidiger Verachtung gesprochen. Die neue politische Rolle von Mann in der Öffentlichkeit wird mit der Verlegung des Exils nach Amerika als Selbstverständlichkeit 88 Vgl. zum Identitätskonzept von Thomas Mann in den USA: Julia Schöll, Joseph im Exil, S. 51ff. 41 betrachtet, sowie der Anspruch auch die Mitexilierten vor der Welt zu vertreten, die zuvor im Tagebuch diskreditiert wurden. In Folge entwickelt sich Mann zum wichtigsten Ansprechpartner der deutschen Exilgemeinde. Vornehmlich besteht die „Exilkarriere“ von Thomas Mann darin, einer der bedeutendsten Sprecher des Exils in der amerikanischen Öffentlichkeit in der Funktion einer politisch mahnenden Instanz zu sein, die vor dem NS-Regime warnt und zum Kriegseintritt der USA aufruft. Der neue Lebensentwurf wird von Mann jedoch nicht als Bruch im Vergleich mit der bisherigen politischen Zurückhaltung bezeichnet, sondern, ganz im Gegenteil, als logische (Weiter-) Entwicklung der Persönlichkeit und Manifestation eines schon lang gehegten Bedürfnisses ausgelegt.89 Die Vermittlung der Gegensätze bezieht sich auch die Vereinbarkeit von politischer Rolle und Künstlertum. Im Briefwechsel mit Agnes E. Meyer verteidigt Mann sein politisches Engagement als historische Notwendigkeit.90 Zudem verweist er in seinem neuen Selbstentwurf auf den bewussten Verzicht auf die bis zu diesem Zeitpunkt vorherrschende rein künstlerische Rolle. In seinem revidierten Weltbild sind Kunst und Politik keine dualistischen Gegenbegriffe mehr, sondern werden als untrennbare Einheit verstanden, so dass ab dem Jahr 89 Vergleichbar ist diese Entwicklung von Thomas Mann mit jener, die er nach dem Ersten Weltkrieg ollzoge u d si h diplo atis h o de „Betra htu ge ei es U politis he “ dista ziert hat. Vgl. Thomas Mann/Agnes E. Meyer: Briefwechsel 1937-1955. Hrsg. v. Hans-Rudolf Vaget. Frankfurt/Main1992. 90 42 1940 die künstlerische und die politische Rolle als bewusst kongruent präsentiert werden.91 Thomas Mann erhebt sein künstlerisches Schaffen zu einem ethisch verantwortlichem, welches die eigene politische Arbeit legitimiert. Zu den Kapiteln, die sich auf die Exilierung beziehen, soll sich hauptsächlich auf die Forschungsliteratur von Abel („Thomas Mann im Exil“)92, Assmann („Zitathaftes Leben“)93, Blaschke („Eine Familie gegen die Diktatur“)94, de Mendelssohn („Der Zauberer“)95, Giebel („Erzählen im Exil“)96, Schneider-Philipp („Überall heimisch und nirgends“)97, Schöll („Joseph im Exil“)98 und Krause („Lebensgeschichten aus der Fremde“)99 bezogen werden. Bei Stefan Zweig, der während des 2. Weltkrieges in den USA und in Südamerika sein Exil sucht, soll maßgeblich seine gewaltige literarische Produktion, sein verzweifelter Kampf gegen die Depressionen, seine Hoffnungslosigkeit sowie das Gefühl der völligen Entwurzelung interpretiert werden, um letztlich diesem Gefühl der Ausweglosigkeit lediglich mit dem Freitod begegnen zu können. 91 Vgl. Thomas Mann (zum 15. Dezember 1941: Künstler- und Freiheitsrechte), GW XIII, S. 720ff. Angelika Abel, Thomas Mann im Exil. Zum zeitgeschichtlichen Hintergrund der Emigration. Jan Assmann, Zitathaftes Leben. Thomas Mann und die Phänomenologie der kulturellen Erinnerung. 94 Katharina Blaschke, Eine Familie gegen die Diktatur. 95 Peter de Mendelssohn, Der Zauberer. Das Leben des deutschen Schriftstellers Thomas Mann. 96 Maria Giebel, Erzählen im Exil. 97 Sybille Schneider-Philipp, Überall heimisch und nirgends: Thomas Mann – Spätwerk und Exil. 98 Julia Schöll, Joseph im Exil. Zur Identitätskonstruktion in Thomas Manns Exil-Tagebüchern und Briefen sowie im Roman JOSEPH und seine Brüder. 99 Robert Krause, Lebensgeschichten aus der Fremde. 92 93 43 Mit der sich verschlechternden politischen Situation und dem Ausbreiten des Krieges auf dem europäischen Kontinent fasst Zweig den Entschluss, nach Südamerika zu exilieren. Auf dem Weg nach Südamerika legt er einen längeren Aufenthalt in New York ein, wobei er die Hektik der Großstadt als große Belastung wahrnimmt. Er versucht die Gesellschaft, insbesondere den Kontakt zum deutschsprachigen Emigrantenkreis in New York, zu meiden, da er von Depressionen heimgesucht wird. Nach seiner Ankunft in Brasilien lässt sich Zweig in der Stadt Petrópolis unweit von Rio de Janeiro nieder, welche er bereits während seines ersten Brasilienaufenthalts kennengelernt hat. Mit dem Entschluss, sein Exil nach Brasilien zu verlegen, verbindet Zweig die Hoffnung, das verlorene Paradies Europa wiederzufinden. Daher findet bei Zweig, ausgelöst durch die Exilierung, eine Idealisierung und Verklärung Brasiliens statt, die sich unter anderem auch in der von ihm verfassten Brasilienmonographie widerspiegelt und nicht in Einklang mit der brasilianischen Lebensrealität zu bringen ist.100 Bei seiner Ankunft in Brasilien 1941 ist Zweig voller Begeisterung. Seine literarische Produktion floriert. Er arbeitet parallel an seiner Autobiographie Die Welt von Gestern und an der Schachnovelle. Jedoch muss Zweig feststellen, dass eine immense Diskrepanz zwischen seinem bisherigen Leben in Europa und demjenigen in 100 Stefan Zweig negiert u.a. die frappierende Armut und das diktatorische Regime in Brasilien. Vgl. hierzu: Stefan Zweig, Brasilien. Ein Land der Zukunft. Berlin 2013. 44 Südamerika besteht. Die Einsamkeit empfindet Zweig zunehmend als Belastung. Es mangelt ihm an europäischer Kultur, insbesondere an einer gut sortierten Bibliothek. Zweig muss sich eingestehen, dass seine ganze Lebenswelt und Denkweise an die europäische beziehungsweise lateinische Mentalität gebunden ist. Seine Depressionen verschlimmern sich und Zweig gelangt zu der Erkenntnis, dass das Leben in Brasilien nicht in die Richtung verläuft, die er sich erhofft hat. Nach dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor und dem Fall Singapurs schwinden schließlich die letzten Hoffnungen Zweigs, dass es in absehbarer Zeit zu einer Beendigung des 2. Weltkrieges kommen könnte - den letzten Ausweg sieht er im Suizid. Zu den Kapiteln „Das Dasein auf eine neue Basis stellen“ und „Die Abkehr von Europa“ soll sich maßgeblich auf die Forschungsliteratur von Beck („Politik - die wichtigste Sache im Leben?“)101, Gelber („Die Welt von Gestern als Exilliteratur“)102, Dimas („Ein Optimist gegen den Strom“)103, Dove („Fremd ist die Stadt und leer…“)104, Dines („Tod im Paradies“)105 , Eckl („Das Paradies ist überall verloren“)106, Ren („Am Ende der 101 Knut Beck, Politik – die wichtigste Sache im Leben? Stefan Zweigs Haltung zum Zeitgeschehen, in: Thomas Eicher (Hrsg.), Stefan Zweig im Zeitgeschehen des 20. Jahrhunderts. Oberhausen 2003, S. 13-42. 102 Mark H. Gelber, Die Welt von Gestern als Exilliteratur. 103 Antonio Dimas, Ein Optimist gegen den Strom, in: Ligia Chiappini/Berthold Zilly (Hrsg.), Brasilien, Land der Vergangenheit? Frankfurt/Main 2000, S. 49-57. 104 Richard Dove, »Fremd ist die Stadt und leer…« 105 Alberto Dines, Tod im Paradies. Die Tragödie des Stefan Zweig. Frankfurt/Main u.a. 2006. 106 Marlen Eckl, »Das Paradies ist überall verloren« Das Brasilienbild von Flüchtlingen des Nationalsozialismus. Frankfurt/Main 2010. 45 Missachtung?“)107, Furtado-Kestler („Die Exilliteratur und das Exil der deutschsprachigen Schriftsteller und Publizisten in Brasilien“)108 und Pooth („Der Blick auf das Fremde“)109 gestützt werden. Darüber hinaus soll insbesondere den Tagebuchaufzeichnungen und der umfangreichen Korrespondenz beider Autoren ein großer Stellenwert eingeräumt werden, indem diese als Mittel der Selbstreflexion und Identitätskonstruktion in der Krisensituation Exil zu verstehen sind.110 Am Beispiel von Thomas Mann zeigt sich, dass er in der unbeobachteten Schreibsituation im Tagebuch seine durch den Exilschock destabilisierte Persönlichkeit wieder aufbaut. Er reflektiert die fremde Situation im Tagebuch und kann hier ungehemmt unterschiedliche Wege ausprobieren, die eigene Identität zu festigen oder neu zu entwerfen. Einer ebenso signifikanten Bedeutung kann Briefen während der Zeit der Exilierung zugesprochen werden, die primär die Funktion erfüllen, private wie öffentliche Selbstbilder nach außen zu kommunizieren, die die Voraussetzung schaffen, um die 107 Guo-Qiang Ren, Am Ende der Missachtung? 108 Izabela Maria Furtado Kestler, Die Exilliteratur und das Exil der deutschsprachigen Schriftsteller in Brasilien. 109 Xenia Pooth, Der Blick auf das Fremde. 110 Guy Stern, Literarische Kultur im Exil. Gesammelte Beiträge zur Exilforschung (1989-1997), Dresden 1998, S. 19. 46 unterschiedliche Identitätskonstruktion von Thomas Mann und Stefan Zweig während der Exiljahre darstellen zu können. 47 II. Die kulturelle Prägung und das daraus resultierende Weltbild 1. Thomas Mann: die Prägung durch das Kaiserreich 1.1 Die Zeit der machtgeschützten Innerlichkeit Am 6. Juni 1875 wird Thomas Mann in Lübeck in die Verhältnisse einer großbürgerlichen hanseatisch-patrizischen Kaufmannsfamilie geboren. Sein Vater, Thomas Johann Heinrich Mann, ist eine repräsentative Person des öffentlichen gesellschaftlichen Lebens; er ist Inhaber einer Getreidehandlung, Königlich Niederländischer Konsul und wird im Jahr 1877 zum Senator für Wirtschaft und Finanzen des Stadtstaates Lübeck gewählt. Das Elternhaus von Thomas Mann ist geprägt vom Geist des hanseatischen Großbürgertums. Der Patriarch Thomas Johann Heinrich Mann will seinen Sohn Thomas in die Firma einbinden und sieht für ihn die Rolle des Kaufmanns vor. Thomas Mann jedoch steht in Opposition zu der Rolle, die ihm sein Vater zugedacht hat. Ebenso wie sein Bruder Heinrich ist er nicht dazu bereit, die Erwartungen seiner Familie zu erfüllen.111 111 Vgl. Ulri h Karthaus, Die Freiheit des „U politis he “. Der Kü stler im Reich der machtgeschützten Innerlichkeit, in: Heinrich Oberreuter/Ruprecht Wimmer (Hrsg.), Thomas Mann, die Deutschen und die Politik. München 2008, S. 9. 48 Früh reift in Thomas Mann der Gedanke, Schriftsteller zu werden – wie sein älterer Bruder Heinrich.112 Bereits seit seiner frühsten Jugend interessiert und begeistert sich Thomas Mann für Literatur, wobei insbesondere die Auseinandersetzung mit den Werken von Heinrich Heine, Hermann Bahr und Friedrich Nietzsche einen wichtigen Stellenwert in seiner Lesebiographie einnimmt.113 Nach dem Tod des Vaters im Jahr 1891, der testamentarisch den Verkauf der Getreidefirma nach seinem Ableben festgelegt hat – in später, aber weiser Erkenntnis, dass sein Sohn Thomas doch nicht für den Beruf des Kaufmanns bestimmt sei –, sind für Thomas Mann alle bisherigen Hindernisse beseitigt, um sich hauptberuflich als Schriftsteller zu betätigen. 1894, als Neunzehnjähriger, nachdem er die Schule ohne Hochschulreife verlassen hat, zieht Thomas Mann nach München, verbunden mit der Hoffnung, sich dort als Schriftsteller zu etablieren und darüber hinaus das Leben eines Bohemiens führen zu können: „man weiß, was man ist, weiß aber nicht, ob man es werden wird“.114 Stellvertretend für eine Person des 19. Jahrhunderts und aus diesem Grunde auch typisch für den jungen Thomas Mann, ist ein deutliches Desinteresse für das tagespolitische Geschehen 112 Bereits als ierzeh jähriger S hüler u ters hrei t Tho as Ma ei e Brief it de Worte : „Th. Mann. Lyrisch-dra atis her Di hter“, gl. hierzu: A dré Banuls, Leben und Persönlichkeit, in: Thomas-Mann-Handbuch. Hrsg. v. Helmut Koopmann. Frankfurt/Main 2005. Ungekürzte Ausgabe der 3., aktualisierten Auflage, S. 1-17 (4). 113 Vgl. Hermann Kurzke, Thomas Mann. Das Leben als Kunstwerk. Eine Biographie. München 2001, S. 38. 114 André Banuls, Leben und Persönlichkeit, S. 7. 49 und darüber hinaus für Politik schlechthin festzustellen. So haben große Teile des Kulturbürgertums des 19. Jahrhunderts eine Beschäftigung mit Politik mit äußerster Geringschätzung betrachtet, da Politik als unästhetisch und unpoetisch angesehen wurde. Den Gegenpol zur Politik bildet die Kunst, weil man durch Beschäftigung mit dieser den Geschmack kultiviere und sich so –symptomatisch für viele Intellektuelle in dieser Zeit – einzig und allein dem Künstlertum widmen könne.115 Auch im Gesellschaftsbild des jungen Thomas Mann findet eine strikte Trennung von Kunst und Politik statt, indem die Beschäftigung mit Politik vornehmlich als geistlose Banalität und brutale Wirklichkeit betrachtet wird. Darüber hinaus fühlt sich Mann durch die Beschäftigung mit der Politik in seiner literarischen Produktion gestört. Ein Umstand, der sich auch mit seiner Auffassung bis zum Ersten Weltkrieg deckt, wonach ein Künstler apolitisch sein sollte: Der wahre Künstler ist kein Diener der Gesellschaft; er liebt die Innerlichkeit und schöpft seine Kraft aus sich selbst heraus, nicht aus den äußeren Gegebenheiten; außerdem bedarf er zum Schaffen der Ruhe und Ordnung, befürwortet demnach den Status quo, sofern er ihn nicht beeinträchtigt, anstatt Reformen oder gar Revolutionen zu fordern; mit anderen Worten: er ist apolitisch.116 115 Vgl. Manfred Görtemaker, Thomas Mann und die Politik. Frankfurt/Main 2005, S. 13. Vgl. Olivier Michael Bollacher, Geistiges Aristokratentum im Dienste der Demokratie: Thomas Mann und Paul Valéry. Vergleich des politischen Denkens in den Jahren 1900-1945. Frankfurt/Main u.a. 1999, S. 42. 116 50 Politisches Interesse weicht bei Thomas Mann in den Jahren des Wilhelminischen Kaiserreiches „unpolitischen Ästhetizismus“ 117 zugunsten eines zurück. Als weitere Ursache für Manns Rückzug in den rein künstlerisch-ästhetischen Bereich kann zum einen seine bürgerliche Herkunft und das Aufwachsen in vergleichsweise politisch-intakten Verhältnissen betrachtet werden, die keinerlei Notwendigkeit nach einer Auseinandersetzung und Partizipation mit Politik verlangte. Zum anderen fordert „[die] beschauliche Ruhe des Wilhelminischen Zeitalters“ 118 keinerlei Grund für ein moralisch-politisches Engagement ein. Die Jahrzehnte – ausgehend von der deutschen Reichsgründung bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges – symbolisieren das Zeitalter der Belle Époque, eine Zeit des Friedens, des materiellen und industriellen Aufschwungs und kultureller Blüte:119 Hineingeboren und hineingefügt in die bürgerliche Friedenswelt zwischen 1871-1914 fand er das Gesellschaftsgefüge und den mit diesem verstrebten Staat als unfragbare Selbstverständlichkeit vor.120 117 Hermann Kurzke: Einleitung, in: Hermann Kurzke (Hrsg.), Thomas Manns Essays. Politische Reden und Schriften. Bd. 2 Politik. Frankfurt/Main 1977, S. 7-22 (7). 118 Kurt Sontheimer, Thomas Mann und die Deutschen. Überarbeitete Neuauflage. München 2002, S. 176. 119 Vgl. Franz Herre, Jahrhundertwende 1900: Untergangsstimmung und Fortschrittsglauben. 2 Stuttgart 1998 , S. 11ff. 120 Max Rychner, Thomas Mann und die Politik, in: Max Rychner (Hrsg.), Welt im Wort. Literarische Aufsätze. Zürich 1949, S. 352. 51 Nach Wysling und Schmidlin kann sich der künstlerische Ästhetizismus von Mann auch auf seine Lebensängstlichkeit zurückführen lassen, wonach alles außerhalb des künstlerischen Bereichs als Bedrohung wahrgenommen wird und Mann skeptisch gegenüber kulturellen, politischen und sozialen Veränderungen ist.121 Die Gesellschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts hat, unter anderem durch die Befreiungskriege, einen demokratischeren Charakter erhalten. Werte, wie sie von seinem Bruder Heinrich geteilt und befürwortet werden. Thomas Mann steht diesen Entwicklungen jedoch kritisch gegenüber; vielmehr versucht er sich gegen diese neue, profane Welt abzugrenzen. Im Gegensatz dazu manifestiert sich das Weltbild von Mann, das sich an das aristokratisch gesinnte Bürgertum, Besitz und Bildung anlehnt. Darüber hinaus ist Thomas Mann weder ein Revolutionär, noch ein Traditionalist: Thomas Mann war kein politischer Reaktionär, der sich als unbedingter Anhänger der bestehenden politischen, sozialen und wirtschaftlichen Ordnung grundsätzlich gegen gesellschaftliche Änderungen gewandt hätte. Auch war er kein Traditionalist im Sinne Karl Mannheims, der sich die Bewahrung der althergebrachten Strukturen wünschte, beherrscht von der pessimistischen Vorstellung allgemeiner Verschlechterung der Zustände, derzufolge das Alte dem Neuen stets vorzuziehen sei. Aber er war 121 Vgl. Hans Wysling/Yvonne Schmidlin (Hrsg.), Thomas Mann. Ein Leben in Bildern. Zürich 1994, S. 17. 52 skeptisch, was kulturelle, politische oder soziale Veränderungen anging, und er zweifelte am Fortschritt.122 Obwohl Thomas Mann ein Anhänger der bestehenden politischen und sozialen Ordnung ist, steht er dieser nicht unkritisch gegenüber. Seine Kritik zielt maßgeblich gegen die strenge wilhelminische Hierarchie, die ständestaatliche Ordnung, das kaiserliche Schul- und Bildungssystem, die bürgerlichen Tugendprinzipien, die Emanzipationsbestrebungen der Arbeiterschaft und die sozial engagierte Literatur.123 Des Weiteren stößt das politische Interesse und die daraus resultierende Gesinnung seines Bruders Heinrich, der sich zu den Idealen der Französischen Revolution und Demokratie bekennt, bei Thomas Mann auf Misstrauen und Skepsis. Zudem hält er die politische Beschäftigung seines Bruders zunächst für eine Koketterie: Viel merkwürdiger, seltsam interessant, für mich immer noch ein bißchen unwahrscheinlich ist die Entwicklung Deiner Weltanschauung zum Liberalismus hin […]. Seltsam, wie gesagt und interessant! Du mußt Dich wohl ganz ungeahnt jung und stark damit fühlen.124 122 Olivier Michael Bollacher, Geistiges Aristokratentum im Dienste der Demokratie, S. 36. Vgl. ebd. Thomas Mann in einem Brief an seinen Bruder Heinrich am 27.2.1904, in: Hans Wysling (Hrsg.), Thomas Mann – Heinrich Mann, Briefwechsel: 1900-1949. Überarbeitete Neuausgabe. Frankfurt/Main 1984, S. 25. 123 124 53 Ferner kommt in dem Brief an seinen Bruder Heinrich zum Ausdruck, dass Thomas Mann zu diesem Zeitpunkt keinerlei Politikverständnis besitzt: Fürs Erste verstehe ich wenig von ,Freiheit‘. Sie ist für mich ein rein moralisch-geistiger Begriff, gleichbedeutend mit ,Ehrlichkeit‘. Aber für politische Freiheit habe ich gar kein Interesse. Die gewaltige russische Literatur ist doch unter einem ungeheuren Druck entstanden? Was zumindest bewiese, daß der Kampf für die ,Freiheit‘ besser ist als die Freiheit selbst. Was ist überhaupt ,Freiheit‘? Schon weil für den Begriff so viel Blut geflossen ist, hat er für mich etwas unheimlich Unfreies […].125 Im Gegensatz zu den Werten der Aufklärung, die Heinrich Mann vertritt, verharrt Thomas Mann in einer Haltung des „skeptischen Konservatismus“126. Gegenüber seinem Bruder Heinrich verteidigt er seine Weltanschauung, indem er sich zu seiner bürgerlichen Herkunft und Stellung bekennt und diese nicht zur Disposition gestellt wird.127 Das Weltbild von Mann basiert auf einem künstlerischdekadenten Hochmut mit einer Verachtung für die Bourgeoisie. Dabei resultiert das Eliteverständnis von Mann nicht aus der Faszination gegenüber gesellschaftlicher und politischer Macht, sondern es ist ästhetischen Ursprungs. Mann sieht das schöpferisch-gestaltende primär in der Kunst verwirklicht, die, 125 126 127 Hans Wysling (Hrsg.), Thomas Mann – Heinrich Mann: Briefwechsel 1900-1949, S. 25/26. Hermann Kurzke, Thomas Mann. Das Leben als Kunstwerk, S. 121. Vgl. Wolfgang Michael, Thomas Mann auf dem Weg zur Politik. Bern u.a., 1985, S. 25. 54 seiner Meinung nach, keine Verbindung mit der Sphäre der Politik eingehen sollte. Resultierend daraus ist der wahre Künstler für Mann bis zum Ersten Weltkrieg apolitisch.128 Bis zum Ersten Weltkrieg bleibt Mann ein unpolitischer Ästhet. Eine Periode, die er nach seiner Selbstaussage als Zeit der „machtgeschützten Innerlichkeit“129 bezeichnet. Dass das Zeitalter der Belle Époque auch der Beginn der sich anbahnenden Krise in Europa ist, wie sich unter anderem in der Marokkokrise 1910/1911 und in den Balkankriegen 1911/1912 zeigt, wird von Mann nicht wahrgenommen. Thomas Mann, der sich als „ein Kind des 19. Jahrhunderts“130 betrachtet, lehnt seine Anschauungen an die geistigen Strömungen der Romantik an. In Anlehnung an diese Epoche beeinflussen die Werke Wagners, Nietzsches und Schopenhauers seine Denk- und Geisteshaltung maßgeblich.131 Nach der Heirat mit Katia Pringsheim 1905 findet die antibourgeoise Existenz von Mann ein Ende. Es findet eine Anpassung an die bürgerliche Welt und eine zunehmende Identifikation mit dieser statt, um seine Existenz als Schriftsteller zu sichern. Dabei bindet sich Mann aus pragmatischen Gründen an die Konvention, indem er versucht, 128 Vgl. Hermann Kurzke, Auf der Suche nach der verlorenen Irrationalität. Thomas Mann und der Konservatismus. Würzburg 1980, S. 114. 129 Thomas Mann, Leiden und Größe Richard Wagners (1933), GW IX, S. 419. 130 Kurt Sontheimer, Thomas Mann als politischer Schriftsteller, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte. 1958, 6. Jg., H. 1 (Januar), S. 1-44 (6). 131 Vgl. hierzu au h: Nike Wag er, „Es ar ei Verhält is.“ Tho as Ma u d ‘i hard Wag er, i : Manfred Papst/Thomas Sprecher (Hrsg.), Vom weltläufigen Erzählen. Die Vorträge in Zürich 2006. Frankfurt/Main 2008, S. 43-61. 55 eine Verbindung von Bürgerlichkeit und Boheme 132 einzugehen. 1.2 Der Erste Weltkrieg Ist vor dem Ersten Weltkrieg eine politische Abstinenz bei Thomas Mann zu konstatieren, indem er die Sphäre der Politik meidend in der Rolle des „ästhetischen Konservatismus“ verharrt, so wird er unversehens bei Kriegsausbruch politisiert. Aufgrund der turbulenten Kriegsatmosphäre ist sein Interesse für Politik geweckt, und er setzt sich, nun auch erstmals literarisch, mit den politischen Vorkommnissen auseinander.133 Dabei markiert der 1. Weltkrieg sowohl eine Zäsur in der persönlichen Biographie von Thomas Mann als auch in seiner Vita als Schriftsteller. Eine Zäsur stellt der 1. Weltkrieg in der persönlichen Biographie von Thomas Mann insofern dar, dass er sich zum ersten Mal mit dem einschneidenden Ereignis Krieg an sich 132 Vgl. Olivier Michael Bollacher, Geistiges Aristokratentum im Dienste der Demokratie, S. 37. Vgl. hierzu au h Tho as Ma s Essa „Cha isso“ , i de das Spa u gs erhält is o Bürgerlichkeit und Bohemeleben thematisiert wird: Thomas Mann, Chamisso, GW IX, S. 35-57. 133 Vgl. hierzu i s eso dere die politis he Essa s o Tho as Ma , „Geda ke i Kriege“ , „A die ‘edaktio des S e ska Dag ladet“ , „Friedri h u d die große Koalitio “ , „Geda ke zu Kriege“ so ie Ma s politis hes Haupt erk des . Weltkriegs: „Betra htu ge ei es U politis he “ . 56 konfrontiert sieht, welches als solches, singulär betrachtet, bereits als Lebenszäsur betrachtet werden kann. Zudem kann eine zweite biographische Zäsur konstatiert werden, da Mann während des 1. Weltkrieges seinen großbürgerlichen Lebensstil erheblich einschränken muss, da er bei Kriegsausbruch von Existenzsorgen geplagt wird. Diese gestalten sich zwar im Kriegsverlauf nicht so dramatisch wie anfangs befürchtet, jedoch herrscht auch im Hause Mann allgemeine Lebensmittelknappheit. Gleichwohl ist aufgrund der weiterlaufenden Tantiemen aus den Bücherverkäufen die Existenz der Familie Mann gesichert.134 In seiner Vita als Schriftsteller stellt der 1. Weltkrieg insofern eine Zäsur dar, dass er fortan von der allgemeinen Öffentlichkeit nicht nur als Literat, sondern auch als politischer Schriftsteller wahrgenommen wird. Der Erste Weltkrieg bedingt gleichzeitig auch die Karriere von Thomas Mann als politischem Publizisten.135 Obwohl der Erste Weltkrieg die Geburtsstunde von Mann als politischem Schriftsteller ist, hat sich zu diesem Zeitpunkt sein politisches Bewusstsein noch nicht vollständig entwickelt und wird sich innerhalb der nächsten Jahre und Jahrzehnte – durch die Erfahrungen während der Epoche der Weimarer Republik, 134 135 Vgl. Manfred Görtemaker, Thomas Mann und die Politik, S. 26. Vgl. Kurt Sontheimer, Thomas Mann und die Deutschen, S. 25. 57 des Nationalsozialismus und der Exilierung sowie des 2. Weltkriegs – weiterentwickeln und reifen.136 Bis zum Jahr 1914 spielt in seinen Werken die soziale und politische Problematik eine untergeordnete Rolle, sein Werk beinhaltet bis dahin keine Zeitkritik.137 Dennoch kann bereits im Frühwerk von Mann die Darstellung von politischen Gegebenheiten konstatiert werden. Allerdings wurde hier der Sphäre der Kunst immer Vorrang gegenüber den politischen Realitäten eingeräumt: trat in den ´Buddenbrooks´ die Kritik der Wilhelminischen Ordnung und des bürgerlichen Profitstrebens hinter das Thema der künstlerischen Verfeinerung des Bürgers und das zeitungebundene Verfallsmotiv zurück; in ´Fiorenza´ die Frage nach der rechten Staatsführung hinter die generelle Überlegung zum Verhältnis von Kunst und Macht, Geist und Leben, Ästhetik und Ethik; in ´Königliche Hoheit´ die ´Wendung zum Demokratischen´ hinter die Parallelisierung der künstlerischen und der fürstlichen Existenz; und im ´Tod in Venedig´ die Anspielung auf die europäische Endzeitstimmung hinter die Lebenskrise und Selbstbespiegelung eines alternden Künstlers.138 Ferner besteht die Intention von Thomas Mann bis zum Ersten Weltkrieg in seinen belletristischen Werken nicht darin, bewusst Zeitkritik auszuüben. Vielmehr handelt es sich in 136 Vgl. Theo Stammen, Thomas Mann und die politische Welt, in: Thomas-Mann-Handbuch, S. 18-53 (18). 137 10 Vgl. Golo Mann, Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Frankfurt/Main 2004 , S. 550/551. 138 Olivier Michael Bollacher, Geistiges Aristokratentum im Dienste der Demokratie, S. 130. 58 seinem belletristischen Werk bis zu diesem Zeitpunkt um zufällige zeitkritische Elemente und Reflexionen: In seinem ersten Roman, »Buddenbrooks«, hat man später ein Stück kritischer Gesellschaftsgeschichte entdeckt, das Buch vom Niedergang des alten, echten Bürgertums, und das war auch darin, aber dem Autor selbst kaum bewußt; den interessierten damals ganz andere Dinge.139 Charakteristisch an Manns apolitischer Haltung bis zum Ersten Weltkrieg ist, dass er die politisch aufgewühlte Atmosphäre der Vorkriegsstimmung nicht wahrnimmt und deshalb vom Kriegsausbruch im August 1914 gänzlich überrascht ist. Diese Haltung spiegelt sich auch in seinem Briefwechsel wider. In einem Brief an den Freiburger Professor für Germanistik, Philipp Witkop, bekennt Mann: Im Ernst, muß man sich nicht schämen, so garnichts geahnt und gemerkt zu haben? Selbst nach dem Fall des Erzherzogs hatte ich noch keinen Schimmer, und als der Kriegszustand verhängt war, schwor ich immer noch, daß es zu nichts Ernsthaftem kommen werde. Es ist doch lächerlich, daß man einfach an den Krieg nicht mehr glaubte – nur weil man 4 Jahre nach dem letzten Friedensschluß geboren war.140 139 140 Golo Mann, Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, S. 721. Thomas Mann: Brief an Philipp Witkop 11. Nov. 1914, in: Thomas Mann, Briefe 1889-1936, S. 112. 59 Obwohl Thomas Mann dem Kriegsausbruch nichtsahnend gegenübersteht, löst dieser bei ihm zunächst einen freudigen Begeisterungstaumel aus – über diesen grundanständigen, ja feierlichen Volkskrieg“ 141 „großen, . Hingegen ist Thomas Mann nicht der einzige, der von der Notwendigkeit des Krieges überzeugt ist, vielmehr spiegelt seine Haltung die der Mehrheit wider. Die euphorische Haltung Manns deckt sich mit der vorherrschenden Stimmungslage des Bürgertums, vieler Intellektueller und konservativer Schriftsteller. Die Befürwortung des Kriegs war, durch die meisten Gesellschaftsschichten hinweg, weitaus mehr verbreitet als dessen Ablehnung: Die nationale Euphorie des August 1914 war kein Mythos, obschon sie die einzelnen Schichten und Gruppen der deutschen Gesellschaft in unterschiedlichem Maße und mit unterschiedlicher Intensität erfasste […].142 Infolgedessen lassen sich auf der Seite der Kriegsgegner bis auf bedeutende Autoren wie Heinrich Mann, Wilhelm Herzog, Kurt Hiller, René Schickele, Romain Rolland und Stefan Zweig wenige andere prominente Namen nennen.143 Mann findet sich alsbald in der Rolle des Patrioten und Nationalisten wieder, indem er unter anderem durch den Krieg die Möglichkeit für Deutschland gekommen sieht, die Altlasten 141 Hans Wysling (Hrsg.), Thomas Mann – Heinrich Mann: Briefwechsel 1900-1949, S. 110. Wolfgang J. Mommsen, Der Erste Weltkrieg. Anfang vom Ende des bürgerlichen Zeitalters. Frankfurt/Main 2004, S. 39. 143 Vgl. Philipp Gut, Thomas Manns Idee einer deutschen Kultur, S. 53. 142 60 mit den Erzfeinden Frankreich und England beseitigen zu können: Die intellektuellen Eliten hatten sich in allen Krieg führenden Ländern anfänglich hinter die Regierungen gestellt, ja in gewissem Sinne aus eigenem Antrieb heraus einen »Krieg der Geister« betrieben, welcher die ideologische Rechtfertigung des eigenen Lagers und umgekehrt der »Verteufelung« des Gegners zum Ziele hatte.144 Thomas Mann befindet sich auf der Seite der Konservativen, der „Ideen von 1914“ und der damit verbundenen „konservativen Revolution“. Ferner gibt er sich als Anhänger der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung aus, indem er sich für den Wilhelminismus und gegen eine demokratische Staatsform in Deutschland ausspricht: Ich will die Monarchie, […] weil nur sie die Gewähr politischer Freiheit, im Geistigen wie im Ökonomischen bietet. […] Ich will nicht die Parlaments- und Parteiwirtschaft, welche die Verpestung des gesamten nationalen Lebens mit Politik bewirkt.145 Die Ansichten Manns stehen im absoluten Gegensatz zu der Auffassung seines Bruders Heinrich, der, seit jeher demokratisch gesinnt, die Ideale der Französischen Revolution 144 145 Wolfgang J. Mommsen, Der Erste Weltkrieg. Anfang vom Ende des bürgerlichen Zeitalters, S. 19. Thomas Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen. GW Bd. 12, S. 261. 61 von 1789 vertritt und sich als Befürworter der Republik ausspricht.146 Unterdessen ist die Haltung von Mann frankophob und von der absoluten Richtigkeit deutscher Entscheidungen bestimmt: Ich bin noch immer wie im Traum, – und doch muß man sich jetzt wohl schämen, es nicht für möglich gehalten zu haben und nicht gesehen zu haben, daß die Katastrophe kommen mußte. Welche Heimsuchung! Wie wird Europa aussehen, innerlich und aeußerlich, wenn sie vorüber ist? […] Muß man nicht dankbar sein für das vollkommen Unerwartete, so große Dinge erleben zu dürfen? Mein Hauptgefühl ist eine ungeheuere Neugier – und, ich gestehe es, die tiefste Sympathie für dieses verhaßte, schicksals- und rätselvolle Deutschland […]147 Die Ereignisse des Ersten Weltkrieges nehmen Thomas Mann in solch einem Maße gefangen, dass er sich nicht mehr in der Lage sieht, seiner Arbeit an belletristischen Werken nachgehen zu können. So gerät seine bereits begonnene Arbeit an den Romanen Der Zauberberg und Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull während der Kriegsjahre zum Erliegen, und die 146 Vgl. hierzu au h Hei ri h Ma s ‘o a „Der U terta “, der zwischen 1907 und 1914 entstanden ist, 1914 kurz vor Kriegsausbruch in einer illustrierten Zeitschrift vorabgedruckt und kriegsbedingt 1918, kurz nach Friedensschluss, veröffentlicht wurde. In weiser Voraussicht hat Heinrich Mann hier die Untergangsstimmu g des Wilhel i is he Deuts hla d es hrie e , so dass „Der U terta “ als Roman der Stunde nach Kriegsende bezeichnet wurde. Vgl. hierzu: Hans Wißkirchen, Die Familie 6 Mann. Reinbek bei Hamburg 2007 , S. 51ff. 147 Thomas Mann und Heinrich Mann, Briefwechsel: 1900-1949, S. 131ff. 62 Arbeit an diesen sollte erst in den 1920er Jahren fortgesetzt werden:148 Wie Hunderttausenden, die durch den Krieg aus der Bahn gerissen, ´eingezogen´, auf lange Jahre ihrem eigentlichen Beruf und Geschäft entfremdet und ferngehalten wurden, so geschah es auch mir; und nicht Staat und Wehrmacht waren es, die mich ´einzogen´, sondern die Zeit selbst […]149 Des Weiteren kommt in diesem Zitat zum Ausdruck, inwieweit der Erste Weltkrieg auch eine Daseins- und Schaffenskrise für Mann darstellt. Zudem findet sich hier die Antwort auf die Frage, warum Mann sich der Sphäre der Politik zuwendet, die er bis zum Ersten Weltkrieg kategorisch gemieden hat, in dem ihn die politisch turbulenten Zeitumstände zur literarischen Auseinandersetzung bewogen haben: „´Eine behütete Provinz jenseits der Politik konnte es auf Dauer nicht geben […]´.“150 Thomas Mann kann nicht länger seine apolitische Haltung aufrechterhalten, da die außergewöhnlichen historischen Ereignisse, primär der Ausbruch des Ersten Weltkriegs, sein politisches Engagement einfordern; ferner die Gegenwart zu politisch ist, um sich einer Auseinandersetzung mit der Tagespolitik weiterhin entziehen zu können. 148 Vgl. Philipp Gut, Thomas Manns Idee einer deutschen Kultur, S. 55. Thomas Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen. GW Bd. 12, S. 9. Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1866-1918. Bd. 1. München 1998, S. 834 zit. nach Philipp Gut, Thomas Manns Idee einer deutschen Kultur, S. 32. 149 150 63 1.3 Die „Betrachtungen eines Unpolitischen“ Im November 1914 veröffentlicht Thomas Mann in der „Neuen Rundschau“ den politischen Essay „Gedanken im Kriege“, der neben den Essays an die Redaktion des „Svenska Dagbladet“ (1915) sowie „Friedrich und die große Koalition“ (1915) den Anfang von Mann als politischem Publizisten markiert. Diese drei Essays können als Vorspiel für das eigentliche politische Hauptwerk von Mann während des Ersten Weltkriegs, die Betrachtungen eines Unpolitischen (1918), bezeichnet werden. Unterdessen wird in diesen Essays bereits die Antithese von Kultur und Zivilisation aufgestellt, die das Fundament für die Mannsche Weltauffassung während des Ersten Weltkriegs bildet. Diese Antithese wird in den Betrachtungen wieder aufgegriffen und dort ausführlich behandelt: Zivilisation und Kultur sind nicht nur nicht ein und dasselbe, sondern sie sind Gegensätze, sie bilden eine der vielfältigen Erscheinungsformen des ewigen Weltgegensatzes und Widerspieles von Geist und Natur.151 Im Jahr 1915 beginnt Mann mit der Arbeit an den Betrachtungen eines Unpolitischen, einem mehr als 600 Seiten umfassenden Werk und einer Beschäftigung, die ihn während des Ersten Weltkriegs auslasten sollte. 151 Thomas Mann, Gedanken im Kriege, GW XIII, S. 528. 64 Wie schwerwiegend die künstlerische Krise ist, in der er sich während der Kriegsjahre befindet, kommt unter anderem in folgendem Zitat zum Ausdruck: „Denn ich wünschte wohl, sein feuilletonisierender Ton täuschte niemanden darüber, daß es die schwersten Jahre meines Lebens waren, in denen ich es aufhäufte.“152 Wie der Titel Betrachtungen eines Unpolitischen irreführend suggeriert, lässt sich dieses Werk jedoch als alles andere als unpolitisch bezeichnen.153 Im Gegensatz dazu stellen die Betrachtungen maßgeblich den Versuch Manns dar, einen politischen Diskurs zu eröffnen. Gleichzeitig lassen sich die Betrachtungen als eine Mischung aus Autobiographie und Selbstrechtfertigung sowie nationalistischem, antidemokratischem Gedankengut voller Widersprüchlichkeiten bezeichnen. Thomas Mann tritt in den Betrachtungen noch als unpolitischer Autor auf.154 Um sich seines unpolitischen Selbstverständnisses weiterhin zu versichern, macht er darauf aufmerksam, dass es sich hier lediglich um ein Gastspiel seiner literarischen Ambitionen auf dem Feld der Politik handle: 152 Thomas Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen, S. 14. Vgl. Manfred Görtemaker, Thomas Mann und die Politik, S. 41. In den 1920er Jahren entwickelt sich bei Thomas Mann verstärkt sein politisches Bewusstsein, das sich während seiner Exiljahre in den USA noch weiter entwickeln und reifen wird. Von der allgemeinen Öffentlichkeit wird er nun auch als politischer Autor wahrgenommen. 153 154 65 die „erste und wohl auf immer einzige kleine politische Aktion“ des „Lebens“, nicht um zu „glänzen“, sondern um zu „nützen“.155 Klaus Mann benennt den Widerspruch, der sich in den Betrachtungen darstellt, indem er diese als „ ´unpolitisch´politische[s] Buch“156 charakterisiert. Der den Betrachtungen inhärente Widerspruch besteht unter anderem darin, dass Thomas Mann zwar in der Öffentlichkeit noch in seiner apolitischen Haltung verweilt, jedoch mit den Betrachtungen ein äußerst politisches Werk geschaffen hat. Zudem ist in der Zwischenzeit bereits, ausgelöst durch die Kriegspropaganda, sein politisches Bewusstsein im Entstehen, dessen er sich aber noch nicht vollends bewusst ist: Als gewollt «Unpolitischer» präsentierte er sich 1918 der literarischen Öffentlichkeit, und indem er dies tat, war es bereits um seine unpolitische Haltung geschehen. Für immer.157 Überdies lässt sich die in den Betrachtungen vorherrschend aggressive Stilistik durch die Krisenerfahrung erklären, welcher sich Mann während seines Schreibprozesses ausgesetzt sieht. Nicht zufällig bezeichnet er im Vorwort der Betrachtungen seinen Schreibprozess als „Gedankendienst mit der Waffe“158. 155 Thomas Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen, GW XII, S. 161. 156 Vgl. Klaus Mann, Thomas Manns politische Entwicklung (1936), in: Barbara Hoffmeister (Hrsg.), Das zwölfhundertste Hotelzimmer. Ein Lesebuch. Reinbek bei Hamburg 2006, S. 199-207 (201). 157 Kurt Sontheimer, Thomas Mann und die Deutschen, S. 25. 158 Thomas Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen, S. 11. 66 Damit macht er einerseits darauf aufmerksam, dass er am eigentlichen Kriegsgeschehen aufgrund seines fortgeschrittenen Alters nicht teilnehmen kann und stattdessen sein literarisches Engagement steht.159 Andererseits verdeutlicht dies auch, inwieweit sein Vokabular von der Krisensituation und Kriegspropaganda beeinflusst ist. Des Weiteren stellen die Betrachtungen den Versuch dar, das Ende einer längst zum Untergang bestimmten Gesellschaftsordnung zu verhindern, den wilhelminischen Obrigkeitsstaat, was jedoch von ihrem Autor nicht eingestanden wird. Im Gegensatz dazu versucht Mann dieses in den Betrachtungen weiterhin aufrecht zu halten als „eine Verteidigung des längst in seinen Grundfesten erschütterten deutschen Obrigkeitsstaates“160. Dieser Versuch Manns deckt sich weitestgehend mit den Intentionen der Eliten des Deutschen Kaiserreichs, die gleichfalls die Gefahr eines bevorstehenden Untergangs der Monarchie ignorierten: Der Zusammenbruch des Kaiserreiches war in erster Linie der Unfähigkeit der maßgebenden Eliten zuzuschreiben, die nicht nur die militärische und wirtschaftliche Kraft der Mittelmächte überschätzten, sondern auch der Illusion erlagen, durch den Krieg die überfällige Modernisierung des gesellschaftlichen und politischen Systems aufhalten 159 Thomas Mann war vom Wehrdienst befreit. Vgl. hierzu ausführlich: Theo Stammen, Thomas Mann und die politische Welt, S. 23. 160 Golo Mann, Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, S. 722. 67 zu können, die ihre privilegierte soziale Stellung bedrohte.161 Darüber hinaus können die Betrachtungen auch als ein Plädoyer für die Autonomie der Kunst gegenüber der Politik verstanden werden: Die Betrachtungen eines Unpolitischen von 1918 sind Ausdruck und Abgesang einer bürgerlichen Tradition, die Kultur und Bildung in einen Gegensatz zur Politik brachte, mit emphatischer Präferenz für die unpolitische Sphäre der Kultur […]162 Indessen stellt Mann in den Betrachtungen weiterhin die Antithese von Kultur und Zivilisation auf. Unter „Zivilisation“ versteht Mann in diesem Zusammenhang maßgeblich die Sphäre der Politik, der Macht und den Demokratiebegriff. Der Kulturbegriff steht bei Mann synonym für Geist, Ästhetizismus, Kunst und Romantik. Die Antithese von Kultur und Zivilisation, die Mann aufstellt, ist primär von der Intention geleitet, das Künstlertum vor der Vereinnahmung durch die Politik zu schützen: Der Unterschied von Geist und Politik enthält den Kultur und Zivilisation, von Seele und Gesellschaft, Freiheit und Stimmrecht, von Kunst und Literatur; Deutschtum, das ist Kultur, Seele, Freiheit, Kunst 161 von von und und 2 Hans Mommsen, Aufstieg und Untergang der Republik von Weimar 1918-1933. München 2001 , S. 33. 162 Philipp Gut, Thomas Manns Idee einer deutschen Kultur, S. 32. 68 nicht Zivilisation, Gesellschaft, Stimmrecht, Literatur. Der Unterschied von Geist und Politik ist, zum weiteren Beispiel, der von kosmopolitisch und international. Jener Begriff entstammt der kulturellen Sphäre und ist deutsch; dieser entstammt der Sphäre der Zivilisation und Demokratie und ist – etwas ganz anderes.163 Die Kritik Manns richtet sich dabei vorrangig gegen die westliche Demokratie Zivilisationsliteraten. und deren Befürworter, den 164 Charakteristisch an der Auseinandersetzung Manns mit dem Politikbegriff ist, dass er nicht zu differenzieren gewillt ist, indem er die Begriffe „Politik“ und „Demokratie“ gleichsetzt: „Ich hasse die Demokratie und damit hasse ich die Politik, denn das ist ja dasselbe.“165 Darüber hinaus versucht Mann in den Betrachtungen die demokratischen Entwicklungen, die sich in Deutschland bis zum Ersten Weltkrieg vollzogen haben, zu negieren. Er gibt sich weiterhin als Befürworter der Monarchie aus und spricht sich gegen die Demokratie aus.166 163 Thomas Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen, GW XII, S. 35. Hi ter de Begriff „)i ilisatio sliterat“ er irgt si h or eh li h Hei ri h Ma : „Dieser Zivilisationsliterat ist eigentlich Vertreter des ´geistigen Franzosentums´ im Sinne der Ideen von 1789, der auf der Seite der feindlichen Entente steht und also einen Beitrag auch zum innerdeutschen Bruderzwist leistet, indem er sich ´unnational´, ´antideutsch´ aber ´national französisch´ gebiert. Letztlich ist das Ziel des Zivilisationsliteraten die Demokratisierung Deutschlands und damit seine ´Entdeutschung´ […]“, To ias Wi auer, Ma ü er Bord. Tho as Ma u d die konservative Revolution, in: http://www.jf-archiv.de/archiv00/230yy33.htm Rev. 11.12.01. Darüber hinaus ist mit dem Terminus „Zivilisationsliterat“ – wenn auch hauptsächlich, jedoch nicht nur – der Bruder Heinrich Mann gemeint. Neben Heinrich Mann umfasst der Begriff „Zivilisationsliterat“ alle Schriftsteller, die der vorherigen Definition nach Wimbauer entsprechen. 165 Herbert Wegener (Hrsg.), Thomas Mann Briefe an Paul Amann 1915-1952. Lübeck 1959, S. 49. 166 Wie bereits ausführlich in Kapitel 1.2 Der Erste Weltkrieg dargelegt wurde. 164 69 Mann übt Kritik an der demokratischen Staatsform, da er befürchtet, dass Deutschland durch eine Demokratisierung seiner nationalen Eigenheit beraubt werde: „einen Prozeß, der in Wahrheit kein Fortschritt, sondern Niedergang, Unheil, Verfall für das Deutschtum ist.“167 Resultierend daraus sieht Mann die einzige Möglichkeit in der Bewahrung der Monarchie in Deutschland gegeben, indem lediglich diese Staatsform Schutz vor dieser Entwicklung gewährleiste. Sontheimer attestiert Mann, zu diesem Zeitpunkt über kein Demokratieverständnis zu verfügen: „In Wahrheit kämpfte er gegen das totalitäre Zerrbild einer Demokratie verwechselte dies mit der liberalen Demokratie selber.“ und 168 Des Weiteren stellt Mann der deutschen Bevölkerung gänzlich in Abrede, über ein politisches Bewusstsein zu verfügen. Ferner sei das Wesen der Deutschen im allgemeinen apolitisch, so dass mit einer demokratischen Verantwortung nicht umgegangen werden könne. Dem Volkswillen steht Mann skeptisch gegenüber, wobei insbesondere das Wahlvolk für ihn eine Masse ohne Geist verkörpert, und er sieht somit eine Gefahr für Deutschland durch ein politisch aktives Volk gegeben:169 167 168 169 Theo Stammen, Thomas Mann und die politische Welt, S. 25. Kurt Sontheimer Thomas Mann als politischer Schriftsteller, S. 8. Vgl. Thomas Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen, S. 269. 70 Ich bekenne mich tief überzeugt, daß das deutsche Volk die politische Demokratie niemals wird lieben können, aus dem einfachen Grunde, weil es die Politik selbst nicht lieben kann, und daß der der vielverschriene ´Obrigkeitsstaat´ die dem deutschen Volke angemessene, zukömmliche und von ihm im Grunde gewollte Staatsform ist und bleibt.170 Als Absicherung für seine Thesen beruft sich Mann auf die Theorien von Dostojewski; 171 Nietzsche, Schopenhauer, Wagner und ein Unterfangen, das sich als unangemessen erweist, da Mann versucht, die politische Realität während des Ersten Weltkriegs maßgeblich durch Literaten und durch deren literaturwissenschaftliche Theorien zu erklären. Zudem ist seine Auseinandersetzung mit den Geistesgrößen äußerst fragwürdig, da von einer kritischen und differenzierten Auseinandersetzung in diesem Zusammenhang nicht gesprochen werden kann. Entgegengesetzt dazu lässt sich feststellen, dass Mann seine „Kronzeugen“ vielmehr instrumentalisiert, um seine eigenen Thesen durch diese abzusichern:172 Von einer um Objektivität und Authentizität bemühten Nietzsche-Rezeption kann demnach im Falle der ´Betrachtungen‘ nicht die Rede sein. 170 Ebd., S. 33/34. Vgl. ebd., S. 584ff. Von einer bewussten Instrumentalisierung soll hier jedoch nicht gesprochen werden. Vielmehr sucht Thomas Mann nach Erklärungen in der Literatur, um sein Weltbild zu determinieren. 171 172 71 Aber auch Wagner und Schopenhauer werden nicht aus neutraler Sicht zitiert, sondern von Thomas Mann bewußt zur Zementierung seiner nationalen und reaktionären Ansichten aufgeführt.173 Des Weiteren kommt in den Betrachtungen deutlich zum Ausdruck, dass Thomas Mann während des Ersten Weltkriegs noch nicht über hinreichende historische und politische Kenntnisse verfügt: „Thomas Manns >Traumwelt< der Betrachtungen war ein idealisiertes, vom »Dreigestirn« Schopenhauer, Nietzsche und Wagner erleuchtetes neunzehntes Jahrhundert.“174 Klaus Mann konstatiert diesbezüglich bei seinem Vater „einen Mangel an politischem Training“175, da sich Thomas Mann bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs gänzlich gegen eine Beschäftigung mit Politik ausgesprochen hat. Darüber hinaus versucht Thomas Mann den Umstand, dass Deutschland Urheber des 1. Weltkriegs ist, zu negieren. Ferner interpretiert er die deutschen Kriegserklärungen; den deutschen Angriffskrieg bezeichnet er als einen Angriff, der aus einer Notsituation resultiert: „Ein Angriff kann ja aus Not geschehen und ist dann also kein Angriff mehr, sondern eine Verteidigung.“176 173 Olivier Michael Bollacher, Geistiges Aristokratentum im Dienste der Demokratie, S. 147. Helmut Mörchen, Schriftsteller in der Massengesellschaft. Zur politischen Essayistik und Publizistik Heinrich und Thomas Manns, Kurt Tucholskys und Ernst Jüngers während der Zwanziger Jahre. Stuttgart 1973, S. 37. 175 Klaus Mann, Der Wendepunkt, S. 60. 176 Thomas Mann, Friedrich und die große Koalition. Ein Abriß für den Tag und die Stunde. GW Bd. X, S. 99. 174 72 Die Betrachtungen, das „Rückzugsgefecht großen Stils“177, lassen sich hauptsächlich auch als einen Racheakt gegenüber Heinrich Mann verstehen und spiegeln, neben den weltanschaulichen Differenzen, ebenso den Konkurrenzkampf der beiden Brüder um Anerkennung deutlich wider. die größere schriftstellerische 178 Heinrich Mann vertritt eine entgegengesetzte Weltauffassung zu Thomas Mann. Für ihn bilden Literatur und Politik keine unvereinbaren Gegensätze, sondern sind verbunden. Zudem betrachtet er es als miteinander Aufgabe des Schriftstellers, durch dessen Werk den demokratischen Fortschritt voranzutreiben, um so letztendlich Vervollkommnung der Menschheit beizutragen. zur 179 Im Jahr 1915 veröffentlicht Heinrich Mann, der seit jeher demokratisch, europäisch gesinnt und für die westliche Kultur eingetreten ist, den Essay Zola in der von René Schickelé publizierten pazifistischen Zeitschrift Die weißen Blätter, in dem er dem französischen Geist während der Kriegsjahre huldigt. Insbesondere durch die ersten Sätze des Essays Zola fühlt sich Thomas Mann persönlich angegriffen. So soll durch diese Sätze 177 Klaus Mann, Thomas Manns politische Entwicklung, S. 202. Dieser Aspekt blieb innerhalb des wissenschaftlichen Diskurses längere Zeit unbeachtet, da der schlichte Konkurrenzkampf der beiden Brüder doch zu primitiv erschien. Ab den 1920er Jahren verändern sich die Verhältnisse. Thomas und Heinrich Mann waren bis dahin gleichermaßen erfolgrei h als S hriftsteller. Mit der Veröffe tli hu g sei es ‘o a s „Der )au er erg“ u d mit der Verleihung des Literaturnobelpreises (1929) ist Thomas Mann jetzt eindeutig der erfolgreichere. Vgl. hierzu: Marcel Reich-Ranicki, Thomas Mann und die Seinen. München 2005, S. 30. 179 Vgl. Olivier Michael Bollacher, Geistiges Aristokratentum im Dienste der Demokratie, S. 150. 178 73 im eigentlichen Sinne Zola charakterisiert werden, doch es ist unschwer zu erkennen, dass sich hinter den Formulierungen auch der Charakter von Thomas Mann verbirgt: Der Schriftsteller, dem es bestimmt war, unter allen das größte Maß von Wirklichkeit zu umfassen, hat lange nur geträumt und geschwärmt. Sache derer, die früh vertrocknen sollen, ist es, schon zu Anfang ihrer zwanzig Jahre bewußt und weltgerecht hinzutreten. Ein Schöpfer wird spät Mann.180 Resultierend aus dieser diskreditierenden Charakterisierung, ist der Essay Zola Auslöser für die Überwerfung der beiden Brüder während der Kriegsjahre, die bis in die Weimarer Republik hineinreicht und erst im Jahr 1922 beigelegt werden kann.181 Die Betrachtungen können somit auch als direkte Antwort auf den Zola-Essay verstanden werden, da Thomas Mann seinen Bruder Heinrich in diesen indirekt, verkleidet mit dem Begriff „Zivilisationsliterat“, anspricht und dessen Weltanschauung diffamiert: Der Windmühlenfeind, gegen den das schwere Geschütz der «Betrachtungen» aufgefahren wird, ist eine mysteriöse Figur – der «Zivilisationsliterat». Sein Name bleibt ungenannt, aber diese Anonymität ist nur eine scheinbare. Denn die langen Passagen, die aus den Schriften des 180 Heinrich Mann, Zola, in: Die weißen Blätter. Eine Monatsschrift, 2. Jg. (1915), H. 11, S. 1312. Die Ü er erfu g der Brüder hat u ter de Begriff „Bruderz ist“ Ei ga g i die Literaturwissenschaft gefunden. 181 74 Widersachers zitiert werden, stammen wörtlich aus einem Essay von Heinrich Mann.182 Im Jahr 1917 werden die Betrachtungen fertiggestellt, nachdem bereits die USA auf Seite der Entente-Mächte die politische Bühne in Europa betreten haben und die deutsche Niederlage fast schon vorhersehbar ist. Bereits zu diesem Zeitpunkt, Ende des Jahres 1917, verändert sich das politische Bewusstsein von Thomas Mann in Vorahnung der kommenden Ereignisse; der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg, dem Ende des Wilhelminismus und der Monarchie in Deutschland. Mann muss feststellen, dass seine in den Betrachtungen vertretenen politischen Ansichten nicht mehr zeitgemäß sind. Das Vorwort der Betrachtungen, das Mann zum Schluss verfasst hat, kommt fast einer Revision seiner aufgestellten Thesen gleich. Hier begegnet sich Mann bereits mit einer latenten Selbstkritik, wenn er formuliert: „betrachte ich etwa meine unbeholfenen Bemühungen um die politische Frage […].“183 Nach Beendigung des Ersten Weltkrieges, der damit verbundenen Einberufung einer demokratischen Staatsform und der Gründung der Weimarer Republik, die von einem Großteil der Bevölkerung nicht akzeptiert wird, 182 183 Klaus Mann, Der Wendepunkt, S. 82. Thomas Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen, S. 17. 75 tragen Manns Betrachtungen dazu bei, die neue Gesellschaftsordnung in Frage zu stellen. So berufen sich insbesondere die konservativreaktionären Kreise auf die Betrachtungen, um die neue Ordnung anzuzweifeln und eine Legitimation für ihre Anschauungen zu finden.184 Jenen Kreisen eine angemessene Argumentation liefern zu können, ist jedoch nicht die Intention Manns beim Verfassen seiner Betrachtungen gewesen. Ein Tagebucheintrag zwei Tage nach dem Waffenstillstand 1918 bringt bereits seine aufkommende Verzweiflung zum Ausdruck: „Die Katastrophe und Weltniederlage […] ist da. Es ist auch die meine.“185 Zudem überkommt ihn eine Vorahnung, dass die Betrachtungen seinem Ansehen als Schriftsteller künftig Schaden zufügen könnten, so dass er die Veröffentlichung dieses Werks zu verhindern versucht; ein Versuch, der jedoch scheitert, da die Betrachtungen bereits ausgeliefert sind.186 Darüber hinaus wird sich Mann vermehrt bewusst, dass sich in den Betrachtungen gefährliches Gedankengut wiederfindet, mit dem er sich nicht mehr identifizieren kann:187 184 Au h sei Soh Golo Ma ü t Kritik a de „Betra htu ge “, gl. Golo Ma , Eri eru ge u d 9 Gedanken. Eine Jugend in Deutschland. Frankfurt/Main 2002 , S. 41: „[…] a de Betrachtungen eines Unpolitischen, in denen, um nur ein Beispiel zu nennen, die Versenkung des englischen Schiffes Lusita ia, it z ölfhu dert )i iliste a Bord, ausdrü kli h ge illigt ird?“ 185 Peter de Mendelssohn (Hrsg.), Thomas Mann, Tagebücher 1918-1921. Frankfurt/Main 1979, S. 23. 186 Vgl. Manfred Görtemaker, Thomas Mann und die Politik, S. 42. 187 Bereits in der zweiten Auflage entschärft Mann die Betrachtungen, indem er kompromittierende Stellen gegen seinen Bruder streicht sowie die Kritik am demokratischen Wahlrecht und die 76 In der Vorrede, die zum Schluß geschrieben ist, ist er schon distanziert, kann sich auf sein eigenes Rückzugsgefecht berufen und mit Überzeugung meinen, daß, was komme und kommen müsse, die Demokratie sei. Er hat sich die «Betrachtungen» vom Herzen geschrieben und dabei letztendlich überwunden, was er in ihnen vertrat.188 Nachdem sich Mann bald nach Kriegsende zu einem Demokraten und Befürworter der Republik von Weimar entwickelt, widerruft er die Betrachtungen zwar nicht, baut aber eine kritische Distanz zu ihnen auf.189 Die Betrachtungen, das umstrittenste Werk von Thomas Mann190, können als die Geburtsstunde von Mann als politischem Schriftsteller bezeichnet werden, da er sich – unbeabsichtigt durch die Ereignisse des Krieges –regelrecht dazu gedrängt fühlt, politisch Stellung zu nehmen. Nach der Fertigstellung der Betrachtungen wollte sich Mann von der Sphäre der Politik wieder abwenden, um sich lediglich belletristischen Werken zu widmen. Ein Vorhaben, das Auseinandersetzung mit Romain Rolland bearbeitet. Vgl. Kurt Sontheimer, Thomas Mann und die Deutschen, S. 65-68. 188 8 Katia Mann, Meine ungeschriebenen Memoiren. Frankfurt/Main 2004 , S. 41/42. Spiegelt diese Aussage auch nur die subjektive, nicht unvoreingenommene Meinung der Ehefrau von Thomas Mann wider, so deckt sich diese Aussage jedoch auch mit zahlreichen wissenschaftlichen Untersuchungen wie z.B.: Kurt Sontheimer, Thomas Mann und die Deutschen, S. 58-60. 189 I der eröffe tli hte , auto iographis he S hrift „Le e sa riß“ ezei h et Ma die Betrachtungen als ei „letztes, großes […] ‘ü kzugsgefe ht ro a tis h-apolitischer Bürgerlichkeit vor dem <Neuen> und ein wegloses Sich-durchs-Gestrüpp-S hlage .“ Dennoch weigert sich Mann, das Werk zu widerrufen mit der Begründung, dass er in der Zwischenzeit seine Meinung geändert habe, jedoch nicht seinen Sinn. Vgl. Klaus Bohnen, Argumentationsverfahren und politische Kritik bei Thomas Mann, in: Rolf Wiecker (Hrsg.), Gedenkschrift für Thomas Mann 1875-1955. Kopenhagen 1975, S. 171-195 (191). 190 Vgl. Philipp Gut, Thomas Manns Idee einer deutschen Kultur, S. 76. 77 Ende der Leseprobe von: Thomas Mann und Stefan Zweig im Exil - Ein Sachbuch Jessica Bauer Hat Ihnen die Leseprobe gefallen? Das komplette Buch können Sie bestellen unter: http://epub.li/1n2f1RM
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