Diese PDF-Datei herunterladen - Bohemia

SAMISDAT IN O S T E U R O P A U N D T S C H E C H I S C H E
SCHREIBMASCHINEN-KULTUR
Von Dietrich Beyrau
und Ivo
Bock
Die Geschichte des offiziell nicht genehmigten Schrifttums hängt eng mit der Tradi­
tion der Zensur und diese wiederum mit dem ideologischen Monopol zusammen, das
die kommunistischen Parteien seit ihrer Machtübernahme über die geistige Produk­
tion zu errichten versuchten. Galt doch die Pressefreiheit als ein bürgerliches Vor­
urteil oder, wie es A. V. Lunačarskij formulierte, als ein „Maschinengewehr" in der
Hand des Klassenfeindes 1 . Trotz dieser martialischen Sprüche glichen bis Ende der
zwanziger Jahre Gesetzgebung und Praxis der Zensur eher traditionellen Vorbildern.
Erst seit den dreißiger Jahren zeichnete sich in den Bereichen des kulturellen und wis­
senschaftlichen Schrifttums ein neuer Typus ab, den man nur unzureichend als
Gebotszensur bezeichnen könnte. Er unterwarf weite Bereiche geistigen Schaffens
Doktrinen und „Sprachregelungen". Die schreibende Zunft hatte sich den oft bizarren
Kurven der „Generallinie" anzupassen. Dies geschah teils durch Druck und Terror,
teils aber auch aus Überzeugung. Selbstentlarvung, Selbstkritik und „Autopolemik"
waren Bestandteile eines öffentlich vollzogenen Rituals, das Bekenntnisse wie das fol­
gende ermöglichte: „Die wichtigste Seite unseres Verständnisses einer freien Literatur
ist die . . . Anerkennung der führenden Rolle der Kommunistischen Partei in allen Fra­
gen des Lebens und der Literatur", deklamierte Aleksandr Fadeev noch auf dem zwei­
ten sowjetischen Schriftsteller-Kongreß von 1954 2 .
Dieser Typus ideologischer Diktatur setzte sich seit 1948 ebenfalls in den ostmittel­
europäischen Ländern durch und verlor hier - wie in der Sowjetunion — erst mit dem
Tod Stalins seine offen terroristischen Züge. Gleichwohl blieben die in der Stalinära
etablierten Instanzen und Rituale zur Kontrolle und Manipulation der Medien erhal­
ten, auch wenn ihre Struktur, die Reichweite und Inhalte der Kontrollen in den Jahr­
zehnten nach 1953 beträchtlichen Schwankungen und Veränderungen unterlagen und
in den einzelnen Ländern erheblich variierten. Insgesamt bewegten sie sich wieder fort
von der umfassenden Gebots- zur eher traditionellen Verbotszensur 3 .
1
2
3
F e d j u k i n , S. A.: Bor'ba s buržuaznoj ideologiej v uslovijach perechoda k népu [Der
Kampf gegen die bürgerliche Ideologie unter den Bedingungen des Übergangs zur NEP].
Moskau 1977, 163.
F a d e e v , A.: Zatridcaťlet[In30Jahren].2. Aufl. Moskau 1959, 597. - Zur Zensur bis An­
fang der dreißiger und seit den fünfziger Jahren vgl. F o g e l e v i č , L. G. (Hrsg.): Osnovnye
direktivy i zakonodatel'stvo o pečati [Grundlegende Direktiven und Gesetzgebung über die
Presse]. Moskau 1937.- D e w h i r s t , M. / F a r r e l l , R. (Hrsg.): The Soviet Censorship.
Metuchen/N.J. 1973.
K e n d e , Pierre: Censorship in Hungary. Köln 1985 (Crises in Soviet-Type Systems.
D.Beyrau u. I.Bock, Samisdat in Osteuropa
281
Die aktuellen Anlässe, die seit den sechziger Jahren zur Entstehung eines nichtlizensierten Schrifttums in fast allen sozialistischen Ländern Europas beigetragen
haben, waren sehr unterschiedlich. Ihren gemeinsamen Hintergrund bilden stehen­
gebliebene oder gewaltsam unterbrochene Reformansätze und ihnen entsprechende
Enttäuschungen in Teilen der Gesellschaft, v. a. in der Intelligenz. Entstehung und
Wachstum eines „inoffiziellen" Publikationskreislaufs sind zurückzuführen auf eine
faktische Pluralisierung von Interessen und gesellschaftlichen Ausdrucksformen. Sie
konnten trotz des politischen und - allerdings kontinuierlich diffuser werdenden ideologischen Monopolanspruches der kommunistischen Parteien von den offiziellen
Strukturen nicht mehr absorbiert werden. Dies erklärt auch die Bandbreite des in­
offiziellen Schrifttums und anderer Formen intellektueller und künstlerischer Selbst­
darstellung außerhalb der Kontrolle der Behörden und Zensurinstanzen. Diese Art
von Publikationen ist Teil der ökonomischen und materiellen Freiräume, welche die
„zweite Ökonomie" oder die Schattenwirtschaft bieten. Interessen und Ausdrucks­
formen, die in diesem Sektor paralleler Kommunikation zur Geltung kommen, sind
nicht auf den Begriff politischer Opposition zu reduzieren, sondern sie sind Ausdruck
eines gesellschaftlichen Bedürfnisses, das sich an den Machtapparaten vorbei und
manchmal gegen diese entwickelt hat 4 .
Die Entstehung eines Schrifttums und anderer vielfältiger kultureller und politi­
scher Ausdrucksformen, die vom Protest, vom politischen Manifest über Ausstellun­
gen, Belletristik bis hin zu einer unabhängigen Jugendkultur reichen, vollzogen sich
zwar in den einzelnen Ländern aus unterschiedlichen Anlässen, zu verschiedenen Zei­
ten und mit wechselnder Intensität. Gleichwohl hat sich trotz aller Behinderungen der
Informationen innerhalb der Gesellschaft wie zwischen den sozialistischen Staaten ein
System kommunizierender Röhren hergestellt, so daß zumindest in kleineren intel­
lektuellen Zirkeln neben Einflüssen aus dem Westen auch eine gegenseitige Beobach­
tung, eine Rezeption und Verarbeitung von Vorgängen und manchmal sogar eine Zu­
sammenarbeit der inoffiziellen Zirkel zwischen den „Bruderländern" zu beobachten
ist. Seit den späten siebziger Jahren ist es verschiedentlich zu Solidaritätsaktionen zwi­
schen dem polnischen Komitee zur Verteidigung der Arbeiter KOR und der tschechi­
schen Charta 77, zwischen der ungarischen Opposition und der Charta 77, sogar zwi­
schen polnischen unabhängigen Gruppen und Dissidenten aus Litauen und der
Ukraine gekommen. Die Solidarnošč-Hewegung hat ihren dokumentarischen Nie­
derschlag im tschechischen, sowjetischen und ungarischen Samisdat gefunden. Pro­
minente Schriftsteller und Autoren aus dem Westen und Osten, deren Werke offiziell
nicht publiziert worden sind, tauchen in den Bibliographien des zweiten Umlaufs fast
aller Länder auf. Seit der Entstehung der inoffiziellen Friedensgruppen haben sich die
Kenntnisse und manchmal auch die persönlichen Kontakte zwischen den osteuro-
4
Study 9). - C u r r y , J. L. (Hrsg.): The Black Book of Censorship. New York 1984. S c h o e p f l i n , George (Hrsg.): Censorship and Political Communication in Eastern Eu­
rope. A Collection of Documents. London 1983. - H a m š í k , Dušan: Writers Against
Rulers. London 1971.
B e y r a u , Dietrich/ E i c h w e d e , Wolfgang (Hrsg.): Auf der Suche nach Autonomie. Kul­
tur und Gesellschaft in Osteuropa. Bremen 1987.
282
Bohemia Band 29 (1988)
päischen Gruppen vertieft; in deren Flugblättern, Bulletins u . a . erscheinen auch Stel­
5
lungnahmen aus den Nachbarländern .
Dennoch darf von der einst gleichförmigen politischen Struktur der Hegemonialmacht und der „Satelliten" nicht auf die Gleichförmigkeit des unzensierten Schrift­
tums geschlossen werden. Schon allein die Begriffe, die hierfür verwendet werden,
deuten auf die unterschiedliche Machart und Quantität, auf einen je anderen Stellen­
wert, der dieser Form von Veröffentlichung beigemessen wird. Einen unkontrollier­
ten Umlauf von Manuskripten in Freundes- und Bekanntenkreisen hat es wohl in allen
Ländern seit Etablierung der Zensur gegeben. Der Übergang zu systematischer, wenn
man so will, zu „subversiver" Verbreitung ist nicht immer eindeutig festzulegen. In
einem solchen offenen Stadium scheint sich gegenwärtig die Existenz unzensierten
Schrifttums in der D D R zu befinden. Es zirkuliert gewissermaßen in gesetzlichen
Nischen, in alternativen Kulturszenen und im Schutzraum der evangelischen Kirche
unter Ökologie-und Friedensgruppen 6 . Der Begriff Samisdat (wörtlich: Selbstverlag)
bürgerte sich in der Sowjetunion seit Mitte der sechziger Jahre erst ein, als die Verbrei­
tung von Texten an den Zensurbehörden vorbei systematisch in größerem Umfang be­
trieben wurde. Samisdat wird vor allem im Westen häufig unterschiedslos auf alle For­
men nicht erlaubten Umlaufs von Texten angewandt, obwohl sich in den einzelnen
Ländern oft eigene Termini durchgesetzt haben. So spricht man in der Tschechoslo­
wakei eher von der „Schreibmaschinen-Kultur", weil hier auf Schreibmaschinen
getippte und vervielfältigte, aber zugleich professionell gebundene Texte in Serien, als
„Editionen" bezeichnet, herausgegeben werden, sich also eine höhere Stufe von Pro­
duktion und Organisation durchgesetzt hat als im russischen Samisdat der „losen Blät­
ter" . Er erfüllte zwar eine Pionierfunktion für ganz Osteuropa, aber bis 1985 ist er mit
wenigen Ausnahmen nicht über ein wenig organisiertes, gewissermaßen „anarchi­
sches" Stadium hinausgekommen. Ganz anders in Polen, wo man seit Ende der siebzi­
ger Jahre vom „unabhängigen" Publikationswesen sprach. In seinem Rahmen bildeten
sich Redaktionen von Zeitschriften und Zeitungen und sogar Verlage. Sie produzierten
einen Umfang an nichtlizensiertem Schrifttum, das in Quantität, inhaltlicher Vielfalt,
Technik und Verbreitung den russischen Samisdat bei weitem in den Schatten stellte.
Auch Ungarn hat seit Beginn der achtziger Jahre das Stadium der „SchreibmaschinenKultur" hinter sich gelassen, allerdings kann sich die dortige Veröffentlichungspraxis
an Umfang und Breite nicht mit der polnischen messen.
Wie die obigen nach quantitativen und produktionstechnischen Kriterien geordne­
ten Typen von Samisdat verdeutlichen, hat jedes Land seine spezifische Form alterna­
tiver Publikationsmärkte geschaffen, in denen sich eigene politische und kulturelle
Trends ausdrücken. Sie heben oft ganz bewußt gegen eine vermeintlich „sowjetisierte"
5
6
Beispielsweise sei hier auf osteuropäische Reaktionen auf die Solidarnošč verwiesen: Solidarnošč. Az elnyomaz és ellenalles dokumentumai [Solidarnošč. Dokumente der Unter­
drückung und des Widerstands]. Budapest 1982. - C o r t i, M. (Hrsg.): Pol'skaja revoljucija
[Die polnische Revolution]. London 1985. - P u c h o v , S.: Otnošeniemoskvičej kprofsojuzu „Solidarnosť" [Die Beziehung der Moskauer zur Gewerkschaft „Solidarnošč"]. SSSR:
Vnutrennie protivorečija (1982) Nr. 2, 248-252.
G r u n e n b e r g , Antonia: Die inoffizielle Kultur in der DDR (Projekt an der Forschungs­
stelle Osteuropa in Bremen).
D. Beyrau u. I. Bock, Samisdat in Osteuropa
283
Uniformität die individuelle und nationale Eigenart hervor. Die daraus resultierende
Vielfalt der Selbstdarstellungen dominiert und läßt es sinnvoll erscheinen, die Darstel­
lung nach Ländern zu gruppieren. Die knappe Skizzierung der Geschichte und Er­
scheinungsweise des zweiten Publikationsumlaufes in der Sowjetunion, Polen und
Ungarn beschränkt sich notwendigerweise auf wenige für diese Länder typische
Merkmale. Sie mögen dazu dienen, einerseits Ähnlichkeiten mit dem Samisdat in der
ČSSR, andererseits dessen Eigenart hervorzuheben. Die allgemeine Themenstellung
dieses Heftes legt es nahe, daß der Beschreibung der „Schreibmaschinen-Kultur" in
der Tschechoslowakei besondere Aufmerksamkeit und mehr Raum gewidmet wird 7 .
Nach der Entlassung aus der Lagerhaft im Jahre 1971 schrieb der sowjetische
Schriftsteller Andrej Sinjavskij, daß zur Zeit in Moskau nicht nur Dollars, sondern
auch Manuskripte hoch im Kurs stünden 8 . Er meinte frei umlaufende Texte. Romane,
Poesie, Aufrufe, Proteste, Petitionen kursierten in den großen Städten und Wissen­
schaftszentren, wurden gelesen, abgeschrieben und nach dem Schneeballsystem
weitergereicht. Sie zirkulierten selbst in abgelegenen Provinzstädten. Es war die
Hoch-Zeit des russischen Samisdat. Im Rückblick schrieb Vladimir Bukovskij
emphatisch: „ . . . würde ich auch der Schreibmaschine ein Denkmal setzen. Sie machte
eine völlig neue Form des Verlagswesens deutlich - den Samisdat. Man schreibt selbst,
redigiert selbst, man zensiert selbst, verlegt selbst, man verteilt selbst und sitzt auch
selbst die Strafe dafür a b " 9 . Sinjavskij und sein mitverurteilter Dichterkollege Julij
Daniel' hatten insofern den Anstoß geliefert, als der gegen sie im Februar 1966 insze­
nierte Prozeß wegen unerlaubter Publikation ihrer Werke im Ausland erst zur Entste­
hung des Samisdat mit seiner beträchtlichen Resonanz im Milieu der wissenschaft­
lichen und künstlerischen Intelligenz beigetragen hatte. Er gehorchte insofern dem
Marktprinzip, als nur das verbreitet wurde, was im Publikum Interesse fand. Die
Jahre zwischen 1967 bis etwa 1974 sahen eine erste Blüte von inoffiziellem Schrifttum.
In ihm drückte sich die Unzufriedenheit vor allem in Teilen der Intelligenz mit dem
Ende der Entstalinisierung und einer insgesamt wieder repressiver werdenden Kultur­
politik aus. Die politische Führung erklärte im Interesse der Konsolidierung der Partei
nach dem Sturz Chruščevs die Auseinandersetzung mit der Stalinzeit für beendet, ob­
wohl ihre intellektuelle und moralische „Bewältigung" gerade erst begonnen hatte.
Die sukzessive seit 1965/66 folgenden Publikationsverbote für Autoren wie A. J. Solženicyn, V. E. Maksimov, G. N . Vladimov, V. S. Grossman, um nur wenige zu nennen,
führte dazu, daß die Autoren selbst oder Redaktionen, welche die ihnen zugesandten
Texte nicht publizieren durften, diese zirkulieren ließen. Der literarische Samisdat, der
seitMitte der siebziger Jahredurch den Tamisdat (d. i. der Verlag draußen, im Ausland)
zurückgedrängt wurde, war zugleich begleitet von publizistischer Tätigkeit aus dem
7
8
9
Die folgenden Anmerkungen beschränken sich neben Zitatbelegen auf die wichtigste
Literatur mit dort zu findenden weiterführenden Literaturangaben.
S i n j a v s k i j , Andrej: Literatur als Prozeß. Kontinent (1974) Nr. 1, 129-171, hier 133.
B u k o w s k i , Wladimir: Wind vor dem Eisgang. Roman. Frankfurt 1981, 150-151.
284
Bohemia Band 29 (1988)
wissenschaftlichen und literarischen Milieu, von Protestbewegungen nationaler und
religiöser Minderheiten, der Krimtataren, der Juden und Sowjetdeutschen, der Bapti­
sten, der litauischen und ukrainischen Katholiken. N u r die Baptisten haben auch
Untergrundverlage für religiöses Schrifttum aufgebaut. Anlaß all dieser heterogenen
„Bewegungen" waren in der Regel staatliche Repressionen, die vom Parteiausschluß
über die Entlassung aus der Arbeitsstelle bis zur Einweisung in psychiatrische Haft­
kliniken oder zu gerichtlicher Verurteilung zu Gefängnis und Lager reichten 1 0 . Die
Informationen der „zweiten" Öffentlichkeit über die sowjetische „Unterwelt", ihre
polizeilichen und administrativen Sanktionen in Vergangenheit und Gegenwart
gehören zu den dauerhaftesten Themen des sowjetischen Samisdat, eine Folge dessen,
daß alle Manifestationen unabhängigen Denkens und Handelns Strafaktionen nach
sich zogen. Ihr auffälligstes Merkmal war immer die UnVerhältnismäßigkeit der
Strafen im Vergleich zu den „Delikten". Die Dokumentation der eigenen Tätigkeit
war - zumindest bis 1985 - immer zu einem erheblichen Teil die Schilderung des eige­
nen Leidensweges. Dies hat seinen Niederschlag gefunden in zahllosen literarischen
Meisterwerken wie in Solženicyns Im Ersten Kreis und Krebsstation und nicht zuletzt
im Archipel Gulag, in Vladimovs Der treue Hund Ruslan, in Sinjavskijs Eine Stimme
im Chor und in eher dokumentarischen Berichten wie in Andrej Amal'riks Unfreiwil­
lige Reise nach Sibirien und in Anatolij Marčenkos Aussagen. Diese Aufzählung ist
keineswegs erschöpfend. Die im Westen bekanntgewordenen Zeugnisse von Aktivi­
sten religiöser, nationaler, politischer und friedensbewegter Gruppierungen füllen
inzwischen zahllose Bände der Materialien des Samisdat, in München von Radio
Liberty seit 1973 in russischer Sprache herausgegeben 1 1 .
Aus dem - bis 1985 - repressiven Zuschnitt staatlichen Umgangs mit den „Abtrün­
nigen" und „Andersdenkenden" ergab sich die Zersplitterung des sowjetischen Samis­
dat und der ihn tragenden Gruppierungen, die untereinander zunächst nur selten
Kontakt und manchmal auch keine Kenntnisse voneinander hatten. Diesen Mangel
überwand allmählich die Chronik der laufenden Ereignisse. Sie wurde mit Unter­
brechung 1973-1974 von 1968 bis 1982 von einem wechselnden Herausgeberstab zu­
sammengestellt und ediert. Die Chronik versuchte alles zu dokumentieren, was offi­
ziell nicht publiziert wurde. Sie verfügte über ein erstaunlich weites geographisches
Informationsnetz. Ihre Schwerpunkte konzentrierten sich auf Nachrichten über
staatlichen Machtmißbrauch gegenüber religiösen, nationalen und „andersdenken­
den" Minderheiten, aber auch auf Nachrichten aus dem intellektuellen Leben der in­
zwischen entstandenen „informellen" oder „zweiten" Kultur 1 2 .
10
11
12
Zum Dissens (bis 1985/86) vgl. A l e x e y e v a , Ludmilla: Soviet Dissent. Middletown, Con.
1985. - B e y r a u , Dietrich: Anderes Denken, Dissens und Opposition, 1956-1986. In:
F e r e n c z i, C./L ö h r, B. (Hrsg.): Aufbruch mit Gorbatschow? Frankfurt 1987, 196-224.
- F ü r 1986-1987 E i c h w e d e , Wolfgang: Bürgerrechtsbewegung und neue Öffentlichkeit
in der UdSSR. Osteuropa 38 (1988) Nr. 1,18-34.
Archiv Samizdata. Sobranie dokumentov samizdata [Archiv des Samisdat. Dokumenten­
sammlung]. Bd. 1-30. München 1973-1978. Fortgesetzt als Materiály Samizdata. München
1978-1988. Auszüge: (Russischer) Samizdat. Bd. 1-22. Bern 1972-1987.
H o p k i n s , Mark: Russia's Underground Press. The Chronicle of Current Events. New
York 1983.
D. Beyrau u. I. Bock, Samisdat in Osteuropa
285
Die Chronik schlug auch die Brücke zu den in einigen Randrepubliken wie vor
allem in Litauen und in der Ukraine entstandenen Menschenrechtsgruppen und ihren
Publikationen. Hier verband sich der Einsatz für die bürgerlichen Grundrechte in der
Regel mit nationaler und religiöser Selbstbehauptung. In dem vergleichsweise dichten
Netz des Samisdat in Litauen sind Katholizismus und Nationalismus ähnlich wie in
Polen eine Symbiose eingegangen und bestimmen wesentlich den Inhalt der SamisdatPeriodika, so insbesondere in der seit 1972 publizierten Chronik der katholischen
Kirche Litauens, die auch auf Russisch erscheint 13 .
Seit Anfang der siebziger Jahre gab es im russischen intellektuellen Milieu immer
wieder Versuche, unabhängige Zeitschriften mit kulturpolitischer Zielsetzung herauszugeben. Ihr Spektrum reicht von konservativ-nationalistischen Strömungen, die
auch in offiziellen Zeitschriften wiederzufinden sind, bis hin zu reformkommunistischen Periodika, die um 1980 eine Renaissance erlebten. Daneben behaupteten sich v. a. in Leningrad - auch Zeitschriften religiös-philosophischer Orientierung, die im
Umfeld alternativer Künstlerkreise angesiedelt sind, ohne manifest politische Zielsetzungen zu vertreten. Um 1980 dürfte es etwa zwanzig, zumeist kurzlebige Periodika (im russischen Sprachraum) gegeben haben. Sie zirkulierten offenbar nur
in Freundeskreisen der Hauptstädte und Wissenschaftszentren. Sie besaßen wohl im Unterschied zum literarischen Sam- und Tamisdat - keine größere Breitenwirkung.
Obwohl der sowjetische Samisdat seit Mitte der sechziger Jahre in der Abwehr
gegen eine befürchtete Restalinisierung und als Folge gesteigerter Ansprüche v. a. in
der Intelligenz entstanden war, bewegten sich seine „großen Debatten" eher auf ideologischem Feld. Trotz der eigenen Aktivität stand weniger die Reform des bestehenden politischen Systems zur Diskussion. An sie vermochte offenbar niemand so recht
zu glauben. Schon 1968 sprach Amal'rik von der Vergreisung des Regimes 14 ! Beliebt
waren stattdessen grundsätzliche Erörterungen mit manchmal weltumspannenden
Retrospektiven und Zukunftsvisionen. Drei grundsätzliche Positionen, die sich z. T.
allerdings verzerrt und entschärft in den offiziellen Medien wiederfanden und ihr auch
Impulse vermittelten, sollen hier besonders herausgehoben werden: Andrej Sacharovs
eher sziento- und technokratische Vision einer sozialistischen Industriegesellschaft,
die mit der westlichen konvergiere. Aleksandr Solženicyns fundamentalistische Abrechnung mit dem Kommunismus als Teil der säkularisierten Zivilisation und seine
Utopie einer Kultur, die sich auf ihr russisches, orthodoxes und bäuerliches Erbe besinnen und sich auf eine ökologisch verträgliche Technologie umorientieren solle. Die
dritte Position ist mit Roj Medvedev und seinen reformkommunistischen Vorstellungen verbunden. Er ist einer der wenigen prominenten Dissidenten gewesen, der den
13
14
Zum Dissens und den Menschenrechtsgruppen in den einzelnen Sowjetrepubliken und den
nationalen Bewegungen vgl. insbes. A l e x e y e v a : Soviet Dissent (s. Anm. 10). - Für die
baltischen Republiken: ActaBaltica 16 (1977) u. ff. Bde. - Für die Ukraine: B r o w n e , M.
(Hrsg.): Ferment in the Ukraine. London 1971; V e r b a , L./Yasen, B. (Hrsg.): The
Human Rights Movement in Ukraine. Toronto 1980.
A m a l r i k , Andrej: Kann die Sowjetunion das Jahr 1984 erleben? Ein Essay. Zürich 1970,
37 ff.
286
Bohemia Band 29 (1988)
Glauben an die Möglichkeiten gradueller Reformen und partieller Demokratisierung
15
des sowjetischen Systems nicht verloren hatte .
Gleichwohl wäre es falsch, im Samisdat und in den Gruppen, die ihn trugen, eine
im engeren Sinne politische Bewegung oder eine politische Opposition zu sehen.
Nicht nur aus taktischen Gründen wurde dieser - im Westen oft unterstellte - An­
spruch zurückgewiesen, sondern auch, weil sich im Samisdat primär ein Bedürfnis
nach authentischer Reflexion und Manifestation eigenen Andersseins Ausdruck ver­
schaffte. Ihm kam es v. a. darauf an, sich aus institutionellen Zwängen und ideologi­
schen Schablonen zu befreien. Angesichts der repressiven Reaktionen von staatlicher
Seite und der Passivität in der Mehrheit der Intelligenz dominierte im Samisdat eine
moralische, aufs Prinzipielle gerichtete Situationsdeutung, die fast nirgends die Mög­
lichkeit eröffnete, in politischen Kategorien zu denken, geschweige denn zu handeln.
Das Dilemma von Samisdat, Dissens und Menschenrechtsgruppen lag in ihrer
Beschränkung auf das moralische Beispiel, das im Ausland vielleicht mehr Beachtung
fand als im Inland.
Dennoch kam dem sowjetischen Samisdat und Dissens für ganz Osteuropa bis An­
fang der siebziger Jahre eine Pionierfunktion zu. Bis dahin war in keinem der soziali­
stischen Nachbarländer ein zweiter Publikationsumlauf zu beobachten. Dies hing
wohl damit zusammen, daß hier bis 1968/70 stärker als selbst in der Sowjetunion weite
Teile der Intelligenz an die Reformfähigkeit und damit an die Möglichkeit einer
Demokratisierung des sozialistischen Systems geglaubt hatten. Erst die Besetzung der
CSSR, die Unterdrückung der Studentenunruhen in Polen und die politische Folgenlosigkeit technokratisch-ökonomischer Reformansätze in der DDR, Polen und Un­
garn stießen einen Lernprozeß an, der teils intendiert, teils ungewollt auf den Aufbau
von Gegenstrukturen hinauslief. Reformen wurden nicht mehr von der Partei und den
Bürokratien, sondern nur noch vom Ausmaß des gesellschaftlichen Druckes erwartet,
der auf diese ausgeübt würde. Programmatisch ist diese „Strategie" in Polen von Jacek
Kuron und Adam Michnik, in Ungarn von György Bence und Jánoš Kis (unter dem
Pseudonym Rakovski) und in der Tschechoslowakei von VáclavBenda formuliert wor­
16
den . Es ist sicher kein Zufall, daß diese Perspektive in der oppositionellen oder frondierenden Intelligenz in Ländern großen Anklang fand, deren Staatlichkeit und Sou­
veränität im 19. und 20. Jahrhundert immer wieder neu erkämpft werden mußte und
deren nationaler Bestand in der N o t mehr durch gesellschaftlichen Zusammenhalt und
nationalen Solidarismus als durch staatliche Macht gesichert worden war. Hier konnte
mithin eine Konzeption breite Resonanz finden, in der sich „die Gesellschaft" oder,
wie es Benda formulierte, „die parallele Polis" als Gegenpol zu Partei und Bürokratie
M e e r s o n - A k s e n o v , M. / S h r a g i n , B. (Hrsg.): The Political, Social and Religious
Thought of Russian ,Samizdat'. An Anthology. Belmont, Mass. 1977.
K u r o ň , Jacek: Gedanken zu einem neuen Aktionsprogramm. In: P e l i k á n , Jiří/Wilke,
Manfred (Hrsg.): Menschenrechte. Reinbek b. Hamburg 1977, 269-289. - M i c h n i k ,
Adam: Die Perspektive der Opposition - eine Evolution der Freiheit. E b e n d a 299-310. R a k o v s k i , Marc: Towards an East European Marxism. London-New York 1978; auszugs­
weise in: Die neue Linke in Ungarn. Berlin 1976, 138-167. - B e n d a , Václav: Paralelní
Polis [Die parallele Polis]. In: Křesťané a Charta 77. München 1980.
D.Beyrau u. I.Bock, Samisdat in Osteuropa
287
organisieren sollte, um auf diese Weise die Nation von einer inneren „Sowjetisierung"
zu schützen, denn diese, so Michnik, bedeute die politische „Analphabetisierung der
17
Gesellschaft" .
In Polen bestanden besonders günstige Voraussetzungen für autonome Aktivitäten.
Hier hatte die Partei der katholischen Kirche und ihren Laienzirkeln bereits seit 1956
einen - vergleichsweise - großen Spielraum einräumen müssen. Und nach 1968 be­
gannen die Gegensätze zwischen laizistischer, zumeist „linker" Intelligenz und den
katholischen Kreisen in der Konfrontation mit der Staatsmacht und ihren noch nicht
aufgegebenen totalitären Ansprüchen zu verblassen. Entscheidend war freilich das
Scheitern der Regierungen in der Wirtschaftspolitik. Die Mißerfolge sowohl Gomulkas als auch Giereks auf diesem Felde verhinderten die Ausbildung eines „Konsum­
paktes", wie in der Tschechoslowakei nach 1969, oder einer „Konsensdiktatur" 1 8 , wie
in Ungarn seit Mitte der sechziger Jahre. Ganz anders in Polen. Hier hat die Arbeiter­
schaft insbesondere der Großbetriebe und der Werften durch ihre periodischen
Streiks und Unruhen eine Taktik des „bargaining by riot" entwickelt. Sie brachte da­
mit ihre Ansprüche an die Politik nachdrücklich in Erinnerung. In Polen unterlagen
Partei- und Staatsmacht somit versteckten oder offenen Erwartungen „von unten",
die nicht ungestraft mißachtet werden durften. In der periodisch rebellierenden
Arbeiterschaft fand die frondierende und oppositionelle Intelligenz den Ansatzpunkt,
um ihr Konzept des Drucks von unten mit Realitätsgehalt zu füllen. Er kennt in die­
sem Ausmaß in Ost- und Ostmitteleuropa bisher keine Parallele.
Die moralische, rechtliche und materielle Hilfe, welche das im Gefolge der Arbeiter­
unruhen von 1976 entstandene Komitee zur Verteidigung der Arbeiter KOR den
Opfern der Polizeiwillkür gewährte, gab den entscheidenden Impuls zur Bildung wei­
terer unabhängiger Gruppierungen, die ihrerseits begannen, zu systematischer Publi­
kation überzugehen. Der entscheidende Unterschied zur Sowjetunion lag nicht nur in
der politischen Programmatik der verschiedenen Intelligenzzirkel mit ihren Protesten
und Memoranden (vor allem zur Verfassungsfrage 1975-76) 1 9 , sondern nach 1976 in
ihren Kontakten zu Betrieben, in denen ebenfalls Samisdat zirkulierte, hier vor allem
seit September 1977 der Robotnik [Arbeiter]. Schon bald stellte der polnische Samis­
dat in Umfang, Breitenwirkung und Produktionstechnik den sowjetischen bei weitem
in den Schatten. Der Begriff des Samisdat wurde abgelöst durch den der „unabhängi­
gen" Publikation. Vor dem August 1980 hatte sich bereits v. a. in den Großstädten ein
verzweigtes Netz von Flugschriften, Zeitschriften, Broschüren und Buchpublikatio­
nen etabliert. Schätzungsweise existierten im Sommer 1980 - noch vor Entstehung der
Solidarnošč — etwa 35 Verlage, über 40 Zeitschriften, und es waren über 500 Bücher
17
18
19
M i c h n i k , Adam: L'eglise et la gauche. Ledialoguepolonais. Paris 1977, 141.
H a r á s z t i , Miklós: Demokratie nur mit Autonomie. Gegenstimmen (1982) Nr. 8, 26-30.
- P e l i k á n , Jiří: Reform oder Revolution - die falsche Alternative. In: D e r s . / W i l k e ,
Manfred (Hrsg.): Opposition ohne Hoffnung. Reinbekbei Hamburg 1979,243-262, hier250.
R a i n a , Peter: Political Opposition in Poland 1954-1977. London 1978. - Ders.: Inde­
pendent Social Movements in Poland. London 1981. - H o l z er, Jerzy: Solidarität'. Die
Geschichte der freien Gewerkschaft in Polen. München 1984. - H i r s c h , Helga: Bewegun­
gen für Demokratie und Unabhängigkeit in Polen, 1976-1980. München 1985. - T h a d ­
d e n , Johannes: Krisen in Polen 1956, 1970 und 1980. Frankfurt 1986.
288
Bohemia Band 29 (1988)
mit Auflagen bis zu 5000 Exemplaren erschienen. Mindestens ebenso wichtig wie die
politische Publizistik war die literarische Produktion der unabhängigen Verlage, da
hier prominente Schriftsteller, die seit Anfang der siebziger Jahre faktisch unter Publi­
kationsverbot standen, ihre neuen Werke veröffentlichen konnten. Stellvertretend
seien hier Autoren wie Jerzy Andrzejewski, Tadeusz Konwicki oderStanisíaw Baraňczak genannt. Hinzu kam die relativ weite Verbreitung der in Paris erscheinenden
Zeitschrift Kultura, in der sich unbekümmert exilierte Autoren wie Leszek Kolakowski
und einheimische Autoren dem lesenden Publikum vorstellten.
Die Ära der Solidarnošč 1980-1981 sah ein weiteres Wachstum des unabhängigen
Schrifttums und zugleich eine beträchtliche Einschränkung der Zensur in den lizensierten Medien. Im Rahmen der Gewerkschaftsbewegung erschienen teils offiziell
genehmigte Publikationen wie das Hauptorgan, der Tygodnik Solidarnošč mit einer
Auflage von 500000 Exemplaren, teils Veröffentlichungen „nur für den inneren
Gebrauch". Die Anzahl der staatlich nicht genehmigten Periodika stieg in dieser Zeit
auf ca. 200.
Aber auch die Verhängung des Kriegsrechts am 13. Dezember 1981 hat das unab­
hängige Publikationswesen nicht prinzipiell beeinträchtigen können. In den Jahren
1982-1983 sollen ungefähr 80 unabhängige Verlage bestanden haben. Nach 1983
expandierte dieser Sektor wieder, mit Schwerpunkten in den Regionen von Warschau,
Krakau und Breslau, erstaunlicherweise nicht in Danzig und Stettin. 1986 wurden
etwa 100 unabhängige Verlage gezählt. Bei diesen Angaben bleibt allerdings zu be­
rücksichtigen, daß viele dieser Unternehmungen wohl nur kurze Zeit existierten. Die
Anzahl der „großen", über Jahre hinweg produzierenden Verlage dürfte zwanzig bis
dreißig kaum überschreiten. Dennoch wurden in letzter Zeit 400 bis 600 Zeitungen,
etwa 500 bis 600 Buchtitel pro Jahr ediert, mit Auflagen zwischen 3000 und 10000
Exemplaren. Die Buchproduktion, noch mehr die von Periodika und insbesondere
von Betriebszeitungen ist inzwischen unübersehbar und inhaltlich wie manchmal
auch in der Schnelligkeit der Produktion eine echte Konkurrenz zu den offiziellen
Medien. Unabhängige Gruppen drängen neuerdings auch auf den Kassetten- und
Videomarkt. Die wenigsten der Untergrundverlage dürften sich inzwischen allerdings
soweit konsolidiert haben, daß sie unter ökonomischen Gesichtspunkten rentabel
arbeiten. Dazu sind die Herstellungs- und Vertriebsbedingungen politisch zu un­
sicher. Die immer willkürlichen staatlichen Strafaktionen reichen - seltener werdend
- von der Verhaftung über empfindliche Geldstrafen und haben die Beschlagnahme
der Druckgeräte, manchmal auch der Autos, die zum Transport benutzt wurden, zur
Folge. Deshalb hat sich im Januar 1986 ein Versicherungsfonds für unabhängige Ver­
lage und Druckereien gebildet, der die staatlichen Eingriffe entschädigen möchte. Da­
neben existiert ein Gesellschaftlicher Rat für unabhängige Verlage, der 1986 Subsidien
an 46 Verlage verteilt hat.
Die anhaltende ökonomische Krise Polens scheint insbesondere die Verbreitung
von Periodika und Bulletins zu bedrohen, da wegen der Verarmung der Angehörigen
des Dienstleistungssektors und der Studierenden viele Periodika, aber auch Bücher
wegen der hohen Preise, die oft nicht einmal kostendeckend sind, nicht gekauft wer­
den können. Auseinandersetzung um Subsidien (auch aus dem Westen), schlechte
Lesbarkeit mancher Texte und die Gefahr einer Produktion am Leserinteresse vorbei
D.Beyrau u. I.Bock, Samisdat in Osteuropa
289
bleiben bei einer Massenproduktion, die angeblich etwa 4 Millionen Leser erreichen
20
soll, nicht aus .
Im unabhängigen Kommunikationsnetz, in dem zahllose politische Gruppen und
Kreise mit eher kulturellen Ambitionen Ausdrucksmöglichkeiten suchen, hat sich in
der Tat so etwas wie eine Gesellschaft gegen den Staat konstituiert. Das Regime sah
sich daher zu beträchtlichen Konzessionen veranlaßt, und gegenüber den offiziellen
Medien wird ein echter Konkurrenzdruck erzeugt. Ähnlich wie zwischen der Kirche
und dem Staat gibt es einen allerdings ungleichen Dialog zwischen den unabhängigen
und staatlich genehmigten Medien, die - wie die katholische Publizistik - nicht immer
als „offiziell" angesprochen werden können. In dem Maße, in dem sich der zweite
Umlauf institutionalisiert hat, ist sein politisches und soziales Spektrum differenzier­
ter geworden, hat sich die faktische Interessen- und Meinungspluralität gegen den
Monopolanspruch von Partei, Militär und Bürokratie durchgesetzt und diese manch­
mal „infiziert". Abgesehen von den gewerkschaftlich orientierten und betriebsnahen
Zeitschriften, Zeitungen und Broschüren reichen die Positionen in den unabhängigen
Publikationen von sozialdemokratischen über neoliberale bis hin zu konservativen
und fundamentalistisch-katholischen Orientierungen, so daß die Gesellschaft heute
mit einer Vielzahl von Stimmen spricht und oft mehr mit sich selbst als mit den Behör­
den in Dialog und Streit liegt.
N u r wenig später als in Polen entstand auch in Ungarn ein eigenständiger Samisdat.
Er beschränkt sich allerdings zunächst auf intellektuelle Zirkel in Budapest. Seine
Aktivisten sind aus dem Kreis der Lukacs-Schüler hervorgegangen, die sich allmählich
aus dem Schatten ihres großen Lehrmeisters lösten. Es ist eine Ironie der intellektuel­
len Geographie Europas, daß in den ostmitteleuropäischen Ländern, denen das
sowjetsozialistische Regiment im wesentlichen von außen aufgezwungen worden
war, z. T. bis Mitte der siebziger Jahre ein nach 1956 intellektuell revitalisierter Mar­
xismus eine größere Rolle gespielt hat als im ersten Arbeiter- und Bauernstaat der
Welt. Hier hatte der Marxismus-Leninismus nur noch herrschaftslegitimatorische
Funktionen inne und war im übrigen von gähnender Langeweile. In Ostmitteleuropa
nahm er dagegen - zumeist von offizieller Seite mit dem Vorwurf des Revisionismus
belegt - sowohl in der Wirtschaftstheorie (O. Lange, W. Brus und O. Šik) als auch
in der Philosophie und politischen Theorie (die frühen Schriften von J. Kuroň,
K. Modzelewskiund Kolakowski, A. Schaff, G. Lukács, E. Bloch, R. Bahro, K. Kosík
und I. Sviták) beachtliche Positionen im Geistesleben ein.
Die Entstehung des Samisdat in Ungarn ist weitgehend gleichzusetzen mit dem
intellektuellen Abschied vom Marxismus, ohne damit einem antikommunistischen
Furor anheimzufallen, wie er z. T. im sowjetischen Dissens (und der Emigration) oder
in Polen verbreitet ist. Die eigene „Vergangenheitsbewältigung" und Überwindung
der alten Paradigmen manifestierte sich im ungarischen Fall nicht nur in Rakovskis
Manifest, in György Konráds und Ivan Szelényis Der Weg der Lntelligenz zur
20
M a c k , Manfred: Die Durchbrechung des staatlichen Informationsmonopols: Zehn Jahre
unabhängige Öffentlichkeit in Polen. Sozialwissenschaftliche Informationen 16 (1987) Nr. 3,
181-189. - Zusätzliche Informationen: Uncensored Poland News Bulletin (London 1987)
Nr. 3, 26-32; Nr. 9, 36-38; Nr. 15, 26-28.
290
Bohemia Band 29 (1988)
Klassenmacht und in der Sammelschrift Marx im vierten Jahrzehnt, sondern insbesondere in einer Gedenkschrift für den 1979 verstorbenen Politiker und Publizisten
István Bibó, dessen politischer und intellektueller Werdegang nach 1945 zum Symbol
für einen „dritten Weg" Ungarns (und Ostmitteleuropas) zwischen Ost und West
wurde und in dessen Namen zwischen verschiedenen intellektuellen Zirkeln Ungarns
1980 eine Art „geistige Einheitsfront" 21 hergestellt wurde. Seit dem fehlgeschlagenen
Prozeß gegen Miklós Harászti (Oktober 1973), der wegen einer kritischen Betriebsreportage, im Westen unter dem Titel Stücklohn erschienen, angeklagt wurde und
unter der Intelligenz große moralische Unterstützung fand, verzichtete die politische
Führung darauf, unabhängige intellektuelle Manifestationen in der Weise zu verfolgen
und zu unterdrücken, wie dies bis 1985 in der Sowjetunion geschah. Die Symptome
politischer Unrast sind für das Regime eher Ausdruck einer „schlechten Laune" 22
einer frustrierten Minderheit in der Intelligenz. Diese sieht sich einer politischen Taktik gegenüber, die zwischen Ausübung von Druck - z. B. von zeitweiligen Berufs-,
Reise- und Publikationsverboten im Falle prominenter „Dissidenten" und härterer
Strafen bei unbekannten Manifestanten - und Integrationstechniken schwankt. So
konnte zwischen Anfang 1981 und Ende 1982 einer der Initiatoren des ungarischen
Samisdat, Lázslo Rajk, seine Wohnung in der Budapester Innenstadt zu einem allgemein bekannten Verteilungsort von Samisdat machen. Hier wurden bis Anfang
1982 80000 Seiten Samisdat für einen Forint je Blatt verkauft und Bestellungen entgegengenommen. Inzwischen hat der ungarische Samisdat das Stadium der „Schreibmaschinen-Kultur" ebenfalls hinter sich gelassen. Jetzt existieren konkurrierende
Periodika und unabhängige Verlage, deren Produktion ähnlich wie in Polen behindert, aber nicht grundsätzlich unterdrückt wird. Seit dem Oktober 1981 erschien als
erste Zeitschrift Beszelö [Der Sprecher], 1987 mit einer Auflage von ca. 2000 Exemplaren. Ähnlich wie die sowjetische Chronik der laufenden Ereignisse hat sie sich auf
unterdrückte Nachrichten spezialisiert. Im November 1983 kam Hirmondó [Der
Bote] heraus, 1987 mit einer Auflage von etwa 1200 Exemplaren. 1987 liefen acht größere Periodika um. Zu Beginn 1982 wurde der erste unabhängige AB-Verlag gegründet 23 . 1987 existierten weitere fünf Unternehmen. Eine Bibliographie für die Zeit zwischen 1981 und 1985 nennt 110 Titel aus unabhängiger Produktion. 1987 erschienen
schätzungsweise zwischen 300 und 400 Titel, davon allein im AB-Verlag etwa 200 24 .
Wenn sich das unabhängige Schrifttum Ungarns in seinem Umfang auch nicht mit
dem Polens messen kann, so befinden sich seine Autoren doch ähnlich wie im heimlichen Vorbild Polen in einem Dialog mit den offiziellen Medien. Das ungarische unabhängige Publikationswesen erfüllt einerseits - wie in ganz Osteuropa - eine komplementäre Funktion, indem es Themen und Autoren auf den Markt bringt, die offiziell tabuisiert sind. Andererseits liefert es Anstöße, welche die offiziellen Medien
dazu veranlassen, diese Themen aufzunehmen, manchmal zu „vereinnahmen" und
21
22
23
24
D a l o s , György: Archipel Gulasch. Die Entstehung der demokratischen Opposition in
Ungarn. Bremen 1986, 76.
E b e n d a 75.
Mit Siebdruck großes Programm. Gegenstimmen (1982) Nr. 9, 24-27.
A Magyar Szamizdat 5 éve. 1981 December - 1985 November. A Sokszorosított magyar
politikai szamizdat bibliográfiája. Budapest November 1985.
D.Beyrau u. I.Bock, Samisdat in Osteuropa
291
damit politisch zu entschärfen. Als Beispiel hierfür ließe sich der Umgang mit dem
Aufstand von 1956 zitieren. Die Opposition hat dieses Thema der Verdrängung und
Vergessenheit entrissen, bis sich auch die offiziellen Medien gezwungen sahen, ihre
bisherigen stereotypen Sprachregelungen zu diesem Gegenstand zu revidieren. Zwar
wurde nicht die „volle Wahrheit" zugelassen, aber doch flexibler als früher argumen­
25
tiert . Es ist diese Form von repressiver Toleranz seitens der Partei und der Behör­
den, die ein eigenartiges Wechselspiel zwischen Regime und Opposition verankert
hat. Ein umfassendes politisches Programm der Opposition oder einzelner ihrer
Repräsentanten wurde erst in jüngster Zeit formuliert. Aber auch dieses, in der Zeit­
schrift A Demokrata [Der Demokrat] 2 6 publiziert, scheint die amtlichen Reform­
versprechen beim Wort zu nehmen und damit weiter zu treiben, als sie von offizieller
Seite gemeint sein mögen. Dabei stehen sie nicht in prinzipiellem Widerspruch zu die­
sen. So fungiert die ungarische Opposition stärker wohl als in den „Bruderländern" als
Ideenlieferant und Tabubrecher, auf den das ebenso reformorientierte wie ratlose
Regime kaum noch verzichten könnte.
Die Entstehung des tschechischen Samisdat17 ist mit der politischen Geschichte
der CSSR nach 1968 eng verbunden. Die Niederschlagung des Prager Frühlings und
die nach dem Machtantritt Gustav Husáks im April 1969 eingeleitete Politik der
„Normalisierung" hatten vor allem für die Intellektuellen des Landes verheerende
Folgen: Eine Vielzahl von Wissenschaftlern, Schriftstellern, Künstlern und Journali­
sten wurden mit Berufs-, Publikations- und Ausstellungsverboten belegt, andere
mußten die Tschechoslowakei verlassen, um sich der Verfolgung zu entziehen. Einige
Mutige, die es wagten, ihre Stimmen gegen die „Wiederherstellung der Ordnung" 2 8
öffentlich zu erheben, wurden sogar strafrechtlich belangt und in Haft genommen.
Man erinnere sich an die Prozesse gegen Vladimir Skutina, Milan Hübl, Rudolf Battěk, Jan Tesař, Jaroslav Sabata u. a., die Anfang der siebziger Jahre im Westen Schlag­
zeilen machten. Von den Repressalien besonders stark betroffen waren die Schriftstel­
ler. Das Dokument N r . 12/1977 der Charta 77 spricht von mindestens 350 Autoren
(130 von ihnen werden namentlich aufgeführt), denen die Publikationserlaubnis ent­
zogen wurde. Das entspricht ungefähr zwei Dritteln des Mitgliederstandes des tsche­
chischen Teils des Schriftstellerverbandes von 1968. Außerdem mußten alle literari­
schen Zeitschriften ihr Erscheinen einstellen und schließlich wurde auch der Schrift K n a b e , Hubertus: Eine Revolution in Anführungszeichen? Zur neueren Rezeption des
Volksaufstandes in Ungarn 1956. Osteuropa 37 (1987) Nr. 5, 339-349. - H e l l e r , Agnes/
F e h e r, Ferenc: Ungarn '56. Geschichte einer antibolschewistischen Revolution. Hamburg
1982.
A Programme of Democratic Renewal. Draft Proposals. East European Reporter 2 (1986)
Nr. 1,6-9.
In der Slowakei gibt es, von einigen religiösen Periodika - z. B. Una Sancta Catholica
(1983-84) und Náboženstvo a súčasnosť [Religion und Gegenwart, seit 1982] - abgesehen,
keinen nennenswerten Samisdat. Autoren wie Dominik Tatarka und Milan Simečka ver­
öffentlichen ihre Arbeiten daher vorwiegend in Prager Editionen.
So der Titel einer bemerkenswerten Darstellung der „Normalisierung" - vgl. S i m e č k a ,
Milan: Obnovení pořádku [Wiederherstellung der Ordnung]. 2. Aufl. London 1984.
292
Bohemia Band 29 (1988)
Stellerverband aufgelöst. Diese Entwicklung veranlaßte L. Aragon, vor einem „Biafra
des Geistes" in der Tschechoslowakei zu warnen 29 .
Daß zunächst kein nennenswerter Widerstand gegen die „Normalisierungspolitik"
aufgekommen ist, hing nicht zuletzt damit zusammen, daß sie keineswegs mit einem
Schlag, sondern schrittweise, geradezu schleichend vollzogen wurde 3 0 . Weite Teile
der Bevölkerung, darunter auch die Intellektuellen, glaubten lange Zeit, daß der politische Schaden begrenzt und zumindest ein Teil des Reformprogrammes von 1968 gerettet werden könne. Sie trauten Husák eine ähnliche Rolle zu, wie sie Jánoš Kádár in
Ungarn übernommen hatte. Die politische Biographie des neuen Ersten Sekretärs - er
wurde 1951 wegen bürgerlichen slowakischen Nationalismus zu lebenslanger Haftstrafe verurteilt und kam erst 1960 frei - wie auch sein Engagement während des Prager Frühlings schienen solche Hoffnungen zu rechtfertigen. Erst die spektakulären
politischen Prozesse des Jahres 1972 machten ihre Haltlosigkeit auch den größten
Optimisten deutlich. Sie lösten eine Welle der Solidarität aus und trugen wesentlich zur Entstehung des Dissens bei: Als alle „Illusionen bezüglich der Möglichkeit
einer baldigen positiven Wende in der gesellschaftlichen Entwicklung" zerstört
waren, trat „die Frage nach der eigenen Existenz in dieser Gesellschaft" in den Vordergrund 31 .
1973 kann, cum grano salis, als das Geburtsjahr des unabhängigen tschechischen
Schrifttums bezeichnet werden. In Prag und in anderen tschechischen Städten zirkulierten zwar schon vorher verschiedene „inoffizielle" Texte vorwiegend politischen
Charakters, so die sog. Zehn Punkte aus Anlaß des ersten Jahrestages der Okkupation
im August 1969, Aufrufe zu den Wahlen Ende 1971 oder Erklärungen einer „Bewegung der revolutionären Jugend", doch handelte es sich dabei um isolierte Aktionen, die mit der in diesem Jahr einsetzenden Entwicklung nicht vergleichbar waren.
Während unmittelbar nach 1973 Protestbriefe, Petitionen und Aufrufe weiterhin die
wichtigsten Textgattungen bildeten, brachte die zweite Hälfte der siebziger Jahre eine
wahre Explosion des literarischen Samisdat und des periodischen Schrifttums verschiedenster Provenienz mit sich. Motor dieser Entwicklung, "wie auch der Entstehung anderer „paralleler Strukturen" (z.B. des VONS, des Komitees für die Verteidigung von zu Unrecht Verfolgten, der sog. Patocka-Universität und anderer Kreise
von Wissenschaftlern, des Wohnungstheaters von Vlasta Chramostová usw.), war die
Menschen- und Bürgerrechtsbewegung Charta 77.
Das auffälligste Charakteristikum des nicht-lizensierten Schrifttums in der CSSR
bildet zweifellos die dominante Stellung der Literatur. Ihre Bedeutung wird auch
durch den Vergleich mit den Publikationen der Staatsverlage unterstrichen. Er macht
deutlich, daß sich in den siebziger Jahren der Schwerpunkt der tschechischen Literatur
in den Samisdat verlagert hat. Charakteristisch ist weiterhin die ständig wachsende
29
30
31
Zit. nach M y t z e , Andreas W.: Milan Kundera. Berlin 1976, 36 (Europäische Ideen 20).
Detaillierte Angaben zu den einzelnen Phasen der „schleichenden Normalisierung" findet
manu. a. bei K a p l a n , Karel: Politische Persekution in der Tschechoslowakei 1948-1972.
Köln 1983 (Forschungsprojekt Krisen in den Systemen sowjetischen Typs. Studie Nr. 3).
P i s t o r i u s , Vladimír: Stárnoucí literatura [Die alternde Literatur]. Prag 1986, 13. Allerdings setzt der Autor die Zäsur erst Mitte der siebziger Jahre.
D. Beyrau u. I. Bock, Samisdat in Osteuropa
293
Anzahl von Fachzeitschriften, religiösem Samisdat und von Veröffentlichungen des
sog. Underground.
Das typische Herstellungsverfahren des tschechischen Samisdat wird durch den
Terminus „Schreibmaschinen-Kultur" angezeigt. Es gibt zwar auch hektographierte,
photokopierte und sogar gedruckte Texte, sie stellen aber die Ausnahme dar. Wäh­
rend die in den Editionen veröffentlichten Werke und ein Teil der Zeitschriften (übri­
gens recht professionell) gebunden oder broschiert sind, erweisen sich andere Perio­
dika als Lose-Blatt-Sammlungen. Die Autoren geben meist ihre richtigen Namen an,
vielfach werden aber auch Pseudonyme und Chiffren verwendet. Einige Veröffent­
lichungen führen sogar eine Art Impressum auf, in dem neben dem Erscheinungsort,
dem Erscheinungsjahr und dem Autor auch der Herausgeber (z. T. mit voller
Adresse), der Name der Edition oder des Periodikums, deren Nummer u. a. m. an­
gegeben werden.
Im folgenden werden zunächst die Editionen beschrieben, die als ein Spezifikum
des tschechischen Samisdat gelten können. Die sicherlich bekannteste ist die bereits
1973 gegründete Edice Petlice [Edition hinter Schloß und Riegel], ein „Ein-MannVerlag" des Schriftstellers Ludvík Vaculík, der „ohne Redaktion und Administration
[...], ohne moderne Technik, selbstverständlich auch ohne Autorenhonorar" arbei­
tet 3 2 . Er hat seit seiner Entstehung 1973 bis heute über 350 Titel herausgegeben. Ein­
zelne Exemplare der „Originalauflage" sind vom Verfasser persönlich signiert und
enthalten, um die Legalität des Unternehmens zu unterstreichen, den Hinweis, daß
weitere Vervielfältigung verboten sei.
Den editorischen Schwerpunkt der Edice Petlice bildet die tschechische Gegenwarts­
literatur, deren wichtigste Vertreter nahezu vollständig unter ihren Autoren vertreten
sind - so, mit jeweils mehreren Titeln, die Lyriker Jaroslav Seifert, Jan Skácel, Oldřich
Mikulášek, Karel Siktanc und Jiří Kolář, die Prosaisten Bohumil Hrabal, Ivan Klíma,
Vaculík, Jiří Gruša und Alexandr Kliment und die Dramatiker Václav Havel, Pavel
Kohout, Milan Uhde und Josef Topol. Neben literarischen und literaturkritischen
Arbeiten hat die Edice Petlice einige Sammelbände - Festschriften und Aufsatzsamm­
lungen zu bestimmten Themen - sowie periodische Schriften veröffentlicht. Der
letztgenannten Kategorie gehören beispielsweise Moravská čítanka [Mährisches Lese­
buch], Z obsahu [Aus dem Inhaltsverzeichnis] und Československý fejeton [Tsche­
choslowakisches Feuilleton] an. Als besonders interessante Einzeltitel seien schließ­
lich noch České rozhovory [Tschechische Gespräche], Jiří Lederers Interviews mit
einer Reihe prominenter Autoren, die nach 1968 auf den Index gesetzt wurden, eine
in deutscher Sprache unter dem Titel Die Stunde namens Hoffnung herausgegebene
Anthologie neuester tschechischer Literatur und das Kollektivwerk Slovník českých
spisovatelü [Lexikon tschechischer Schriftsteller] herausgegriffen.
Im Unterschied zur Edice Petlice, in der die Autoren gleichsam als Selbstverleger
fungieren, übernimmt im Fall der 1975 entstandenen Edice Expedice [Edition Expedi­
tion] ein namentlich aufgeführter Herausgeber die Verantwortung für das Erscheinen
der einzelnen Werke - der Dramatiker Havel. Dies wurde in allen bis 1979 aufgeleg-
K o h o u t , Pavel: Wo der Hund begraben liegt. München-Hamburg 1987, 107.
294
Bohemia Band 29 (1988)
ten Titeln durch die Angabe „Im Jahre . . . für sich und seine Freunde von Václav Havel
abgeschrieben" kundgetan. In den Jahren 1979-1981, während Havels Haft, unter­
zeichnete als Herausgeberin dessen Frau Olga und seit 1983 wurde schließlich auf die
entsprechende Angabe gänzlich verzichtet.
In der Edice Expedice sind bisher über 200 Titel veröffentlicht worden. Die ersten
122 von ihnen konstituieren eine „schwarze Reihe" (sie sind einheitlich mit einem
schwarzen Einband versehen), die später erschienenen Arbeiten eine „helle Reihe" (sie
haben einen sandfarbenen Einband). In ihrem Profil unterscheidet sich die Edice
Expedice kaum von der Edice Petlice, wenn auch auffällt, daß sie häufiger nichtliterarische Werke und Werke von ausländischen Autoren (z. B. H . Arendt,
R. M. Rilke, C. G. Jung, P. Verlaine, Cz. Milosz, und O . Mandel'stam) auflegt, und
daß ihre tschechischen Autoren, insgesamt gesehen, vielleicht etwas weniger promi­
nent sind.
Ebenfalls in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre nahmen die Edice Kvart [Edition
Quarto], die Česká expedice [Tschechische Expedition] und die Edice Popelnice [Edi­
tion Ascheimer] ihre Arbeit auf.
Die Edice Kvart, so genannt nach dem Quarto-Format ihrer Veröffentlichungen,
brachte in den fünf Jahren ihrer Existenz (1975-1980) insgesamt 120 Titel heraus.
Neben literarischen Texten findet man vor allem philosophische und literaturkritische
Arbeiten. Hier erschienen u. a. einige Werke des tschechischen Philosophen Jan
Patočka, Deštník z Piccadilly [Der Regenschirm von Piccadilly], ein bedeutender
lyrischer Zyklus des Literatur-Nobelpreisträgers Seifert, Arthur Koestlers Roman
Sonnenfinsternis und eine mehrbändige Ausgabe literaturkritischer Studien des Her­
ausgebers der Edition Jan Vladislav.
Wahre bibliophile Schätze stellen einige der in der Česká Expedice veröffentlichten
Werke dar. Sie sind nicht nur exzellent redigiert, sondern enthalten vielfach wertvolle
Original-Lithographien und -Graphiken. Česká Expedice umfaßt u. a. die Lyrikreihe
Asyl, die literaturkritische Reihe Prostor (Raum) und eine Reihe mit Arbeiten des Edi­
tionsgründers Jaromír Hořec.
Die im Jahre 1978 ins Leben gerufene Edice Popelnice beschränkt sich demgegen­
über weitgehend auf die Vervielfältigung von Werken, die in anderen Editionen zuvor
erschienen sind. So findet man unter den ersten 112 Titeln lediglich 20 ursprüngliche
Arbeiten 3 3 . Einen Schwerpunkt der Edice Popelnice bilden Texte der ehemaligen Mit­
glieder der Gruppe Safran und des Underground.
Andere Editionen weisen ein spezielleres - professionell oder weltanschaulich be­
stimmtes - Profil auf und wenden sich an einen entsprechenden Leserkreis. Die Edice
nové cesty myšlení [Edition neue Wege des Denkens] mit 29 Titeln zwischen 1977 und
1987 z. B. konzentriert sich auf philosophische Arbeiten tschechischer Autoren, die
Edice renega (ca. ein Dutzend Titel zwischen 1980 und 1981) auf politische Texte, in
denen die Desillusion „ehemals engagierter Anhänger des sozialistischen Denkens" 3 4 ,
darunter Milován Djilas, Koestler, George Orwell und Konwicki thematisiert wird,
33
34
Vgl. die Angaben in: Kritický sborník (1986) Nr. 2, 85-87.
Kritický sborník (1986) Nr. 3, 89.
D. Beyrau u. I. Bock, Samisdat in Osteuropa
295
und die Edice Jungiana (19 Titel zwischen 1980 und 1987) auf. Werke Jungs und seiner
Nachfolger. Die 1980 bzw. 1981 entstandenen Editionen Duch a život [Geist und
Leben], Přátelé [Freunde] und Orientace [Orientierung] bringen religiöse und theolo­
gische Texte heraus, und zwar nach vorliegenden Angaben für den Zeitraum bis Ende
35
1984 insgesamt 33 Titel . Einen Sonderstatus haben die Edice SOS (seit 1978), die
Edice kde domov mhj [Edition wo ist mein Vaterland] und die Edice mozková mrtvice
[Edition Gehirnschlag], letzere mit 11 Titeln bis 1986. Sie spezialisieren sich auf Texte
des Underground. Dieses Phänomen, das in keinem anderen ost- oder ostmittel­
europäischen Land solche Ausmaße wie gerade in der Tschechoslowakei angenom­
men hat, bedarf einer Erläuterung.
Laut Ivan Jirous alias Magor, dem ehemaligen künstlerischen Leiter der Rock­
gruppe The Plastic People of the Universe und einem Theoretiker des Underground,
ist dieser „an keine bestimmte künstlerische Richtung und an keinen bestimmten Stil"
gebunden, sondern es handelt sich lediglich um „eine geistige Haltung von Intellek­
tuellen und Künstlern", die sich „von der Welt, in der sie leben, bewußt kritisch ab­
wenden" 3 6 . Außenstehenden drängt sich demgegenüber der Eindruck auf, daß Musik
und Texte des Underground durchaus eine spezifische Weltsicht vermitteln und einen
eigenen „Stil" aufweisen. Jirous selbst weist im übrigen darauf hin, daß der Rock die
typische Äußerungsform des Underground ist. Ein literarisches „Programm" deuten
bereits die Namen der ausländischen Autoren an, deren Texte in den UndergroundPeriodika vorzugsweise präsentiert werden. Darunter findet man L. F. Celině und
H. Miller, Ch. Bukowski und J. Orton, E. Limonov und T. Leary. Aber auch die
Literatur des tschechischen Underground selbst läßt gemeinsame Merkmale erken­
nen. Typische Beispiele bilden Egon Bondys Invalidní sourozenci [Invalide Ge­
schwister] und Jan Pelc' ... a bude hůř [... es wird schlimmer kommen]. In Pelc'
skandalumwittertem Roman wird das Leben einer Gruppe Jugendlicher dargestellt,
denen eine „asoziale" Existenz als wesentlich erstrebenswerter erscheint als die An­
passung an die gesellschaftlichen Normen: Statt Karriere und materiellem Wohlstand
nachzujagen, veranstalten sie endlose Trinkgelage und sexuelle Orgien, experimentie­
ren auch mit Drogen, vermeiden, soweit es geht, geregelte Arbeit, stehlen und ernäh­
ren sich von Abfällen, werden von der Polizei gejagt, geschlagen und landen schließ­
lich immer wieder im Gefängnis oder in der Psychiatrie. Die radikale Abkehr von der
Gesellschaft und die Schaffung einer Subkultur charakterisieren also nicht nur die
Lebenshaltung der Autoren, sondern sie bilden zugleich ein zentrales literarisches
Thema. Dies ist, wie der Vergleich mit anderen Werken des Underground verdeut­
licht, keineswegs nur bei Pelc der Fall (vgl. z. B. die Subkultur der Invaliden bei
Bondy). Der typische „Stil" der Underground-Literatur
schließlich läßt sich tentativ
mit folgenden Stichworten beschreiben: krasser Naturalismus und Antiästhetizismus,
bewußter Primitivismus, Bemühen um Authentizität und Gebrauch von Slang und
Vulgarismen.
Vgl. die Angaben in: Český katolický samizdat 1978-1985 [Der tschechische katholische
Samisdat 1978-1985]. Informace o Chartě 77 (1986) Nr. 5, 10-12.
M a g o r [ J i r o u s , Ivan]: Zpráva o třetím hudebním obrození [Bericht über die dritte musi­
kalische Wiedergeburt]. Čs. Underground. Bd. 1 / A. Prag 1984, 83 f.
296
Bohemia Band 29 (1988)
Die Anzahl der Periodika, der neben den Editionen wichtigsten Veröffentlichungen
des tschechischen Samisdat, ist außerordentlich groß und ihre Themen, ihr Niveau
und ihre Erscheinungsdauer sind sehr unterschiedlich. Im folgenden kann nur ein Teil
von ihnen vorgestellt werden. Dabei wird zwischen politischen, literarischen, religiö­
sen und Fachzeitschriften sowie den Revuen des Underground unterschieden.
Außerhalb dieser Kategorien stehen die seit Anfang 1978 in etwa einmonatlichem
Rhythmus erscheinenden Informace o Chartě77 [Informationen über die Charta 77].
Sie enthalten neben Dokumenten der Charta 77 und anderem Charta-Material die
Mitteilungen des VONS (777 Mitteilungen über konkrete Fälle von Menschenrechts­
verletzungen bis Anfang Juni 1988), Nachrichten aus dem In- und Ausland und seit
einigen Jahren auch ein Verzeichnis der Veröffentlichungen des Samisdat. Als Her­
ausgeber zeichnet der Charta-Signatar Petr Uhl verantwortlich.
Ein beachtliches wissenschaftliches Niveaulassen Kritický sborník [Kritischer Alma­
nach] und O divadle [Über das Theater] erkennen. In der 1981 gegründeten Viertel­
jahresschrift Kritický sborník findet man vor allem Untersuchungen, Berichte und
Essays über die tschechische Literatur (im geringeren Umfang auch über andere Berei­
che der Kultur) sowie Rezensionen. Einige Beiträge befassen sich darüber hinaus mit
der kulturellen Entwicklung in anderen europäischen und außereuropäischen Län­
dern und vereinzelt werden auch Übersetzungen von im Ausland publizierten Texten
wiedergegeben (z. B. das Havel gewidmete Spiel The Catastrophe von Samuel Beckett
oder Auszüge aus Miloszs Buch Das verführte Denken). Die seit 1986 veröffentlichte
Zeitschrift O divadle spezialisiert sich demgegenüber auf das Theaterleben. In ihr
werden neben theoretischen Artikeln, Berichten über wichtige Inszenierungen,
Rezensionen und Feuilletons in der Rubrik Für das Archiv u . a . alle Aufführungen von
Havels und Uhdes Spielen, alle Rollen, in denen die Schauspieler Chramostová und
Pavel Landovský aufgetreten sind, und alle Aktivitäten des sog. Wohnungstheaters
aufgelistet.
Seit 1985 gibt es zwei philosophische Periodika - Paraf'[ein Akronym für Paralelní
akta filozofie, Parallele Acta der Philosophie], herausgegeben von Benda, und Reflexe
[Reflexionen], herausgegeben von einem Kollektiv um Ladislav Hejdánek. Sie sind
trotz weltanschaulicher Gegensätze beide darum bemüht, „für alle Auffassungsrich­
tungen in der tschechischen und slowakischen nichtoffiziellen Philosophie offen zu
bleiben" bzw. „ein möglichst repräsentatives Bild der tschechoslowakischen Philoso­
phie" zu liefern 37 . Ausdruck dieser Dialogbereitschaft ist die geplante Herausgabe
eines gemeinsamen Sammelbandes.
Ein Indiz für die Suche der tschechischen Intellektuellen nach geistiger und kultu­
reller Identität ist die 1984 ins Leben gerufene Zeitschrift Střední Evropa [Mittel­
europa] mit zehn Nummern bis Februar 1988. In ihren Beiträgen werden verschiedene
politische, historische, kulturelle und religiöse Aspekte des „geistigen Raumes"
Mitteleuropa untersucht 3 8 . Neben vielen Autoren aus der CSSR kommen dabei auch
solche aus anderen Ländern (z. B. Konrád, A. Glucksmann, T. G. Ash, B. Chazanov,
A. Wandruszka und K. Schlögel) zu Wort.
37
38
B e n d a , Václav: Slovo úvodem [Ein Wort zur Einleitung]. In: Paraf (1985) Nr. 1, 5.
U l r i c h , Jan: Úvod [Einleitung]. In: Střední Evropa (1985) Nr. 1,3.
D. Beyrau u. I. Bock, Samisdat in Osteuropa
297
Zumindest genannt werden sollen drei weitere Fachzeitschriften: Historické studie
[Historische Studien], seit 1978 - die an anderer Stelle dieses Bandes eingehend er­
örtert werden - , Ekonomická revue [Ökonomische Revue, ebenfalls seit 1978] und
Sociologický obzor [Soziologische Rundschau, seit 1987].
Seit einigen Jahren läßt sich eine deutliche Zunahme des religiösen und theologi­
schen - vorwiegend katholischen - Samisdat beobachten. Ihren Hintergrund bildet
eine Renaissance des Glaubens in der Tschechoslowakei. Sie wurde 1985, anläßlich
der spektakulären 1100-Jahr-Feier des „Glaubensapostels der Slaven" Method in
Velehrad, auch im Westen registriert. Als wichtigste katholische Periodika gelten
Teologické texty [Theologische Texte] und Informace o církvi [Informationen über die
Kirche], die beide 1980 gegründet wurden. Während die erstere, eher für Fachleute
bestimmte Zeitschrift das Ziel verfolgt, „Einblick in das gegenwärtige theologische
und religiöse Denken" zu vermitteln 3 9 , wollen Informace o církvi einfache Gläubige
über das Leben der Kirche und der Christen im In- und Ausland informieren. Als
„Zeitschriften für die christliche Familie" verstehen sich Vzkříšení [Auferstehung, seit
1979] und Sursum (seit 1987). Titel wie „Was die christliche Mutter wissen sollte" oder
„Sexualität und das Gesetz Gottes" mögen andeuten, was darunter verstanden wird.
Ze zásuvky i z bloku [Aus der Schublade und dem Notizblock, seit 1984] und
Komentáře [Kommentare, seit 1985] sind die wohl profiliertesten Zeitschriften für po­
litische Publizistik. Für sie schreiben regelmäßig ehemalige Spitzenpolitiker wie Jiří
Hájek, Čestmír Císař und Vladimír Kadlec sowie renommierte Wissenschaftler wie
Hübl, Luboš Kohout und Miloš Hájek. Vorläufer von Komentáře, der „Revue für die
Außenpolitik", war Ende der siebziger Jahre Čtverec [Quadrat]. Erwähnt werden sol­
len des weiteren das 1985 entstandene Periodikum Solidarnošč, welches sich speziell
der politischen Entwicklung in Polen widmet, und das Organ der „unabhängigen
Sozialisten" Dialogy [Dialoge]. Die bereits 1977 gegründeten Dialogy erscheinen seit
1983 in Paris, möchten aber weiterhin als eine Samisdat-Zeitschrift gelten. Politische
Themen stehen schließlich auch im Mittelpunkt der Anfang 1988 gegründeten Lidové
noviny [Volkszeitung]. Die Anknüpfung an die gleichnamige liberale Zeitung, die
1952 ihr Erscheinen einstellen mußte, hat bewirkt, daß die Erwartungen an Lidové
noviny außerordentlich hoch sind.
Zu den literarischen Zeitschriften zählen vor allem Obsah [Inhaltsverzeichnis], seit
etwa 1980, - genannt nach dem Inhaltsverzeichnis auf der Titelseite jeder Nummer und der Brünner Host [Gast], seit 1986. Obsah, die bisweilen als das populärste SamisJiii-Periodikum überhaupt angesehen wird, ist eine monatlich erscheinende LoseBlatt-Sammlung mit kurzen literarischen Texten, Essays, Feuilletons und Kritiken.
Ihre Autoren gehörten in den sechziger Jahren zur Schriftstellerelite des Landes. Host,
von dem bisher erst drei Nummern vorliegen, ist eine recht voluminöse Zeitschrift,
die sich u. a. der Aufgabe angenommen zu haben scheint, Arbeiten von in Mähren
lebenden Schriftstellern (z. B. Iva Kotrlá, Jan Trefulka, Uhde und Jiří Kratochvíl)
publik zu machen. Einen literarischen Teil enthalten darüberhinaus Pražské komuni­
kace [Prager Kommunikationen], seit 1985, KIFU und der in Hradec Králové ver­
öffentlichte Prostor [Raum], seit 1982.
39
Český katolický samizdat 1978-1985,11.
298
Bohemia Band 29 (1988)
Zum Schluß noch ein paar Worte zu den beiden maßgeblichen Underground-Perio­
40
dika - Vokno [Fenster], seit 1979, und Revolver revue [Revolverrevue], seit 1985 . Ihr
Hauptinteresse gilt der Rockszene und verschiedenen avantgardistischen Strömungen
im In- und Ausland, die durch ihre eigenen Texte oder durch Berichte vorgestellt wer­
den. Zwei Autoren sind mit auffällig vielen Beiträgen vertreten - der bereits erwähnte
Jirous und der Schriftsteller und Philosoph Bondy, der als eine Art Guru des tschechi­
schen Underground gilt. Als einziger „etablierter" Gegenwartsautor wird in beiden
Zeitschriften Havel regelmäßig veröffentlicht. Dies dürfte auf sein Engagement für die
Mitglieder der Rockgruppen The Plastic People ofthe Universe und DG 307 zurück­
zuführen sein, als diesen im Jahre 1976 ein Prozeß gemacht wurde.
Der Samisdat und das in den Staatsverlagen publizierte Schrifttum sind in der ČSSR
weitaus stärker voneinander abgeschottet als vor allem in Polen und Ungarn. Es gibt
hier nur wenige vom Regime tolerierte „Grauzonen" oder fließende Übergänge zwi­
schen „offiziellen" und „inoffiziellen" Autoren wie in den beiden Nachbarländern.
Einen interessanten Ausnahmefall bilden Schriftsteller wie Seifert, Hrabal, Mikulášek
und Skácel, die in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre nach langem Publikationsver­
bot einige zuvor im Samisdat kursierende Texte - z. T. in stark zensierter Form - ver­
öffentlichen durften. Hier soll abschließend von einem anderen Ausnahmefall, näm­
lich von den Publikationen der Jazz-Sektion, die Rede sein.
Die Jazz-Sektion des Musikverbandes der ČSR entstand 1971 und wurde 1979
Mitglied des Musikrates der U N E S C O . Die Satzung beschreibt ihre Aufgabe wie
folgt: „Die Jazz-Sektion organisiert Auftritte, Konzerte, Festivals und Ausstellungen,
befaßt sich mit Fragen der Erziehung und ist in ihrem Bereich publizistisch und edito­
risch tätig" 4 1 . Internationale Beachtung fanden vor allem die sog. Prager Jazz-Tage,
die von ihr zwischen 1974 und 1979 insgesamt neunmal veranstaltet wurden. Behinde­
rungen setzten bereits Ende der siebziger Jahre ein und fanden 1983 ihren ersten
Höhepunkt, als das Kultusministerium die Auflösung der Sektion anordnete. Ihre
Funktion übernahm aber die Jazz-Sektion der Prager Zweigstelle des Musikverban­
des. Die Reaktion der Staatsmacht ließ nicht lange auf sich warten: 1984 wurde die
Prager Zweigstelle und schließlich sogar der Musikverband insgesamt suspendiert. Da
aber noch nicht einmal dies half, wurden Ende 1986 fünf führende Mitglieder der
Jazz-Sektion verhaftet und im März 1987 wegen „unerlaubter Geschäftstätigkeit" allerdings zu erstaunlich milden Strafen - verurteilt. Nach jüngsten Informationen aus
Prag (vom Oktober 1987) ist inzwischen eine neue Organisation namens UNIJAZZ
entstanden, die offensichtlich die Arbeit der Jazz-Sektion fortsetzen will.
Die Publikationstätigkeit der Jazz-Sektion, die im März 1987 als Anklagegrund
(„unerlaubte Geschäftstätigkeit") diente, umfaßt neben Mitteilungsblättern wie
43/10/88 (die Telefonnummer der Jazz-Sektion) und Bulletin Jazz mehrere Editio­
nen, die nicht nur musikologische Arbeiten veröffentlichen. In der EdiceJazzpetit sind
z. B. Untersuchungen über Dada und Surrealismus, über E. F. Burian, einen wichti40
41
Der Titel Revolver revue - mit dem Untertitel off-ghetto magazíne - taucht zuerst in Num­
mer 7 auf. Die Nummern 1-4 hießen Jednou nohou [Mit einem Bein] und die Nummern 5
und 6 Revolver revue. Jednou nohou [Revolverrevue. Mit einem Bein].
Zit. nach Dokument Nr. 24/1986 der Charta 77. Listy (1986) Nr. 6, 53.
D. Beyrau u. I. Bock, Samisdat in Osteuropa
299
gen Vertreter der tschechischen Theateravantgarde, und über das New Yorker Living
Theater, Hrabals offiziell nicht publizierter Roman Obsluhoval jsem anglického krále
[Ich bediente den König von England], das photographische Werk des Surrealisten
Jindřich Štýrský und eine dreibändige Enzyklopädie der Rockmusik erschienen. Die
Edice Situace [Edition Situation] konzentriert sich demgegenüber auf die Herausgabe
von Ausstellungskatalogen zeitgenössischer tschechischer Künstler. Erwähnung ver­
dienen auch die Edice moderního umění a výtvarného myšlení [Edition der modernen
Kunst und des gestaltenden Denkens] und die Edice dokumenty [Edition Doku­
mente], in deru. a. Seiferts Nobelpreisrede veröffentlicht wurde. Diese Publikationen
gehören nicht dem Samisdat an, sondern sie konstituieren eine Grauzone zwischen
„offiziellem" und „nichtoffiziellem" Schrifttum. Das Regime gestand nämlich der
Jazz-Sektion bis 1983 grundsätzlich das Recht zu, Materialien für ihre Mitglieder in
staatlichen Betrieben zu drucken. Die Frage, um welche Art von Materialien es sich
dabei handeln könne, war allerdings von Anfang an strittig.