–– Manifesto –– To give visible action to words 1 Anna-Catharina Gebbers und Udo Kittelmann Mit einem anschwellenden Zischen züngelt sich ein flackernd pulsierendes Farbgebilde auf die schwarze Leinwand. Man braucht etwas Zeit, um zu erkennen, was da die Projektionsfläche erobert. Es ist eine Lunte, mit der Julian Rosefeldt sein Filmprojekt Manifesto zündet: Ein Manifest will herkömmliche Vorstellungen sprengen. Manifeste rufen zur Revolution auf und kündigen ein neues Zeitalter an. Der Aufbruch und der Umsturz sind ihnen genauso wie der Impetus des Intentionalen und Performativen im wahrsten Sinne des Wortes „eingeschrieben“. Das macht Rosefeldt durch den Intro-Film deutlich – und unscharf zugleich. Eine gewollte Indifferenz. Denn während sich mit der Zeit eine an die Grenze zur Abstraktion vergrößerte Flamme einer Zündschnur herauskristallisiert, ist aus dem Off zu hören: „To put out a manifesto you must want: ABC to fulminate against 1, 2, 3; to fly into a rage and sharpen your wings to conquer and disseminate little abcs and big abcs; to sign, shout, swear; to prove your non plus ultra; to organize prose into a form of absolute and irrefutable evidence.“2 Unschärfe ist in seinen Filmbildern wie in Tzaras Text eine gewollte Konfrontation mit der gewohnten Welt. Rosefeldt stellt die filmische Unschärfe so in den Kontext der Avantgarde-Bewegung. In Manifesto beschäftigt sich Julian Rosefeldt nicht nur damit, welche Inhalte und Vorhaben so dringlich sind, dass sie in ein Manifest gegossen werden. Ihn interessiert auch die spezifische Rhetorik von Manifesten und ihr zur Aktion aufrufender Charakter. Und zudem stellt er die Frage: Was tut man, indem man etwas sagt? Auf der Handlungsebene wird mit einem Manifest proklamiert und postuliert. Aber darüber hinaus soll es ganz konkret der Gestaltung von Wirklichkeit dienen. Der Zusammenhang von Sprechen und Handeln ist beim Manifest also sowohl ein inhaltlicher als auch ein sprechakttheoretischer. Der britische Philosoph John L. Austin (1911–1960) demonstriert 1955 in einer Harvard-Vorlesungsreihe, die posthum unter dem Titel How to Do Things with Words veröffentlicht wurde, dass Aussagen, mit denen etwas festgestellt wird, stets auch eine performative Dimension haben und man mit Äußerungen stets etwas tut und somit eine Handlung vollzieht.4 Mit anderen Worten: Eine Äußerung ist immer zugleich eine Handlung. Und „mit Hilfe von sprachlichen Äußerungen können wir die verschiedensten Arten von Handlungen vollziehen“.5 Durch seine spezifische Verbindung von Filmbildern und gesprochenen Manifesttexten spürt Rosefeldt dieser Thematik nach: Hinterlässt eine laut oder leise ausgesprochene Wortfolge sichtbare Spuren in den körperlichen Handlungen einer Person? Ist die Verkörperung im Text angelegt? Und wie verändert die Sprachebene die dazu gezeigten filmischen Bilder? Mit diesen Anfangssätzen aus seinem Manifeste Dada 1918 ruft der rumänisch-französische Künstler Tristan Tzara (eigentlich Samuel Rosenstock, 1896–1963) bewusst Assoziationen an die Avantgarde-Manifeste etwa der Futuristen hervor und spielt mit deren plakativem Intentionalismus. Doch was er daraus entwickelt, ist ein dadaistisches Anti-Manifest voller verunsichernder Ambiguität. Ein nicht ausgesprochener, aber praktizierter Anti-Intentionalismus: „How can one expect to put order into the chaos that constitutes that infinite and shapeless variation: man?“3 Rosefeldts bildhafte Unschärfe verweist auf diese Kritik an der Moderne mit ihrem Fortschrittsglauben, der sich so deutlich in den futuristischen Manifesten abbildet. 83 –– Manifesto –– Das Intro bleibt in dieser mehrteiligen Arbeit der einzige Film ohne menschliche Figur im Bild. Denn Manifesto will Menschen zeigen – mit ihren jeweiligen inneren Kämpfen, ihren Interaktionen mit anderen, ihren kulturellen, auch filmhistorischen Traditionen. Und so findet diese erste Lunte im Dunkeln ein Echo in einer Szenerie im Tageslicht, in der drei ältere Frauen an einem nebeligen Morgen in einem Industriegebiet wie aufgekratzte Kinder Feuerwerkskörper zünden. In diesem Bild erklingt der ferne Widerhall einer Szene mit drei Kindern, die Raketen steigen lassen, in Michelangelo Antonionis (1912–2007) Film La Notte6 über den Ennui der modernen, wohlhabenden Bourgeoisie. Bei Rosefeldt ist im Vordergrund ein grau gekleideter, bärtiger Mann zu sehen, der schleppend und etwas zerzaust einen mit eingesammeltem Leergut gefüllten Einkaufswagen hinter sich herzieht. Einen Schnitt weiter sind wir als Betrachter wieder bei den explodierenden Raketen im Himmel – nun aus der Vogelperspektive einer Drohne. In der Draufsicht sehen wir die drei älteren Frauen und den Obdachlosen, der langsam davonzieht, während das Kamera auge über die Industrielandschaft fliegt und im Off eine herbe Frauenstimme spricht. Zu hören ist eine Textcollage voll situationistischer Elitarismus- und Kapitalismuskritik, die Rosefeldt aus Manifesten von Alexander Rodtschenko (1891–1956), Lucio Fontana (1899–1968), Constant Nieuwenhuys (1920–2005), Guy Debord (1931–1994) und des John Reed Club of New York (1932) zusammengestellt hat. Der Künstler wird als Revolutionär gepriesen, gefordert wird die Abschaffung der Ware, der Lohnarbeit, der Technokratie und der Hierarchie – das Leben selbst soll zum Kunstwerk werden. in Frankreich und die Märzrevolution im Deutschen Bund noch bevor. Dem vom Geist der Aufklärung getragenen westlichen Zeitalter der Revolutionen – eingeläutet durch die Amerikanische Revolution 1776 über die Französische Revolution 1789 bis zum Revolutionsjahr 1848 – folgte unmittelbar das „Zeitalter des Kapitals“ (1848–1875)8: Nach den Aufständen gegen die aristokratisch-feudale Ordnung sollte das Manifest der Kommunistischen Partei die Arbeiter nun zur revolutionären Überwindung des Kapitalismus mobilisieren. Julian Rosefeldt markiert mit dem Eingangszitat auch, dass es meist junge, wutentbrannte Männer sind, die Manifeste schreiben. Marx ist gerade 29, Engels 27 Jahre alt geworden, als ihnen mit ihrem etwa dreißig Seiten langen Aufsatz ein Text gelingt, der wie kaum ein anderer beweist, wie das geschriebene Wort die geistige und politische Welt grundlegend verändern kann. Viele ihrer Formulierungen sind geflügelte Worte geworden, etwa ihr Einleitungssatz: „Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus“ und der am Schluss stehende Aufruf: „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“ Ausgehend vom Kommunistischen Manifest des 19. Jahrhunderts geht „Manifest“ als Bezeichnung in den Sprachgebrauch der Arbeiterbewegung ein und es bildet sich eine feste Textgattung heraus. Doch der Gattungsbegriff bleibt zunächst dem Bereich des politischen Diskurses verhaftet. Zwar entstanden im Lauf der Geschichte zahlreiche proklamatorische ästhetische Texte im künstlerisch-literarischen Bereich, doch der Terminus „Manifest“ wird so gut wie nie ver wendet, bis er gerade wegen seines ausgesprochen politischen Charakters von der bildenden Kunst Anfang des 20. Jahrhunderts übernommen wird. Nachdem Filippo Tommaso Marinetti (1876–1944) mit seinem Manifest des Futurismus9 eine Welle des Manifesteschreibens ausgelöst hatte, gab die Avantgarde der Textgattung Manifest gewisse gattungs typische Eigenschaften mit: die eindringliche und präzise Vermittlung der Autorenintention, die appellative Rhetorik, die kämpferische Provokation und die oft propagandistische Eigenwerbung.10 Schon in seinem Intro-Film stellt Rosefeldt den Zitaten von Tzara den Satz „All that is solid melts into air“ aus dem Kommunistischen Manifest voran: „Alles Ständische und Stehende verdampft“.7 Und bereits diese Verbindung Rosefeldts von Texten und von Text und Bild ist voller Doppeldeutigkeit. Denn für Karl Marx (1818–1883) und Friedrich Engels (1820–1895) ist klar, dass auch die Bourgeoisie nicht existieren kann, ohne sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren. Die unveränderte Beibehaltung der alten Produktionsweise war die Existenzbedingung der früheren industriellen Klassen. Die ewige Unsicherheit und Bewegung hingegen zeichnet die Bourgeoisie-Epoche aus. Rosefeldt erinnert höchst doppelbödig an die proletarischen Ursprünge der Politisierung, wenn er eine Fabrikarbeiterin zeigt, die als alleinerziehende Mutter ihre morgendliche Routine des Kaffeekochens, der Frühstückszubereitung für die noch schlafende Tochter und der Fahrt zur Arbeit in einer Müllverbrennungsanlage vollzieht. Man kann annehmen, dass diese zum Überleben wichtigen Rituale wenig Spielraum für revolutionäre Aktivitäten lassen. Doch während sie auf ihrem Moped durch die Stadt braust, Tatsächlich ist der am häufigsten mit dem Begriff Manifest assoziierte Text das Kommunistische Manifest. Karl Marx und Friedrich Engels verfassten dieses Manifest der Kommunistischen Partei im Auftrag des Bundes der Kommunisten im Winter 1847/1848. Als es Anfang 1848 erschien, standen die Februarrevolution 84 –– Manifesto –– sind ambitionierte Manifeste von Architekten wie Bruno Taut (1880–1938), Antonio Sant’Elia (1888– 1916), Robert Venturi (geboren 1925) oder vom 1968 gegründeten Architekturbüro Coop Himmelb(l)au zu hören. Tauts unerschütterlicher Glaube daran, dass die Architektur die Kraft hat, die Welt vollkommen neu zu gestalten, sein Enthusiasmus für Glas, Stahl und Beton und sein Wandervogel-Romantizismus brechen sich am Alltag der Frau, die von ihrer tristen modernistischen Wohnsiedlung aus in die Fabrik fährt, um dort durch ein großes Glasfenster auf eine alpine Landschaft aus Müllbergen zu blicken. auch auf die literarische, lyrische Schönheit von Künstler manifesten wie etwa von Francis Picabia (1879–1953), Bruno Taut (1880–1938), Georges Ribemont-Dessaignes (1884–1974), Kurt Schwitters (1887–1948), Richard Huelsenbeck (1892–1974), André Breton (1896–1966), Tristan Tzara (1896– 1963) oder Lebbeus Woods (1940–2012). Und so wie Rosefeldt in seinen Textcollagen den unterschied lichen Sprachrhythmen der jeweiligen Autoren nachspürt und durch seine Zusammenstellung wiederum verblüffende Parallelen offenbar werden lässt, komponiert er seine Bilder. Beides ist von einer musikalischen und synästhetisch kompositorischen Herangehensweise geprägt. Text und Bild verbindet Rosefeldt beispielsweise metaphorisch, indem er Zitate des Futurismus bildlich mit dem Börsenhandel wegen ihrer gemeinsamen Liebe zur Geschwindigkeit verbindet, oder antithetisch, wenn er Claes Oldenburgs PopArt-Manifest in den Mund einer Südstaaten-Hausfrau legt. Und er lädt die Betrachter dazu ein, selbst mit der Mischung von Bildern und Tönen zu experimentieren, indem sie sich durch seine Installation bewegen. Mit dieser Herausarbeitung der Vielschichtigkeit der Manifeste hat Julian Rosefeldt vorhandene Texte nicht nur – wie schon in anderen Arbeiten – in neuen Sinnzusammenhängen aktualisiert, sondern dem Wort erstmals die Hauptrolle überlassen. Die erste Avantgarde ist einerseits eng mit den politischen Utopien der Moderne verbunden und zielt andererseits darauf, sowohl die Kunst in der Lebenspraxis aufzuheben als auch eine eigene, als revolutionär empfundene Ästhetik zu etablieren. Dazu gehört der aus der Militärsprache entlehnte Begriff „Avantgarde“ als eine Metapher für den Truppenteil, der als Erster vorrückt und in feindliches Gebiet gelangt. Die neue Ästhetik zeichnete sich außerdem durch ihre Selbstinszenierung in verschiedenen Medien, eine besondere Rhetorik und das Hervorbringen von spezifischen Textsorten wie etwa Manifesten aus. Daran erinnert Julian Rosefeldt, wenn er zum Beispiel eine Ansagerin im Studio Manifeste von Sturtevant (1924–2014) und Sol LeWitt (1928–2007) im typischen Nachrichtensprecher-Duktus vortragen lässt. „All current art is fake, not because it is copy, appropriation, simulacra or imitation, but because it lacks the crucial push of power, guts and passion“11, verkündet sie in Sturtevants Worten. Rosefeldt lässt die Rhetorik der perfekt frisierten Ansagerin im Verlauf der Sendung zudem auf ihr mit einer Wetterjacke bekleidetes, im Regen stehendes Alter Ego treffen. Hier im aseptischen Studio – dort den Stürmen der scheinbar realen Welt ausgesetzt (diese wird hier dramatisch von Spezial effekten mittels Wind- und Regenmaschinen simuliert, die sich am Ende selbst demaskieren). Außenreporterin und Studiosprecherin reden sich gegenseitig mit „Cate“ an, während sie darüber sprechen, dass Konzeptkunst nur dann gut ist, wenn auch die Idee gut ist. Als Verbindung von Gebrauchs- und Kunsttext12 lassen sich Manifeste „irgendwo zwischen Literatur und Nicht-Literatur, Poetik und Poem, Text und Bild, Wort und Tat“13 verorten. Tristan Tzaras humorvolle Interventionen verwirren die sprachlichen Konventionen und damit die Logik der Spracherfassung. „Nehmt eine Zeitung. Nehmt Scheren. Wählt in dieser Zeitung einen Artikel von der Länge aus, die Ihr Eurem Gedicht zu geben beabsichtigt. Schneidet den Artikel aus. Schneidet dann sorgfältig jedes Wort dieses Artikels aus und gebt sie in eine Tüte. Schüttelt leicht. Nehmt dann einen Schnipsel nach dem anderen heraus. Schreibt gewissenhaft ab in der Reihenfolge, in der sie aus der Tüte gekommen sind. Das Gedicht wird Euch ähneln. Und damit seid Ihr ein unendlich origineller Schriftsteller mit einer charmanten, wenn auch von den Leuten unverstandenen Sensibilität“14 – so lautet Tzaras Empfehlung, um bekannte Strukturen aufzulösen und neue entstehen zu lassen. Ähn liche Ansätze des Décollagierens entwickelten später unter anderen James Joyce (1882–1941) und Max Frisch (1911–1991); William S. Burroughs (1914– 1997) und Brion Gysin (1916–1986) nannten diese Methode „Cut-Up“. Im aktuellen Jahrtausend fi ndet sich diese Praxis in der musikalischen Form des „Mash-up“ wieder. Stets geht es um das Unterlaufen von Erwartungen, um die gelebte Selbstverständlichkeit der Gegenwart aufzubrechen. Doch Manifeste sind nicht einfach eine Art Infor mation oder Handlungsanweisung. Der affirmative Charakter ihrer Sprache und ihr apodiktischer, imperativer Stil, ihr verkündender Tonfall, der Einsatz des Futurs, von Superlativen und Hyperbeln, aber auch die häufigen Aufzählungen, einprägsamen Reihungen und polaren Denkmuster sollen eine appellative Wirkung erzeugen. Die Stilistik von Manifesten zielt auf emotionale Aufladung. Rosefeldt entdeckt neben unsprechbaren Texten Manifeste von geradezu thea traler Qualität. Indem er sie aus ihrem vertrauten Kontext herausbricht, lenkt er die Aufmerksamkeit 85 –– Manifesto –– gewisse Distanzierung von einer Situation. Ein innerer Monolog richtet sich zudem vor allem an die sprechende Person selbst. Doch obwohl das Publikum auf der Fiktionsebene der jeweiligen Figur nicht präsent ist, fühlt es sich durch den proklamatorischen Sprachstil angesprochen und aufgefordert. Rosefeldt macht auf diesen Aspekt aufmerksam, indem er an derselben Stelle der Laufzeit in alle Filme synchron einen Moment eingefügt hat, in dem die jeweilige Haupt figur den Betrachter direkt ansieht und anspricht. Dialektwechsel und unterschiedliche stilistische Elemente wie Wortwahl und Satzbau formen für jeden seiner Protagonisten einen individuellen Duktus. Doch in der Wendung ans Publikum und der Gleichschaltung erfolgt ein vorübergehender, vor allem sprachlicher Rollenwechsel der Figuren: Ihr jeweiliger Monolog wird zum monotonen Vortrag auf einer gleichbleibenden und vorher festgelegten Tonhöhe, die in jedem Film eine andere ist. So ertönen für einen kurzen Moment im Raum hintereinander zwei Akkorde15 – diegetisch erzeugt durch das orchestrale Zusammenklingen verschiedener Manifeste. Auch die dreizehn Textcollagen, die Julian Rosefeldt aus einer Vielzahl von Manifesten zusammengestellt hat, unterlaufen Erwartungen. Vor allem durch ihre Gegenüberstellung mit den Filmbildern. Es sind keine zornigen jungen Männer, die auf Barrikaden stehend oder vor verschworenen Versammlungen im Geheimen ihre Forderungen proklamieren. Im Gegenteil: Es sind vorwiegend Frauen, häufig nicht mehr blutjung, die die Texte entweder als innere Monologe nur für sich formulieren oder monologisierend vor einem Publikum vortragen, das alles andere erwartet als eine zur Revolution auffordernde Ansprache. Das Sprache-Bild-Verhältnis ist zwar nicht durch gehend asyntop, denn, auch wenn es sich um eine innere Stimme handelt, ist häufig die sprechende Figur im On zu sehen. Aber Text und Filmbilder scheinen sich nicht auf dieselben Referenzobjekte zu beziehen. Der Text spezifiziert und erklärt die Bilder nicht. Das in Manifesten angelegte Prinzip der Verausgabung und des expressionistischen Duktus der Verkündung werden so betont. Rosefeldt verdeutlicht diesen Effekt der diskrepanten Beziehung zwischen Bild und Sprache durch eine Szene, in der eine Lehrerin vor und mit ihrer Schulklasse Zitate aus Manifesten von experimentelleren Filmemachern zitiert, etwa von Dziga Vertov (1895–1954), Stan Brakhage (1933–2003), Werner Herzog (geboren 1942), Jim Jarmusch (geboren 1953), Lars von Trier (geboren 1956) und Thomas Vinterberg (geboren 1969). In den Manifesto-Filmen produziert das Stilmittel des A-part-Sprechens oder Beiseitesprechens nicht den gleichen Verfremdungseffekt wie im Theater. Weder kommentieren die Figuren das Filmgeschehen noch geben sie Auskunft darüber, wie die Dinge und Personen der innerbildlichen Kommunikation zueinander in Beziehung treten. Es sind auch keine Beschimpfungen. Dennoch wird die Einheit des Szenischen brüchig und die vierte Wand zum Publikum porös; die Leinwand wird zur Membran. Seltsamerweise tritt die Figur aber nicht aus ihrer Rolle heraus. Vielmehr tritt der Betrachter in den Film hinein. Das Verführerische der aufrührerischen Texte und das Identifikations potenzial der weiblichen Figuren wirken affirmativ und saugen ein. Denn trotz aller Diskrepanz zwischen Bild und Text: In der Wahrnehmung durch den Betrachter entsteht eine Verbindung. In den jeweiligen Filmbildern agiert eine Person in ihrem Alltag, macht ihren Job, geht ihren gewohnten Tätigkeiten nach, funktioniert. Und durch die intuitive Verknüpfung der Tonebene mit der Bildebene wird in der Wahrnehmung der Monolog zum hörbaren Zeugnis einer inneren Auseinandersetzung mit der eigenen Situation beziehungsweise eines Konflikts, in dem sich diese Figur befindet. Egal, ob innere oder vernehmbar artikulierte Stimme, diskutiert werden alternative Handlungsmöglichkeiten. Vollzogen werden diese Handlungen allerdings nicht. Vielmehr wird eine Entscheidung gefällt, die ein Handeln vorbereitet. Rosefeldt baut so eine Spannung auf, die im Gegensatz zu den meist friedlichen Bildern zu stehen scheint und diesen Bildern das untergründige Grollen und Donnern verleiht, das einem Handlungsvollzug vorausgeht und den Betrachter in Alarmbereitschaft versetzt. Eine zusätzliche Ebene schafft Julian Rosefeldt über seine zentrale Darstellerin Cate Blanchett. Ihre extreme Wandlungsfähigkeit sowie ihrer Gabe, die verschiedensten Sprachfärbungen authentisch wieder zugeben, lassen den Betrachter sowohl die Unterschiedlichkeit als auch das verbindende Element der verschiedenen Manifeste emotional nachvollziehen. Darüber hinaus verhilft die Prominenz Blanchetts der Arbeit zu medialer Aufmerksamkeit weit über das Kunstpublikum hinaus und verstärkt damit den Manifestcharakter des Projekts. Da das Ziel der Avantgarde – der Bruch mit Traditionen und naturalistischen Abbildungsaufgaben der Kunst, die Vereinigung der Künste mit der Absicht einer Verbindung von Kunst und Leben – auch ein gesellschaftspolitisches Ideal transportiert, gehen ihre Diese Spannung verstärkt Rosefeldt durch den Appellcharakter der Texte. Versprachlichungen und damit Rationalisierungen, wie sie durch einen Monolog geschehen, erzeugen im Allgemeinen auch immer eine 86 –– Manifesto –– Neuerungen mit einem besonderen Erklärungsbedürfnis einher. Die Kunst soll ja nicht nur Ausdruck, sondern auch Motor innovativer politischer Gesellschaftsideale werden. Und die spezifische Korrelation zwischen Bild und Text macht die besondere Qualität von Manifesten als Medium der Rezeptionssteuerung aus. hier S. 76. Vom Autor am 23. Juli 1918 im Zunfthaus zur Meise in Zürich vorgetragen, wurde das „Manifeste Dada 1918“ erstveröffentlicht in Dada, Nr. 3, Dezember 1918, S. 1–3. 3 Ibid., S. 77. 4 Vgl. John Langshaw Austin, Zur Theorie der Sprechakte (How to Do Things with Words), Reclam, Leipzig, 1986 (engl. Originalausgabe 1962). 5 Wolfgang Stegmüller, Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie, Bd. 2, 8. Aufl., Kröner, Stuttgart, 1987, S. 64. 6 Michelangelo Antonioni (Regie), La Notte, Italien/Frankreich, 1961, 122 Minuten. 7 Friedrich Engels und Karl Marx, Manifest der Kommunistischen Partei, veröffentlicht im Februar 1848, „Bildungs-Gesellschaft für Arbeiter“ von J. E. Burghard, London, 1848, Kapitel 1, Absatz 18, Zeilen 12–14. 8 Vgl. Eric Hobsbawm, Die Blütezeit des Kapitals. Eine Kultur geschichte der Jahre 1848–1875, Kindler, München, 1977 (engl. Originalausgabe 1975). Dem Zeitalter des Kapitals folgt laut Hobsbawm von 1875 bis 1914 das „Zeitalter des Imperiums“: Eric Hobsbawm, Das imperiale Zeitalter 1875–1914, Campus, Frankfurt/M./New York, 1989 (engl. Originalausgabe 1987). 9 Filippo Tommaso Marinetti, „Il Futurismo,“ in: Gazzetta dell’Emilia, 5. Februar 1909, Titelseite. 10 Vgl. Janet Lyon, Manifestoes: Provocations of the Modern, Cornell University Press, Ithaca/New York, 1999, S. 13. 11 Elaine Sturtevant, „Shifting Mental Structures“ (1999), in: Dressen 2010 (wie Anm. 1), S. 135–139, hier S. 135. 12 Alfons Backes-Haase, Kunst und Wirklichkeit: Zur Typologie des DADA-Manifests, Athenäums Monografien: Literaturwissenschaft, Bd. 106, Anton Hain, Frankfurt/M., 1992, S. 130. 13 Hubert van den Berg, „Das Manifest – eine Gattung?“, in: ders. und Ralf Grüttemeier (Hg.), Manifeste: Intentionalität, Avant Garde Critical Studies, Bd. 11, Rodopi, Amsterdam, 1998, S. 193–225, hier S. 194 f. 14 Tristan Tzara, Sieben Dada Manifeste, Edition Nautilus, Hamburg, 1998, S. 90 f. 15 Insgesamt erklingen 13 Töne: Einer der Akkorde ist aus 6, der andere aus 7 Tönen zusammengesetzt. Da dem Splitscreen in der Szene mit der Nachrichtensprecherin und der Reporterin 2 Töne zugeordnet sind, kommt dieser Film in beiden Akkorden vor. 16 Vgl. Guy Debord, Die Gesellschaft des Spektakels: Kommentare zur Gesellschaft des Spektakels, Edition Tiamat, Berlin, 1996, S. 19 ff. (franz. Originalausgabe 1967). 17 Vgl. Jean-François Lyotard, Das postmoderneWissen. Ein Bericht., Boehlau/Wien, 1986, S. 13 (franz. Originalausgabe 1979). Mit seiner vielschichtigen Filminstallation knüpft Rosefeldt an die besondere Bildaffinität von Guy Debords „Gesellschaft des Spektakels“16 an, in der Beziehungen und Erfahrungen zunehmend durch Bilder transportiert werden. Die „Krise der Erzählungen“17 Ende des vergangenen Jahrhunderts hat diese Tendenz verstärkt. Aber die Steigerung sowohl des Bild- als auch des Textaufkommens und die Erweiterung des Rezipientenkreises durch Printmedien, TV-Shows, webbasierte Magazine und Social-MediaAngebote führen auch zu vermehrten Ansätzen, die Rezeption zu steuern – durch kommerzielle Bildhersteller, Werbeträger und politische Instanzen ebenso wie durch Künstler. Der Mitteilungswille schwillt an, die einzelne Mitteilung verliert durch die unendlichen Spiegelungsmöglichkeiten ihre Prägnanz und Schlagkraft. Julian Rosefeldt macht „manifest“, wie all dies in uns die Sehnsucht nach Manifesten wieder wachsen lässt, wie seltsam unwirklich es doch zugleich heute wirken würde, allgemeingültige Ideale noch in Manifestform zu proklamieren. –––––––––––– 1 Elaine Sturtevant, „Man Is Double Man Is Copy Man Is Clone“, in: Anne Dressen (Hg.), Sturtevant. The Razzle Dazzle of Thinking, Ringier, Zürich, 2010, S. 115–117, hier: S. 115. 2 Basierend auf: Tristan Tzara, „Dada Manifesto 1918“, in: Robert Motherwell (Hg.), The Dada Painters and Poets. An Anthology, 2. Aufl., G. K. Hall & Co., Boston, 1981, S. 76–81, 87
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