TO GIVE VISIBLE ACTION TO WORDS1

–– Manifesto ––
To give visible action
to words
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Anna-Catharina Gebbers und Udo Kittelmann
Mit einem anschwellenden Zischen züngelt sich ein
flackernd pulsierendes Farbgebilde auf die schwarze
Leinwand. Man braucht etwas Zeit, um zu erkennen,
was da die Projektionsfläche erobert. Es ist eine Lunte,
mit der Julian Rosefeldt sein Filmprojekt Manifesto
zündet: Ein Manifest will herkömmliche Vorstellungen sprengen. Manifeste rufen zur Revolution auf
und kündigen ein neues Zeitalter an. Der Aufbruch
und der Umsturz sind ihnen genauso wie der Impetus des Intentionalen und Performativen im wahrsten
Sinne des Wortes „eingeschrieben“. Das macht Rosefeldt durch den Intro-Film deutlich – und unscharf
zugleich. Eine gewollte Indifferenz. Denn während
sich mit der Zeit eine an die Grenze zur Abstraktion
vergrößerte Flamme einer Zündschnur herauskristallisiert, ist aus dem Off zu hören: „To put out a manifesto you must want: ABC to fulminate against 1, 2, 3;
to fly into a rage and sharpen your wings to conquer
and disseminate little abcs and big abcs; to sign, shout,
swear; to prove your non plus ultra; to organize prose
into a form of absolute and irrefutable evidence.“2
Unschärfe ist in seinen Filmbildern wie in Tzaras
Text eine gewollte Konfrontation mit der gewohnten
Welt. Rosefeldt stellt die filmische Unschärfe so in den
Kontext der Avantgarde-Bewegung.
In Manifesto beschäftigt sich Julian Rosefeldt nicht
nur damit, welche Inhalte und Vorhaben so dringlich
sind, dass sie in ein Manifest gegossen werden. Ihn
interessiert auch die spezifische Rhetorik von Manifesten und ihr zur Aktion aufrufender Charakter. Und
zudem stellt er die Frage: Was tut man, indem man
etwas sagt? Auf der Handlungsebene wird mit einem
Manifest proklamiert und postuliert. Aber darüber
hinaus soll es ganz konkret der Gestaltung von Wirklichkeit dienen. Der Zusammenhang von Sprechen
und Handeln ist beim Manifest also sowohl ein inhaltlicher als auch ein sprechakttheoretischer.
Der britische Philosoph John L. Austin (1911–1960)
demonstriert 1955 in einer Harvard-Vorlesungsreihe,
die posthum unter dem Titel How to Do Things with
Words veröffentlicht wurde, dass Aussagen, mit denen
etwas festgestellt wird, stets auch eine performative
Dimension haben und man mit Äußerungen stets
etwas tut und somit eine Handlung vollzieht.4 Mit
anderen Worten: Eine Äußerung ist immer zugleich
eine Handlung. Und „mit Hilfe von sprachlichen
Äußerungen können wir die verschiedensten Arten
von Handlungen vollziehen“.5 Durch seine spezifische Verbindung von Filmbildern und gesprochenen
Manifesttexten spürt Rosefeldt dieser Thematik nach:
Hinterlässt eine laut oder leise ausgesprochene Wortfolge sichtbare Spuren in den körperlichen Handlungen einer Person? Ist die Verkörperung im Text angelegt? Und wie verändert die Sprachebene die dazu
gezeigten filmischen Bilder?
Mit diesen Anfangssätzen aus seinem Manifeste Dada
1918 ruft der rumänisch-französische Künstler ­Tristan
Tzara (eigentlich Samuel Rosenstock, 1896–1963)
bewusst Assoziationen an die Avantgarde-Manifeste
etwa der Futuristen hervor und spielt mit deren
plaka­tivem Intentionalismus. Doch was er daraus entwickelt, ist ein dadaistisches Anti-Manifest voller verunsichernder Ambiguität. Ein nicht ausgesprochener,
aber praktizierter Anti-Intentionalismus: „How can
one expect to put order into the chaos that constitutes
that infinite and shapeless variation: man?“3 ­Rosefeldts
bildhafte Unschärfe verweist auf diese Kritik an der
Moderne mit ihrem Fortschrittsglauben, der sich so
deutlich in den futuristischen Manifesten abbildet.
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–– Manifesto ––
Das Intro bleibt in dieser mehrteiligen Arbeit der
einzige Film ohne menschliche Figur im Bild. Denn
Manifesto will Menschen zeigen – mit ihren jeweiligen
inneren Kämpfen, ihren Interaktionen mit anderen,
ihren kulturellen, auch filmhistorischen Traditionen. Und so findet diese erste Lunte im Dunkeln ein
Echo in einer Szenerie im Tageslicht, in der drei ältere
Frauen an einem nebeligen Morgen in einem Industriegebiet wie aufgekratzte Kinder Feuerwerkskörper
zünden. In diesem Bild erklingt der ferne Widerhall
einer Szene mit drei Kindern, die Raketen steigen lassen, in Michelangelo Antonionis (1912–2007) Film
La Notte6 über den Ennui der modernen, wohlhabenden Bourgeoisie. Bei Rosefeldt ist im Vordergrund ein
grau gekleideter, bärtiger Mann zu sehen, der schleppend und etwas zerzaust einen mit eingesammeltem
Leergut gefüllten Einkaufswagen hinter sich herzieht.
Einen Schnitt weiter sind wir als Betrachter wieder bei
den explodierenden Raketen im Himmel – nun aus
der Vogelperspektive einer Drohne. In der Draufsicht
sehen wir die drei älteren Frauen und den Obdachlosen, der langsam davonzieht, während das Kamera­
auge über die Industrielandschaft fliegt und im Off
eine herbe Frauenstimme spricht. Zu hören ist eine
Textcollage voll situationistischer Elitarismus- und
Kapitalismuskritik, die Rosefeldt aus Manifesten von
Alexander Rodtschenko (1891–1956), Lucio Fontana
(1899–1968), Constant Nieuwenhuys (1920–2005),
Guy Debord (1931–1994) und des John Reed Club of
New York (1932) zusammengestellt hat. Der ­Künstler
wird als Revolutionär gepriesen, gefordert wird die
Abschaffung der Ware, der Lohnarbeit, der Technokratie und der Hierarchie – das Leben selbst soll zum
Kunstwerk werden.
in Frankreich und die Märzrevolution im Deutschen
Bund noch bevor. Dem vom Geist der Aufklärung
getragenen westlichen Zeitalter der Revolutionen –
eingeläutet durch die Amerikanische Revolution 1776
über die Französische Revolution 1789 bis zum Revolutionsjahr 1848 – folgte unmittelbar das „Zeitalter
des Kapitals“ (1848–1875)8: Nach den Aufständen
gegen die aristokratisch-feudale Ordnung sollte das
Manifest der Kommunistischen Partei die Arbeiter nun
zur revolutionären Überwindung des Kapitalismus
mobilisieren.
Julian Rosefeldt markiert mit dem Eingangszitat auch,
dass es meist junge, wutentbrannte Männer sind, die
Manifeste schreiben. Marx ist gerade 29, Engels 27
Jahre alt geworden, als ihnen mit ihrem etwa dreißig Seiten langen Aufsatz ein Text gelingt, der wie
kaum ein anderer beweist, wie das geschriebene Wort
die geistige und politische Welt grundlegend verändern kann. Viele ihrer Formulierungen sind geflügelte Worte geworden, etwa ihr Einleitungssatz: „Ein
Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des
Kommunismus“ und der am Schluss stehende Aufruf: „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“
Ausgehend vom Kommunistischen Manifest des
19. Jahr­­hunderts geht „Manifest“ als Bezeichnung in
den Sprachgebrauch der Arbeiterbewegung ein und
es bildet sich eine feste Textgattung heraus. Doch der
Gattungsbegriff bleibt zunächst dem Bereich des politischen Diskurses verhaftet. Zwar entstanden im Lauf
der Geschichte zahlreiche proklamatorische ästhetische Texte im künstlerisch-literarischen Bereich,
doch der Terminus „Manifest“ wird so gut wie nie
ver­
wendet, bis er gerade wegen seines ausgesprochen politischen Charakters von der bildenden Kunst
Anfang des 20. Jahrhunderts übernommen wird.
Nachdem Filippo Tommaso Marinetti (1876–1944)
mit seinem Manifest des Futurismus9 eine Welle des
Manifesteschreibens ausgelöst hatte, gab die Avantgarde der Textgattung Manifest gewisse gattungs­
typische Eigenschaften mit: die eindringliche und
­präzise Vermittlung der Autorenintention, die appellative Rhetorik, die kämpferische Provokation und die
oft propagandistische Eigenwerbung.10
Schon in seinem Intro-Film stellt Rosefeldt den Zitaten von Tzara den Satz „All that is solid melts into air“
aus dem Kommunistischen Manifest voran: „Alles Ständische und Stehende verdampft“.7 Und bereits diese
Verbindung Rosefeldts von Texten und von Text und
Bild ist voller Doppeldeutigkeit. Denn für Karl Marx
(1818–1883) und Friedrich Engels (1820–1895) ist
klar, dass auch die Bourgeoisie nicht existieren kann,
ohne sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren. Die unveränderte Beibehaltung der alten Produktionsweise war die Existenzbedingung der früheren industriellen Klassen. Die
ewige Unsicherheit und Bewegung hingegen zeichnet
die Bourgeoisie-Epoche aus.
Rosefeldt erinnert höchst doppelbödig an die proletarischen Ursprünge der Politisierung, wenn er eine
Fabrikarbeiterin zeigt, die als alleinerziehende Mutter ihre morgendliche Routine des Kaffeekochens,
der Frühstückszubereitung für die noch schlafende
Tochter und der Fahrt zur Arbeit in einer Müllverbrennungsanlage vollzieht. Man kann annehmen,
dass diese zum Überleben wichtigen Rituale wenig
Spielraum für revolutionäre Aktivitäten lassen. Doch
während sie auf ihrem Moped durch die Stadt braust,
Tatsächlich ist der am häufigsten mit dem Begriff
Manifest assoziierte Text das Kommunistische Manifest. Karl Marx und Friedrich Engels verfassten dieses Manifest der Kommunistischen Partei im Auftrag des
Bundes der Kommunisten im Winter 1847/1848. Als es
Anfang 1848 erschien, standen die Februarrevolution
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–– Manifesto ––
sind ambitionierte Manifeste von Architekten wie
Bruno Taut (1880–1938), Antonio Sant’Elia (1888–
1916), Robert Venturi (geboren 1925) oder vom 1968
gegründeten Architekturbüro Coop Himmelb(l)au zu
hören. Tauts unerschütterlicher Glaube daran, dass
die Architektur die Kraft hat, die Welt vollkommen
neu zu gestalten, sein Enthusiasmus für Glas, Stahl
und Beton und sein Wandervogel-Romantizismus
brechen sich am Alltag der Frau, die von ihrer tristen modernistischen Wohnsiedlung aus in die Fabrik
fährt, um dort durch ein großes Glasfenster auf eine
alpine Landschaft aus Müllbergen zu blicken.
auch auf die literarische, lyrische Schönheit von
Künstler­
manifesten wie etwa von Francis Picabia
(1879–1953), Bruno Taut (1880–1938), Georges
Ribemont-­Dessaignes (1884–1974), Kurt Schwitters
(1887–1948), Richard Huelsenbeck (1892–1974),
André ­
Breton (1896–1966), Tristan Tzara (1896–
1963) oder Lebbeus Woods (1940–2012). Und so
wie Rosefeldt in seinen Textcollagen den unterschied­
lichen Sprachrhythmen der jeweiligen Autoren nachspürt und durch seine Zusammenstellung wiederum
verblüffende Parallelen offenbar werden lässt, komponiert er seine Bilder. Beides ist von einer musikalischen und synästhetisch kompositorischen Herangehensweise geprägt. Text und Bild verbindet Rosefeldt
beispielsweise metaphorisch, indem er Zitate des
Futurismus bildlich mit dem Börsenhandel wegen
ihrer gemein­samen Liebe zur Geschwindigkeit verbindet, oder antithetisch, wenn er Claes Oldenburgs PopArt-Manifest in den Mund einer Südstaaten-Hausfrau
legt. Und er lädt die Betrachter dazu ein, selbst mit
der Mischung von Bildern und Tönen zu experimentieren, indem sie sich durch seine Installation bewegen. Mit dieser Herausarbeitung der Vielschichtigkeit
der Manifeste hat Julian Rosefeldt vorhandene Texte
nicht nur – wie schon in anderen Arbeiten – in neuen
Sinnzusammenhängen aktualisiert, sondern dem Wort
erstmals die Hauptrolle überlassen.
Die erste Avantgarde ist einerseits eng mit den politischen Utopien der Moderne verbunden und zielt andererseits darauf, sowohl die Kunst in der Lebenspraxis
aufzuheben als auch eine eigene, als revolutionär empfundene Ästhetik zu etablieren. Dazu gehört der aus
der Militärsprache entlehnte Begriff „Avantgarde“
als eine Metapher für den Truppenteil, der als Erster
vorrückt und in feindliches Gebiet gelangt. Die neue
Ästhetik zeichnete sich außerdem durch ihre Selbstinszenierung in verschiedenen Medien, eine besondere
Rhetorik und das Hervorbringen von spezifischen
Textsorten wie etwa Manifesten aus. Daran erinnert
Julian Rosefeldt, wenn er zum Beispiel eine Ansagerin im Studio Manifeste von Sturtevant (1924–2014)
und Sol LeWitt (1928–2007) im typischen Nachrichtensprecher-Duktus vortragen lässt. „All current art is
fake, not because it is copy, appropriation, simulacra
or imitation, but because it lacks the crucial push of
power, guts and passion“11, verkündet sie in Sturtevants
Worten. Rosefeldt lässt die Rhetorik der perfekt
­frisierten Ansagerin im Verlauf der Sendung zudem
auf ihr mit einer Wetterjacke bekleidetes, im Regen
stehendes Alter Ego treffen. Hier im aseptischen
Studio – dort den Stürmen der scheinbar realen Welt
ausgesetzt (diese wird hier dramatisch von Spe­zial­
effekten mittels Wind- und Regenmaschinen simuliert,
die sich am Ende selbst demaskieren). Außenreporterin und Studiosprecherin reden sich gegenseitig mit
„Cate“ an, während sie darüber sprechen, dass Konzeptkunst nur dann gut ist, wenn auch die Idee gut ist.
Als Verbindung von Gebrauchs- und Kunsttext12 lassen sich Manifeste „irgendwo zwischen Literatur und
Nicht-Literatur, Poetik und Poem, Text und Bild, Wort
und Tat“13 verorten. Tristan Tzaras humorvolle Interventionen verwirren die sprachlichen Konventionen
und damit die Logik der Spracherfassung. „Nehmt
eine Zeitung. Nehmt Scheren. Wählt in dieser Zeitung einen Artikel von der Länge aus, die Ihr Eurem
Gedicht zu geben beabsichtigt. Schneidet den Artikel aus. Schneidet dann sorgfältig jedes Wort dieses
Artikels aus und gebt sie in eine Tüte. Schüttelt leicht.
Nehmt dann einen Schnipsel nach dem anderen
he­raus. Schreibt gewissenhaft ab in der Reihenfolge,
in der sie aus der Tüte gekommen sind. Das Gedicht
wird Euch ähneln. Und damit seid Ihr ein unendlich
origineller Schriftsteller mit einer charmanten, wenn
auch von den Leuten unverstandenen Sensibilität“14 –
so lautet Tzaras Empfehlung, um bekannte Strukturen aufzulösen und neue entstehen zu lassen. Ähn­
liche Ansätze des Décollagierens entwickelten später
unter anderen James Joyce (1882–1941) und Max
Frisch (1911–1991); William S. Burroughs (1914–
1997) und Brion Gysin (1916–1986) nannten diese
Methode „Cut-Up“. Im aktuellen Jahrtausend fi
­ ndet
sich diese Praxis in der musikalischen Form des
„Mash-up“ wieder. Stets geht es um das Unterlaufen
von Erwartungen, um die gelebte Selbstverständlichkeit der Gegenwart aufzubrechen.
Doch Manifeste sind nicht einfach eine Art Infor­
mation oder Handlungsanweisung. Der affirmative
Charakter ihrer Sprache und ihr apodiktischer, imperativer Stil, ihr verkündender Tonfall, der Einsatz des
Futurs, von Superlativen und Hyperbeln, aber auch
die häufigen Aufzählungen, einprägsamen Reihungen und polaren Denkmuster sollen eine appellative
Wirkung erzeugen. Die Stilistik von Manifesten zielt
auf emotionale Aufla­dung. Rosefeldt entdeckt neben
unsprechbaren Texten Manifeste von geradezu thea­
traler Qualität. Indem er sie aus ihrem vertrauten
Kontext herausbricht, lenkt er die Aufmerksamkeit
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gewisse Distanzierung von einer Situation. Ein innerer Monolog richtet sich zudem vor allem an die sprechende Person selbst. Doch obwohl das Publikum auf
der Fiktionsebene der jeweiligen Figur nicht präsent
ist, fühlt es sich durch den proklamatorischen Sprachstil angesprochen und aufgefordert. Rosefeldt macht
auf diesen Aspekt aufmerksam, indem er an derselben Stelle der Laufzeit in alle Filme synchron einen
Moment eingefügt hat, in dem die jeweilige Haupt­
figur den Betrachter direkt ansieht und anspricht. Dialektwechsel und unterschiedliche stilistische Elemente
wie Wortwahl und Satzbau formen für jeden seiner
Protagonisten einen individuellen Duktus. Doch in
der Wendung ans Publikum und der Gleichschaltung
erfolgt ein vorübergehender, vor allem sprachlicher
Rollenwechsel der Figuren: Ihr jeweiliger Monolog
wird zum monotonen Vortrag auf einer gleichbleibenden und vorher festgelegten Tonhöhe, die in jedem
Film eine andere ist. So ertönen für einen kurzen
Moment im Raum hintereinander zwei Akkorde15 –
diegetisch erzeugt durch das orchestrale Zusammenklingen verschiedener Manifeste.
Auch die dreizehn Textcollagen, die Julian Rosefeldt
aus einer Vielzahl von Manifesten zusammengestellt
hat, unterlaufen Erwartungen. Vor allem durch ihre
Gegenüberstellung mit den Filmbildern. Es sind keine
zornigen jungen Männer, die auf Barrikaden stehend
oder vor verschworenen Versammlungen im Geheimen ihre Forderungen proklamieren. Im Gegenteil:
Es sind vorwiegend Frauen, häufig nicht mehr blutjung, die die Texte entweder als innere Monologe nur
für sich formulieren oder monologisierend vor einem
Publikum vortragen, das alles andere erwartet als eine
zur Revolution auffordernde Ansprache.
Das Sprache-Bild-Verhältnis ist zwar nicht durch­
gehend asyntop, denn, auch wenn es sich um eine
innere Stimme handelt, ist häufig die sprechende Figur
im On zu sehen. Aber Text und Filmbilder scheinen
sich nicht auf dieselben Referenzobjekte zu beziehen.
Der Text spezifiziert und erklärt die Bilder nicht. Das
in Manifesten angelegte Prinzip der Verausgabung
und des expressionistischen Duktus der Verkündung
werden so betont. Rosefeldt verdeutlicht diesen Effekt
der diskrepanten Beziehung zwischen Bild und Sprache durch eine Szene, in der eine Lehrerin vor und
mit ihrer Schulklasse Zitate aus Manifesten von experimentelleren Filmemachern zitiert, etwa von Dziga
Vertov (1895–1954), Stan Brakhage (1933–2003),
Werner Herzog (geboren 1942), Jim Jarmusch (geboren 1953), Lars von Trier (geboren 1956) und ­Thomas
Vinterberg (geboren 1969).
In den Manifesto-Filmen produziert das Stilmittel des
A-part-Sprechens oder Beiseitesprechens nicht den
gleichen Verfremdungseffekt wie im Theater. Weder
kommentieren die Figuren das Filmgeschehen noch
geben sie Auskunft darüber, wie die Dinge und Personen der innerbildlichen Kommunikation zueinander
in Beziehung treten. Es sind auch keine Beschimpfungen. Dennoch wird die Einheit des Szenischen brüchig und die vierte Wand zum Publikum porös; die
Leinwand wird zur Membran. Seltsamerweise tritt die
Figur aber nicht aus ihrer Rolle heraus. Vielmehr tritt
der Betrachter in den Film hinein. Das Verführerische
der aufrührerischen Texte und das Identifikations­
potenzial der weiblichen Figuren wirken affirmativ
und saugen ein.
Denn trotz aller Diskrepanz zwischen Bild und Text: In
der Wahrnehmung durch den Betrachter entsteht eine
Verbindung. In den jeweiligen Filmbildern agiert eine
Person in ihrem Alltag, macht ihren Job, geht ihren
gewohnten Tätigkeiten nach, funktioniert. Und durch
die intuitive Verknüpfung der Tonebene mit der Bildebene wird in der Wahrnehmung der Monolog zum
hörbaren Zeugnis einer inneren Auseinandersetzung
mit der eigenen Situation beziehungsweise eines Konflikts, in dem sich diese Figur befindet. Egal, ob innere
oder vernehmbar artikulierte Stimme, diskutiert werden alternative Handlungsmöglichkeiten. Vollzogen
werden diese Handlungen allerdings nicht. Vielmehr
wird eine Entscheidung gefällt, die ein Handeln vorbereitet. Rosefeldt baut so eine Spannung auf, die im
Gegensatz zu den meist friedlichen Bildern zu stehen
scheint und diesen Bildern das untergründige Grollen
und Donnern verleiht, das einem Handlungsvollzug
vorausgeht und den Betrachter in Alarm­bereitschaft
versetzt.
Eine zusätzliche Ebene schafft Julian Rosefeldt über
seine zentrale Darstellerin Cate Blanchett. Ihre
extreme Wandlungsfähigkeit sowie ihrer Gabe, die
­
verschiedensten Sprachfärbungen authentisch wieder­
zugeben, lassen den Betrachter sowohl die Unterschiedlichkeit als auch das verbindende Element der
verschiedenen Manifeste emotional nachvollziehen.
Darüber hinaus verhilft die Prominenz Blanchetts
der Arbeit zu medialer Aufmerksamkeit weit über
das Kunstpublikum hinaus und verstärkt damit den
Manifestcharakter des Projekts.
Da das Ziel der Avantgarde – der Bruch mit Traditionen und naturalistischen Abbildungsaufgaben der
Kunst, die Vereinigung der Künste mit der Absicht
einer Verbindung von Kunst und Leben – auch ein
gesellschaftspolitisches Ideal transportiert, gehen ihre
Diese Spannung verstärkt Rosefeldt durch den Appellcharakter der Texte. Versprachlichungen und damit
Rationalisierungen, wie sie durch einen Monolog
geschehen, erzeugen im Allgemeinen auch immer eine
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–– Manifesto ––
Neuerungen mit einem besonderen Erklärungsbedürfnis einher. Die Kunst soll ja nicht nur Ausdruck,
sondern auch Motor innovativer politischer Gesellschaftsideale werden. Und die spezifische Korrelation
zwischen Bild und Text macht die besondere Qualität
von Manifesten als Medium der Rezeptionssteuerung
aus.
hier S. 76. Vom Autor am 23. Juli 1918 im Zunfthaus zur Meise
in Zürich vorgetragen, wurde das „Manifeste Dada 1918“ erstveröffentlicht in Dada, Nr. 3, Dezember 1918, S. 1–3.
3 Ibid., S. 77.
4 Vgl. John Langshaw Austin, Zur Theorie der Sprechakte (How to
Do Things with Words), Reclam, Leipzig, 1986 (engl. Originalausgabe 1962).
5 Wolfgang Stegmüller, Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie, Bd. 2, 8. Aufl., Kröner, Stuttgart, 1987, S. 64.
6 Michelangelo Antonioni (Regie), La Notte, Italien/Frankreich,
1961, 122 Minuten.
7 Friedrich Engels und Karl Marx, Manifest der Kommunistischen
Partei, veröffentlicht im Februar 1848, „Bildungs-Gesellschaft für
Arbeiter“ von J. E. Burghard, London, 1848, Kapitel 1, Absatz
18, Zeilen 12–14.
8 Vgl. Eric Hobsbawm, Die Blütezeit des Kapitals. Eine Kultur­
geschichte der Jahre 1848–1875, Kindler, München, 1977 (engl.
Originalausgabe 1975). Dem Zeitalter des Kapitals folgt laut
Hobsbawm von 1875 bis 1914 das „Zeitalter des Imperiums“:
Eric Hobsbawm, Das imperiale Zeitalter 1875–1914, Campus,
Frankfurt/M./New York, 1989 (engl. Originalausgabe 1987).
9 Filippo Tommaso Marinetti, „Il Futurismo,“ in: Gazzetta
dell’Emilia, 5. Februar 1909, Titelseite.
10 Vgl. Janet Lyon, Manifestoes: Provocations of the Modern, Cornell
University Press, Ithaca/New York, 1999, S. 13.
11 Elaine Sturtevant, „Shifting Mental Structures“ (1999), in:
Dressen 2010 (wie Anm. 1), S. 135–139, hier S. 135.
12 Alfons Backes-Haase, Kunst und Wirklichkeit: Zur Typologie des
DADA-Manifests, Athenäums Monografien: Literaturwissenschaft, Bd. 106, Anton Hain, Frankfurt/M., 1992, S. 130.
13 Hubert van den Berg, „Das Manifest – eine Gattung?“, in: ders.
und Ralf Grüttemeier (Hg.), Manifeste: Intentionalität, Avant
Garde Critical Studies, Bd. 11, Rodopi, Amsterdam, 1998,
S. 193–225, hier S. 194 f.
14 Tristan Tzara, Sieben Dada Manifeste, Edition Nautilus, Hamburg, 1998, S. 90 f.
15 Insgesamt erklingen 13 Töne: Einer der Akkorde ist aus 6, der
andere aus 7 Tönen zusammengesetzt. Da dem Splitscreen in
der Szene mit der Nachrichtensprecherin und der Reporterin
2 Töne zugeordnet sind, kommt dieser Film in beiden Akkorden vor.
16 Vgl. Guy Debord, Die Gesellschaft des Spektakels: Kommentare
zur Gesellschaft des Spektakels, Edition Tiamat, Berlin, 1996,
S. 19 ff. (franz. Originalausgabe 1967).
17 Vgl. Jean-François Lyotard, Das postmoderneWissen. Ein Bericht.,
Boehlau/Wien, 1986, S. 13 (franz. Originalausgabe 1979).
Mit seiner vielschichtigen Filminstallation knüpft
Rosefeldt an die besondere Bildaffinität von Guy
Debords „Gesellschaft des Spektakels“16 an, in der
Beziehungen und Erfahrungen zunehmend durch
Bilder transportiert werden. Die „Krise der Erzählungen“17 Ende des vergangenen Jahrhunderts hat diese
Tendenz verstärkt. Aber die Steigerung sowohl des
Bild- als auch des Textaufkommens und die Erweiterung des Rezipientenkreises durch Printmedien,
TV-Shows, webbasierte Magazine und Social-MediaAngebote führen auch zu vermehrten Ansätzen, die
Rezeption zu steuern – durch kommerzielle Bildhersteller, Werbeträger und politische Instanzen ebenso
wie durch Künstler. Der Mitteilungswille schwillt
an, die einzelne Mitteilung verliert durch die unendlichen Spiegelungsmöglichkeiten ihre Prägnanz und
Schlagkraft. Julian Rosefeldt macht „manifest“, wie
all dies in uns die Sehnsucht nach Manifesten wieder
wachsen lässt, wie seltsam unwirklich es doch zugleich
heute wirken würde, allgemeingültige Ideale noch in
Manifestform zu proklamieren.
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1 Elaine Sturtevant, „Man Is Double Man Is Copy Man Is
Clone“, in: Anne Dressen (Hg.), Sturtevant. The Razzle Dazzle
of Thinking, Ringier, Zürich, 2010, S. 115–117, hier: S. 115.
2 Basierend auf: Tristan Tzara, „Dada Manifesto 1918“, in:
Robert Motherwell (Hg.), The Dada Painters and Poets. An
Anthology, 2. Aufl., G. K. Hall & Co., Boston, 1981, S. 76–81,
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