Einordnung der Leipziger Kriegsverbrecherprozesse (Beispiel für die Anwendung des Leitfragenrasters) Politische Rahmenbedingungen / Art des Systemwechsels / Internationale Politik: - Die Leipziger Kriegsverbrecherprozesse sind ein Beispiel für die Strafverfolgung nach einer militärischen Niederlage und einem Elitenwechsel durch die interne Opposition in Deutschland (Novemberrevolution). - Die internationale Strafverfolgung ist stark vom politischen Willen, den unterschiedlichen Interessen und der sehr unterschiedlichen direkten Betroffenheit durch die Kriegsverbrechen abhängig (USA nur begrenzt an Kriegsverbrecherprozessen interessiert). - Angst vor politische Instabilität in Deutschland führt zu alliiertem Nachgeben und erschwert angemessene Bestrafung der Kriegsverbrecher. - In Deutschland ist die Durchführung von Strafverfahren gegen ehemalige Kriegsverbrecher äußerst schwierig. Die noch nicht konsolidierte Demokratie ist mit einer Strafverfolgung eigener Kriegsverbrecher überfordert. - Unterschied zur Zeit nach 1945: Es gibt keine international vernetzte Zivilgesellschaft, Menschenrechtsorganisationen treten als Akteure nicht auf. - Entscheidungsfindung liegt in den Händen außenpolitischer Akteure, deren Handlungsspielraum durch innenpolitische Verhältnisse und Stimmungslagen mitbestimmt wird. Innovation: - Es wird zum ersten Mal der Grundsatz im Versailler Vertrag kodifiziert, dass auch politische Befehlshaber für Kriegsverbrechen zur Verantwortung gezogen werden können. - Versuch einen internationalen Strafgerichtshof zu etablieren wird 1918 immerhin angedacht, wenn auch nicht umgesetzt. Rechtsdogmatische Kritik / Fehlende Akzeptanz der Jurisdiktion: - Erster Versuch auch Befehlsgeber einschließlich eines Staatschefs vor Gericht zu stellen scheitert und ist rechtsdogmatisch umstritten. - Das Völkerrecht war noch zu sehr in den rechtsdogmatischen Vorstellungen der Epoche des klassischen Völkerrechts gefangen (jus as bellum, Interventionsverbot in innere Angelegenheiten). - Problem der Einseitigkeit: Es werden keine französischen oder anderen alliierten Kriegsverbrecher abgeurteilt. - Unterschiedliche Rechtsvorstellungen (kontinentale vs. Common law) erschweren, strafrechtliche Aufarbeitung. Rechtssoziologische Befunde: - Rechtsstaatliche Verfahren können die hohen Erwartungen der Öffentlichkeit oft nicht befriedigen (Freisprüche, als zu milde angesehene Urteile). - Justizsoziologischer Blickwinkel: Wie Recht gesprochen wird ist nicht nur von den Normen, sondern auch von den Richtern und ihrem sozialen und politischen Umfeld abhängig. Beitrag zur Konfliktlösung: - Bestrafung von Kriegsverbrechen wird in Deutschland als ungerechtfertigte Unterwerfung unter den "Schmachfrieden" von Versailles verstanden und provoziert nationalistische und antidemokratische Tendenzen, sie trägt nicht zur demokratischen Konsolidierung in Deutschland bei. Versailler Vertrag wird zur Belastung für erste Demokratie auf dt. Boden. Beitrag zur Bekämpfung der Straflosigkeit: - Die Verfahren dienen mehr der Schonung als Aburteilung der Kriegsverbrecher, geringer Beitrag zur Prävention zukünftiger Kriegsverbrechen. - Dies gilt insbesondere auch Angesichts des ungesühnten Völkermordes in Armenien (Hitler-Zitat: Wen interessiert heute noch Armenien?). Entschädigung der Opfer: - Opfer bleiben weitgehend unberücksichtigt, Reparationen in erheblichem Umfang erfolgen nur auf zwischenstaatlicher Ebene. Die hohen zwischenstaatlichen Reparationsleistungen erschweren wiederum in die demokratische Konsolidierung der Weimarer Republik. Literatur: Schwengler, Walter: Völkerrecht, Versailler Vertrag und die Auslieferungsfrage. Stuttgart 1982. Bass, Gary Jonathan: Stay the Hand of Vengeance: The Politics of War Crimes Tribunals, Princeton Univ. Press, 2000, pp. 58-105. Müller, Kai: Oktroyierte Verliererjustiz nach dem Ersten Weltkrieg, in: Archiv des Völkerrechts, Bd. 39, 2001, S.202-222.
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