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aktuell
Ausgabe 48
März 2016
Foto: Mirko Seifert/dpa/picturedesk.com
Jugendmagazin
ONLINE
Die junge Syrerin Yusra Mardini hat sich hohe Ziele für ihre Zukunft gesteckt.
Von Syrien nach Rio
Olympische Hoffnung für syrisches Flüchtlingsmädchen
Die 18-jährige Yusra Mardini
hat sich auf der Flucht von
Syrien nach Europa durchgekämpft. Nur sieben Monate
später bereitet sich die junge
Profi-Schwimmerin auf die
Olympischen Sommerspiele
2016 in Rio de Janeiro
(Brasilien) vor.
fehlte es noch ein bisschen bis hin zur
Weltspitze, doch allein der Start war ein
riesen Erfolg. Der Traum eines Tages
bei den Olympischen Spielen zu starten, schien greifbar.
Yusra und ihre zwei Jahre ältere
Schwester Sahra sind in Syrien zu jungen Schwimmstars herangewachsen.
Schon bevor die beiden richtig laufen konnten, lernten sie schwimmen.
Ihr Vater arbeitete in der Heimat als
Schwimmtrainer und bald trainierte er
auch seine Töchter. Das fleißige Trainieren machte sich bezahlt: Yusra und
Sahra traten für das syrische Nationalteam an – zuletzt bei der Kurzbahn-WM
2012 in Istanbul. Yusra ergatterte den
37. Platz über 400 Meter Freistil. Zwar
Es begann im März 2011 in der syrischen Stadt Daraa. Die Polizei verhaftete 15 Schulkinder weil sie Regierungsfeindliche Sprüche auf eine Hauswand
geschrieben hatten. Die Eltern und
Geschwister der Kinder gingen gemeinsam mit den Bewohnern der Stadt
auf die Straßen um die Freilassung der
Kinder zu fordern. Doch Staatschef
Baschar-al Assad reagierte mit Gewalt.
Er befahl seinen Soldaten auf die Demonstranten zu schießen – fünf Menschen starben. Aus den Demonstrati-
Erst mit dem Ausbruch des Bürgerkriegs in Syrien wandelte sich ihr Leben
schlagartig:
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onen wurde ein blutiger Aufstand, der
sich auch auf andere Teile des Landes
ausdehnte. Die Gegner Assads forderten seinen Rücktritt: unter ihnen junge
Syrer, die sich mehr Freiheit und Rechte erhofften; Angehörige verschiedener
Religionsgemeinschaften, die sich von
Assad unterdrückt fühlten; Menschen
die voller Hass gegen Assad waren. In
den Konflikt mischte sich auch die Terrorgruppe Islamischer Staat (IS) ein –
brutale Moslems, die im Namen Allahs
Menschen töten, die sich nicht ihren
entsetzlichen Regeln unterwerfen. Sie
bekämpfen aber auch Assad. Vier Jahre Krieg haben 300.000 Todesopfer gefordert. Vier Millionen Menschen sind
aus Syrien geflohen.
In Damaskus, der Heimatstadt Yusras,
ist die Lage fürchterlich. Panzer donnern durch die Straßen. Am südlichen
und östlichen Rand von Damaskus
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halten sich die Gegner Assads, die
sein Heer mit äußerster Gewalt bekämpfen, verschanzt. Auch Menschen,
die nicht an den Kämpfen beteiligt
sind, werden durch Gewehrkugeln und
Bomben getötet.
Auf der Flucht
Foto: Corbis
Yusras Leben hatte sich für immer
verändert. Das Schwimmtraining, das
ihr so viel bedeutete, fand kaum noch
statt – ihr Vater musste es oft verbieten.
Immer seltener trainierten sie und ihre
Schwester in einer Schwimmhalle deren Dach zerbombt war.
Unzählige Flüchtlingsboote strandeten auf der griechischen Insel Lesbos.
Dass der Krieg bald zu Ende gehen
würde, daran glaubte in ihrer Familie
niemand mehr. Im August 2015 hatte
Yusras Vater mühevoll 10.000 Dollar
zusammengespart. Er gab das Geld
seinen Töchtern, damit sie Syrien verlassen und in eine bessere Zukunft aufbrechen konnten. Die Eltern blieben mit
der kleinen Schwester zurück. Yusra
und Sahra flogen nach Istanbul, gelangten von dort nach Izmir und machten
sich dann auf den Weg entlang der türkischen Küste. Um weiter nach Griechenland zu kommen, mussten sie zunächst
das Ägäische Meer überqueren. Yusra
bezahlte Schmugglern viel Geld für zwei
Plätze auf einem winzigen Schlauchboot, auf dem sich 20 Frauen, Männer
und Kinder dicht zusammendrängten. In der Abenddämmerung brachen
sie auf. Als sie schon weit draußen auf
dem offenen Meer waren, bemerkten
sie, dass das kleine Boot unter der
Last der vielen Menschen immer tiefer
ins Wasser sank. Yusra und die anderen warfen all ihre Habseligkeiten über
Bord – mit weniger Gewicht an Bord
würden sie nicht untergehen, so hofften sie. Aber es reichte nicht. In ihrer
Verzweiflung beschlossen Yusra, Sahra und ein Junge ins Wasser zu springen. Sie waren die einzigen an Bord,
die schwimmen konnten. Abwechselnd
machten sie sich daran das Boot an einer Leine Richtung Festland zu ziehen.
Dreieinhalb Stunden dauerte ihr Kampf
ums Überleben im kalten Wasser, bevor sie die Insel Lesbos mit letzter Kraft
erreichten. „Es war schrecklich“, erzählt
Yusra heute, „und ich hatte Angst zu ertrinken, obwohl ich Schwimmerin bin“.
Seit dieser Nacht hat Yusra Angst vor
dem Meer. Ihre Liebe zum Schwimmen
hat sie aber nicht verloren.
Die Grenze ist erreicht
Yusra und Sahra hatten sich kaum erholt, da mussten sie schon weiter. Ihr
Weg führte sie bis hinter die serbischungarische Grenze. Dort griff sie die
Polizei auf. Die Mädchen lachten. Als
der Polizist sie fragte, warum sie lachten, antwortete Yusra: „Wir hatten Angst
im Meer zu ertrinken – jetzt sind wir
hier. Wir leben. Wir haben keine Angst
mehr.“ Die Polizei brachte die Schwestern in ein Camp. Nach drei Tagen liefen
sie davon. Bei ihrem zweiten Versuch
die Grenze zu überqueren, suchten und
fanden sie einen neuen Weg durch ein
weites Kornfeld. Eigentlich hätte der
Weg nur zehn Minuten gedauert. Doch
die Schwestern brauchten fast einen
ganzen Tag. Sie liefen immer nur zwei,
drei Meter. Eins, zwei, drei – in Deckung. Dann duckten sie sich wieder.
Yusra hat diesen Teil ihrer Flucht wie ein
Abenteuer in Erinnerung.
Eigentlich verbirgt sich aber eine traurige Wahrheit dahinter: Länder wie
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Ungarn, Serbien oder Polen möchten
kaum mehr Flüchtlinge aufnehmen.
Sie hätten zu wenig Geld, um sich der
Flüchtlinge anzunehmen. Denn diese
brauchen vorerst Unterkünfte, Essen,
Kleidung, medizinische Versorgung
und vieles mehr. Ehe die Flüchtlinge
selbst Arbeit finden und den Ländern
auch Geld einbringen, vergehen Jahre. Selbst wohlhabendere Länder wie
Österreich möchten nicht mehr so viele
Flüchtlinge beherbergen. Waren es im
vergangenen Jahr noch rund 90.000
Flüchtlinge, die nach Österreich gekommen sind, soll es heuer weniger
als die Hälfte sein. Der große Ansturm
der letzten Monate sei in so kurzer Zeit
nicht mehr zu bewältigen, meinen unsere Politiker. Österreich ist nicht allein mit dieser Meinung. In der EU ist
die Rede davon, die Grenzen dicht zu
machen. Nur mehr eine bestimmte Anzahl an Flüchtlingen, die sich auf alle
Länder gerecht aufteilen soll, wird über
die Grenzen kommen. Das Problem ist,
dass nach wie vor Tausende Flüchtlinge
in Griechenland und in Italien stranden.
Wie sollen diese Länder mit der großen
Zahl an Flüchtlingen zurechtkommen?
Die EU hofft, dass auch sie ihre Grenzen schließen – auch wenn das zum
Meer hin sehr schwierig ist. Außer man
nimmt in Kauf, dass viele auf der Flucht
im Meer ertrinken. Denn der Flüchtlingsstrom wird nicht abreißen. Die
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Foto: Boris Grdanoski/AP/picturedesk.com
An vielen Grenzen Europas gibt es kein Weiterkommen für die Flüchtlinge.
Chancen auf ein baldiges Ende des
Krieges in Syrien stehen sehr schlecht.
Viele Syrer fliehen, weil sie um ihr Leben fürchten müssen. Genauso ist das
Leben vieler Menschen in Afghanistan
oder im Irak bedroht. Ihnen müsste
nach herrschendem Völkerrecht Asyl
gewährt werden. Doch wird das immer
schwieriger. Menschen die fliehen, weil
sie in Not und Elend leben, oder schon
als Kinder zum Militärdienst gezwungen werden – wie es in einigen afrikanischen Ländern der Fall ist – werden
schon gar kein Asyl erhalten. Sie setzen
ihr Leben umsonst aufs Spiel.
te in Yusra ein Ausnahmetalent. Ohne
zu zögern nahm er sie in sein Team auf.
Die Mitglieder halfen Yusra und Sahra
bei den ersten Schritten in ein neues
Leben. Die jungen Frauen zogen schnell
von der Notunterkunft in eine Wohnung
des Klubhauses. Yusra steht jeden Tag
um sieben auf, trainiert für zwei bis drei
Stunden im Olympiabecken, geht zur
Schule und lernt Deutsch. Nach dem
Mittagessen geht es dann mit dem Training weiter. „Yusra hat klare Ziele vor
Augen und richtet ihr Leben entsprechend danach aus“, meint ihr Trainer.
Olympia ich komme
Ein Neubeginn
Yusra und Sahra sind unter den Glücklichen, die es nach Mitteleuropa geschafft haben. Seit September 2015 leben die beiden in Berlin. Ein ägyptischer
Dolmetscher brachte sie schließlich mit
einem erfolgreichen Schwimmverein in
Kontakt. Der dortige Trainer entdeck-
Yusras Trainer vermittelte ihr auch den
Kontakt zum Deutschen Olympischen
Sportbund. Yusra zählt nun zu den
weltweit 43 Kandidaten für das erste
olympische Flüchtlingsteam in der Geschichte. Die Olympischen Spiele finden bereits diesen Sommer vom 5. bis
21. August 2016 in Rio de Janeiro statt.
Mit dem Team „Refugee Olympic Athletes / Flüchtlinge als Olympiaathleten“ (ROA) will der olympische Verband ein Zeichen setzen, wachrütteln und
helfen. „Wir möchten eine Botschaft der Hoffnung
und Zuversicht an die Flüchtlinge senden und die Aufmerksamkeit auf das Schicksal und die Probleme von
60 Millionen Flüchtlingen auf der ganzen Welt richten“, sagt der Präsident des Verbandes.
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Wenige Monate hat Yusra also noch,
ihre persönliche Bestleistung zu überbieten. Dann entscheidet sich, ob sie
den Sprung ins Team schafft. Fünf bis
zehn Athleten werden es voraussichtlich sein. Yusra könnte als Schwimmerin unter der Flagge des Internationalen
Olympischen Komitees starten. „Dann
hoffe ich, dass all die Flüchtlinge, die
wir vertreten, stolz auf mich sind. Ich
möchte sie ermutigen. Auch wenn wir
unsere Heimat verlassen mussten und
einen harten Weg hinter uns haben,
können wir Großes erreichen.“ Ihr Talent im Schwimmen hat ihr auf der
Flucht das Leben gerettet, jetzt gibt ihr
der Sport Kraft für die nächsten Herausforderungen.
Auch ihr Vater ist sehr stolz auf Yusra.
Er hat es nach Berlin geschafft, zusammen mit Yusras Mutter und der kleinen
Schwester. Die Asylanträge von Yusra
und Sarah sind mittlerweile bewilligt,
der Rest der Familie wartet noch.
Der olympische Traum ist aber nicht ihr
letzter. Yusra möchte sich in Deutschland ein Leben aufbauen und vielleicht
eines Tages als Pilotin arbeiten.
Kathrin-Theresa Madl
Was heißt ...
Bürgerkrieg: Eine zwischen verschiedenen
Gruppen ausgetragene bewaffnete Auseinandersetzung innerhalb ein und desselben
Landes
Asyl: Aufnahme und Schutz für durch Krieg
Vertriebene und Verfolgte (Flüchtlinge)
Asylantrag: Antrag eines Flüchtlings, in
einem fremden Land aufgenommen zu
werden
Info:
Siehe auch JÖ Jänner
2016 „Syrien und seine
Geschichte“, Seite 44/45
und JÖaktuell Online
Oktober 2015 „Mahmouds
neues Leben“
Ausgabe 48 • März 2016 • Seite 3