DEUTSCHLANDFUNK Hörspiel/Hintergrund Kultur Redaktion: Karin Beindorff Sendung: Dienstag, 08.12.2015 19.15 – 20.00 Uhr Kopfpauschale Die deutsche Asylbürokratie und ihre Folgen Von Achim Nuhr Co-Produktion HR/DLF/SWR URHEBERRECHTLICHER HINWEIS Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © Deutschlandradio - Unkorrigiertes Manuskript - O-TON: (Angela Merkel:) Deutschland ist ein aufnahmebereites Land. Jetzt müssen wir allerdings auch eine Vielzahl von Maßnahmen ergreifen, damit wir diese Herausforderung bewältigen können. O-Ton Collage aus Tageschau u.ä.: Tageschau 11.9.15, 20 Uhr: In Deutschland werden an diesem Wochenende mehrere 10.000 Flüchtlinge erwartet. München rechnet bis zum Sonntag mit 50.000 Menschen und fordert dringend Hilfe von den Bundesländern und der Bundesregierung. Rbb-Berliner Abendschau, 9.7.2013: Wieder mal machen Bürger mobil gegen ein Flüchtlingsheim. Motto: Mag ja sein, dass die Flüchtlinge Schlimmes hinter sich haben. Aber bitte nicht in unserer Nachbarschaft. ARD Mittagsmagazin 31.07.2015, München Aufnahmezentrum für Flüchtlinge überfüllt … und wieder kommt eine Flüchtlingsfamilie … an. Das Ankunftszentrum platzt aber schon aus allen Nähten. 755 Menschen trafen in nur 24 Stunden ein. OT: Wir hätten auch nicht gedacht, dass wir hier ein Zeltlager aufbauen müssen. An sich ist das hier eine Durchgangseinrichtung für wenige Stunden oder eine Nacht. Tagesschau 13.10.2015, Kälteeinbruch Zehntausende Flüchtlinge wohnen weiterhin in Zelten: Noch sind Länder und Städte weit davon entfernt, ausreichend winterfeste Unterkünfte bereit zu stellen. Das heißt, viele Flüchtlinge müssen in leergeräumten Hallen und Baumärkten ausharren, 10.000e sogar in Zelten, die teils gar nicht beheizt werden können. – Reporterin: Uns ist kalt, steht auf ihren Schildern. (übersetzt OT Flüchtling:) Mit dem Kind ist es ziemlich schwer für uns. Wir schlafen in der Toilette, da gibt es eine Heizung. (Reporterin:) Es sind emotionale Szenen, die sich bereits den ganzen Tag am Hauptbahnhof abspielen. Denn die Münchener begrüßen schon seit Stunden die ankommenden Flüchtlinge mit Applaus, Spielsachen und Schokolade für die Kinder. … (Reporter:) Ich habe eben mit der Bundespolizei gesprochen: Sie sieht sich außerstande, eine Aussicht auf Morgen zu geben. Man kann die Lage nicht einschätzen, wie viele Menschen morgen kommen werden. Ansage: "Kopfpauschale" Die deutsche Asylbürokratie und ihre Folgen Feature von Achim Nuhr ATMO: Übergang in Vogelzwitschern, Wald SPRECHER: Während Flüchtlinge in Berlin draußen kampieren müssen, in anderen Städten noch immer in Zelten der Kälte trotzen, Bürgermeister verzweifelt nach Unterbringungsmöglichkeiten für tausende neue Flüchtlinge suchen und in den 1 Grenzregionen die Polizei Jagd auf Schleuser macht, herrscht in einem anderen Flüchtlingsheim gespenstische Leere: ATMO: gemeinsamer Gang durch Flure, suchen, anklopfen, „nobody is here“ SPRECHER: Ein Flüchtling aus Eritrea irrt mit dem Reporter durch ein leeres Wohnheim. Die ehemalige Kaserne steht mitten in einem Wald in Westfalen, an der Grenze zu Hessen. Eigentlich sollten hier 17 Asylbewerber leben, aber gerade ist keiner zu sehen. Der Eritreer Robe hat hier bis vor einem halben Jahr selbst gewohnt. O-TON: There were some people … makes stress, really. Overvoice 1: Damals lebten hier auch einige schlimme Menschen, die mich mehrfach verprügelt haben. Dann musste ich sehen, wie ich ins Krankenhaus nach Warstein kam. Niemand schaute hier nach dem rechten. Nur die Polizei nach Prügeleien. Sonst niemand. – Sie sagten, einmal sei sogar das Wasser abgestellt worden. Was haben Sie da unternommen? – Da haben wir das Wasser aus dem Fluss geholt, der nebenan vorbeiläuft. Damit haben wir unsere Teller gespült, und die Toilette. – Und das Trinkwasser? – Das mussten wir damals selbst kaufen. Hier im Wald kann man nur schlafen, kochen oder Spazierengehen. Wenn man in die nächste Siedlung will, muss man laufen oder mit dem Fahrrad fahren. Von hier ist alles sehr weit weg. Das stresst wirklich. ATMO: unterwegs im Flüchtlingsheim 2 SPRECHER: Der Eritreer Robe flüchtete ab Mitte des Jahres 2013 aus einer Trockensavanne durch die Sahara nach Libyen, nahm von dort ein Boot über das Mittelmeer nach Italien und fuhr dann mit Zügen und Bussen weiter nach Deutschland, wo er etwa ein Jahr später ankam. Hier wurde er nach einem Zwischenstopp in München zuerst nach Dortmund geschickt zu einer Erstaufnahme-Einrichtung, dann in die westfälische Kleinstadt Rüthen, um dort dauerhaft zu leben. In Rüthen wurde Robe gleich in ein Auto geladen und durch den Wald zum Flüchtlingsheim gefahren. O-TON: First when he brought me … just try to remain calm. Overvoice 1: Der Hausmeister der Stadtverwaltung brachte mich hierher. Er schickte mich in ein Zimmer, wo schon ein Pakistani wohnte. Er sagte mir noch, dass er mir innerhalb der nächsten drei Tage eine Matratze und Kochtöpfe bringen würde. Aber dann verschwand er und kam nicht wieder. Ich rief ihn mehrfach an, aber die anderen Flüchtlinge sagten: Das macht er bei jedem so. Erst nach ungefähr einem Monat - genauer weiß ich das nicht mehr - kam er dann doch mit meiner Matratze. In Rüthen gibt es aber auch hilfsbereite Menschen: Ein Herr namens Helmut kam extra hier vorbei und brachte mir ein gutes Fahrrad. Ein anderer Mann meldete mich in einem Fußballklub an. Da versuchte ich, mich zu beruhigen. SPRECHER: Welches Bundesland wie viele Flüchtlinge aufnimmt, errechnen Bund und Länder jährlich neu: bis zur fünften Stelle hinterm Komma mit dem so genannten „Königsteiner Schlüssel“. 3 Landespolitiker erzählen vertraulich, dass die Verteilung längst chaotisch laufe, und immer zum Nachteil des eigenen Landes. Angeblich würden sich manche Bundesländer schon mal stundenlang aus dem virtuellen Verteilsystem verabschieden, sobald große Flüchtlingsgruppen neu auftauchen und über Deutschland verteilt werden müssen. ATMO: Rundgang durchs Heim O-TON: They did not show me … buy something to eat. Overvoice 1: Nichts hatte man mir gezeigt am Anfang, und rundherum waren nirgendwo andere Häuser zu sehen. Es gab auch keine einheimischen Menschen hier, nur die anderen Flüchtlinge. Ich begann, mir Sorgen zu machen. Damit hatte ich nicht gerechnet: dass ich in Deutschland in einem Wald leben würde. Und fernab von Läden und Märkten: Man konnte nirgendwo hin, um Lebensmittel zu kaufen. ATMO: Fortsetzung SPRECHER: In vielen Bundesländern ist sogar bis zur elften Stellen hinter dem Komma geregelt, welche Kommune welchen Anteil an Flüchtlingen aufnehmen soll. Diese Quoten richten sich vor allem nach der Einwohnerzahl: Je größer die Gemeinde, umso mehr Asylbewerber soll sie aufnehmen. Doch die Statistiken der Landesämter zeigen eine andere Lage. Beispiel NordrheinWestfalen: Hier müsste die Bergische Stadt Wuppertal gemäß Flüchtlingsaufnahmegesetz knapp 50 Prozent weniger Flüchtlinge betreuen als das nahezu doppelt so große Düsseldorf am Rhein. Doch laut Statistik betreut Wuppertal rund 50 Prozent mehr Flüchtlinge als Düsseldorf. 4 Solche drastischen Abweichungen haben ganz praktische Folgen. Denn deutschlandweit bleiben die allermeisten Kommunen auf einem Großteil ihrer Ausgaben für Asylbewerber sitzen: weil sich der Bund bisher gar nicht an diesen Ausgaben beteiligt hat, und die meisten Landesregierungen ihrerseits den Kommunen nur einen Bruchteil dieser Kosten nachträglich erstatten. ATMO: Dialog über Handy, Begrüßung SPRECHER: Mit seinem Handy hat der Eritreer Robe den Pakistani erreicht, mit dem er hier zu Anfang auf einem Zimmer lebte. Nun steigt der Pakistani aus dem Auto des ehrenamtlichen Helfers Karl Spiekermann, gemeinsam mit drei weiteren Flüchtlingen. Die vier erzählen, dass sie als letzte übrig geblieben seien in dem einsamen Flüchtlingsheim mitten im Wald: Die anderen 13 hier noch gemeldeten Flüchtlinge wären längst abgehauen auf Nimmerwiedersehen. Die Pakistanis tragen dicke Einkaufstüten mit Lebensmitteln für die nächste Woche. Sie müssen sich selbst versorgen, aber der nächste Supermarkt liegt fast zehn Kilometer entfernt. Weil ihre Tüten auf kein Fahrrad passen, hat sie Karl Spiekermann erst zum Supermarkt gefahren und dann wieder zurück in den Wald. O-TON: Wir hatten von diesem Ort gehört und wollten ihn einfach mal besuchen. Da waren wir schon schockiert: Das war schon die zermürbteste Gruppe von Flüchtlingen, die wir je gesehen haben. Die einfach unter dieser Isolation und Einsamkeit leiden. Was dann auch die Mehrzahl der Flüchtlinge, die hier registriert sind, weggetrieben hat. Der am längsten schon von denen, die noch übrig waren, hier war, der Jassin, der schon zu seinem eigenen Spiegelbild gesprochen hat aus Verzweiflung. Und Robe haben wir dann angeboten, letztlich eine Wohnung für ihn anzumieten, damit er auch Gemeinschaft erleben kann. - Was machen die anderen? – Sind irgendwo in Deutschland verstreut. Keiner weiß, wo sie sind. Wo die Post ist, da waren Briefe von Staatsanwaltschaft. Und ich habe dann auch 5 die Angst, dass es dann manchen auch in die Illegalität getrieben hat. Weil sie ihr Geld hier monatlich abholen müssen. Viele machen das nicht und müssen von irgendetwas leben. Was einem jetzt auch speziell in den letzten Tagen Sorgen machen könnte, wären rechtsradikale Elemente, die hier kommen und irgendeine Gewalttat verüben und keiner bekommt es mit. Die Türe ist immer offen. ATMO: Gespräche im Heim, Abschied SPRECHER: Deshalb wird die Lage dieses Flüchtlingsheims hier nicht genauer beschrieben. Später wird der verantwortliche Bürgermeister der Stadt Rüthen von den belgischen Soldaten erzählen, die hier früher ein Tanklager bewachten. Dann zog die NATO ab, ein Unternehmer kaufte das abgelegene Grundstück und vermietete es der Stadt, die dort seitdem Flüchtlinge unterbringt. ATMO: im Auto unterwegs SPRECHER: In Eritrea studierte Robe Wirtschaftswissenschaften, bis ihn das dortige Regime in die kämpfende Armee zwingen wollte. Jetzt kann er bald sein Studium an einer Fachhochschule fortsetzen, statt ohne Perspektive im Arnsberger Wald zu hocken: Mit Unterstützung seiner deutschen Helfer bewarb er sich erfolgreich für einen englischsprachigen Studiengang „Business Administration and Informatics“. Ein gefragter Berufszweig, in dem sich später gut verdienen lässt. Eine Abschiebung hat Robe nicht zu befürchten: Er wird in Deutschland aller Voraussicht nach entweder Asyl oder zumindest Schutz vor Abschiebung erhalten, weil ihn daheim das eritreische Regime als Deserteur töten würde. 6 ATMO: Auto öffnen, hinein Treppen im Rathaus SPRECHER: Neun Kilometer fährt man mit dem Auto von dem Waldheim zum Rathaus von Rüthen. O-TON: (Autor:) Entschuldigen Sie, dass ich hier so reinplatze – (Weiken:) Ach, ich bin Kummer gewohnt. Aber ein bisschen mal Luft holen muss ich schon noch. Hier stapelt es sich, hier stapelt es sich. Hach, erstmal hallo. SPRECHER: In Rüthen ist Bürgermeister Peter Weiken gerade erst von einem Termin zurückgekehrt ins Rathaus, einen Betonbau im Stil der 70er-Jahre. Auch ohne Voranmeldung ist er gleich zu einer Stellungnahme bereit. Liegt die Wald-Behausung nicht zu abgelegen für ortsunkundige, nicht motorisierte Flüchtlinge aus fernen Ländern? O-TON: Wir halten den Kontakt, jetzt wenn sie die Verwaltung ansprechen, über unseren Hausmeister, der mindestens einmal täglich vor Ort ist. Wenn dann immer gesagt wird, ihr vergesst die Menschen dort draußen: Da muss ich vehement widersprechen. Das ist nicht so. Ich fordere aber auch von den Flüchtlingen ein gewisses Mindestmaß an Eigeninitiative. Da gibt es genügend Beispiele von denen, die in den vergangenen Jahren diese Eigeninitiative gezeigt haben, die es dann mit ein bisschen Eigenmotivation auch geschafft haben, diese Asylunterkunft zu verlassen. Da ist die Lösung, die ich jedem, der so klagt, anbiete, zu mir zu kommen und zu sagen: Herr Weiken, ich möchte so einen Euro-Job haben, beim Bauhof oder im Schwimmbad oder sonst wo. Der kriegt morgen von mir ein Mofa und kann morgen früh um 7 Uhr anfangen. SPRECHER: Dazu befragt, werden die Flüchtlinge sagen, dass sie sich in der kalten Jahreszeit kaum in der Lage sähen, auf diese Bedingungen einzugehen: Die Fahrt mit einem Mofa durch den dunklen Wald über eine Bundesstraße voller Lastwagen sei ihnen nicht geheuer und im Winter läge oft morgens früh noch Schnee. Der Helfer Karl Spiekermann wird berichten, dass 7 andere Flüchtlinge, die in Dörfern und Städten wohnten, ähnliche Jobs angenommen hätten. ATMO: Raum SPRECHER: Bundesweit haben die meisten Bürgermeister freie Hand, wie sie Asylbewerber unterbringen: In Nordrhein-Westfalen, Hessen, Niedersachsen und Rheinland-Pfalz gibt es keinerlei Auflagen für kommunale Flüchtlings-Unterkünfte. In SchleswigHolstein, Bayern und Sachsen-Anhalt - „empfehlen“ die Regierungen den Kommunen Standards: zum Beispiel sechs Quadratmeter Wohnfläche pro Bewohner, oder eine maximale Belegungszahl von sechs Personen in einem Raum. ATMO: Im Bus unterwegs SPRECHER: In anderen Ländern wie Hessen fehlen dazu jegliche Auflagen. Aktuell werden zwar wegen der großen Einreisewelle nahezu bundesweit provisorische Flüchtlings-Unterkünfte errichtet, von denen manche solchen Vorschriften widersprechen. Doch diese Provisorien sollen später so bald wie möglich wieder verschwinden - jedenfalls dort, wo sie gegen Verordnungen verstoßen. ATMO: Büro Weiken SPRECHER: In den Bundesländern, in denen es keine Vorgaben gibt, fehlt dieser Druck: Das einsame Flüchtlings-Heim bei Rüthen wurde bereits Anfang der 90er-Jahre in Betrieb genommen - ganz 8 ohne Flüchtlingskrise. Und seine Schließung ist bisher auch nicht geplant, sagt Bürgermeister Weiken. O-TON: Ich meine, fünf müssten sich dort permanent aufhalten. Gemeldet sind, glaube ich, sind an die 30 wahrscheinlich. Das ist im Endeffekt dem geschuldet, dass viele sagen: Wir sind hier nach Deutschland gekommen, nach Europa, mit ganz anderen Erwartungen. Uns wurde seinerzeit im Heimatland etwas von Frankfurt, Berlin, von Metropolen erzählt. Wenn man sich dann irgendwo wieder findet, was ja schon im Walde gelegen ist: Das ist sicher nicht das, was man sich vorgestellt hat. Aber das ist in unseren Augen in Ordnung. Wir zwingen keinen, zu bleiben. Oder sich dort permanent aufzuhalten. ATMO: Foyer Nordrhein-Westfalen-Innenministerium SPRECHER: Für die Erstaufnahme von Flüchtlingen sind bisher allein die Bundesländer zuständig. Nach spätestens drei Monaten sollen sie die Asylbewerber in die Gemeinden weiter schicken: zur „Anschlussunterbringung“, wie es in Amtsdeutsch heißt. Doch dieses System belastete die „Verantwortungsgemeinschaft“ von Bund, Ländern und Gemeinden zuletzt immer stärker. Denn die Bundesregierung gibt die Leitlinien für die Flüchtlingspolitik vor: O-TON: (Merkel) Das Problem ist ja: Sie können die Grenzen nicht schließen. Wir haben Grenzkontrollen durchgeführt. Wenn wir die Grenzen schließen würden – Deutschland hat dreitausend Kilometer Landgrenze – dann müssten wir um diese dreitausend Kilometer einen Zaun bauen. Wir konnten in Ungarn besichtigen, was dabei herauskommt, wenn man einen Zaun baut…es wird nicht klappen. Es gibt den Aufnahmestopp nicht. SPRECHER: Die Zahl der Asylanträge stieg von 26.000 im Mai auf 38.000 im Juli und schließlich 43.000 im September. O-TON: Rbb-Klartext, 22.05.2013 Es gibt einfach zu wenig Platz für Flüchtlinge in Berlin. Die Familie ist in einer ehemaligen Schule untergebracht, in einer Notunterkunft. Die Räume sind durch Decken unterteilt. Das muss reichen 9 für die Privatsphäre. Weil aber schon jetzt 200 Plätze fehlen, schlafen die Menschen in manchen Häusern sogar auf den Gängen. Die Not ist groß. SPRECHER: Zu den Kritikern dieses Systems gehört Ralf Jäger, der Innenminister des größten Bundeslandes Nordrhein-Westfalen. Er muss allein mehr als ein Fünftel aller Flüchtlinge unterbringen, inklusive der Neuankömmlinge. O-TON: Die Sorgen werden von Tag zu Tag größer, weil auch die Herausforderung von Tag zu Tag größer ist. Ich vergleiche das immer mit einem Bild: Länder und Kommunen sind mitten in einem Hürdenlauf, schwitzen, strengen sich an. Und der Bund feuert uns von der Zuschauer-Tribüne aus an. Das geht so nicht. Das muss aufhören. Der Bund muss diese nationale Herausforderung, die wir zurzeit haben, mit bewältigen. ATMO: Fortsetzung SPRECHER: Auf einem Flüchtlingsgipfel im Herbst konnten die Länder Erfolge erzielen: Erstmals versprach der Bund „bis zu 40.000 (bundeseigene) Plätze“ zur Erstaufnahme. Ab 2016 wird sich der Bund außerdem direkt und dauerhaft an der Flüchtlingsbetreuung vor Ort finanziell beteiligen: beispielsweise mit einer Monatspauschale von 670 Euro pro Flüchtling vom Tag der Registrierung bis zum Ende des Asylverfahrens, und 350 Millionen Euro für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Die Bundesmittel für Kommunen fließen zuerst an die Länder, die sie weiterreichen sollen. Der Städtetag sieht darin „eine gute Grundlage“ und hofft, dass die Länder das Geld ohne Abzüge weiterreichen. Er fordert aber weiterhin, dass Bund und Länder „sämtliche“ Kosten erstatten sollten zur Bewältigung der „gesamtstaatlichen Aufgabe“, weil bisher nur die schwächsten Glieder der Kette die „Hauptlast“ tragen würden: die Gemeinden. Ralf Jäger: 10 O-TON: Wir besprechen gerade mit den Kommunen in Nordrhein-Westfalen: Was gebt ihr eigentlich tatsächlich aus? Das ist nicht so ganz einfach zu ermitteln, weil das ganz unterschiedliche Kostenstrukturen sind. In einer ländlichen Gemeinde kann man günstiger Flächen für Flüchtlinge organisieren als in Ballungszentren, wo der Wohnungsmarkt schon sehr eng ist. Da versuchen wir so ein Mittel gerade zu errechnen. Das schaffen wir bis Ende des Jahres. Dann schauen wir: Was gibt das Land, was gibt der Bund, was bleibt übrig für die Kommunen. Ist da möglicherweise eine Überforderung vorhanden? ATMO: Vor dem Minister-Büro SPRECHER: Zumindest wird das Geld ungerecht an die Kommunen verteilt, wie Dokumente aus den Länderparlamenten belegen. Den Anfang machte vor zehn Jahren das damals CDU-geführte Thüringen: Dort steht im Flüchtlingsaufnahmegesetz, dass das Land den Kommunen „die mit der Aufnahme und Unterbringung der (Asylbewerber) verbundenen notwendigen Kosten (erstatten)“ muss. Im Parlament fragte die damals oppositionelle „Linke“ mehrfach, ob dieses Gesetz eingehalten würde. Die Antworten dokumentierten eine sehr ungleiche Verteilung des Geldes: Als Schlusslicht bekam die Stadt Jena weniger als 50 Prozent ihrer Asyl-Ausgaben ersetzt. Andere thüringische Städte erhielten dagegen mehr, als sie real für Flüchtlinge ausgegeben hatten. Im größten Aufnahmeland, Nordrhein-Westfalen, regiert die SPD zusammen mit den Grünen. Hier deckte die CDU die Finanzierungslücken auf, und die fallen noch drastischer aus als in Thüringen: Auf eine Erstattungsquote von 50 Prozent kam dort nach jüngsten Zahlen der Spitzenreiter Bad Honnef. Die wohlhabende Landeshauptstadt Düsseldorf bekam nur 31 Prozent erstattet, die Provinzstadt Rüthen 22 und das nahezu bankrotte Wuppertal gerade mal 12 Prozent, wie Dokumente aus dem Parlament belegen. 11 O-TON: Ich glaube, das Problem ist: Wir reden hier über Zahlen, die nicht verifiziert sind. Die nicht belastbar sind. Weil: Der eine rechnet so, der andere rechnet so. Der eine rechnet nur die Ausgaben für Flüchtlinge, der nächste rechnet Ausgaben für geduldete Asylbewerber mit ein. Der eine nimmt den Stichtag vom letzten Jahr, der andere nimmt den Stichtag von diesem Jahr. Ein völliges Zahlenwirrwarr. Das ist sehr, sehr kompliziert, sehr, sehr komplex. Und alle Zahlen, die jetzt in die Landschaft gerufen werden, haben eines gemeinsam: Sie sind auf jeden Fall falsch. SPRECHER: Diese Zahlen haben aber noch etwas gemeinsam: Sie stammen aus parlamentarischen Stellungnahmen der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen, der Jäger als Innenminister selbst angehört. Bislang wollte die Landesregierung wohl gar nicht so genau wissen, wie teuer es ist, Flüchtlinge unterzubringen. Denn dann hätte sich womöglich gezeigt, dass die Kommunen mit der vom Land pauschal verteilten Summe von rund 7.600 Euro pro Flüchtling und Jahr nicht hinkommen. Baden-Württemberg zahlt ebenfalls pauschal, aber mehr als 13.000 Euro pro Flüchtling, und damit rund 75 Prozent mehr als Nordrhein-Westfalen. Andere Flächenstaaten arbeiten mit unübersichtlichen Mischsystemen. Aber die Finanzierung der Gemeinden ist nicht das einzige Problem der Asylbürokratie. O-TON: I’m waiting for the interview … my son, my family. Overvoice 2: Nun warte ich schon seit 14 Monaten auf meine Anhörung. Dabei gab es anfangs doch noch gar keinen Flüchtlingsansturm. Ich kenne einen Asylbewerber, der hatte seine Anhörung nach drei Tagen. Ein anderer nach zwei Wochen. Wenn das so weitergeht mit dem Warten auf 12 unbestimmte Zeit, werde ich noch meine Frau und meinen Sohn verlieren. Meine Familie. ATMO: Fotos betrachten in Mohamads Zimmer SPRECHER: Hassan Mohamad kommt aus Dhaka, der Hauptstadt von Bangladesch: einer Dritte Welt-Metropole mit 17 Millionen Einwohnern. Nun lebt er im beschaulichen Werl, einer Provinzstadt zwischen Sauer- und Münsterland. Hassan Mohamad, der in Wirklichkeit anders heißt, muss sich täglich neu entscheiden: Bleibt er hier, in Sicherheit, obwohl seine Frau zu Hause in Bangladesch bereits den Hausrat verkaufen musste und nicht mehr weiß, wie sie sich und den kleinen Sohn dort länger durchbringen soll? Oder reist der zu Hause prominente Journalist zurück nach Dhaka, wo ihn religiöse Fanatiker mit Macheten zerhacken könnten. Für dieses Dilemma tragen deutsche Behörden keine Verantwortung. Doch sie verschärfen Hassan Mohamads Problem, in dem sie sein Verfahren über viele Monate nicht bearbeiten. Er wüsste gern, wie es mit ihm weitergeht. O-TON: So I really want to mention … for the last 14 month. Overvoice 2: Ich würde den Verantwortlichen wirklich gerne sagen, dass es ein transparentes Registrierungssystem für Asylanträge geben sollte. Bisher geht es anscheinend eher zu wie bei einer Lotterie. Sonst fordere ich wirklich gar nichts: weder mehr Geld noch eine bessere Unterkunft oder besseres Essen. Gar nichts. Aber 14 Monate müssten doch reichen, meinen Fall zu 13 untersuchen. Stattdessen tun sie nichts – oder jedenfalls nichts, was ich erkennen könnte. Seit 14 Monaten! ATMO: Fluratmo, teils m. Stimmen SPRECHER: Beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge liegen inzwischen fast 300.000 unbearbeitete Asylanträge. Flüchtlingsorganisationen kritisieren das BAMF schon lange. Inzwischen beanstanden auch Länder und Kommunen die wachsenden Antragsstapel, weil dadurch immer mehr Flüchtlinge immer länger in Heimen festgehalten werden und damit Plätze blockieren, die dringend für Neuankömmlinge gebraucht würden. Die Asylbewerber wissen oft nicht einmal, wo sie nach ihrer Akte fragen könnten. Heinz Drucks von der Hilfsorganisation Flüchtlingsräte hat täglich mit ihnen zu tun: Er arbeitet beruflich bei der Diakonie Ruhr-Hellweg und berät dort auch den Bangladeschi Hassan Mohamad. O-TON: Sein Fall liegt beim Bundesamt unter dem Stapel der nicht bearbeiteten Fälle. Ob es Sinn macht, sich zu beschweren, wage ich zu bezweifeln. Es gibt ein automatisiertes Antwortverfahren, in dem wird dann mitgeteilt, dass man halt so lange warten muss, wie es dauert. Manchmal werden die aus Bochum oder Dortmund direkt zum Bundesamt nach Dortmund gebracht. Die werden dann direkt angehört und erhalten dann relativ schnell Entscheidungen. Andere, bei denen die Kapazität überschritten war: Da bleibt das auf dem Schreibtisch liegen. Und auf dem stapeln sich dann nach und nach die Fälle. Und irgendwann liegt der Fall dann ganz unten und dann dauert es entsprechend lang. Das ist gängig so. SPRECHER: Auf dem „Flüchtlingsgipfel“ im Herbst 2015 verkündete Angela Merkel, dass der Bund das BAMF personell massiv aufstocken werde: Die Zahl der Mitarbeiter werde bis Ende 2016 nahezu verdoppelt auf „bis zu“ 6.000. Verstärkung wird aber auf jeden Fall dringend gebraucht, meint Flüchtlingsberater Drucks: 14 O-TON: Ich mache jetzt fast 20 Jahre lang die Arbeit. Die Qualität und das Niveau von Entscheidungen des Bundesamtes ist so ziemlich am Grund angelangt. Bei den allermeisten Menschen aus Bangladesch besteht das zu 80, 90 Prozent aus Textbausteinen, die nichts mit dem Individuum zu tun haben, der da angehört wird. Das sind vielleicht zwei, wenn es hoch kommt drei Absätze in der Entscheidung, die sich dann konkret mit der Person und dem Fall beschäftigen. Alles andere sind Standardsachen: Sätze, die immer wieder aus Textbausteinen zusammengeschoben werden. SPRECHER: Dieses Vorgehen sehen auch Flüchtlingsorganisationen wie Pro Asyl grundsätzlich kritisch: Sie sehen Grundsätze verletzt, die das Bundesamt für Flüchtlinge öffentlich für sich in Anspruch nimmt. So soll bei der Entscheidung über einen Asylantrag „grundsätzlich das individuelle Einzelschicksal … maßgeblich“ sein. Selbst Anträge aus „sicheren Herkunftsstaaten“ wie Serbien oder Bosnien seien weiterhin „einzeln“ zu prüfen, so das BAMF, und „jeder Asylbewerber kann im Einzelfall darlegen, dass er – abweichend von der allgemeinen Lage im Herkunftsstaat – doch mit Verfolgung rechnen muss“. ATMO: Im Flüchtlingsheim SPRECHER: Wieder keine Nachricht vom Bundesamt in Hassan Mohamads Briefkasten. Er wohnt in einem Einzelzimmer eines christlichen Ordensheims - neben einigen chronisch kranken Deutschen und vielen Flüchtlingen aus aller Welt. O-TON: They are managing … is the problem actually. Overvoice 2: Hier vor Ort managen sie die Situation sehr gut. Dafür möchte ich mich bedanken. Aber selbst die Menschen im Rathaus und 15 im Kreishaus finden sich manchmal nicht zu Recht in diesem Asyl-System: Wo liegt meine Akte? Wie lang kann die ganze Prozedur noch dauern? Das wissen sie auch nicht. ATMO: Schritte unterwegs, Begegnungen, Small Talk SPRECHER: Hassan Mohamad hat einen Ein-Euro-Job und hält in Werl einige Parks sauber. Auf dem Rundgang durch sein Heim begegnen wir anderen Flüchtlingen. Die allermeisten seiner Nachbarn seien höflich und angenehm im Umgang, findet Hassan Mohamad. Nur nachts würden schon mal einige wenige Krach schlagen. Dann gäbe es niemanden, an den er sich wenden könne. Während des Reporter-Besuchs ist auch tagsüber das Pförtnerhäuschen unbesetzt, und kein Verantwortlicher zu sehen. O-TON: „hallo, hallo“, Begrüßung, Dialoge ÜBERSETZUNG: (Aufgeteilt auf Sprecher für Autor/Mohamad/Flüchtling) (Autor:) Hatten Sie schon Ihre erste Anhörung? – (Overvoice 1:) Weswegen? – (Overvoice 2:) Na beim Bundesamt! – (Overvoice 1:) Ich lebe jetzt seit einem Jahr und acht Monaten hier und warte auf meine Anhörung. Keine Ahnung, warum das so lange dauert. Wissen Sie: Ich bin deswegen sehr müde inzwischen. Das ist schlecht für den Kopf: Man wird balla-balla. Vielleicht er dort, vielleicht hatte er schon seine Anhörung. – (Overvoice 2:) Schauen Sie, da merkt man die Unterschiede: Er ist schon 20 Monate hier und hatte nicht mal seine erste Anhörung. Aber der andere dort: Der hatte sie bereits nach 16 kurzer Zeit. Aber das ist auch schon lange her und er wartet jetzt bereits seit acht Monaten auf das Ergebnis seiner Anhörung. Wenigstens das Ergebnis könnten sie ihm doch gleich am Tag darauf mitteilen, oder nicht? Oder vielleicht nach einem Monat? „What is my Zukunft? “ SPRECHER: Selbst das Bundesamt sieht anscheinend Reformbedarf: 2016 sollen in den Außenstellen jeweils zwei Mitarbeiter eigens zur Auskunftserteilung abgestellt werden. Wann ist meine Anhörung, kann sie vorgezogen werden und wann wird mir das Ergebnis mitgeteilt? Eine Richtlinie der Europäischen Union würde diese „neutrale, vertrauliche Auskunftserteilung“ eigentlich bereits seit Mitte 2015 vorschreiben, teilt das Bundesamt mit. ATMO: in den Bus, Ticket kaufen, im Bus SPRECHER: Bundeskanzlerin Merkel erwartet, dass etwa 50 Prozent der neu eingereisten Asylbewerber dauerhaft in Deutschland bleiben werden: entweder als Hilfsbedürftige, die lange Zeit oder sogar für immer auf Sozialleistungen angewiesen sein werden. Oder als Arbeitskräfte, die ihr Geld selbst verdienen sowie Steuern und Versicherungsbeiträge zahlen. Politiker des gesamten demokratischen Spektrums betonen, dass Flüchtlinge möglichst bald ihr eigenes Geld verdienen sollten. O-TON: Ich war 15, nach Deutschland gekommen. Eigentlich weiß ich nicht ganz genau, was das bedeutet: Deutschland. Aber ich kann ein bisschen Englisch. Viele Leute habe ich gefragt: Was bedeutet Deutschland? Die alle sagen: Deutschland bedeutet Germany. Ach so, das ist Germany. Am 17 ersten Tag war ich in Frankfurt, danach in Gießen, das war ein Kinderheim gewesen. Ich bin seit 3 Jahren in Deutschland. Ich bin erst mal in einer Sprachschule gewesen, danach habe ich Klassen 9 und 10-Abschluss. Aber jetzt habe ich gar nichts. ATMO: Dialog Enamshah-Flüchtlingsberater SPRECHER: Der Afghane Enamshah lebt in Soest, einem Städtchen zwischen Dortmund und Paderborn. Weil er minderjährig und unbegleitet nach Deutschland flüchtete, galt dies als Abschiebehindernis und Enahmshah erhielt eine Aufenthaltserlaubnis. Gleichzeitig wurde sein Asylantrag abgelehnt, weil das deutsche Bundesamt generell davon ausgeht, dass Minderjährige nicht politisch verfolgt werden können. Nun ist Enamshah volljährig, sein aktueller „Aufenthaltstitel“ gilt bis Ende 2016 und „kann“ nach Ablauf verlängert werden. 2019 wird er erstmals eine dauerhafte „Niederlassungserlaubnis“ beantragen können. O-TON: Die sagen: Du suchst eine Stelle, das kannst du nicht. Da meine ich: Warum nicht? Er sagt: Das klappt nicht bei dir. Ich sage: Erst mal versuchen. Wenn klappt nicht, kann man nichts machen. Der sagt: Nein, du kannst nicht gut reden. Dein Deutsch ist schlecht. Ich möchte Ausbildung machen, zur Arbeit – ich möchte vernünftig leben. Ich brauch‘ kein Geld vom Arbeitsamt. ATMO: Auf der Straße unterwegs SPRECHER: Der Afghane Enamshah verfügt über Eigenschaften, die die Bundesagentur für Arbeit auf ihrer Webseite anmahnt. Dort ist unter dem Stichwort „Eigeninitiative“ zu lesen: 18 ZITATOR: „Das … Gesetz verlangt, dass Sie sich intensiv um Ihre Integration in den Arbeitsmarkt bemühen und dies auch nachweisen“. SPRECHER: Eigeninitiative zeigte Enamshah bereits in Afghanistan: Dort herrschten in seiner Heimatregion Jalalabad vielerorts die Taliban. Sie töten die Oberhäupter missliebiger Familien, bevor die zu einflussreich werden könnten, berichtet Enamshah. Weil sein Vater schon früh gestorben sei, wäre er deshalb bereits im Alter von 15 Jahren selbst bedroht worden. O-TON: In Deutschland finde ich gut: Fahren ohne Licht muss 20 Euro bezahlen. Immer Strafe und so. Ich finde das gut, die Gesetze. Erstes Mal war es schlimm regnen. Mein Fahrrad: Das Licht funktioniert nicht. Trotzdem habe ich 20 Euro bezahlt. Für mich ist das viel Geld. SPRECHER: Dann bückt sich Enamshah und hebt einen Keks auf, den ein Kleinkind vor ihm auf den Bürgersteig geworfen hat. Der Keks landet im Mülleimer. ATMO: hinein in sein Wohnhaus, Flur, Wohnung SPRECHER: Enamshah wohnt allein in einer Ein-Zimmer-Wohnung, deren Miete er bezahlt bekommt. Seine persönlichen Ausgaben zahle er von den 360 Euro, die ihm das Arbeitsamt monatlich überweist. Doch Enamshah möchte sein Geld unbedingt selbst verdienen: O-TON: Wenn die Leute Afghanistan verlassen, die sind richtig reich. Die armen Leute kommen nicht nach Deutschland. Das kostet viel Geld. 32.000 habe ich bis hier bezahlt. – Dollar. Das ist viel Geld. Arme Leute kommen nicht nach Deutschland. Weil: Manche Leute sagen die Afghanen kommen hierher für Geld. Eigentlich ich brauche Freiheit, egal was kommt. Ich tue 19 alles, ich bin bereit. Zu Hause sitzen ist langweilig. Ich möchte etwas tun, egal was. Vorher hatte ich andere Sachen im Kopf, aber heute sage ich: Egal, Kloputzen, ich tue das alles. Hauptsache Beschäftigung, Geld verdienen, vernünftig leben. ATMO: im Zimmer SPRECHER: Am Tag des Besuchs bei Enamshah zitieren die Zeitungen Bundes-Innenminister Thomas de Maizière: „Neues Denken“ sei gefragt bei der Integration der vielen neuen Flüchtlinge, und ein Abschied vom alten Etappendenken. Erst jahrelang Deutsch lernen, dann eine Ausbildung und irgendwann mal Arbeiten – das würde so nicht mehr länger funktionieren angesichts der gewaltigen Flüchtlingsströme. O-TON: Nachdem ich ein halbes Jahr lang eine Ausbildungsstelle ausgeschrieben hatte und es sehr wenig Resonanz gab, trat ein Bekannter an mich heran, der Flüchtlinge betreut. Und hat halt den Kontakt hergestellt. Ein junger Mann hat sich dann bei mir vorgestellt. Ich war sehr begeistert: Für die kurze Zeit, die er da war, sprach er gutes Deutsch. ATMO: auf der Straße unterwegs SPRECHER: Patrick Weber gehört zu den vielen deutschen Unternehmern, die die Worte des Ministers in die Tat umsetzen möchten: Er hätte gerne den Afghanen Enamshah ausgebildet und anschließend als Fachkraft eingestellt. Weber betreibt einen Familienbetrieb zur Gebäudereinigung: Seine Frau managet, er reinigt. O-TON: Natürlich gibt es sehr viele ungelernte Kräfte in der Gebäudereinigung, was auch funktionieren kann. Die haben aber leider keine berufliche Zukunft. Mir geht es darum, wirklich junge Leute zu fördern: denen eine Zukunft bieten zu können, damit die auch weiter im Job aufsteigen können. 20 ATMO: Fortsetzung SPRECHER: Gute Chancen haben Gebäudereiniger, wenn sie Flächen korrekt berechnen und Chemikalien fachmännisch einsetzen können. Aber Mathe und Chemie hatte Enamshah in Afghanistan nicht gut lernen können. Deshalb beantragte Weber eine öffentliche Fördermaßnahme: Eine „Assistierte Ausbildung“ soll helfen, ZITATOR: „die Lücke zwischen den Anforderungen des Ausbildungsbetriebes und den Voraussetzungen des Auszubildenden … zu schließen“, SPRECHER: wie das verantwortliche Jobcenter später mitteilen wird. Also eigentlich eine ideale Brücke zwischen afghanischem Flüchtling und deutschem Ausbildungsbetrieb. Aber dann lehnte die Agentur für Arbeit die „Assistierte Ausbildung“ ab: weil sich Enamshahs Sprachkenntnisse in den letzten Monaten „nicht deutlich verbessert“ hätten. Patrick Weber: O-TON: Da war ich schon erschrocken, dass da seitens der Arbeitsagentur keine Hilfe war. Es ging nicht um eine Lohnförderung oder so etwas. Es ging wirklich nur darum, dass der Junge schulische Unterstützung bekommt. Wir sind ein Einmannbetrieb, ich kann das einfach nicht leisten. Ich kann ihm nicht gerecht werden ohne Hilfe. Ich hätte mir gewünscht, dass er, so wie es in dieser Broschüre beschrieben war, ein- bis zweimal die Woche zusätzlich zur Berufsschule noch Schule macht. Vielleicht nicht Einzelunterricht, aber schon sehr personalisiert. ATMO: Fortsetzung 21 SPRECHER: Nur ein paar Tage vor dem Interview mit Patrick Weber hatte sich Bundes-Arbeitsministerin Andrea Nahles im „Bericht aus Berlin“ zu Flüchtlingen geäußert: O-TON: Das ist die Aufgabe der Bundesagentur: Brauchen die vielleicht noch eine Teil-Zusatzausbildung? Und was können wir tun, um die möglichst schnell in den Arbeitsmarkt zu integrieren? Ich habe noch nie so viele offene Stellen vermelden dürfen als Arbeitsministerin. Wir haben die höchste Anzahl an offenen Stellen in Deutschland, die wir je hatten. (http://www.tagesschau.de/inland/nahles-fluechtlinge-103.html - Bericht aus Berlin, 06.09.2015, Interview mit Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles, Teil I) ATMO: Gang durchs Ministerium SPRECHER: Gebäudereiniger stehen nicht allein mit ihren Nachwuchssorgen: Bäckern, Spediteuren, Hoteliers, Straßenbauern und vielen anderen gelingt es längst nicht mehr, sämtliche Arbeits- und Ausbildungsplätze allein mit Einheimischen zu besetzen. Daher verkürzte der Bundestag das Arbeitsverbot für Asylbewerber und geduldete Flüchtlinge schon Ende 2014 auf nur noch drei Monate. Doch weiterhin halten Rechtsunsicherheiten viele Betriebe ab, Flüchtlinge zu beschäftigen: Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände fordert, dass Azubis ihre Ausbildung garantiert abschließen und dann noch ein Jahr als gelernte Kräfte arbeiten dürfen, ohne eine Abschiebung fürchten zu müssen. Auch die Vorrangprüfung solle ganz entfallen, nach der Deutsche und EU-Bürger einem Flüchtling in den ersten 15 Monaten nach dessen Einreise vorzuziehen sind. Nachdem dem Afghanen Enamshah eine „Assistierte Ausbildung“ verweigert worden war, erhielt Gebäudereiniger Weber neue Nachrichten vom Jobcenter. 22 O-TON: Ich wurde mehrfach darauf hingewiesen, dass ja deutsche Bewerber Vorrang haben. Daraufhin habe ich gesagt, dass ich ja schon seit einem halben Jahr deutsche Bewerber suche und dass es einfach keine gibt. Und dann kam sehr abwertend der Satz: Wenn Sie das wirklich machen wollen, dann müssen Sie das selber wissen. Aber Sie wissen, noch mal der Hinweis: Deutsche Bewerber gehen vor. Es dauerte keine 2 Tage, da hatte ich drei Bewerbungen auf den Tisch, die alle Hartz IV-Empfänger waren. Zwei sind noch nicht mal zum Bewerbungsgespräch erschienen, der andere hat sich am zweiten Tag krankgeschrieben und somit hatte sich die Sache für mich wieder erledigt. Das Problem war: Ich wäre dann gerne wieder auf Herrn Enamshah zurückgekommen. Das Problem war allerdings, dass er dann zu seinem dritten Deutschkurs – ja, ich sage das jetzt mal so: verdonnert wurde. Und somit die Zeiten absolut nicht mehr passten. ATMO: Auf dem Büroflur SPRECHER: Das Jobcenter Soest stellt den Fall ganz anders dar: Arbeitgeber Patrick Weber habe am Ende den Ausbildungsplatz selbst an jemand anders vergeben wollen, heißt es in einer ersten Stellungnahme. In einer zweiten werden für Enamshah immer neue Defizite angeführt: zum Beispiel „unterdurchschnittliche Ergebnisse“ bei einem „Berufsinteressentest“ und beim „Berufspsychologischen Dienst“ sowie „fehlende Ausbildungsreife“. Im Übrigen wolle er angeblich nicht „auf Dauer“ als Gebäudereiniger arbeiten, sondern „langfristig eine Bürotätigkeit anstreben“. Das hatte der Betroffene selbst dem Reporter anders berichtet, und das problemlos auf Deutsch. Auch der verhinderte Arbeitgeber sowie der örtliche Flüchtlingsberater Heinz Drucks verstehen Enamshah prima und hätten dessen Reife gerne konkret bei der Arbeit getestet: O-TON: (Drucks)Das ist so eine Grundhaltung hier, die ich auch schon über die Arbeitsagentur häufiger mitbekommen habe: dass man versucht, die eigentlich geöffneten Ausbildungsmöglichkeiten – dass man das torpediert mit dem Argument: Sie schaffen die Prüfungen nicht. Das könnte man bei vielen Deutschen genauso sagen, weil die schulischen Leistungen oder die 23 Deutschkenntnisse auch bei vielen Deutschen unzureichend sind. Trotzdem würden die erst mal mit der Ausbildung beginnen. Das ist dann das Problem der Arbeitgeber und des Berufskollegs. Warum dann die Arbeitsagentur sich herausnimmt, eine Entscheidung zu treffen, wer genügend Deutschkenntnisse hat: Ich finde, das gehört gar nicht in deren Zuständigkeitsbereich. Und vor allen Dingen: Ich lerne in einem Sprachkurs nie eine Sprache. Die lerne ich dadurch, dass ich sie nachher anwende. SPRECHER: Hilfsorganisationen wie Pro Asyl rechnen die Bergische Stadt Wuppertal zu den bundesweit vorbildlichen Kommunen: Dort würden die Ämter eng zusammenarbeiten und Asylbewerber zügig integrieren. Dabei ist die Stadt praktisch pleite: In den vergangenen Jahren schloss nach Schulen und Bädern auch das städtische Schauspielhaus. Doch der Integrationsbeauftragte Jürgen Lemmer möchte gar nicht zuerst vom Geld sprechen, obwohl sich die Bergische Stadt sogar als Schlusslicht sieht bei der Kostenerstattung durch das Land. O-TON: Auch wir hatten in der Vergangenheit viele Übergangsheime. In der Spitze der Bürgerkriege von Jugoslawien, den Bosnienkrieg, haben wir 50 Übergangsheime gehabt, darunter das größte in einer Kaserne mit 400 Plätzen. Wir kennen all‘ die Probleme, die andere Städte gerade haben. Auf dem Höhepunkt der damaligen Flüchtlingsunterbringungs-Krise 1993 hat der Rat angefangen, ein Unterbringungskonzept zu machen. Und hat so mutige Schritte gesagt wie: Wir wollen sieben Quadratmeter für jeden Flüchtling. Damals waren wir froh, vier Quadratmeter bieten zu können. Das war also schon eine gewaltige Zahl. Dieses Konzept ist schrittweise umgesetzt worden. Auch Dezentralität war gefordert. Wir haben die Dezentralität immer weiter entwickelt bis zum jetzigen Modell. SPRECHER: „Dezentral“ heißt in Wuppertal, dass vier Fünftel aller Flüchtlinge in ganz normalen Wohnungen leben. Die Wohnungsgrößen entsprechen dem, was deutsche Mieter mit Wohnberechtigungs-Schein beanspruchen könnten. Daran hat sich bis jetzt nichts geändert, obwohl auch Wuppertal allein in den ersten zehn Monaten des Jahres 2015 über 2.100 zusätzliche Flüchtlinge neu aufnehmen musste. 24 Das restliche Fünftel der Flüchtlinge lebt zwar in Übergangsheimen, aber auch die seien allesamt in DreiZimmer-Wohnungen unterteilt, berichtet Lemmer. Er räumt ein: O-TON: Nun haben wir natürlich das Glück, dass uns der Wohnungsmarkt hier entgegenkommt im Bergischen Land - dass wir einen größeren Wohnungsleerstand haben. Aber selbst in Zeiten, wo der Wohnraum noch knapper war, sind wir im ersten Schritt hingegangen und haben selber als Stadt Wohnungen angemietet, haben eine Rahmenvereinbarung mit einem Vermieter gemacht. Und wo dann Leute ein Bleiberecht bekommen haben, sind die Wohnungen übergegangen an die Menschen. Das waren sehr gute Erfahrungen, die die Vermieter mit uns gesammelt hatten. Neben den großen Wohnungsunternehmen sind es gerade die kleinen Einzelvermieter, die Dreiviertel der Wohnungsangebote stellen. Und unsere E-Mail-Adresse gehen heute auch noch jeden Tag neue Angebote ein. SPRECHER: Während anderswo Container und Zeltstädte aufgebaut und Baumärkte notdürftig hergerichtet werden, konnte Wuppertal bereits den 1.300sten Mietvertrag abschließen. Jürgen Lemmer erklärt, dass diese Art der Unterbringung sogar deutlich preiswerter sei als die in der einzigen Gemeinschaftsunterkunft der Stadt mit über 100 Plätzen: O-TON: Da kostet mich der Quadratmeter an Kostenmiete 24 Euro. Diese hohen Kosten kommen relativ einfach deshalb zustande, weil ich dort alleine vier Mitarbeiter und einen Sicherheitsdienst vorhalten muss. Bei der Wohnungsanmietung hören wir bei 4,85 Euro pro Quadratmeter bei der Kaltmiete auf. Selbst wenn ich mal großzügig sage: warm 7 Euro den Quadratmeter, dann kann ich mir mindestens dreieinhalb Quadratmeter leisten auf dem Wohnungsmarkt für den Quadratmeter Übergangsheim. Da sprechen also auch finanzielle Gründe ausdrücklich dafür. SPRECHER: Kurz vor Redaktionsschluss wurde der Bangladeschi Hassan Mohamad nach 15 Monaten endlich angehört. Nun wartet er auf das Ergebnis seiner Anhörung. 25 ABMODERATION: "Kopfpauschale" Die deutsche Asylbürokratie und ihre Folgen Ein Feature von Achim Nuhr Es sprachen: Torben Kessler, Uli Höhmann, Bastian Korff und Martin Rentzsch Ton und Technik: Thomas Rombach Regie führte: Marlene Breuer Redaktion: Dorothee Meyer-Kahrweg Eine Koproduktion von Hessischem Rundfunk, Deutschlandfunk und SWR 2015. 26
© Copyright 2024 ExpyDoc