Kopfpauschale Die deutsche Asylbürokratie und

DEUTSCHLANDFUNK
Hörspiel/Hintergrund Kultur
Redaktion: Karin Beindorff
Sendung:
Dienstag, 08.12.2015
19.15 – 20.00 Uhr
Kopfpauschale
Die deutsche Asylbürokratie und ihre Folgen
Von Achim Nuhr
Co-Produktion HR/DLF/SWR
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© Deutschlandradio
- Unkorrigiertes Manuskript -
O-TON:
(Angela Merkel:) Deutschland ist ein aufnahmebereites Land. Jetzt müssen
wir allerdings auch eine Vielzahl von Maßnahmen ergreifen, damit wir diese
Herausforderung bewältigen können.
O-Ton
Collage aus Tageschau u.ä.:
Tageschau 11.9.15, 20 Uhr: In Deutschland werden an diesem
Wochenende mehrere 10.000 Flüchtlinge erwartet. München rechnet bis
zum Sonntag mit 50.000 Menschen und fordert dringend Hilfe von den
Bundesländern und der Bundesregierung.
Rbb-Berliner Abendschau, 9.7.2013: Wieder mal machen Bürger mobil
gegen ein Flüchtlingsheim. Motto: Mag ja sein, dass die Flüchtlinge
Schlimmes hinter sich haben. Aber bitte nicht in unserer Nachbarschaft.
ARD Mittagsmagazin 31.07.2015, München Aufnahmezentrum für
Flüchtlinge überfüllt … und wieder kommt eine Flüchtlingsfamilie … an.
Das Ankunftszentrum platzt aber schon aus allen Nähten. 755 Menschen
trafen in nur 24 Stunden ein. OT: Wir hätten auch nicht gedacht, dass wir
hier ein Zeltlager aufbauen müssen. An sich ist das hier eine
Durchgangseinrichtung für wenige Stunden oder eine Nacht.
Tagesschau 13.10.2015, Kälteeinbruch Zehntausende Flüchtlinge wohnen
weiterhin in Zelten: Noch sind Länder und Städte weit davon entfernt,
ausreichend winterfeste Unterkünfte bereit zu stellen. Das heißt, viele
Flüchtlinge müssen in leergeräumten Hallen und Baumärkten ausharren,
10.000e sogar in Zelten, die teils gar nicht beheizt werden können. –
Reporterin: Uns ist kalt, steht auf ihren Schildern. (übersetzt OT Flüchtling:)
Mit dem Kind ist es ziemlich schwer für uns. Wir schlafen in der Toilette, da
gibt es eine Heizung.
(Reporterin:) Es sind emotionale Szenen, die sich bereits den ganzen Tag
am Hauptbahnhof abspielen. Denn die Münchener begrüßen schon seit
Stunden die ankommenden Flüchtlinge mit Applaus, Spielsachen und
Schokolade für die Kinder. … (Reporter:) Ich habe eben mit der
Bundespolizei gesprochen: Sie sieht sich außerstande, eine Aussicht auf
Morgen zu geben. Man kann die Lage nicht einschätzen, wie viele
Menschen morgen kommen werden.
Ansage:
"Kopfpauschale"
Die deutsche Asylbürokratie und ihre Folgen
Feature von Achim Nuhr
ATMO: Übergang in Vogelzwitschern, Wald
SPRECHER: Während Flüchtlinge in Berlin draußen kampieren müssen, in
anderen Städten noch immer in Zelten der Kälte trotzen,
Bürgermeister verzweifelt nach Unterbringungsmöglichkeiten
für tausende neue Flüchtlinge suchen und in den
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Grenzregionen die Polizei Jagd auf Schleuser macht, herrscht
in einem anderen Flüchtlingsheim gespenstische Leere:
ATMO: gemeinsamer Gang durch Flure, suchen, anklopfen, „nobody is here“
SPRECHER: Ein Flüchtling aus Eritrea irrt mit dem Reporter durch ein leeres
Wohnheim. Die ehemalige Kaserne steht mitten in einem Wald
in Westfalen, an der Grenze zu Hessen. Eigentlich sollten hier
17 Asylbewerber leben, aber gerade ist keiner zu sehen. Der
Eritreer Robe hat hier bis vor einem halben Jahr selbst
gewohnt.
O-TON:
There were some people … makes stress, really.
Overvoice 1: Damals lebten hier auch einige schlimme Menschen, die mich
mehrfach verprügelt haben. Dann musste ich sehen, wie ich ins
Krankenhaus nach Warstein kam. Niemand schaute hier nach
dem rechten. Nur die Polizei nach Prügeleien. Sonst niemand.
– Sie sagten, einmal sei sogar das Wasser abgestellt worden.
Was haben Sie da unternommen? – Da haben wir das Wasser
aus dem Fluss geholt, der nebenan vorbeiläuft. Damit haben wir
unsere Teller gespült, und die Toilette. – Und das Trinkwasser?
– Das mussten wir damals selbst kaufen. Hier im Wald kann
man nur schlafen, kochen oder Spazierengehen. Wenn man in
die nächste Siedlung will, muss man laufen oder mit dem
Fahrrad fahren. Von hier ist alles sehr weit weg. Das stresst
wirklich.
ATMO: unterwegs im Flüchtlingsheim
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SPRECHER: Der Eritreer Robe flüchtete ab Mitte des Jahres 2013 aus einer
Trockensavanne durch die Sahara nach Libyen, nahm von dort
ein Boot über das Mittelmeer nach Italien und fuhr dann mit
Zügen und Bussen weiter nach Deutschland, wo er etwa ein
Jahr später ankam. Hier wurde er nach einem Zwischenstopp in
München zuerst nach Dortmund geschickt zu einer
Erstaufnahme-Einrichtung, dann in die westfälische Kleinstadt
Rüthen, um dort dauerhaft zu leben. In Rüthen wurde Robe
gleich in ein Auto geladen und durch den Wald zum
Flüchtlingsheim gefahren.
O-TON:
First when he brought me … just try to remain calm.
Overvoice 1: Der Hausmeister der Stadtverwaltung brachte mich hierher. Er
schickte mich in ein Zimmer, wo schon ein Pakistani wohnte. Er
sagte mir noch, dass er mir innerhalb der nächsten drei Tage
eine Matratze und Kochtöpfe bringen würde. Aber dann
verschwand er und kam nicht wieder. Ich rief ihn mehrfach an,
aber die anderen Flüchtlinge sagten: Das macht er bei jedem
so. Erst nach ungefähr einem Monat - genauer weiß ich das
nicht mehr - kam er dann doch mit meiner Matratze. In Rüthen
gibt es aber auch hilfsbereite Menschen: Ein Herr namens
Helmut kam extra hier vorbei und brachte mir ein gutes
Fahrrad. Ein anderer Mann meldete mich in einem Fußballklub
an. Da versuchte ich, mich zu beruhigen.
SPRECHER: Welches Bundesland wie viele Flüchtlinge aufnimmt, errechnen
Bund und Länder jährlich neu: bis zur fünften Stelle hinterm
Komma mit dem so genannten „Königsteiner Schlüssel“.
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Landespolitiker erzählen vertraulich, dass die Verteilung längst
chaotisch laufe, und immer zum Nachteil des eigenen Landes.
Angeblich würden sich manche Bundesländer schon mal
stundenlang aus dem virtuellen Verteilsystem verabschieden,
sobald große Flüchtlingsgruppen neu auftauchen und über
Deutschland verteilt werden müssen.
ATMO: Rundgang durchs Heim
O-TON:
They did not show me … buy something to eat.
Overvoice 1: Nichts hatte man mir gezeigt am Anfang, und rundherum waren
nirgendwo andere Häuser zu sehen. Es gab auch keine
einheimischen Menschen hier, nur die anderen Flüchtlinge. Ich
begann, mir Sorgen zu machen. Damit hatte ich nicht
gerechnet: dass ich in Deutschland in einem Wald leben würde.
Und fernab von Läden und Märkten: Man konnte nirgendwo hin,
um Lebensmittel zu kaufen.
ATMO: Fortsetzung
SPRECHER: In vielen Bundesländern ist sogar bis zur elften Stellen hinter
dem Komma geregelt, welche Kommune welchen Anteil an
Flüchtlingen aufnehmen soll. Diese Quoten richten sich vor
allem nach der Einwohnerzahl: Je größer die Gemeinde, umso
mehr Asylbewerber soll sie aufnehmen. Doch die Statistiken der
Landesämter zeigen eine andere Lage. Beispiel NordrheinWestfalen: Hier müsste die Bergische Stadt Wuppertal gemäß
Flüchtlingsaufnahmegesetz knapp 50 Prozent weniger
Flüchtlinge betreuen als das nahezu doppelt so große
Düsseldorf am Rhein. Doch laut Statistik betreut Wuppertal
rund 50 Prozent mehr Flüchtlinge als Düsseldorf.
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Solche drastischen Abweichungen haben ganz praktische
Folgen. Denn deutschlandweit bleiben die allermeisten
Kommunen auf einem Großteil ihrer Ausgaben für
Asylbewerber sitzen: weil sich der Bund bisher gar nicht an
diesen Ausgaben beteiligt hat, und die meisten
Landesregierungen ihrerseits den Kommunen nur einen
Bruchteil dieser Kosten nachträglich erstatten.
ATMO: Dialog über Handy, Begrüßung
SPRECHER: Mit seinem Handy hat der Eritreer Robe den Pakistani erreicht,
mit dem er hier zu Anfang auf einem Zimmer lebte. Nun steigt
der Pakistani aus dem Auto des ehrenamtlichen Helfers Karl
Spiekermann, gemeinsam mit drei weiteren Flüchtlingen. Die
vier erzählen, dass sie als letzte übrig geblieben seien in dem
einsamen Flüchtlingsheim mitten im Wald: Die anderen 13 hier
noch gemeldeten Flüchtlinge wären längst abgehauen auf
Nimmerwiedersehen.
Die Pakistanis tragen dicke Einkaufstüten mit Lebensmitteln für
die nächste Woche. Sie müssen sich selbst versorgen, aber der
nächste Supermarkt liegt fast zehn Kilometer entfernt. Weil ihre
Tüten auf kein Fahrrad passen, hat sie Karl Spiekermann erst
zum Supermarkt gefahren und dann wieder zurück in den Wald.
O-TON:
Wir hatten von diesem Ort gehört und wollten ihn einfach mal besuchen.
Da waren wir schon schockiert: Das war schon die zermürbteste Gruppe
von Flüchtlingen, die wir je gesehen haben. Die einfach unter dieser
Isolation und Einsamkeit leiden. Was dann auch die Mehrzahl der
Flüchtlinge, die hier registriert sind, weggetrieben hat. Der am längsten
schon von denen, die noch übrig waren, hier war, der Jassin, der schon zu
seinem eigenen Spiegelbild gesprochen hat aus Verzweiflung. Und Robe
haben wir dann angeboten, letztlich eine Wohnung für ihn anzumieten,
damit er auch Gemeinschaft erleben kann. - Was machen die anderen? –
Sind irgendwo in Deutschland verstreut. Keiner weiß, wo sie sind. Wo die
Post ist, da waren Briefe von Staatsanwaltschaft. Und ich habe dann auch
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die Angst, dass es dann manchen auch in die Illegalität getrieben hat. Weil
sie ihr Geld hier monatlich abholen müssen. Viele machen das nicht und
müssen von irgendetwas leben. Was einem jetzt auch speziell in den
letzten Tagen Sorgen machen könnte, wären rechtsradikale Elemente, die
hier kommen und irgendeine Gewalttat verüben und keiner bekommt es
mit. Die Türe ist immer offen.
ATMO: Gespräche im Heim, Abschied
SPRECHER: Deshalb wird die Lage dieses Flüchtlingsheims hier nicht
genauer beschrieben. Später wird der verantwortliche
Bürgermeister der Stadt Rüthen von den belgischen Soldaten
erzählen, die hier früher ein Tanklager bewachten. Dann zog
die NATO ab, ein Unternehmer kaufte das abgelegene
Grundstück und vermietete es der Stadt, die dort seitdem
Flüchtlinge unterbringt.
ATMO: im Auto unterwegs
SPRECHER: In Eritrea studierte Robe Wirtschaftswissenschaften, bis ihn das
dortige Regime in die kämpfende Armee zwingen wollte. Jetzt
kann er bald sein Studium an einer Fachhochschule fortsetzen,
statt ohne Perspektive im Arnsberger Wald zu hocken: Mit
Unterstützung seiner deutschen Helfer bewarb er sich
erfolgreich für einen englischsprachigen Studiengang „Business
Administration and Informatics“. Ein gefragter Berufszweig, in
dem sich später gut verdienen lässt. Eine Abschiebung hat
Robe nicht zu befürchten: Er wird in Deutschland aller
Voraussicht nach entweder Asyl oder zumindest Schutz vor
Abschiebung erhalten, weil ihn daheim das eritreische Regime
als Deserteur töten würde.
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ATMO: Auto öffnen, hinein
Treppen im Rathaus
SPRECHER: Neun Kilometer fährt man mit dem Auto von dem Waldheim
zum Rathaus von Rüthen.
O-TON:
(Autor:) Entschuldigen Sie, dass ich hier so reinplatze – (Weiken:) Ach, ich
bin Kummer gewohnt. Aber ein bisschen mal Luft holen muss ich schon
noch. Hier stapelt es sich, hier stapelt es sich. Hach, erstmal hallo.
SPRECHER: In Rüthen ist Bürgermeister Peter Weiken gerade erst von
einem Termin zurückgekehrt ins Rathaus, einen Betonbau im
Stil der 70er-Jahre. Auch ohne Voranmeldung ist er gleich zu
einer Stellungnahme bereit. Liegt die Wald-Behausung nicht zu
abgelegen für ortsunkundige, nicht motorisierte Flüchtlinge aus
fernen Ländern?
O-TON:
Wir halten den Kontakt, jetzt wenn sie die Verwaltung ansprechen, über
unseren Hausmeister, der mindestens einmal täglich vor Ort ist. Wenn
dann immer gesagt wird, ihr vergesst die Menschen dort draußen: Da muss
ich vehement widersprechen. Das ist nicht so. Ich fordere aber auch von
den Flüchtlingen ein gewisses Mindestmaß an Eigeninitiative. Da gibt es
genügend Beispiele von denen, die in den vergangenen Jahren diese
Eigeninitiative gezeigt haben, die es dann mit ein bisschen Eigenmotivation
auch geschafft haben, diese Asylunterkunft zu verlassen. Da ist die
Lösung, die ich jedem, der so klagt, anbiete, zu mir zu kommen und zu
sagen: Herr Weiken, ich möchte so einen Euro-Job haben, beim Bauhof
oder im Schwimmbad oder sonst wo. Der kriegt morgen von mir ein Mofa
und kann morgen früh um 7 Uhr anfangen.
SPRECHER: Dazu befragt, werden die Flüchtlinge sagen, dass sie sich in der
kalten Jahreszeit kaum in der Lage sähen, auf diese
Bedingungen einzugehen: Die Fahrt mit einem Mofa durch den
dunklen Wald über eine Bundesstraße voller Lastwagen sei
ihnen nicht geheuer und im Winter läge oft morgens früh noch
Schnee. Der Helfer Karl Spiekermann wird berichten, dass
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andere Flüchtlinge, die in Dörfern und Städten wohnten,
ähnliche Jobs angenommen hätten.
ATMO: Raum
SPRECHER: Bundesweit haben die meisten Bürgermeister freie Hand, wie
sie Asylbewerber unterbringen: In Nordrhein-Westfalen,
Hessen, Niedersachsen und Rheinland-Pfalz gibt es keinerlei
Auflagen für kommunale Flüchtlings-Unterkünfte. In SchleswigHolstein, Bayern und Sachsen-Anhalt - „empfehlen“ die
Regierungen den Kommunen Standards: zum Beispiel sechs
Quadratmeter Wohnfläche pro Bewohner, oder eine maximale
Belegungszahl von sechs Personen in einem Raum.
ATMO: Im Bus unterwegs
SPRECHER: In anderen Ländern wie Hessen fehlen dazu jegliche Auflagen.
Aktuell werden zwar wegen der großen Einreisewelle nahezu
bundesweit provisorische Flüchtlings-Unterkünfte errichtet, von
denen manche solchen Vorschriften widersprechen. Doch diese
Provisorien sollen später so bald wie möglich wieder
verschwinden - jedenfalls dort, wo sie gegen Verordnungen
verstoßen.
ATMO: Büro Weiken
SPRECHER: In den Bundesländern, in denen es keine Vorgaben gibt, fehlt
dieser Druck: Das einsame Flüchtlings-Heim bei Rüthen wurde
bereits Anfang der 90er-Jahre in Betrieb genommen - ganz
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ohne Flüchtlingskrise. Und seine Schließung ist bisher auch
nicht geplant, sagt Bürgermeister Weiken.
O-TON:
Ich meine, fünf müssten sich dort permanent aufhalten. Gemeldet sind,
glaube ich, sind an die 30 wahrscheinlich. Das ist im Endeffekt dem
geschuldet, dass viele sagen: Wir sind hier nach Deutschland gekommen,
nach Europa, mit ganz anderen Erwartungen. Uns wurde seinerzeit im
Heimatland etwas von Frankfurt, Berlin, von Metropolen erzählt. Wenn man
sich dann irgendwo wieder findet, was ja schon im Walde gelegen ist: Das
ist sicher nicht das, was man sich vorgestellt hat. Aber das ist in unseren
Augen in Ordnung. Wir zwingen keinen, zu bleiben. Oder sich dort
permanent aufzuhalten.
ATMO: Foyer Nordrhein-Westfalen-Innenministerium
SPRECHER: Für die Erstaufnahme von Flüchtlingen sind bisher allein die
Bundesländer zuständig. Nach spätestens drei Monaten sollen
sie die Asylbewerber in die Gemeinden weiter schicken: zur
„Anschlussunterbringung“, wie es in Amtsdeutsch heißt. Doch
dieses System belastete die „Verantwortungsgemeinschaft“ von
Bund, Ländern und Gemeinden zuletzt immer stärker. Denn die
Bundesregierung gibt die Leitlinien für die Flüchtlingspolitik vor:
O-TON:
(Merkel) Das Problem ist ja: Sie können die Grenzen nicht schließen. Wir
haben Grenzkontrollen durchgeführt. Wenn wir die Grenzen schließen
würden – Deutschland hat dreitausend Kilometer Landgrenze – dann
müssten wir um diese dreitausend Kilometer einen Zaun bauen. Wir
konnten in Ungarn besichtigen, was dabei herauskommt, wenn man einen
Zaun baut…es wird nicht klappen. Es gibt den Aufnahmestopp nicht.
SPRECHER: Die Zahl der Asylanträge stieg von 26.000 im Mai auf 38.000 im
Juli und schließlich 43.000 im September.
O-TON:
Rbb-Klartext, 22.05.2013 Es gibt einfach zu wenig Platz für Flüchtlinge in
Berlin. Die Familie ist in einer ehemaligen Schule untergebracht, in einer
Notunterkunft. Die Räume sind durch Decken unterteilt. Das muss reichen
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für die Privatsphäre. Weil aber schon jetzt 200 Plätze fehlen, schlafen die
Menschen in manchen Häusern sogar auf den Gängen. Die Not ist groß.
SPRECHER: Zu den Kritikern dieses Systems gehört Ralf Jäger, der
Innenminister des größten Bundeslandes Nordrhein-Westfalen.
Er muss allein mehr als ein Fünftel aller Flüchtlinge
unterbringen, inklusive der Neuankömmlinge.
O-TON:
Die Sorgen werden von Tag zu Tag größer, weil auch die Herausforderung
von Tag zu Tag größer ist. Ich vergleiche das immer mit einem Bild: Länder
und Kommunen sind mitten in einem Hürdenlauf, schwitzen, strengen sich
an. Und der Bund feuert uns von der Zuschauer-Tribüne aus an. Das geht
so nicht. Das muss aufhören. Der Bund muss diese nationale
Herausforderung, die wir zurzeit haben, mit bewältigen.
ATMO: Fortsetzung
SPRECHER: Auf einem Flüchtlingsgipfel im Herbst konnten die Länder
Erfolge erzielen: Erstmals versprach der Bund „bis zu 40.000
(bundeseigene) Plätze“ zur Erstaufnahme. Ab 2016 wird sich
der Bund außerdem direkt und dauerhaft an der
Flüchtlingsbetreuung vor Ort finanziell beteiligen: beispielsweise
mit einer Monatspauschale von 670 Euro pro Flüchtling vom
Tag der Registrierung bis zum Ende des Asylverfahrens, und
350 Millionen Euro für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge.
Die Bundesmittel für Kommunen fließen zuerst an die Länder,
die sie weiterreichen sollen.
Der Städtetag sieht darin „eine gute Grundlage“ und hofft, dass
die Länder das Geld ohne Abzüge weiterreichen. Er fordert
aber weiterhin, dass Bund und Länder „sämtliche“ Kosten
erstatten sollten zur Bewältigung der „gesamtstaatlichen
Aufgabe“, weil bisher nur die schwächsten Glieder der Kette die
„Hauptlast“ tragen würden: die Gemeinden. Ralf Jäger:
10
O-TON:
Wir besprechen gerade mit den Kommunen in Nordrhein-Westfalen: Was
gebt ihr eigentlich tatsächlich aus? Das ist nicht so ganz einfach zu
ermitteln, weil das ganz unterschiedliche Kostenstrukturen sind. In einer
ländlichen Gemeinde kann man günstiger Flächen für Flüchtlinge
organisieren als in Ballungszentren, wo der Wohnungsmarkt schon sehr
eng ist. Da versuchen wir so ein Mittel gerade zu errechnen. Das schaffen
wir bis Ende des Jahres. Dann schauen wir: Was gibt das Land, was gibt
der Bund, was bleibt übrig für die Kommunen. Ist da möglicherweise eine
Überforderung vorhanden?
ATMO: Vor dem Minister-Büro
SPRECHER: Zumindest wird das Geld ungerecht an die Kommunen verteilt,
wie Dokumente aus den Länderparlamenten belegen. Den
Anfang machte vor zehn Jahren das damals CDU-geführte
Thüringen: Dort steht im Flüchtlingsaufnahmegesetz, dass das
Land den Kommunen „die mit der Aufnahme und Unterbringung
der (Asylbewerber) verbundenen notwendigen Kosten
(erstatten)“ muss. Im Parlament fragte die damals
oppositionelle „Linke“ mehrfach, ob dieses Gesetz eingehalten
würde. Die Antworten dokumentierten eine sehr ungleiche
Verteilung des Geldes: Als Schlusslicht bekam die Stadt Jena
weniger als 50 Prozent ihrer Asyl-Ausgaben ersetzt. Andere
thüringische Städte erhielten dagegen mehr, als sie real für
Flüchtlinge ausgegeben hatten.
Im größten Aufnahmeland, Nordrhein-Westfalen, regiert die
SPD zusammen mit den Grünen. Hier deckte die CDU die
Finanzierungslücken auf, und die fallen noch drastischer aus
als in Thüringen: Auf eine Erstattungsquote von 50 Prozent
kam dort nach jüngsten Zahlen der Spitzenreiter Bad Honnef.
Die wohlhabende Landeshauptstadt Düsseldorf bekam nur 31
Prozent erstattet, die Provinzstadt Rüthen 22 und das nahezu
bankrotte Wuppertal gerade mal 12 Prozent, wie Dokumente
aus dem Parlament belegen.
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O-TON:
Ich glaube, das Problem ist: Wir reden hier über Zahlen, die nicht verifiziert
sind. Die nicht belastbar sind. Weil: Der eine rechnet so, der andere
rechnet so. Der eine rechnet nur die Ausgaben für Flüchtlinge, der nächste
rechnet Ausgaben für geduldete Asylbewerber mit ein. Der eine nimmt den
Stichtag vom letzten Jahr, der andere nimmt den Stichtag von diesem Jahr.
Ein völliges Zahlenwirrwarr. Das ist sehr, sehr kompliziert, sehr, sehr
komplex. Und alle Zahlen, die jetzt in die Landschaft gerufen werden,
haben eines gemeinsam: Sie sind auf jeden Fall falsch.
SPRECHER: Diese Zahlen haben aber noch etwas gemeinsam: Sie
stammen aus parlamentarischen Stellungnahmen der
Landesregierung von Nordrhein-Westfalen, der Jäger als
Innenminister selbst angehört.
Bislang wollte die Landesregierung wohl gar nicht so genau
wissen, wie teuer es ist, Flüchtlinge unterzubringen. Denn dann
hätte sich womöglich gezeigt, dass die Kommunen mit der vom
Land pauschal verteilten Summe von rund 7.600 Euro pro
Flüchtling und Jahr nicht hinkommen. Baden-Württemberg zahlt
ebenfalls pauschal, aber mehr als 13.000 Euro pro Flüchtling,
und damit rund 75 Prozent mehr als Nordrhein-Westfalen.
Andere Flächenstaaten arbeiten mit unübersichtlichen
Mischsystemen. Aber die Finanzierung der Gemeinden ist nicht
das einzige Problem der Asylbürokratie.
O-TON:
I’m waiting for the interview … my son, my family.
Overvoice 2: Nun warte ich schon seit 14 Monaten auf meine Anhörung.
Dabei gab es anfangs doch noch gar keinen
Flüchtlingsansturm. Ich kenne einen Asylbewerber, der hatte
seine Anhörung nach drei Tagen. Ein anderer nach zwei
Wochen. Wenn das so weitergeht mit dem Warten auf
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unbestimmte Zeit, werde ich noch meine Frau und meinen
Sohn verlieren. Meine Familie.
ATMO: Fotos betrachten in Mohamads Zimmer
SPRECHER: Hassan Mohamad kommt aus Dhaka, der Hauptstadt von
Bangladesch: einer Dritte Welt-Metropole mit 17 Millionen
Einwohnern. Nun lebt er im beschaulichen Werl, einer
Provinzstadt zwischen Sauer- und Münsterland. Hassan
Mohamad, der in Wirklichkeit anders heißt, muss sich täglich
neu entscheiden: Bleibt er hier, in Sicherheit, obwohl seine Frau
zu Hause in Bangladesch bereits den Hausrat verkaufen
musste und nicht mehr weiß, wie sie sich und den kleinen Sohn
dort länger durchbringen soll? Oder reist der zu Hause
prominente Journalist zurück nach Dhaka, wo ihn religiöse
Fanatiker mit Macheten zerhacken könnten.
Für dieses Dilemma tragen deutsche Behörden keine
Verantwortung. Doch sie verschärfen Hassan Mohamads
Problem, in dem sie sein Verfahren über viele Monate nicht
bearbeiten. Er wüsste gern, wie es mit ihm weitergeht.
O-TON:
So I really want to mention … for the last 14 month.
Overvoice 2: Ich würde den Verantwortlichen wirklich gerne sagen, dass es
ein transparentes Registrierungssystem für Asylanträge geben
sollte. Bisher geht es anscheinend eher zu wie bei einer
Lotterie. Sonst fordere ich wirklich gar nichts: weder mehr Geld
noch eine bessere Unterkunft oder besseres Essen. Gar nichts.
Aber 14 Monate müssten doch reichen, meinen Fall zu
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untersuchen. Stattdessen tun sie nichts – oder jedenfalls nichts,
was ich erkennen könnte. Seit 14 Monaten!
ATMO: Fluratmo, teils m. Stimmen
SPRECHER: Beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge liegen
inzwischen fast 300.000 unbearbeitete Asylanträge.
Flüchtlingsorganisationen kritisieren das BAMF schon lange.
Inzwischen beanstanden auch Länder und Kommunen die
wachsenden Antragsstapel, weil dadurch immer mehr
Flüchtlinge immer länger in Heimen festgehalten werden und
damit Plätze blockieren, die dringend für Neuankömmlinge
gebraucht würden. Die Asylbewerber wissen oft nicht einmal,
wo sie nach ihrer Akte fragen könnten. Heinz Drucks von der
Hilfsorganisation Flüchtlingsräte hat täglich mit ihnen zu tun: Er
arbeitet beruflich bei der Diakonie Ruhr-Hellweg und berät dort
auch den Bangladeschi Hassan Mohamad.
O-TON:
Sein Fall liegt beim Bundesamt unter dem Stapel der nicht bearbeiteten
Fälle. Ob es Sinn macht, sich zu beschweren, wage ich zu bezweifeln. Es
gibt ein automatisiertes Antwortverfahren, in dem wird dann mitgeteilt, dass
man halt so lange warten muss, wie es dauert. Manchmal werden die aus
Bochum oder Dortmund direkt zum Bundesamt nach Dortmund gebracht.
Die werden dann direkt angehört und erhalten dann relativ schnell
Entscheidungen. Andere, bei denen die Kapazität überschritten war: Da
bleibt das auf dem Schreibtisch liegen. Und auf dem stapeln sich dann
nach und nach die Fälle. Und irgendwann liegt der Fall dann ganz unten
und dann dauert es entsprechend lang. Das ist gängig so.
SPRECHER: Auf dem „Flüchtlingsgipfel“ im Herbst 2015 verkündete Angela
Merkel, dass der Bund das BAMF personell massiv aufstocken
werde: Die Zahl der Mitarbeiter werde bis Ende 2016 nahezu
verdoppelt auf „bis zu“ 6.000. Verstärkung wird aber auf jeden
Fall dringend gebraucht, meint Flüchtlingsberater Drucks:
14
O-TON:
Ich mache jetzt fast 20 Jahre lang die Arbeit. Die Qualität und das Niveau
von Entscheidungen des Bundesamtes ist so ziemlich am Grund
angelangt. Bei den allermeisten Menschen aus Bangladesch besteht das
zu 80, 90 Prozent aus Textbausteinen, die nichts mit dem Individuum zu
tun haben, der da angehört wird. Das sind vielleicht zwei, wenn es hoch
kommt drei Absätze in der Entscheidung, die sich dann konkret mit der
Person und dem Fall beschäftigen. Alles andere sind Standardsachen:
Sätze, die immer wieder aus Textbausteinen zusammengeschoben
werden.
SPRECHER: Dieses Vorgehen sehen auch Flüchtlingsorganisationen wie
Pro Asyl grundsätzlich kritisch: Sie sehen Grundsätze verletzt,
die das Bundesamt für Flüchtlinge öffentlich für sich in
Anspruch nimmt. So soll bei der Entscheidung über einen
Asylantrag „grundsätzlich das individuelle Einzelschicksal …
maßgeblich“ sein. Selbst Anträge aus „sicheren
Herkunftsstaaten“ wie Serbien oder Bosnien seien weiterhin
„einzeln“ zu prüfen, so das BAMF, und „jeder Asylbewerber
kann im Einzelfall darlegen, dass er – abweichend von der
allgemeinen Lage im Herkunftsstaat – doch mit Verfolgung
rechnen muss“.
ATMO: Im Flüchtlingsheim
SPRECHER: Wieder keine Nachricht vom Bundesamt in Hassan Mohamads
Briefkasten. Er wohnt in einem Einzelzimmer eines christlichen
Ordensheims - neben einigen chronisch kranken Deutschen
und vielen Flüchtlingen aus aller Welt.
O-TON:
They are managing … is the problem actually.
Overvoice 2: Hier vor Ort managen sie die Situation sehr gut. Dafür möchte
ich mich bedanken. Aber selbst die Menschen im Rathaus und
15
im Kreishaus finden sich manchmal nicht zu Recht in diesem
Asyl-System: Wo liegt meine Akte? Wie lang kann die ganze
Prozedur noch dauern? Das wissen sie auch nicht.
ATMO: Schritte unterwegs, Begegnungen, Small Talk
SPRECHER: Hassan Mohamad hat einen Ein-Euro-Job und hält in Werl
einige Parks sauber. Auf dem Rundgang durch sein Heim
begegnen wir anderen Flüchtlingen. Die allermeisten seiner
Nachbarn seien höflich und angenehm im Umgang, findet
Hassan Mohamad. Nur nachts würden schon mal einige wenige
Krach schlagen. Dann gäbe es niemanden, an den er sich
wenden könne. Während des Reporter-Besuchs ist auch
tagsüber das Pförtnerhäuschen unbesetzt, und kein
Verantwortlicher zu sehen.
O-TON:
„hallo, hallo“, Begrüßung, Dialoge
ÜBERSETZUNG: (Aufgeteilt auf Sprecher für Autor/Mohamad/Flüchtling)
(Autor:) Hatten Sie schon Ihre erste Anhörung? –
(Overvoice 1:) Weswegen? –
(Overvoice 2:) Na beim Bundesamt! –
(Overvoice 1:) Ich lebe jetzt seit einem Jahr und acht Monaten
hier und warte auf meine Anhörung. Keine Ahnung, warum das
so lange dauert. Wissen Sie: Ich bin deswegen sehr müde
inzwischen. Das ist schlecht für den Kopf: Man wird balla-balla.
Vielleicht er dort, vielleicht hatte er schon seine Anhörung. –
(Overvoice 2:) Schauen Sie, da merkt man die Unterschiede: Er
ist schon 20 Monate hier und hatte nicht mal seine erste
Anhörung. Aber der andere dort: Der hatte sie bereits nach
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kurzer Zeit. Aber das ist auch schon lange her und er wartet
jetzt bereits seit acht Monaten auf das Ergebnis seiner
Anhörung. Wenigstens das Ergebnis könnten sie ihm doch
gleich am Tag darauf mitteilen, oder nicht? Oder vielleicht nach
einem Monat?
„What is my Zukunft? “
SPRECHER: Selbst das Bundesamt sieht anscheinend Reformbedarf: 2016
sollen in den Außenstellen jeweils zwei Mitarbeiter eigens zur
Auskunftserteilung abgestellt werden. Wann ist meine
Anhörung, kann sie vorgezogen werden und wann wird mir das
Ergebnis mitgeteilt? Eine Richtlinie der Europäischen Union
würde diese „neutrale, vertrauliche Auskunftserteilung“
eigentlich bereits seit Mitte 2015 vorschreiben, teilt das
Bundesamt mit.
ATMO: in den Bus, Ticket kaufen, im Bus
SPRECHER: Bundeskanzlerin Merkel erwartet, dass etwa 50 Prozent der
neu eingereisten Asylbewerber dauerhaft in Deutschland
bleiben werden: entweder als Hilfsbedürftige, die lange Zeit
oder sogar für immer auf Sozialleistungen angewiesen sein
werden. Oder als Arbeitskräfte, die ihr Geld selbst verdienen
sowie Steuern und Versicherungsbeiträge zahlen. Politiker des
gesamten demokratischen Spektrums betonen, dass
Flüchtlinge möglichst bald ihr eigenes Geld verdienen sollten.
O-TON:
Ich war 15, nach Deutschland gekommen. Eigentlich weiß ich nicht ganz
genau, was das bedeutet: Deutschland. Aber ich kann ein bisschen
Englisch. Viele Leute habe ich gefragt: Was bedeutet Deutschland? Die
alle sagen: Deutschland bedeutet Germany. Ach so, das ist Germany. Am
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ersten Tag war ich in Frankfurt, danach in Gießen, das war ein Kinderheim
gewesen. Ich bin seit 3 Jahren in Deutschland. Ich bin erst mal in einer
Sprachschule gewesen, danach habe ich Klassen 9 und 10-Abschluss.
Aber jetzt habe ich gar nichts.
ATMO: Dialog Enamshah-Flüchtlingsberater
SPRECHER: Der Afghane Enamshah lebt in Soest, einem Städtchen
zwischen Dortmund und Paderborn. Weil er minderjährig und
unbegleitet nach Deutschland flüchtete, galt dies als
Abschiebehindernis und Enahmshah erhielt eine
Aufenthaltserlaubnis. Gleichzeitig wurde sein Asylantrag
abgelehnt, weil das deutsche Bundesamt generell davon
ausgeht, dass Minderjährige nicht politisch verfolgt werden
können. Nun ist Enamshah volljährig, sein aktueller
„Aufenthaltstitel“ gilt bis Ende 2016 und „kann“ nach Ablauf
verlängert werden. 2019 wird er erstmals eine dauerhafte
„Niederlassungserlaubnis“ beantragen können.
O-TON:
Die sagen: Du suchst eine Stelle, das kannst du nicht. Da meine ich:
Warum nicht? Er sagt: Das klappt nicht bei dir. Ich sage: Erst mal
versuchen. Wenn klappt nicht, kann man nichts machen. Der sagt: Nein, du
kannst nicht gut reden. Dein Deutsch ist schlecht. Ich möchte Ausbildung
machen, zur Arbeit – ich möchte vernünftig leben. Ich brauch‘ kein Geld
vom Arbeitsamt.
ATMO: Auf der Straße unterwegs
SPRECHER: Der Afghane Enamshah verfügt über Eigenschaften, die die
Bundesagentur für Arbeit auf ihrer Webseite anmahnt. Dort ist
unter dem Stichwort „Eigeninitiative“ zu lesen:
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ZITATOR:
„Das … Gesetz verlangt, dass Sie sich intensiv um Ihre
Integration in den Arbeitsmarkt bemühen und dies auch
nachweisen“.
SPRECHER: Eigeninitiative zeigte Enamshah bereits in Afghanistan: Dort
herrschten in seiner Heimatregion Jalalabad vielerorts die
Taliban. Sie töten die Oberhäupter missliebiger Familien, bevor
die zu einflussreich werden könnten, berichtet Enamshah. Weil
sein Vater schon früh gestorben sei, wäre er deshalb bereits im
Alter von 15 Jahren selbst bedroht worden.
O-TON:
In Deutschland finde ich gut: Fahren ohne Licht muss 20 Euro bezahlen.
Immer Strafe und so. Ich finde das gut, die Gesetze. Erstes Mal war es
schlimm regnen. Mein Fahrrad: Das Licht funktioniert nicht. Trotzdem habe
ich 20 Euro bezahlt. Für mich ist das viel Geld.
SPRECHER: Dann bückt sich Enamshah und hebt einen Keks auf, den ein
Kleinkind vor ihm auf den Bürgersteig geworfen hat. Der Keks
landet im Mülleimer.
ATMO: hinein in sein Wohnhaus, Flur, Wohnung
SPRECHER: Enamshah wohnt allein in einer Ein-Zimmer-Wohnung, deren
Miete er bezahlt bekommt. Seine persönlichen Ausgaben zahle
er von den 360 Euro, die ihm das Arbeitsamt monatlich
überweist. Doch Enamshah möchte sein Geld unbedingt selbst
verdienen:
O-TON:
Wenn die Leute Afghanistan verlassen, die sind richtig reich. Die armen
Leute kommen nicht nach Deutschland. Das kostet viel Geld. 32.000 habe
ich bis hier bezahlt. – Dollar. Das ist viel Geld. Arme Leute kommen nicht
nach Deutschland. Weil: Manche Leute sagen die Afghanen kommen
hierher für Geld. Eigentlich ich brauche Freiheit, egal was kommt. Ich tue
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alles, ich bin bereit. Zu Hause sitzen ist langweilig. Ich möchte etwas tun,
egal was. Vorher hatte ich andere Sachen im Kopf, aber heute sage ich:
Egal, Kloputzen, ich tue das alles. Hauptsache Beschäftigung, Geld
verdienen, vernünftig leben.
ATMO: im Zimmer
SPRECHER: Am Tag des Besuchs bei Enamshah zitieren die Zeitungen
Bundes-Innenminister Thomas de Maizière: „Neues Denken“
sei gefragt bei der Integration der vielen neuen Flüchtlinge, und
ein Abschied vom alten Etappendenken. Erst jahrelang Deutsch
lernen, dann eine Ausbildung und irgendwann mal Arbeiten –
das würde so nicht mehr länger funktionieren angesichts der
gewaltigen Flüchtlingsströme.
O-TON:
Nachdem ich ein halbes Jahr lang eine Ausbildungsstelle ausgeschrieben
hatte und es sehr wenig Resonanz gab, trat ein Bekannter an mich heran,
der Flüchtlinge betreut. Und hat halt den Kontakt hergestellt. Ein junger
Mann hat sich dann bei mir vorgestellt. Ich war sehr begeistert: Für die
kurze Zeit, die er da war, sprach er gutes Deutsch.
ATMO: auf der Straße unterwegs
SPRECHER: Patrick Weber gehört zu den vielen deutschen Unternehmern,
die die Worte des Ministers in die Tat umsetzen möchten: Er
hätte gerne den Afghanen Enamshah ausgebildet und
anschließend als Fachkraft eingestellt. Weber betreibt einen
Familienbetrieb zur Gebäudereinigung: Seine Frau managet, er
reinigt.
O-TON:
Natürlich gibt es sehr viele ungelernte Kräfte in der Gebäudereinigung, was
auch funktionieren kann. Die haben aber leider keine berufliche Zukunft.
Mir geht es darum, wirklich junge Leute zu fördern: denen eine Zukunft
bieten zu können, damit die auch weiter im Job aufsteigen können.
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ATMO: Fortsetzung
SPRECHER: Gute Chancen haben Gebäudereiniger, wenn sie Flächen
korrekt berechnen und Chemikalien fachmännisch einsetzen
können. Aber Mathe und Chemie hatte Enamshah in
Afghanistan nicht gut lernen können. Deshalb beantragte
Weber eine öffentliche Fördermaßnahme: Eine „Assistierte
Ausbildung“ soll helfen,
ZITATOR:
„die Lücke zwischen den Anforderungen des
Ausbildungsbetriebes und den Voraussetzungen des
Auszubildenden … zu schließen“,
SPRECHER: wie das verantwortliche Jobcenter später mitteilen wird. Also
eigentlich eine ideale Brücke zwischen afghanischem Flüchtling
und deutschem Ausbildungsbetrieb. Aber dann lehnte die
Agentur für Arbeit die „Assistierte Ausbildung“ ab: weil sich
Enamshahs Sprachkenntnisse in den letzten Monaten „nicht
deutlich verbessert“ hätten. Patrick Weber:
O-TON:
Da war ich schon erschrocken, dass da seitens der Arbeitsagentur keine
Hilfe war. Es ging nicht um eine Lohnförderung oder so etwas. Es ging
wirklich nur darum, dass der Junge schulische Unterstützung bekommt. Wir
sind ein Einmannbetrieb, ich kann das einfach nicht leisten. Ich kann ihm
nicht gerecht werden ohne Hilfe. Ich hätte mir gewünscht, dass er, so wie
es in dieser Broschüre beschrieben war, ein- bis zweimal die Woche
zusätzlich zur Berufsschule noch Schule macht. Vielleicht nicht
Einzelunterricht, aber schon sehr personalisiert.
ATMO: Fortsetzung
21
SPRECHER: Nur ein paar Tage vor dem Interview mit Patrick Weber hatte
sich Bundes-Arbeitsministerin Andrea Nahles im „Bericht aus
Berlin“ zu Flüchtlingen geäußert:
O-TON:
Das ist die Aufgabe der Bundesagentur: Brauchen die vielleicht noch eine
Teil-Zusatzausbildung? Und was können wir tun, um die möglichst schnell
in den Arbeitsmarkt zu integrieren? Ich habe noch nie so viele offene
Stellen vermelden dürfen als Arbeitsministerin. Wir haben die höchste
Anzahl an offenen Stellen in Deutschland, die wir je hatten.
(http://www.tagesschau.de/inland/nahles-fluechtlinge-103.html - Bericht aus Berlin,
06.09.2015, Interview mit Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles, Teil I)
ATMO: Gang durchs Ministerium
SPRECHER: Gebäudereiniger stehen nicht allein mit ihren
Nachwuchssorgen: Bäckern, Spediteuren, Hoteliers,
Straßenbauern und vielen anderen gelingt es längst nicht mehr,
sämtliche Arbeits- und Ausbildungsplätze allein mit
Einheimischen zu besetzen. Daher verkürzte der Bundestag
das Arbeitsverbot für Asylbewerber und geduldete Flüchtlinge
schon Ende 2014 auf nur noch drei Monate.
Doch weiterhin halten Rechtsunsicherheiten viele Betriebe ab,
Flüchtlinge zu beschäftigen: Die Bundesvereinigung der
Deutschen Arbeitgeberverbände fordert, dass Azubis ihre
Ausbildung garantiert abschließen und dann noch ein Jahr als
gelernte Kräfte arbeiten dürfen, ohne eine Abschiebung
fürchten zu müssen. Auch die Vorrangprüfung solle ganz
entfallen, nach der Deutsche und EU-Bürger einem Flüchtling in
den ersten 15 Monaten nach dessen Einreise vorzuziehen sind.
Nachdem dem Afghanen Enamshah eine „Assistierte
Ausbildung“ verweigert worden war, erhielt Gebäudereiniger
Weber neue Nachrichten vom Jobcenter.
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O-TON:
Ich wurde mehrfach darauf hingewiesen, dass ja deutsche Bewerber
Vorrang haben. Daraufhin habe ich gesagt, dass ich ja schon seit einem
halben Jahr deutsche Bewerber suche und dass es einfach keine gibt. Und
dann kam sehr abwertend der Satz: Wenn Sie das wirklich machen wollen,
dann müssen Sie das selber wissen. Aber Sie wissen, noch mal der
Hinweis: Deutsche Bewerber gehen vor. Es dauerte keine 2 Tage, da hatte
ich drei Bewerbungen auf den Tisch, die alle Hartz IV-Empfänger waren.
Zwei sind noch nicht mal zum Bewerbungsgespräch erschienen, der
andere hat sich am zweiten Tag krankgeschrieben und somit hatte sich die
Sache für mich wieder erledigt. Das Problem war: Ich wäre dann gerne
wieder auf Herrn Enamshah zurückgekommen. Das Problem war
allerdings, dass er dann zu seinem dritten Deutschkurs – ja, ich sage das
jetzt mal so: verdonnert wurde. Und somit die Zeiten absolut nicht mehr
passten.
ATMO: Auf dem Büroflur
SPRECHER: Das Jobcenter Soest stellt den Fall ganz anders dar:
Arbeitgeber Patrick Weber habe am Ende den Ausbildungsplatz
selbst an jemand anders vergeben wollen, heißt es in einer
ersten Stellungnahme. In einer zweiten werden für Enamshah
immer neue Defizite angeführt: zum Beispiel
„unterdurchschnittliche Ergebnisse“ bei einem
„Berufsinteressentest“ und beim „Berufspsychologischen
Dienst“ sowie „fehlende Ausbildungsreife“. Im Übrigen wolle er
angeblich nicht „auf Dauer“ als Gebäudereiniger arbeiten,
sondern „langfristig eine Bürotätigkeit anstreben“. Das hatte der
Betroffene selbst dem Reporter anders berichtet, und das
problemlos auf Deutsch. Auch der verhinderte Arbeitgeber
sowie der örtliche Flüchtlingsberater Heinz Drucks verstehen
Enamshah prima und hätten dessen Reife gerne konkret bei
der Arbeit getestet:
O-TON:
(Drucks)Das ist so eine Grundhaltung hier, die ich auch schon über die
Arbeitsagentur häufiger mitbekommen habe: dass man versucht, die
eigentlich geöffneten Ausbildungsmöglichkeiten – dass man das torpediert
mit dem Argument: Sie schaffen die Prüfungen nicht. Das könnte man bei
vielen Deutschen genauso sagen, weil die schulischen Leistungen oder die
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Deutschkenntnisse auch bei vielen Deutschen unzureichend sind.
Trotzdem würden die erst mal mit der Ausbildung beginnen. Das ist dann
das Problem der Arbeitgeber und des Berufskollegs. Warum dann die
Arbeitsagentur sich herausnimmt, eine Entscheidung zu treffen, wer
genügend Deutschkenntnisse hat: Ich finde, das gehört gar nicht in deren
Zuständigkeitsbereich. Und vor allen Dingen: Ich lerne in einem Sprachkurs
nie eine Sprache. Die lerne ich dadurch, dass ich sie nachher anwende.
SPRECHER: Hilfsorganisationen wie Pro Asyl rechnen die Bergische Stadt
Wuppertal zu den bundesweit vorbildlichen Kommunen: Dort
würden die Ämter eng zusammenarbeiten und Asylbewerber
zügig integrieren. Dabei ist die Stadt praktisch pleite: In den
vergangenen Jahren schloss nach Schulen und Bädern auch
das städtische Schauspielhaus. Doch der
Integrationsbeauftragte Jürgen Lemmer möchte gar nicht zuerst
vom Geld sprechen, obwohl sich die Bergische Stadt sogar als
Schlusslicht sieht bei der Kostenerstattung durch das Land.
O-TON:
Auch wir hatten in der Vergangenheit viele Übergangsheime. In der Spitze
der Bürgerkriege von Jugoslawien, den Bosnienkrieg, haben wir 50
Übergangsheime gehabt, darunter das größte in einer Kaserne mit 400
Plätzen. Wir kennen all‘ die Probleme, die andere Städte gerade haben.
Auf dem Höhepunkt der damaligen Flüchtlingsunterbringungs-Krise 1993
hat der Rat angefangen, ein Unterbringungskonzept zu machen. Und hat
so mutige Schritte gesagt wie: Wir wollen sieben Quadratmeter für jeden
Flüchtling. Damals waren wir froh, vier Quadratmeter bieten zu können.
Das war also schon eine gewaltige Zahl. Dieses Konzept ist schrittweise
umgesetzt worden. Auch Dezentralität war gefordert. Wir haben die
Dezentralität immer weiter entwickelt bis zum jetzigen Modell.
SPRECHER: „Dezentral“ heißt in Wuppertal, dass vier Fünftel aller
Flüchtlinge in ganz normalen Wohnungen leben. Die
Wohnungsgrößen entsprechen dem, was deutsche Mieter mit
Wohnberechtigungs-Schein beanspruchen könnten. Daran hat
sich bis jetzt nichts geändert, obwohl auch Wuppertal allein in
den ersten zehn Monaten des Jahres 2015 über 2.100
zusätzliche Flüchtlinge neu aufnehmen musste.
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Das restliche Fünftel der Flüchtlinge lebt zwar in
Übergangsheimen, aber auch die seien allesamt in DreiZimmer-Wohnungen unterteilt, berichtet Lemmer. Er räumt ein:
O-TON:
Nun haben wir natürlich das Glück, dass uns der Wohnungsmarkt hier
entgegenkommt im Bergischen Land - dass wir einen größeren
Wohnungsleerstand haben. Aber selbst in Zeiten, wo der Wohnraum noch
knapper war, sind wir im ersten Schritt hingegangen und haben selber als
Stadt Wohnungen angemietet, haben eine Rahmenvereinbarung mit einem
Vermieter gemacht. Und wo dann Leute ein Bleiberecht bekommen haben,
sind die Wohnungen übergegangen an die Menschen. Das waren sehr
gute Erfahrungen, die die Vermieter mit uns gesammelt hatten. Neben den
großen Wohnungsunternehmen sind es gerade die kleinen Einzelvermieter,
die Dreiviertel der Wohnungsangebote stellen. Und unsere E-Mail-Adresse
gehen heute auch noch jeden Tag neue Angebote ein.
SPRECHER: Während anderswo Container und Zeltstädte aufgebaut und
Baumärkte notdürftig hergerichtet werden, konnte Wuppertal
bereits den 1.300sten Mietvertrag abschließen.
Jürgen Lemmer erklärt, dass diese Art der Unterbringung sogar
deutlich preiswerter sei als die in der einzigen
Gemeinschaftsunterkunft der Stadt mit über 100 Plätzen:
O-TON:
Da kostet mich der Quadratmeter an Kostenmiete 24 Euro. Diese hohen
Kosten kommen relativ einfach deshalb zustande, weil ich dort alleine vier
Mitarbeiter und einen Sicherheitsdienst vorhalten muss. Bei der
Wohnungsanmietung hören wir bei 4,85 Euro pro Quadratmeter bei der
Kaltmiete auf. Selbst wenn ich mal großzügig sage: warm 7 Euro den
Quadratmeter, dann kann ich mir mindestens dreieinhalb Quadratmeter
leisten auf dem Wohnungsmarkt für den Quadratmeter Übergangsheim. Da
sprechen also auch finanzielle Gründe ausdrücklich dafür.
SPRECHER: Kurz vor Redaktionsschluss wurde der Bangladeschi Hassan
Mohamad nach 15 Monaten endlich angehört. Nun wartet er
auf das Ergebnis seiner Anhörung.
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ABMODERATION: "Kopfpauschale"
Die deutsche Asylbürokratie und ihre Folgen
Ein Feature von Achim Nuhr
Es sprachen: Torben Kessler, Uli Höhmann, Bastian Korff und
Martin Rentzsch
Ton und Technik: Thomas Rombach
Regie führte: Marlene Breuer
Redaktion: Dorothee Meyer-Kahrweg
Eine Koproduktion von Hessischem Rundfunk, Deutschlandfunk und
SWR 2015.
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