Die große Flucht und wir

Predigt Flüchtlinge
Ein paar Zahlen zu Beginn:
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Nach aktuellen Statistiken des UNHCR befinden sich im Moment fast 60 Millionen
Menschen weltweit auf der Flucht – so viele wie noch nie. Die Gründe, warum
Menschen sich zur Flucht entscheiden sind vielfältig. Die häufigsten sind: Krieg
und Bürgerkrieg, Verfolgung, Folter, Vergewaltigung und Zerstörung der
Existenzgrundlage durch Klimawandel oder schlechtes Regieren.
Ca. 80 % aller Flüchtlinge bleiben entweder in ihrem Land („Binnenvertriebene“)
oder aber in einem Land in ihrer Nähe. Die fünf größten Aufnahmeländer von
Flüchtlingen sind: Türkei, Pakistan, Iran, Libanon, und Jordanien. Während in
Bayern momentan ein Flüchtling auf etwa 142 Einwohner kommt, ist in Jordanien
ist das aktuelle Verhältnis 1:11.
Trotzdem ist der Flüchtlings-Andrang auf Deutschland im Moment
außerordentlich hoch. Schätzungen gehen davon aus, dass bis Ende des Jahres bis
zu 1 Million Flüchtlinge aus der ganzen Welt zu uns nach Deutschland gekommen
sein werden und hier Asyl beantragen. Momentan harren 200.000 Flüchtlinge in
Erstaufnahme-Einrichtungen aus, die beinahe allesamt überfüllt sind. Auch
München und Hamburg und andere Städte sind im Moment am Rande des
Leistbaren, genauso wie die Polizei, Sozialarbeiter, Lehrer und die zuständigen
Behörden.
Wichtig ist in diesem Zusammenhang aber auch, dass es schon größere
Zuwanderungswellen in unserer deutschen Geschichte gab: Allein in den vier
Jahren nach dem zweiten Weltkrieg sind rund 12 Millionen Menschen aus den
sogenannten ehemaligen deutschen Ostgebieten nach Deutschland geflohen oder
vertrieben worden. 12 Millionen, die Arbeit und Wohnraum in einem völlig
zerstörten Land suchten. Die zweite große Zuwanderungswelle dann in den 60er
und 70er Jahren. Vor allem die sogenannten Gastarbeiter. Allein im Jahr 1973
kamen rund eine Million Ausländer nach Deutschland; insgesamt waren es
zwischen 1969 und 1973 sogar 3,4 Millionen. Der nächste Höhepunkt nach dem
Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Fall der Mauer. Insgesamt kamen
zwischen 1988 und 1993 3,1 Millionen Menschen nach Deutschland.
Das vielleicht mal so ein paar Zahlen zum Warmwerden 
Und weiter geht’s:
Im Moment ist nicht abzusehen, dass der Flüchtlingsstrom abreißt. Die Politik in
Deutschland scheint dies mittlerweile begriffen zu haben. In der ZEIT stand vor einem
Monat (Ausgabe vom 20. August 2015): „Wie lassen die lassen sich Jahr für Jahr
Hunderttausende Asylbewerber aus vielen Regionen der Welt menschenwürdig
unterbringen, ernähren und medizinisch versorgen? Wie lassen sich ihre Anträge rasch
und fair prüfen, wie lassen sich diejenigen, die hier bleiben dürfen, unterrichten,
ausbilden, in den Arbeitsmarkt und in die Gesellschaft integrieren? Das zu schaffen, das
ist vielleicht die größte politische Aufgabe unserer Zeit. Um sie zu bewältigen, muss sich
die Republik verändern wie seit der Wiedervereinigung nicht mehr. Was das heißt, das ist
noch gar nicht abzusehen. Immerhin beginnen führende Mitglieder der Bundesregierung
jetzt, darüber nachzudenken. Wer in diesen Tagen mit ihnen spricht, bekommt ein Land
skizziert, das ganz anders aussehen wird als heute. Unbürokratischer. Unkonventioneller.
(…) Das Leben in den Städten und Gemeinden wird bunter werden und vielfältiger, aber
auch Zumutungen bringen. Deutschland wird zum Einwanderungsland, unweigerlich,
unwiderruflich und ab sofort. Aus wichtigen Ministerien heißt es: Wir werden die
Asylverfahren beschleunigen müssen. Wir werden bürokratische Standards senken
müssen und wahrscheinlich auch die gerichtliche Überprüfung von Asylentscheidungen
vereinfachen müssen. Wir werden pensionierte Lehrer und andere Beamte aus dem
Ruhestand zurückholen müssen, damit sie an den Schulen und in der Verwaltung helfen.
Viele Flüchtlinge aus Afrika können kaum lesen und schreiben. Wir werden Kasernen, die
seit dem Abzug für Briten und Amerikaner leer stehen, wieder öffnen müssen, weil fast
jede alte Kaserne für die Unterbringung von Flüchtlingen im Winter besser geeignet ist als
ein Zelt. Wir werden Sicherheitsvorschriften und technische Standards senken müssen,
weil es einfach viel zu lange dauert, bis staatliche Stellen ein paar Zelte anschaffen
können oder eine Kaserne nutzen dürfen. Und das alles wird viel Geld kosten.“
Deutschland wird sich also verändern.
Ich möchte gerne noch einen Gedanken lang bei der Politik bleiben – und zwar, um um
Verständnis und Gebet für unsere Politiker zu werben. Unsere Bundesregierung hat im
Moment nämlich einen Spagat zu bewältigen, der schier unmöglich scheint: Auf der
einen Seite müssen unsere Politiker alles dafür tun, um all die Flüchtlinge, die kommen,
willkommen zu heißen und gut und menschenwürdig aufzunehmen (darum ging es ja
auch gerade in dem Zeitungsartikel). Auf der anderen Seite gilt der Automatismus: Je
herzlicher Deutschland die Flüchtlinge aufnimmt, desto mehr werden kommen –
vermutlich mehr, als wir werden aufnehmen können. Unsere Politiker tragen also die
Verantwortung, abwägen zu müssen zwischen „Flüchtlinge willkommen heißen“ und „die
Grenzen sichern; Flüchtlinge und Schleuserbanden nicht noch zum Kommen ermutigen,
denn auch Deutschland bzw. Europa hat Grenzen seiner Aufnahme-Kapazitäten“ (auch
wenn die vermutlich höher liegen, als wir mit unserem ängstlichen Herzen oft meinen).
Für diesen Spagat brauchen unsere Politiker Ermutigung, Barmherzigkeit und Gebet –
und nicht ständig Kritik und Nörgelei.
Während die Aufgaben in der Politik unglaublich komplex sind, ist unsere Aufgabe völlig
simpel. Unsere Aufgabe ist es, die Flüchtlinge in unserer Umgebung möglichst gut zu
begleiten und ihnen zur Seite zu stehen.
Wenn wir das nämlich nicht tun, werden deshalb nicht etwa weniger Flüchtlinge
kommen. Wenn wir das nicht tun, ist der einzige Effekt, dass all die Flüchtlingsheime zu
Orten von Frust, Depression, Kriminalität, Hass und Gewalt werden. Wenn wir uns nicht
engagieren, kommen deshalb nicht weniger Flüchtlinge. Es werden lediglich viel mehr
Schwierigkeiten entstehen.
Und dass da wirklich jeder von uns gefordert ist, das wird spätestens dann deutlich,
wenn wir uns klar machen, dass innerhalb der nächsten 6-12 Monate mit Sicherheit noch
einmal 400-500 Flüchtlinge hier zu uns nach Calw kommen (denn als das Wohnheim auf
dem Wimberg mit seinen gut 100 Plätzen geplant wurde, da ging man für das Jahr 2015
von Flüchtlingszahlen um 200.000 aus – im Moment sind wir bei einer geschätzten
knappen Million – und nach dem Jahr 2015 kommt das Jahr 2016).
Und wo wir jetzt langsam zum Thema „eigenes Engagement“ kommen, möchte ich gerne
eine Sache ansprechen, die ich mal „Sozialromantik“ nenne. Viele, die überlegen, sich in
der Flüchtlingsarbeit zu engagieren, stellen sich das nämlich ausschließlich schön vor.
Und auf der einen Seite stimmt das: Wer sich für Flüchtlinge einsetzt, wird Freundschaft
erleben, Sinn, Erfüllung, Dankbarkeit, Erweiterung des eigenen Horizonts, ein neues
Begreifen davon, was wirklich wichtig ist im Leben und Vieles mehr. (Ich selber freue
mich jedes Mal, wenn ich mit meinen neuen afrikanischen Freunden Zeit verbringen
kann und erlebe unsere gemeinsamen Zeiten als echte Bereicherung)
Zur Realität in der Flüchtlingsarbeit gehört aber auch das Andere: Zum Beispiel, dass die
meisten Flüchtlinge aus einer völlig anderen, uns manchmal unverständlichen Kultur
stammen. Dass viele Flüchtlinge von der Flucht und ihren Auslöser-Ereignissen
traumatisiert sind. Dass auszufüllende Asylanträge und andere bürokratische Formulare
selbst uns Deutsche manchmal an den Rand unseres Verstehens und unserer Nerven
bringen. Dass Flüchtlinge, für die man sich monatelang eingesetzt und die man
liebgewonnen hat, von einem Tag auf den anderen ausgewiesen werden – zurück in eine
furchtbare Situation. Dass es unter Flüchtlingen und in Flüchtlingsheimen Kriminalität
gibt, schwierige Charaktere, Gewalt, Sachbeschädigung, Egoismus, Gleichgültigkeit,
Ungeduld, Lügen, Unzuverlässigkeit, Unterdrückung und vieles mehr – genauso wie bei
allen anderen Menschen weltweit.
Flüchtlingsarbeit ist kein Zuckerschlecken. Das alles bedeutet aber nicht, dass wir als
Christen uns davon abhalten lassen sollten, uns für Flüchtlinge zu engagieren. Denn als
Gott in Jesus Mensch geworden ist, da hat er das nicht aus Sozialromantik getan. Er hat
das nicht deshalb getan, weil er dachte, dass sich das immer schön und nett anfühlen
müsse, bei uns Menschen zu sein. Er hat das getan, weil er bei uns, mit uns und für uns
leben wollte. Christus hat für uns gelebt, obwohl bzw. gerade weil wir Menschen
kriminell, schwierig, gewalttätig, achtlos, gleichgültig, egoistisch, verlogen, unzuverlässig,
ausbeuterisch und in Not sind. Weil wir erlösungsbedürftig sind – ich, Sie, wir alle. Weil
wir alle darauf angewiesen sind, von Gott und den Menschen auch trotz unserer
Schattenseiten geliebt zu werden und Gutes zu erfahren.
Wenn wir Jesus folgen wollen, dann gehen wir mit ihm dahin, wo die Not am größten ist
– und mit seiner Kraft halten wir dort auch aus … und es wird Segen von uns ausgehen.
Ich lese zum Abschluss aus Matthäus 25:
»Wenn der Menschensohn in seiner Herrlichkeit kommen wird und mit ihm alle Engel,
dann wird er in königlichem Glanz auf seinem Thron Platz nehmen. Alle Völker werden
vor ihm versammelt werden, und er wird die Menschen in zwei Gruppen teilen, so wie
der Hirte die Schafe und die Ziegen voneinander trennt. Die Schafe wird er rechts von
sich aufstellen und die Ziegen links. Dann wird der König zu denen auf der rechten Seite
sagen: ›Kommt her, ihr seid von meinem Vater gesegnet! Nehmt das Reich in Besitz, das
seit der Erschaffung der Welt für euch vorbereitet ist. Denn ich war hungrig, und ihr habt
mir zu essen gegeben; ich war durstig, und ihr habt mir zu trinken gegeben; ich war ein
Fremder, und ihr habt mich aufgenommen; ich hatte nichts anzuziehen, und ihr habt mir
Kleidung gegeben; ich war krank, und ihr habt euch um mich gekümmert; ich war im
Gefängnis, und ihr habt mich besucht.‹ Dann werden ihn die Gerechten fragen: ›Herr,
wann haben wir dich denn hungrig gesehen und dir zu essen gegeben, oder durstig und
dir zu trinken gegeben? Wann haben wir dich als Fremden bei uns gesehen und haben
dich aufgenommen? Oder wann haben wir dich gesehen, als du nichts anzuziehen
hattest, und haben dir Kleidung gegeben? Wann haben wir dich krank gesehen oder im
Gefängnis und haben dich besucht?‹ Darauf wird der König ihnen antworten: ›Ich sage
euch: Was immer ihr für einen meiner Brüder getan habt – und wäre er noch so gering
geachtet gewesen –, das habt ihr für mich getan.‹
Dann wird er zu denen auf der linken Seite sagen: ›Geht weg von mir, ihr seid verflucht!
Geht in das ewige Feuer, das für den Teufel und seine Engel vorbereitet ist! Denn ich war
hungrig, und ihr habt mir nicht zu essen gegeben; ich war durstig, und ihr habt mir nicht
zu trinken gegeben; ich war ein Fremder, und ihr habt mich nicht aufgenommen; ich
hatte nichts anzuziehen, und ihr habt mir keine Kleidung gegeben; ich war krank und war
im Gefängnis, und ihr habt euch nicht um mich gekümmert.‹ Dann werden auch sie
fragen: ›Herr, wann haben wir dich denn hungrig oder durstig gesehen oder als Fremden
oder ohne Kleidung oder krank oder im Gefängnis und haben dir nicht geholfen?‹ Darauf
wird er ihnen antworten: ›Ich sage euch: Was immer ihr an einem meiner Brüder zu tun
versäumt habt – und wäre er noch so gering geachtet gewesen –, das habt ihr mir
gegenüber versäumt.‹ So werden sie an den Ort der ewigen Strafe gehen, die Gerechten
aber werden ins ewige Leben eingehen.«
Amen.